Beim Häuten der Zwiebel
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Zwischen den vielen Schichten der "Zwiebel Erinnerung" sind zahllose Erlebnisse verborgen. Grass legt sie frei, schreibt über den Arbeitsdienst-Kameraden, der niemals eine Waffe in die Hand nahm, schildert genüsslich einen Lager-Kochkurs, der mangels Lebensmitteln abstrakt blieb, und berichtet, wie der Kunststudent sein Geld in einer Jazzband verdiente. Zudem zeichnet er liebevolle Porträts von seiner Familie, von Freunden, Lehrern, Weggefährten.
Beim Häuten der Zwiebel ist ein mit komischen und traurigen, oft ergreifenden Geschichten prall gefülltes Erinnerungsbuch, das immer wieder Brücken in die Gegenwart schlägt. Günter Grass fasst den jungen Menschen von damals nicht mit Samthandschuhen an, enthüllt seine Schwächen, legt den Finger auf manches Versagen und noch heute schmerzende Wunden. Dass er die ein oder andere Erinnerungslücke mit Hilfe seiner reichen Phantasie ausgemalt haben könnte, gesteht er offen ein.
Beim Häuten der Zwiebel von GünterGrass
LESEPROBE
Ob heute oder vor Jahren,lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter Person zu verkappen: Als erannähernd zwölf zählte, doch immer noch liebend gern auf Mutters Schoss sass,begann und endete etwas. Aber lässt sich, was anfing,was auslief, so genau auf den Punkt bringen? Was mich betrifft, schon.
Auf engem Raum wurde meineKindheit beendet, als dort, wo ich aufwuchs, an verschiedenen Stellenzeitgleich der Krieg ausbrach. Er begann unüberhörbar mit den Breitseiten einesLinienschiffes und dem Anflug von Sturzkampfflugzeugen über dem HafenvorortNeufahrwasser, dem als polnischer Militärstützpunkt die Westerplattegegenüberlag, zudem entfernter mit den gezielten Schüssen zweierPanzerspähwagen beim Kampf um die Polnische Post in der Danziger Altstadt und nahbei verkündet aus unserem Radio, dem Volksempfänger, derim Wohnzimmer auf dem Büfett seinen Platz hatte: mit ehernen Worten wurde ineiner Parterrewohnung, die Teil eines dreistöckigen Mietshauses im Langfuhrer Labesweg war, das Endemeiner Kinderjahre ausgerufen.
Sogar die Uhrzeit wollte unvergesslich sein. Ab dann herrschte auf dem Flugplatz desFreistaates, nahe der Schokoladenfabrik Baltic, nichtnur ziviler Betrieb. Aus den Dachluken des Mietshauses gesehen, stieg übermFreihafen schwärzlich Rauch auf, der sich unter fortgesetzten Angriffen und beileichtem Wind aus Nordwest erneuerte.
Aber sobald ich mich an denfernen Geschützdonner der Schleswig-Holstein, die eigentlich als Veteran derSkagerrakschlacht ausgedient hatte und nur noch als Schulschiff für Kadettentaugte, sowie an die abgestuften Geräusche von Flugzeugen erinnern will, dieStukas genannt wurden, weil sie hoch überm Kampfgebiet seitlich abkippten undim Sturzflug mit endlich ausgeklinkten Bomben ihr Ziel fanden, rundet sich dieFrage: Warum überhaupt soll Kindheit und deren so unverrückbar datiertes Endeerinnert werden, wenn alles, was mir ab den ersten und seit den zweiten Zähnenwiderfuhr, längst samt Schulbeginn, Murmelspiel und verschorften Knien, denfrühesten Beichtgeheimnissen und der späteren Glaubenspein zu Zettelkram wurde,der seitdem einer Person anhängt, die, kaum zu Papier gebracht, nicht wachsenwollte, Glas in jeder Gebrauchsform zersang, zweihölzerne Stöcke zur Hand hatte und sich dank ihrer Blechtrommel einen Namenmachte, der fortan zitierbar zwischen Buchdeckeln existierte und in weissnichtwieviel Sprachen unsterblich sein will?
Weil dies und auch dasnachgetragen werden muss. Weil vorlaut auffallendetwas fehlen könnte. Weil wer wann in den Brunnen gefallen ist: meine erstdanach überdeckelten Löcher, mein nicht zu bremsendesWachstum, mein Sprachverkehr mit verlorenen Gegenständen. Und auch dieser Grundsei genannt: weil ich das letzte Wort haben will. ()
© Steidl Verlag
Autoren-Porträtvon Günter Grass
Günter Grass ist einer der bedeutendsten Autoren derdeutschen Nachkriegsliteratur. Er wurde am 16.10.1927 in Danzig als Sohndeutsch-polnischer Eltern geboren. Mit 17 Jahren trat er in die Waffen-SS ein,wurde 1945 verwundet, geriet in amerikanische Gefangenschaft und wurde 1946 ausihr entlassen. Seine Familie lebte nach der Vertreibung im Rheinland. GünterGrass machte in Düsseldorf eine Ausbildung zum Steinmetz und studierte an derdortigen Kunstakademie Grafik und Bildhauerei, später setzte er sein Studium inBerlin fort.
Von 1956 bis 1960 lebte Günter Grass in Paris, wo er alsbildender Künstler und als Schriftsteller arbeitete. Dort entstand auch derRoman "Die Blechtrommel", der ihn in der ganzen Welt bekannt machte. Sein Stil,der Lyrik und Erzählkunst vereint, war für die damalige Zeit äusserstprovozierend. Kritiker warfen dem Autor u.a. Blasphemie und Pornografie vor,mussten aber gleichzeitig den scharfen Blick des Autors für geschichtlicheSituationen und menschliche Verhaltensweisen anerkennen. Auch die folgendenWerke, "Katz und Maus" und "Hundjahre", zeugen von Grass besonderemstilistischen Vermögen, aber auch von seinem grossen Interesse für politischeFragestellungen. Grass war jahrelang SPD-Mitglied, formulierte entschiedenePositionen zu nationalen und internationalen Themen und avancierte im Laufeder Zeit zum "Gewissen der Nation". 1974 veröffentlichte er den Sammelband"Der Bürger und seine Stimme. Reden, Aufsätze, Kommentare." Sein Name wirdjedoch vor allem mit seinem erzählerischen Werk verbunden, etwa den in denfolgenden Jahren erscheinenden Romanen "Der Butt", "Die Rättin" und "Ein weitesFeld".
Eine späte Anerkennung seines Erfolgsromans "DieBlechtrommel" erfuhr Günter Grass 1999 durch die Verleihung des Nobelpreisesfür Literatur. Die Freie Universität Berlin ernannte den Autor 2005 zumEhrendoktor.
Unter dem Titel "Beim Häuten der Zwiebel" ist nun dieAutobiografie dieses immer noch und immer wieder kontrovers diskutiertenSchriftstellers erschienen. In ihr gibt er erstmals Auskunft über seine Zeitbei der Waffen-SS.
- Autor: Günter Grass
- 2006, 1., Aufl., 480 Seiten, mit Abbildungen, Masse: 13 x 20,5 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Steidl
- ISBN-10: 3865213308
- ISBN-13: 9783865213303
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