Bevor ich falle
Roman
Wie kann man Worte finden für das Unaussprechliche? Als Cherry neun Jahre ist, bringt sich ihre Mutter durch einen Sprung aus dem Fenster um. Und das Mädchen quält ein Leben lang die Frage: Hätte sie anders gehandelt, wenn Cherry...
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Produktinformationen zu „Bevor ich falle “
Wie kann man Worte finden für das Unaussprechliche? Als Cherry neun Jahre ist, bringt sich ihre Mutter durch einen Sprung aus dem Fenster um. Und das Mädchen quält ein Leben lang die Frage: Hätte sie anders gehandelt, wenn Cherry sich an jenem Abend, als die Mutter sie ins Bett brachte, nicht trotzig von ihr weggedreht hätte?
Klappentext zu „Bevor ich falle “
Wie kann man Worte finden für das Unaussprechliche? Als Cherry neun Jahre ist, bringt sich ihre Mutter durch einen Sprung aus dem Fenster um. Und das Mädchen quält ein Leben lang die Frage: Hätte sie anders gehandelt, wenn Cherry sich an jenem letzten Abend, als die Mutter sie ins Bett brachte, nicht trotzig von ihr weggedreht hätte?
"Ich war neun Jahre alt, als meine Mutter beschlossen hat, dass sie das Leben nicht mehr mag. Sie hat mich hochgehoben und ganz fest in ihre Arme geschlossen, dann hat sie mir einen Gutenachtkuss gegeben und mich in mein Bett gelegt. Meine gelbe Giraffe lag neben mir und die bunte Kuscheldecke auch. Ich weiss das noch so genau, als wäre es heute gewesen. Dabei sind Jahre vergangen, seit diesem letzten Tag in meinem Leben."
Lese-Probe zu „Bevor ich falle “
Bevor ich falle von Lilly Lindner1
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Ich war neun Jahre alt, als meine Mutter beschlossen hat, dass sie das Leben nicht mehr mag. Sie hat mich hochgehoben und ganz fest in ihre Arme geschlossen, dann hat sie mir einen Gutenachtkuss gegeben und mich in mein Bett gelegt. Meine gelbe Giraffe lag neben mir und die bunte Kuscheldecke auch. Ich weiß das noch so genau, als wäre es heute gewesen. Dabei sind Jahre vergangen, seit diesem letzten Tag in meinem Leben. Und um ehrlich zu sein, hatte ich einen Haufen anderer letzter Tage. Aber zum Glück hatte ich auch immer wieder ein paar geflickte Stunden, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Die löchrigen Minuten haben sich gegenseitig abgedichtet, und irgendwie bin ich durch den Wirrwarr an Sekunden geschlüpft, ohne mich dabei an einem besonders wagemutigen Drahtseilakt zu erhängen.
Ich habe mich großzügig über die Zeit verteilt. Jeden Tag ein paar Atemzüge.
So schwer ist das gar nicht.
Doch früher oder später landen meine Gedanken immer wieder an diesem Abend im Frühling, als meine Mutter genug vom Leben hatte. Sie war erst zweiunddreißig. Ich denke, das ist ein Alter, in dem man über ein zweites Kind nachdenken sollte oder über einen neuen Ehemann oder über die Mitgliedschaft in einem Buchclub.
Aber nicht über den freien Willen im willenlosen Fall.
Meine Mutter war eine kluge Frau. Sie hat das bestimmt auch gewusst. Und wahrscheinlich wäre sie noch am Leben, wenn sie sich einen neuen Ehemann, ein neues Kind und ein paar gute Bücher zugelegt hätte. Aber das hat sie nicht getan. Sie ist bei uns geblieben, bei meinem unausstehlichen Vater und mir, in dieser wortlosen Neuneinhalb-Zimmer-Wohnung, in der ich mich ständig zwischen den endlos langen Fluren und meinen drei Spielzimmern verlaufen habe.
Doch ganz egal, in welchem Spalt ich verschollen war, meine Mutter hat mich immer wieder gefunden. Sie hat mich unter Betten, hinter Schränken, zwischen Kisten, neben Schreibtischen und auf Regalbrettern ausfindig gemacht und zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Ja. Ich war ein merkwürdiges Kind. In den ersten Jahren war ich regenbogenfarbenbunt und voller Glückseligkeit, aber dann habe ich angefangen, Gespräche mit meinem Vater zu führen, und ohne es zu bemerken, habe ich mich verändert. Wahrscheinlich hätte ich Katzen angezündet, Autoreifen zerschlitzt und hilflose Rentner ausgeraubt, wenn meine Mutter nicht da gewesen wäre und mir jeden Tag aufs Neue gesagt hätte: »Cherry, du bist ein wundervolles Mädchen. Hör auf, die Welt zu hassen. So bist du nicht.«
Aber so war ich.
Irgendwie.
Der letzte Abend mit meiner Mutter war viel zu kurz. Sie hat mir sanft über meine Wangen gestrichen und geflüstert: »Schlaf gut, meine Kleine, ich wünsche dir schöne Träume und dass du an jedem Morgen mit einem Lächeln erwachst.«
Dann hat sie die Decke um meine Schultern gelegt und meine Giraffe am rechten Hörnchen gezupft, als wäre sie echt und als wäre es mir von Bedeutung. Ich habe mein Gesicht im Kopfkissen vergraben und gespürt, wie meine Mutter ganz leicht über meine langen schwarzen Haare gestrichen hat. Sie hat mir zugezwinkert, aus ihren katzengrünen Augen.
»Schlaf gut«, hat sie ein weiteres Mal gesagt.
Normalerweise sagte sie das nur einmal, aber ich habe mir nichts dabei gedacht; ich habe generell sehr wenig gedacht, damals, als Kind.
»Schlaf gut«, hat meine Mutter schließlich ein drittes Mal gesagt.
Und spätestens in diesem Augenblick hätte ich irgendetwas ahnen müssen oder zumindest meinen dusseligen Kopf aus dem rosafarbenen Prinzessinnen-Kissen heben können, um ihr auch eine gute Nacht zu wünschen. Aber ich habe mich nicht gerührt und ein-fach so getan, als wäre sie unsichtbar.
Meine Mutter hat geseufzt. So leise, dass ich es nicht hätte hören dürfen. Aber ich habe es doch gehört. Und trotzdem war ich ein regungsloses Unwesen ohne Verstand und Verständnis.
»Ach, Cherry«, hat meine Mutter leise gesagt. Ihre Stimme war nicht vorwurfsvoll.
Nur müde und traurig.
»Cherry«, hat sie erneut geflüstert.
Doch ich habe mich noch immer nicht gerührt; und da hat meine Mutter ein letztes Mal über meinen trotzigen Kopf gestrichen. Sie hat ein letztes Mal meine Decke zurechtgezupft, ein letztes Mal die Kuschelgiraffe berührt, ein letztes Mal ihren Blick durch mein viel zu großes Schlafzimmer schweifen lassen, ein letztes Mal die Vorhänge zugezogen, ein letztes Mal tief Luft geholt - und dann.
Dann ist sie hinüber ins Wohnzimmer gegangen. Und ohne zu zögern aus dem Fenster gesprungen.
Wir haben damals im elften Stock gewohnt. So weit oben.
War ich danach nie wieder.
2
Erinnerst du dich an die handgemalte Stille? Erinnerst du dich daran, wie schön es war, dort zu verweilen und unbedacht und sorglos von einem Gedankenlabyrinth ins nächste zu stolpern?
Und hier, in dieser ausgewachsenen Ruhelosigkeit, die beharrlich deine Lebensmuster durchschaut, was sollst du hier? Ist dies ein Ort, an dem du bleiben kannst? Ist dies ein Ort, den du besiegen wirst, wenn er sich vor dir auftürmt und droht, deinen Verstand zu verschlucken? Du weißt es nicht.
Du hast schon lange keine Antworten mehr.
Und dein Warten, es ist müde geworden, es liegt mit weit geöffneten Augen auf dem Fußboden deines Wohn-zimmers und betrachtet das waagerechte Streifenmuster der Jalousien.
Parallel zur Zimmerdecke.
Parallel zu dir.
Lichtstreifen aus der Ferne.
Ja. Sieh ganz genau hin.
Irgendwo da draußen. Dreht sich die Welt.
Mein Vater fand es nicht so toll, dass meine Mutter tot war. Denn er hatte sich nie zuvor damit beschäftigen müssen, mir etwas zu essen zu kochen oder mich in die Schule zu bringen. Er wusste nicht, wie man Lebens-mittel einkauft, er hatte keine Ahnung von meiner Kleidergröße, er empfand Gesellschaftsspiele als reine Zeit-verschwendung, und wie man eine Krawatte bindet, wusste er auch nicht. Er war so wütend auf den Tod, dass er wahrscheinlich am liebsten für immer leben wollte.
Er stand vier Stunden lang regungslos am blumen-überlagerten Grab meiner Mutter, während ich danebensaß, auf dem eiskalten Boden, und einen Maikäfer auf meiner Hand hin und her krabbeln ließ, bis ich ihn schließlich aus Versehen zerquetscht habe.
Irgendwann hat mein Vater gesagt: »Steh auf, Cherry. Du machst dich schmutzig. Und ich weiß nicht, wie man diese blöde Waschmaschine bedient. Wir brauchen eine Haushälterin.«
Also bin ich aufgestanden.
Und habe meine Hand ausgestreckt. Weil ich dachte, mein Vater würde sie vielleicht halten, damit es nicht so schwer ist, ohne meine Mutter vom Friedhof zu gehen. Aber mein Vater hat nur geschnaubt und ist davongestapft. Ich habe regungslos dagestanden und ihm hinterhergestarrt, bis er sich schließlich umgedreht hat, um mich unwirsch zu fragen, ob ich vorhätte, den Rest meines Lebens auf dem Friedhof herumzulungern, oder ob mein Verständnis für die natürliche Selektion der weniger begabten Lebewesen groß genug sei, um noch ein Weilchen zu überleben.
Ich habe nicht geweint, als er das gesagt hat. Obwohl seine Stimme so klang, als könnte er jeden Fehler dieser Zeit mit meinem Namen unterschreiben. Und ich habe auch nicht geweint, als er kurz darauf angefangen hat, mich so heftig zu schütteln, dass die Trauer in mir sich in einen Strudel aus Gleichgültigkeit verwandelt hat und schließlich in einem Meer voll schwarzgrauer Farben ertrunken ist.
Kurz darauf sind wir umgezogen, aus der riesigen Luxus-Wohnung in ein Haus im Grunewald. Ich habe meinen Vater gefragt, ob ich einen Hund haben dürfte, aber er hat so laut NEIN! gebrüllt, dass ich mich eine Woche lang nicht mehr getraut habe, meinen Mund aufzumachen. Mein Vater fand das ziemlich gut. Denn wenn es eines gibt, auf dieser sprachumwobenen Welt, das mein Vater umstandslos aus seinem Leben streichen würde - dann sind das Worte.
Und wenn ich nicht so fasziniert gewesen wäre von dem Ende der Ausgangssituation und der angrenzenden Abfolge der erfolglosen Zeitumkehrungsversuche, dann hätte ich meinen Verstand vielleicht doch nicht gegen das große hässliche Schweigen eingetauscht.
Aber es war zu spät.
Und erst nach dem Tod meiner Mutter habe ich gemerkt, wie viele schöne Sätze sie zu mir gesagt hatte. Denn nachdem sie weg war, hat mich nie wieder jemand gefragt, wie es in der Schule gewesen sei, was meine aktuelle Lieblingsfarbe wäre und was ich gerne am Wochenende unternehmen würde. Ich habe keinen Guten-morgengruß mehr bekommen und auch keinen Gutenachtgedanken. Mein Vater hat entweder gebrüllt oder noch mehr gebrüllt. Das war alles, was er konnte. Also habe ich mich selbst beschäftigt, obwohl ich nichts mit mir anzufangen wusste. Ich habe Waschmittelperlen in eine Cornflakesschüssel geschüttet und angefangen, die blauen Kügelchen auszusortieren. Dann habe ich mit den weißen Perlen ein Waschmittelmosaik auf dem Küchenfußboden ausgelegt, die blauen Kugeln als Verzierung drumherum gestreut und am Ende alles mit einem Föhn unter den Kühlschrank geweht. Anschließend habe ich sämtliche Fensterbretter an der Unterseite mit wasserfestem Filzstift bemalt, die Enden aller Vorhänge rund geschnitten, drei Bogen Klebe-Tattoos auf meinem Körper verewigt und eine ganze Badewanne voll mit Papierfröschen gebastelt, nur um sie kurz darauf alle zu ertränken.
Gelangweilt von zu viel Lebensraum bin ich schließlich in eines meiner Spielzimmer getrottet und habe mich darangemacht, meine unzähligen Legosteine aufzutürmen bis hinauf zur Zimmerdecke. Aber als ich mein Ziel wenig später erreicht hatte, fand ich es plötzlich sinnlos; außerdem saß ich auf meinem Kleiderschrank fest und konnte nicht mehr alleine runter, weil ich plötzlich Höhenangst hatte. Also musste ich meinen Vater rufen, und der bekam einen halben Herz-infarkt, weil ihm natürlich der gesamte Legoturm entgegenstürzte, als er meine Zimmertür aufriss, um herauszufinden, warum ich nun schon wieder nach ihm rief.
»Was machst du auf dem Schrank!?«, hat er gewettert.
»Ich baue einen Turm«, habe ich erklärt.
»Auf dem Schrank!?«, hat mein Vater gebrüllt. »Nein«, habe ich erwidert. »Vom Schrank aus.« »WARUM!?«, hat mein Vater gebrüllt.
»Weil ich noch klein bin und nicht so hoch reiche«, habe ich erklärt.
»Und warum fliegen hier überall diese Plastikdinger rum? « , hat mein Vater weiter geschimpft.
»Das war mein Turm«, habe ich gesagt.
»RÄUM DAS SOFORT AUF!«, hat mein Vater gebrüllt.
»Das geht nicht«, habe ich geantwortet.
»Wie bitte!?«, hat mein Vater gewütet, und sein hohler Kopf lief vor Entrüstung knallrot an. »Hast du mir gerade widersprochen!?«
»Nein«, habe ich gesagt. »Aber ich sitze auf dem Schrank fest.«
Mein Vater hat stirnrunzelnd zu mir hinaufgeguckt und überlegt, ob es in irgendeiner Form gewinnbringend für sein Dasein wäre, wenn er mich einfach für immer auf dem Schrank verrotten lassen würde.
Schließlich hat er gesagt: »Du bist alleine da hoch-gekommen, also kommst du auch alleine wieder runter! Das ist ein physikalisches Grundgesetz - da kannst selbst du nichts falsch machen!«
Zwei Sekunden später war mein Vater weg.
Und fünf Sekunden später bin ich vom Schrank gefallen.
Weil ich so überwältigt war, von der leise flüsternden Erdanziehungskraft.
Und von dem nebeligen Rauschen in meinen auswärtigen Gedanken.
Keiner hat gesehen, wie ich davongerutscht bin, aus dem Leben, über das Glatteis bis hinein in eine einsame Schlucht. Unsere neuen Nachbarn waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Autos und Vorgartenbepflanzung miteinander zu vergleichen, als dass sie hätten merken können, dass ich jeden Tag verloren auf den Treppenstufen vor unserem Haus saß. Der Einzige, der mich ein paar-mal gefragt hat, ob alles okay sei, war der Postbote. Aber dann ist er versetzt worden, und der neue Post-bote hatte immer seine Kopfhörer auf und keine Zeit, sich mit mir zu unterhalten.
Meinem Vater war all das vollkommen egal; solange ich ihn nicht aufgehalten habe, durfte ich mich aufhalten, wo ich wollte. Ungehalten und verhaltensgestört, wie ich war, habe ich manchmal mein Zimmerfenster sperrangelweit aufgerissen und mich auf das schmale Fensterbrett gesetzt. Dort habe ich dann darauf gewartet, dass mein Vater von der Arbeit kommt und mich rettet, bevor ich abstürze.
Doch er hat nie ein Wort gesagt.
Er hat mich nie gehalten.
Er ist jedes Mal einfach ins Haus gestapft und hat die Tür hinter sich zugeknallt. So laut, dass ich vor Stille beinahe gefallen wäre.
An meinem elften Geburtstag hat er schließlich Jessica geheiratet. Eine Frau mit langen blonden Haaren und riesengroßen Brüsten, die jeden Tag ein farbenfrohes Sommerkleid trug, auch mitten im tiefsten Winter. Jessica war immer lieb zu mir, vom ersten Augenblick an. Sie hat mich Cherrygirl genannt und mir jeden Morgen einen Pancake mit frischem Obst zum Früh-stück gemacht. Sie hat alles getan, um mich wieder zum Lachen zu bringen, aber ich habe Lachen gehasst, weil meine Lachgrübchen genauso aussahen wie die meiner Mutter. Und wenn es eines gab, dem ich nicht entgegenblicken wollte, dann war das die Vergangenheit.
Jessica hat trotzdem immer wieder über meine Haare gestrichen und mir versprochen, dass die Regen-schauer der Zeit sich irgendwann in Regenbogen verwandeln würden. Sie hat in die Ferne gedeutet und mit ihrer Zuckerwatte-Stimme gesagt: »Sieh nur, Cherry-girl, wie schön es dort am Horizont aussieht.«
Aber ich konnte nichts sehen.
Und ich wollte auch gar nichts sehen.
Denn Einsicht macht jedes Gewissen haftbar.
Und wenn man es nicht schafft, sich ein Mindestmaß an Verantwortungsbewusstsein an seine Gehirnwände zu heften, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn das Gewissen lose herumhängt.
Ich wusste, dass Jessica nur mit meinem Vater zusammen war, weil der mehr Geld besaß, als man in einem ganzen Leben ausgeben konnte, und ich wusste auch, dass mein Vater nur mit Jessica zusammen war, weil sie noch längere Beine hatte als Cindy Crawford und Adria na Lima zusammen. Außerdem war sie körperlich sehr flexibel, offen für Neues und niemals eifersüchtig; selbst dann nicht, wenn mein Vater sie dreimal die Woche mit irgendeinem Callgirl oder seinem Flirt der Woche betrog. Jessica blinzelte daraufhin immer nur wie die orangefarbene Maus aus dem Fernsehen, und schon verwandelte sich ihr trauriger Gesichtsausdruck in ein seltsam verschobenes Lächeln. Dann hat sie sich ein paar neue Kleider gekauft und anschließend fröhlich summend bunte Bänder und Schleifen in meine langen schwarzen Haare geflochten, als wäre ich eine Zauberprinzessin und sie eine gute Fee. Ich fand das schrecklich. Aber da ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen wusste, habe ich meistens stillgehalten und so getan, als wären die Gedanken in meinem Kopf genau-so farbenfroh und miteinander verschlungen wie die beschissenen Haarbänder und Zopfgummis.
In Wirklichkeit waren meine Gedanken nachtschwarz. Und ich war damit beschäftigt herauszufinden, in welche Richtung die Welt sich dreht und wie schnell man laufen muss, um nicht als Letzter den nächsten Tag zu erreichen. Ich habe mich von Jessica durch die Gegend schleifen lassen, vom Feuerwerk am Tag der Deutschen Einheit bis hin zum Zuckerwatte-stand am Weihnachtsmarkt; und weiter, über den verregneten Frühlingsrummel bis auf den Teufelsberg zu den bunten Drachen mit ihren flatternden Schleifen. Und da habe ich dann gestanden, ganz oben, unter dem Himmel. Und es war kein Geheimnis, dass wir alle ein Zeitlos ziehen wollen.
Aber keiner von uns ist zeitlos.
Wir sind alle gebunden.
An den Lauf der Welt, an den Ablauf der einschlagen-den Stunden und an das Ende von jedem Augenblick. Das sind die Gezeiten.
Sie kommen und gehen.
Genau wie wir.
...
© 2012 Droemer Paperback
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Ich war neun Jahre alt, als meine Mutter beschlossen hat, dass sie das Leben nicht mehr mag. Sie hat mich hochgehoben und ganz fest in ihre Arme geschlossen, dann hat sie mir einen Gutenachtkuss gegeben und mich in mein Bett gelegt. Meine gelbe Giraffe lag neben mir und die bunte Kuscheldecke auch. Ich weiß das noch so genau, als wäre es heute gewesen. Dabei sind Jahre vergangen, seit diesem letzten Tag in meinem Leben. Und um ehrlich zu sein, hatte ich einen Haufen anderer letzter Tage. Aber zum Glück hatte ich auch immer wieder ein paar geflickte Stunden, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Die löchrigen Minuten haben sich gegenseitig abgedichtet, und irgendwie bin ich durch den Wirrwarr an Sekunden geschlüpft, ohne mich dabei an einem besonders wagemutigen Drahtseilakt zu erhängen.
Ich habe mich großzügig über die Zeit verteilt. Jeden Tag ein paar Atemzüge.
So schwer ist das gar nicht.
Doch früher oder später landen meine Gedanken immer wieder an diesem Abend im Frühling, als meine Mutter genug vom Leben hatte. Sie war erst zweiunddreißig. Ich denke, das ist ein Alter, in dem man über ein zweites Kind nachdenken sollte oder über einen neuen Ehemann oder über die Mitgliedschaft in einem Buchclub.
Aber nicht über den freien Willen im willenlosen Fall.
Meine Mutter war eine kluge Frau. Sie hat das bestimmt auch gewusst. Und wahrscheinlich wäre sie noch am Leben, wenn sie sich einen neuen Ehemann, ein neues Kind und ein paar gute Bücher zugelegt hätte. Aber das hat sie nicht getan. Sie ist bei uns geblieben, bei meinem unausstehlichen Vater und mir, in dieser wortlosen Neuneinhalb-Zimmer-Wohnung, in der ich mich ständig zwischen den endlos langen Fluren und meinen drei Spielzimmern verlaufen habe.
Doch ganz egal, in welchem Spalt ich verschollen war, meine Mutter hat mich immer wieder gefunden. Sie hat mich unter Betten, hinter Schränken, zwischen Kisten, neben Schreibtischen und auf Regalbrettern ausfindig gemacht und zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Ja. Ich war ein merkwürdiges Kind. In den ersten Jahren war ich regenbogenfarbenbunt und voller Glückseligkeit, aber dann habe ich angefangen, Gespräche mit meinem Vater zu führen, und ohne es zu bemerken, habe ich mich verändert. Wahrscheinlich hätte ich Katzen angezündet, Autoreifen zerschlitzt und hilflose Rentner ausgeraubt, wenn meine Mutter nicht da gewesen wäre und mir jeden Tag aufs Neue gesagt hätte: »Cherry, du bist ein wundervolles Mädchen. Hör auf, die Welt zu hassen. So bist du nicht.«
Aber so war ich.
Irgendwie.
Der letzte Abend mit meiner Mutter war viel zu kurz. Sie hat mir sanft über meine Wangen gestrichen und geflüstert: »Schlaf gut, meine Kleine, ich wünsche dir schöne Träume und dass du an jedem Morgen mit einem Lächeln erwachst.«
Dann hat sie die Decke um meine Schultern gelegt und meine Giraffe am rechten Hörnchen gezupft, als wäre sie echt und als wäre es mir von Bedeutung. Ich habe mein Gesicht im Kopfkissen vergraben und gespürt, wie meine Mutter ganz leicht über meine langen schwarzen Haare gestrichen hat. Sie hat mir zugezwinkert, aus ihren katzengrünen Augen.
»Schlaf gut«, hat sie ein weiteres Mal gesagt.
Normalerweise sagte sie das nur einmal, aber ich habe mir nichts dabei gedacht; ich habe generell sehr wenig gedacht, damals, als Kind.
»Schlaf gut«, hat meine Mutter schließlich ein drittes Mal gesagt.
Und spätestens in diesem Augenblick hätte ich irgendetwas ahnen müssen oder zumindest meinen dusseligen Kopf aus dem rosafarbenen Prinzessinnen-Kissen heben können, um ihr auch eine gute Nacht zu wünschen. Aber ich habe mich nicht gerührt und ein-fach so getan, als wäre sie unsichtbar.
Meine Mutter hat geseufzt. So leise, dass ich es nicht hätte hören dürfen. Aber ich habe es doch gehört. Und trotzdem war ich ein regungsloses Unwesen ohne Verstand und Verständnis.
»Ach, Cherry«, hat meine Mutter leise gesagt. Ihre Stimme war nicht vorwurfsvoll.
Nur müde und traurig.
»Cherry«, hat sie erneut geflüstert.
Doch ich habe mich noch immer nicht gerührt; und da hat meine Mutter ein letztes Mal über meinen trotzigen Kopf gestrichen. Sie hat ein letztes Mal meine Decke zurechtgezupft, ein letztes Mal die Kuschelgiraffe berührt, ein letztes Mal ihren Blick durch mein viel zu großes Schlafzimmer schweifen lassen, ein letztes Mal die Vorhänge zugezogen, ein letztes Mal tief Luft geholt - und dann.
Dann ist sie hinüber ins Wohnzimmer gegangen. Und ohne zu zögern aus dem Fenster gesprungen.
Wir haben damals im elften Stock gewohnt. So weit oben.
War ich danach nie wieder.
2
Erinnerst du dich an die handgemalte Stille? Erinnerst du dich daran, wie schön es war, dort zu verweilen und unbedacht und sorglos von einem Gedankenlabyrinth ins nächste zu stolpern?
Und hier, in dieser ausgewachsenen Ruhelosigkeit, die beharrlich deine Lebensmuster durchschaut, was sollst du hier? Ist dies ein Ort, an dem du bleiben kannst? Ist dies ein Ort, den du besiegen wirst, wenn er sich vor dir auftürmt und droht, deinen Verstand zu verschlucken? Du weißt es nicht.
Du hast schon lange keine Antworten mehr.
Und dein Warten, es ist müde geworden, es liegt mit weit geöffneten Augen auf dem Fußboden deines Wohn-zimmers und betrachtet das waagerechte Streifenmuster der Jalousien.
Parallel zur Zimmerdecke.
Parallel zu dir.
Lichtstreifen aus der Ferne.
Ja. Sieh ganz genau hin.
Irgendwo da draußen. Dreht sich die Welt.
Mein Vater fand es nicht so toll, dass meine Mutter tot war. Denn er hatte sich nie zuvor damit beschäftigen müssen, mir etwas zu essen zu kochen oder mich in die Schule zu bringen. Er wusste nicht, wie man Lebens-mittel einkauft, er hatte keine Ahnung von meiner Kleidergröße, er empfand Gesellschaftsspiele als reine Zeit-verschwendung, und wie man eine Krawatte bindet, wusste er auch nicht. Er war so wütend auf den Tod, dass er wahrscheinlich am liebsten für immer leben wollte.
Er stand vier Stunden lang regungslos am blumen-überlagerten Grab meiner Mutter, während ich danebensaß, auf dem eiskalten Boden, und einen Maikäfer auf meiner Hand hin und her krabbeln ließ, bis ich ihn schließlich aus Versehen zerquetscht habe.
Irgendwann hat mein Vater gesagt: »Steh auf, Cherry. Du machst dich schmutzig. Und ich weiß nicht, wie man diese blöde Waschmaschine bedient. Wir brauchen eine Haushälterin.«
Also bin ich aufgestanden.
Und habe meine Hand ausgestreckt. Weil ich dachte, mein Vater würde sie vielleicht halten, damit es nicht so schwer ist, ohne meine Mutter vom Friedhof zu gehen. Aber mein Vater hat nur geschnaubt und ist davongestapft. Ich habe regungslos dagestanden und ihm hinterhergestarrt, bis er sich schließlich umgedreht hat, um mich unwirsch zu fragen, ob ich vorhätte, den Rest meines Lebens auf dem Friedhof herumzulungern, oder ob mein Verständnis für die natürliche Selektion der weniger begabten Lebewesen groß genug sei, um noch ein Weilchen zu überleben.
Ich habe nicht geweint, als er das gesagt hat. Obwohl seine Stimme so klang, als könnte er jeden Fehler dieser Zeit mit meinem Namen unterschreiben. Und ich habe auch nicht geweint, als er kurz darauf angefangen hat, mich so heftig zu schütteln, dass die Trauer in mir sich in einen Strudel aus Gleichgültigkeit verwandelt hat und schließlich in einem Meer voll schwarzgrauer Farben ertrunken ist.
Kurz darauf sind wir umgezogen, aus der riesigen Luxus-Wohnung in ein Haus im Grunewald. Ich habe meinen Vater gefragt, ob ich einen Hund haben dürfte, aber er hat so laut NEIN! gebrüllt, dass ich mich eine Woche lang nicht mehr getraut habe, meinen Mund aufzumachen. Mein Vater fand das ziemlich gut. Denn wenn es eines gibt, auf dieser sprachumwobenen Welt, das mein Vater umstandslos aus seinem Leben streichen würde - dann sind das Worte.
Und wenn ich nicht so fasziniert gewesen wäre von dem Ende der Ausgangssituation und der angrenzenden Abfolge der erfolglosen Zeitumkehrungsversuche, dann hätte ich meinen Verstand vielleicht doch nicht gegen das große hässliche Schweigen eingetauscht.
Aber es war zu spät.
Und erst nach dem Tod meiner Mutter habe ich gemerkt, wie viele schöne Sätze sie zu mir gesagt hatte. Denn nachdem sie weg war, hat mich nie wieder jemand gefragt, wie es in der Schule gewesen sei, was meine aktuelle Lieblingsfarbe wäre und was ich gerne am Wochenende unternehmen würde. Ich habe keinen Guten-morgengruß mehr bekommen und auch keinen Gutenachtgedanken. Mein Vater hat entweder gebrüllt oder noch mehr gebrüllt. Das war alles, was er konnte. Also habe ich mich selbst beschäftigt, obwohl ich nichts mit mir anzufangen wusste. Ich habe Waschmittelperlen in eine Cornflakesschüssel geschüttet und angefangen, die blauen Kügelchen auszusortieren. Dann habe ich mit den weißen Perlen ein Waschmittelmosaik auf dem Küchenfußboden ausgelegt, die blauen Kugeln als Verzierung drumherum gestreut und am Ende alles mit einem Föhn unter den Kühlschrank geweht. Anschließend habe ich sämtliche Fensterbretter an der Unterseite mit wasserfestem Filzstift bemalt, die Enden aller Vorhänge rund geschnitten, drei Bogen Klebe-Tattoos auf meinem Körper verewigt und eine ganze Badewanne voll mit Papierfröschen gebastelt, nur um sie kurz darauf alle zu ertränken.
Gelangweilt von zu viel Lebensraum bin ich schließlich in eines meiner Spielzimmer getrottet und habe mich darangemacht, meine unzähligen Legosteine aufzutürmen bis hinauf zur Zimmerdecke. Aber als ich mein Ziel wenig später erreicht hatte, fand ich es plötzlich sinnlos; außerdem saß ich auf meinem Kleiderschrank fest und konnte nicht mehr alleine runter, weil ich plötzlich Höhenangst hatte. Also musste ich meinen Vater rufen, und der bekam einen halben Herz-infarkt, weil ihm natürlich der gesamte Legoturm entgegenstürzte, als er meine Zimmertür aufriss, um herauszufinden, warum ich nun schon wieder nach ihm rief.
»Was machst du auf dem Schrank!?«, hat er gewettert.
»Ich baue einen Turm«, habe ich erklärt.
»Auf dem Schrank!?«, hat mein Vater gebrüllt. »Nein«, habe ich erwidert. »Vom Schrank aus.« »WARUM!?«, hat mein Vater gebrüllt.
»Weil ich noch klein bin und nicht so hoch reiche«, habe ich erklärt.
»Und warum fliegen hier überall diese Plastikdinger rum? « , hat mein Vater weiter geschimpft.
»Das war mein Turm«, habe ich gesagt.
»RÄUM DAS SOFORT AUF!«, hat mein Vater gebrüllt.
»Das geht nicht«, habe ich geantwortet.
»Wie bitte!?«, hat mein Vater gewütet, und sein hohler Kopf lief vor Entrüstung knallrot an. »Hast du mir gerade widersprochen!?«
»Nein«, habe ich gesagt. »Aber ich sitze auf dem Schrank fest.«
Mein Vater hat stirnrunzelnd zu mir hinaufgeguckt und überlegt, ob es in irgendeiner Form gewinnbringend für sein Dasein wäre, wenn er mich einfach für immer auf dem Schrank verrotten lassen würde.
Schließlich hat er gesagt: »Du bist alleine da hoch-gekommen, also kommst du auch alleine wieder runter! Das ist ein physikalisches Grundgesetz - da kannst selbst du nichts falsch machen!«
Zwei Sekunden später war mein Vater weg.
Und fünf Sekunden später bin ich vom Schrank gefallen.
Weil ich so überwältigt war, von der leise flüsternden Erdanziehungskraft.
Und von dem nebeligen Rauschen in meinen auswärtigen Gedanken.
Keiner hat gesehen, wie ich davongerutscht bin, aus dem Leben, über das Glatteis bis hinein in eine einsame Schlucht. Unsere neuen Nachbarn waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Autos und Vorgartenbepflanzung miteinander zu vergleichen, als dass sie hätten merken können, dass ich jeden Tag verloren auf den Treppenstufen vor unserem Haus saß. Der Einzige, der mich ein paar-mal gefragt hat, ob alles okay sei, war der Postbote. Aber dann ist er versetzt worden, und der neue Post-bote hatte immer seine Kopfhörer auf und keine Zeit, sich mit mir zu unterhalten.
Meinem Vater war all das vollkommen egal; solange ich ihn nicht aufgehalten habe, durfte ich mich aufhalten, wo ich wollte. Ungehalten und verhaltensgestört, wie ich war, habe ich manchmal mein Zimmerfenster sperrangelweit aufgerissen und mich auf das schmale Fensterbrett gesetzt. Dort habe ich dann darauf gewartet, dass mein Vater von der Arbeit kommt und mich rettet, bevor ich abstürze.
Doch er hat nie ein Wort gesagt.
Er hat mich nie gehalten.
Er ist jedes Mal einfach ins Haus gestapft und hat die Tür hinter sich zugeknallt. So laut, dass ich vor Stille beinahe gefallen wäre.
An meinem elften Geburtstag hat er schließlich Jessica geheiratet. Eine Frau mit langen blonden Haaren und riesengroßen Brüsten, die jeden Tag ein farbenfrohes Sommerkleid trug, auch mitten im tiefsten Winter. Jessica war immer lieb zu mir, vom ersten Augenblick an. Sie hat mich Cherrygirl genannt und mir jeden Morgen einen Pancake mit frischem Obst zum Früh-stück gemacht. Sie hat alles getan, um mich wieder zum Lachen zu bringen, aber ich habe Lachen gehasst, weil meine Lachgrübchen genauso aussahen wie die meiner Mutter. Und wenn es eines gab, dem ich nicht entgegenblicken wollte, dann war das die Vergangenheit.
Jessica hat trotzdem immer wieder über meine Haare gestrichen und mir versprochen, dass die Regen-schauer der Zeit sich irgendwann in Regenbogen verwandeln würden. Sie hat in die Ferne gedeutet und mit ihrer Zuckerwatte-Stimme gesagt: »Sieh nur, Cherry-girl, wie schön es dort am Horizont aussieht.«
Aber ich konnte nichts sehen.
Und ich wollte auch gar nichts sehen.
Denn Einsicht macht jedes Gewissen haftbar.
Und wenn man es nicht schafft, sich ein Mindestmaß an Verantwortungsbewusstsein an seine Gehirnwände zu heften, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn das Gewissen lose herumhängt.
Ich wusste, dass Jessica nur mit meinem Vater zusammen war, weil der mehr Geld besaß, als man in einem ganzen Leben ausgeben konnte, und ich wusste auch, dass mein Vater nur mit Jessica zusammen war, weil sie noch längere Beine hatte als Cindy Crawford und Adria na Lima zusammen. Außerdem war sie körperlich sehr flexibel, offen für Neues und niemals eifersüchtig; selbst dann nicht, wenn mein Vater sie dreimal die Woche mit irgendeinem Callgirl oder seinem Flirt der Woche betrog. Jessica blinzelte daraufhin immer nur wie die orangefarbene Maus aus dem Fernsehen, und schon verwandelte sich ihr trauriger Gesichtsausdruck in ein seltsam verschobenes Lächeln. Dann hat sie sich ein paar neue Kleider gekauft und anschließend fröhlich summend bunte Bänder und Schleifen in meine langen schwarzen Haare geflochten, als wäre ich eine Zauberprinzessin und sie eine gute Fee. Ich fand das schrecklich. Aber da ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen wusste, habe ich meistens stillgehalten und so getan, als wären die Gedanken in meinem Kopf genau-so farbenfroh und miteinander verschlungen wie die beschissenen Haarbänder und Zopfgummis.
In Wirklichkeit waren meine Gedanken nachtschwarz. Und ich war damit beschäftigt herauszufinden, in welche Richtung die Welt sich dreht und wie schnell man laufen muss, um nicht als Letzter den nächsten Tag zu erreichen. Ich habe mich von Jessica durch die Gegend schleifen lassen, vom Feuerwerk am Tag der Deutschen Einheit bis hin zum Zuckerwatte-stand am Weihnachtsmarkt; und weiter, über den verregneten Frühlingsrummel bis auf den Teufelsberg zu den bunten Drachen mit ihren flatternden Schleifen. Und da habe ich dann gestanden, ganz oben, unter dem Himmel. Und es war kein Geheimnis, dass wir alle ein Zeitlos ziehen wollen.
Aber keiner von uns ist zeitlos.
Wir sind alle gebunden.
An den Lauf der Welt, an den Ablauf der einschlagen-den Stunden und an das Ende von jedem Augenblick. Das sind die Gezeiten.
Sie kommen und gehen.
Genau wie wir.
...
© 2012 Droemer Paperback
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Lilly Lindner
Lilly Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn begann sie autobiographische Texte und Romane zu schreiben. Ihr Debüt "Splitterfasernackt" stand monatelang auf der Bestsellerliste. Zuletzt erschienen von ihr das Jugendbuch "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" und "Winterwassertief".
Bibliographische Angaben
- Autor: Lilly Lindner
- 2012, 2. Aufl., 304 Seiten, Masse: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426226227
- ISBN-13: 9783426226223
- Erscheinungsdatum: 24.09.2012
Kommentar zu "Bevor ich falle"
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