Bei Einbruch der Nacht
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Bei Einbruch der Nacht von Fred Vargas
LESEPROBE
1
Zwei Männerkauerten im Gestrüpp.
»Willst dumir vielleicht meine Arbeit erklären?« flüsterte dererste.
»Ich willgar nichts«, antwortete sein Begleiter, ein grosser Kerl mit langen blondenHaaren, der Lawrence hiess.
Ohne eineBewegung beobachteten die beiden Männer mit den Ferngläsern in der Hand einWolfspaar. Es war zehn Uhr morgens, und die Sonne brannte ihnen auf den Rücken.
»Der Wolfda ist Marcus«, nahm Lawrence das Gespräch wieder auf. »Er ist zurückgekommen.«
Der andereschüttelte den Kopf. Es war ein Mann aus der Gegend, klein, dunkle Haut, ein bisschen bockig. Er überwachte die Wölfe des Mercantour-Massivs* seit sechs Jahren. Er hiess Jean.
* Mercantour, Gebirgsmassiv in den Seealpen an derfranzösisch-italienischen Grenze. Auf der französischen Seite befindet sich der685 km2 grosse Mercantour-Nationalpark.
»Das ist Sibellius«, murmelte er.
»Sibellius ist wesentlich grösser. Der hat nicht diese gelbeSträhne am Hals.«
Verunsichertstellte Jean Mercier erneut sein Fernglas scharf und sah den Wolfsrüden, derdreihundert Meter östlich von ihrem Versteck um den ihm vertrauten Felsenstrich und manchmal den Fang in den Wind hob, prüfend an. Sie waren sehr nah,zu nah, es wäre besser, sich etwas zurückzuziehen, aber Lawrence wollte umjeden Preis filmen. Deshalb war er da: um die Wölfe zu filmen und dann seineReportage in Kanada loszuwerden. Aber seit sechs Monaten schob er seineRückkehr immer wieder unter obskuren Vorwänden hinaus. Um die Wahrheit zusagen: Der Kanadier setzte sich langsam fest. Jean Mercier wusste,warum. Lawrence Donald Johnstone, ein namhafterSpezialist für kanadische Grizzlybären, war einerHandvoll europäischer Wölfe verfallen. Und er konnte sich nicht dazudurchringen, das zu sagen. Na ja, ohnehin redete der Kanadier so wenig wiemöglich.
»Sie ist imFrühling zurückgekommen«, murmelte Lawrence. »Hat ihre Familie gegründet. Aberich erkenn sie nicht wieder.«
»Das ist Proserpina«, flüsterte Jean Mercier, »die Tochter von Janusund Juno, dritte Generation.«
»MitMarcus.«
»MitMarcus.« Mercier sah es endlich ein. »Und das Gute an der Sache ist, dass es ganz neue Welpen gibt.«
»Gut.«
»Sehr gut.«
»Wieviele?«
»Zu früh,um das zu sagen.«
JeanMercier kritzelte ein paar Notizen in sein am Gürtel befestigtes Notizbuch,trank aus seiner Feldflasche und nahm seine Position wieder ein, ohne auch nurden kleinsten Zweig knacken zu lassen. Lawrence legte das Fernglas hin undwischte sich über das Gesicht. Er griff nach der Kamera, richtete sie aufMarcus und begann lächelnd zu filmen. Er hatte fünfzehn Jahre seines Lebensunter Grizzlybären, Karibus und kanadischen Wölfenverbracht, hatte allein die riesigen Nationalparks durchzogen, während erbeobachtete, Notizen machte, filmte und manchmal den Ältesten unter seinenwilden Begleitern half. Nicht gerade lustige Kerle. Ein altes Grizzlyweibchen, Joan, das mit gesenkter Stirn zu ihmgekommen war, um sich den Pelz kratzen zu lassen. Lawrence hatte nicht gedacht,dass das arme, beengte, verwüstete und domestizierte Europaihm irgend etwas ansatzweise Lohnendes zu bietenhätte. Er hatte diesen Reportageauftrag im Mercantour-Massivunter Vorbehalten und nur deshalb angenommen, weil es Sachen gibt, die mannicht ablehnen kann.
Und so sasser nun schliesslich schon ewig in diesem Winkel des Gebirges und schob seineRückkehr vor sich her. Deutlich gesagt, er trödelte herum. Er trödelte wegender europäischen Wölfe und ihres grauen, erbärmlichen Fells, dieser armen,keuchenden Verwandten der hellen Polarwölfe mit buschigem Fell, die seinerVorstellung nach all seine Zärtlichkeit verdienten. Er trödelte wegen derdichten Wolken von Insekten, der Ströme von Schweiss, wegen des verkohltenStrauchwerks, der knisternden Hitze dieser mediterranen Welt. »Warte, du hastnicht alles gesehen«, sagte Jean Mercier in etwas belehrendem Ton, mit diesemstolzen Ausdruck des Kenners, des Hitzigen, des Überlebenden desSonnenabenteuers. »Wir haben erst Juni.«
Undschliesslich trödelte er wegen Camille.
Hier sagtensie, er »setze sich fest«.
»Das istkein Vorwurf«, hatte ihm Jean Mercier mit einer gewissen Würde gesagt, »aberbesser, du weisst es: Du setzt dich fest.«
»Nun, jetztweiss ich es«, hatte Lawrence erwidert.
Lawrencestoppte die Kamera, legte sie vorsichtig auf seinen Rucksack, deckte sie miteinem weissen Tuch zu. Der junge Marcus war gerade in Richtung Nordenverschwunden.
»Er istlos, um vor der grossen Hitze zu jagen«, bemerkte Jean.
Lawrencebesprühte sich das Gesicht, befeuchtete seine Mütze, trank zehn Schlucke. MeineGüte, diese Sonne. Noch nie so eine Hölle erlebt.
»DreiWelpen mindestens«, murmelte Jean.
»Ichkoche«, sagte Lawrence und verzog das Gesicht, während er sich mit der Handüber den Rücken fuhr.
»Warts ab. Du hast noch nicht alles gesehen.«
2
KommissarJean-Baptiste Adamsberg schüttete die Nudeln ins Sieb, liess sie zerstreutabtropfen und beförderte alles auf seinen Teller - mit Käse und Tomaten, daswürde heute abend reichen müssen. Er war wegen derVernehmung eines jungen Idioten, die sich bis elf Uhr hingezogen hatte, spätnach Hause gekommen. Denn Adamsberg war langsam, er mochte es nicht, die Dingeund die Menschen anzutreiben, so blöd sie auch sein mochten. Vor allem aber hasste er es, sich selbst anzutreiben. Der Fernseher liefauf Zimmerlautstärke, Kriege, Kriege und wieder Kriege. Er kramte geräuschvollim Durcheinander der Besteckschublade, fand eine Gabel und stellte sich vor denApparat.
» kam esin einem bislang verschont gebliebenen Kanton des Departements Alpes-Maritimeserneut zu Angriffen durch Wölfe des Mercantour. Esist die Rede von einem Tier von aussergewöhnlicher Grösse. Legende oderWirklichkeit? Vor Ort «
Ganzlangsam näherte sich Adamsberg mit dem Teller in der Hand auf Zehenspitzen demFernseher, wie um den Moderator nicht zu erschrecken. Eine unbedachte Bewegung,und der Typ würde aus dem Fernseher fliehen, ohne diefabelhafte Geschichte von den Wölfen zu Ende zu erzählen, die er geradebegonnen hatte. Adamsberg stellte den Apparat lauter und ging wieder ein Stückzurück. Er mochte Wölfe, so wie man Alpträume mag. Seine ganze Kindheit in denPyrenäen war eingehüllt in die Stimmen der Alten, die das Epos von den letztenWölfen Frankreichs erzählten. Und als er mit neun Jahren nachts durch dasGebirge gezogen war, als sein Vater ihn auf die Bergpfade geschickt hatte, umAnmachholz zu holen, ohne Widerrede, da hatte er zu sehengeglaubt, wie ihre gelben Augen ihn den ganzen Weg über verfolgten. »Wieglühende Holzstückchen, Bürschchen, wie glühende Holzstückchen leuchten dieWolfsaugen in der Nacht.«
Und wenn erheute dorthin in seine Berge zurückkehrte, nahm er nachts dieselben Pfade. Wiedeprimierend der Mensch doch ist, er klammert sich immer an das Schlimmste.
Er hattesehr wohl gehört, dass einige Wölfe aus den Abruzzenwieder die Alpen überquert hatten, schon vor ein paar Jahren. Eine Bande vonVerantwortungslosen gewissermassen. Beschwipste Trunkenbolde. SympathischerStreifzug, symbolische Rückkehr, herzlich willkommen, ihr drei Kerle aus denAbruzzen mit eurem schütteren Pelz. Salut, Kameraden. Er glaubte zu wissen, dass ein paar Typen dort oben im Geröll des Mercantour sie seitdem wie einen Schatz hätschelten. Und dass ihnen von Zeit zu Zeit ein Lamm vor die Zähne kam. Aberes war das erste Mal, dass er Bilder davon sah. Wie,was - diese plötzliche Bestialität sollte das Werk der wackeren Burschen ausden Abruzzen sein? Während er schweigend weiter ass, sah Adamsberg auf demBildschirm ein zerfetztes Schaf, er sah blutverschmierten Boden, das verzerrteGesicht eines Schafzüchters, das blutbefleckte Fell eines Schafes, daszerrissen auf dem Gras einer Weide lag. Die Kamera fuhr genüsslichdie Wunden ab, und der Journalist spitzte seine Fragen zu, schürte das Feuerder dörflichen Wut. Zwischen diesen Bildern tauchten Wolfsschnauzen auf demBildschirm auf, hochgezogene Lefzen, aus alten Dokumentarfilmen eingeblendetund eher vom Balkan als aus den Alpen stammend. Man hätte glauben können, dasgesamte Hinterland von Nizza ginge plötzlich vor dem Atem der wilden Meute indie Knie, während alte Schäfer stolze Gesichter reckten, um das Tierherauszufordern und ihm direkt in die Augen zu sehen. »Wie glühendeHolzstückchen, Bürschchen, wie glühende Holzstückchen.«
Blieben dieFakten: etwa dreissig im Massiv erfasste Wölfe, wennman die jungen, verstreuten nicht mitzählte, etwa zehn an der Zahl, dazu diestreunenden Hunde, die kaum weniger gefährlich waren. Hunderte von Schafen mitzerbissener Kehle im Lauf der vergangenen Saison in einem Umkreis von zehnKilometern um den Mercantour-Nationalpark. In Parisredete man nicht davon, weil einem Geschichten vonWölfen und Schafen in Paris ziemlich egal sind, und Adamsberg hörte die Zahlenmit Verblüffung. Mit zwei neuen Überfällen im Kanton von Aunierswar die Sache wieder in die Schlagzeilen gerückt.
Auf demBildschirm erschien ein bedächtiger, sehr professioneller Tierarzt, der mit demFinger auf eine Wunde zeigte. Nein, da sei kein Zweifel möglich, hier die Bissspur der oberen Reisszähne, der vierte vordere Backenzahnrechts, sehen Sie, und da, davor, der rechte Eckzahn, sehen Sie dort und hierund darunter, hier. Und der Abstand zwischen denbeiden, sehen Sie. Das ist der Kiefer eines grossen Mitglieds der Familie der Canidae.
»Würden Siesagen, ein Wolf, Doktor?«
»Oder einsehr grosser Hund.«
»Oder einsehr grosser Wolf?«
Dann erneutdas verstockte Gesicht eines Schafzüchters. Vier Jahre schlugen sich dieseDrecksviecher jetzt schon mit dem Segen der Leute aus der Hauptstadt den Wanstvoll, noch nie hatte man derartige Verletzungen gesehen. Noch nie. Fangzähne,gross wie eine Hand. Der Schafzüchter streckte den Arm aus und deutete auf dieLinie der Berge am Horizont. Da oben streicht er herum. Ein Tier, wie man esnoch nie gesehen hat. Sollen sie doch lachen in Paris, sollen sie doch lachen.Es wird ihnen schon vergehen, wenn sies erst mal sehen.
Fasziniertass Adamsberg im Stehen seinen Teller mit kalten Nudeln leer. Der Moderatorwechselte zum nächsten Thema. Die Kriege.
Langsamsetzte sich der Kommissar, stellte seinen Teller auf den Boden. Meine Güte, dieWölfe vom Mercantour. Die kleine, unschuldige Meutevom Anfang hatte sich ganz schön vergrössert. Sie weitete ihr Jagdrevier Kantonfür Kanton aus. Sie drang über das Departement Alpes-Maritimes hinaus. Wieviele von den vierzig Wölfen mochten wohl angreifen? Rudel? Paare? EinEinzelgänger? Ja, so war das in den Geschichten. Ein heimtückischer, grausamerEinzelgänger, der sich nachts den Dörfern näherte, das Hinterteil tief geducktüber seinen grauen Läufen. Ein mächtiges Tier. Das Tier vom Mercantour.Und die Kinder in den Häusern. Adamsberg schloss dieAugen. »Wie glühende Holzstückchen, Bürschchen, wie glühende Holzstückchenleuchten die Wolfsaugen in der Nacht.«
© AufbauVerlag
Übersetzung:Tobias Scheffel
Fred Vargas, geboren 1957 und von Haus aus Archäologin. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin und eine Schriftstellerin von Weltrang, übersetzt in 40 Sprachen. Sie erhielt für "Fliehe weit und schnell" den Deutschen Krimipreis, für ihr Gesamtwerk wurde sie mit dem Europäischen Krimipreis ausgezeichnet.Bei Aufbau liegen in Übersetzung vor:Die schöne Diva von Saint-Jacques, Der untröstliche Witwer von Montparnasse, Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord, Bei Einbruch der Nacht, Das Orakel von Port-Nicolas, Im Schatten des Palazzo Farnese, Fliehe weit und schnell, Der vierzehnte Stein, Vom Sinn des Lebens, der Liebe und dem Aufräumen von Schränken, Die dritte Jungfrau, Die schwarzen Wasser der Seine, Das Zeichen des Widders, Der verbotene Ort, Die Tote im Pelzmantel, Von der Liebe, linken Händen und der Angst vor leeren EinkaufskörbenScheffel, Tobias
Tobias Scheffel, geboren 1964, studierte Romanistik, Geschichte und Geografie an den Universitäten von Tübingen, Tours (Frankreich) und Freiburg. Er hat u. a. Fred Vargas, Gustave Flaubert, Catherine Clément und Frédéric Beigbeder aus dem Französischen übersetzt.
- Autor: Fred Vargas
- 2009, 24. Aufl., 336 Seiten, Masse: 11,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Scheffel, Tobias
- Übersetzer: Tobias Scheffel
- Verlag: Aufbau TB
- ISBN-10: 3746615135
- ISBN-13: 9783746615134
- Erscheinungsdatum: 01.04.2002
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