Atem
Thriller
Sally Benedict ist sich sicher: Alles fing mit dem Mord an Lorne Wood an, dem Mädchen, das in dieselbe Schule ging wie ihre Tochter Millie. Heute ist ihre Ehe gescheitert, das Geld wird knapp und sie schlägt einen gefährlichen Weg ein. Kann...
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Produktinformationen zu „Atem “
Sally Benedict ist sich sicher: Alles fing mit dem Mord an Lorne Wood an, dem Mädchen, das in dieselbe Schule ging wie ihre Tochter Millie. Heute ist ihre Ehe gescheitert, das Geld wird knapp und sie schlägt einen gefährlichen Weg ein. Kann ihre Schwester, die Polizistin Zoë sie retten?
Klappentext zu „Atem “
Sie würde für ihr Kind sterben. Aber würde sie auch dafür töten?Sally Benedict ist sich sicher: alles fing mit dem Mord an Lorne Wood an, dem 16-jährigen Mädchen, das in dieselbe Schule ging wie ihre Tochter Millie. Eines Abends kehrte sie nicht mehr nach Hause zurück, man fand sie tot am Kanal, mit einem Tennisball im Mund und einer Plane bedeckt. Aber dies ist nicht das Einzige, was Sally zu schaffen macht: Ihre Ehe ist gescheitert, das Geld wird knapp, und sie hat das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben zunehmend zu verlieren. Als ihre Tochter immer grössere Forderungen stellt, schlägt Sally einen Weg ein, der sie immer tiefer in kriminelle Kreise führt. Und dann übernimmt auch noch ihre Schwester Zoë, die bei der Polizei arbeitet, den Fall Lorne Wood - und es geschieht etwas im Leben der beiden Schwestern, das sie für immer aneinander binden wird ...
Sie würde für ihr Kind sterben. Aber würde sie auch dafür töten?Sally Benedict ist sich sicher: alles fing mit dem Mord an Lorne Wood an, dem 16-jährigen Mädchen, das in dieselbe Schule ging wie ihre Tochter Millie. Eines Abends kehrte sie nicht mehr nach Hause zurück, man fand sie tot am Kanal, mit einem Tennisball im Mund und einer Plane bedeckt. Aber dies ist nicht das Einzige, was Sally zu schaffen macht: Ihre Ehe ist gescheitert, das Geld wird knapp, und sie hat das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben zunehmend zu verlieren. Als ihre Tochter immer grössere Forderungen stellt, schlägt Sally einen Weg ein, der sie immer tiefer in kriminelle Kreise führt. Und dann übernimmt auch noch ihre Schwester Zo", die bei der Polizei arbeitet, den Fall Lorne Wood - und es geschieht etwas im Leben der beiden Schwestern, das sie für immer aneinander binden wird .
Lese-Probe zu „Atem “
Atem vom Mo Hayder... mehr
Die Beerdigung fand in einer anglikanischen Kirche auf einem Hügel etwas außerhalb der alten Bäderstadt Bath statt. Die Kirche, über tausend Jahre alt, war nicht größer als eine Kapelle und die Zufahrt viel zu schmal für die Reporter und Fotografen, die sich hier nach den guten Plätzen drängten. Es war ein warmer Tag, und der Duft von Gras und Geißblatt wehte über den Friedhof, als die Trauergäste eintrafen. Ein paar Rehe, die nachmittags für gewöhnlich hierherkamen und das Moos von den Grabsteinen knabberten, wurden durch den lebhaften Betrieb verschreckt. Sie sprangen davon, setzten über die niedrige Steinmauer und verschwanden im angrenzenden Wald.
Die Leute schoben sich in die Kirche, nur zwei Frauen blieben draußen steif auf einer Bank unter dem weißen Sommerflieder sitzen. Schmetterlinge flatterten und schwirrten zwischen den Blüten über ihren Köpfen umher, aber die Frauen schauten nicht zu ihnen hinauf. Sie waren vereint in ihrem Schweigen - immer noch benommen und fassungslos angesichts der Kette der Ereignisse, die sie hierhergeführt hatte. Sally und Zoë Benedict. Schwestern, auch wenn man es ihnen nicht ansah. Die große, langbeinige war Zoë, um ein Jahr älter als ihre Schwester Sally, die viel kleiner und gefasster war und immer noch das runde, aufgeräumte Gesicht eines Kindes hatte. Sie saß da und schaute hinunter auf ihre kleinen Hände und das Papiertaschentuch, das sie geknetet und in kleine Fetzen gerissen hatte.
»Es ist schwerer, als ich dachte«, sagte sie. »Ich meine - ich weiß nicht, ob ich da reingehen kann. Ich dachte, ich könnte es, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
»Ich auch nicht«, sagte Zoë leise. »Ich auch nicht.«
Eine Zeitlang saßen sie stumm da. Ein oder zwei Leute kamen die Treppe herauf, Leute, die sie nicht kannten. Dann zwei Freunde von Millie: Peter und Nial. Unbeholfen sahen sie aus in ihren feinen Anzügen und mit ihren ernsten Gesichtern.
»Seine Schwester ist hier«, sagte Zoë nach einer Weile. »Ich habe auf der Treppe mit ihr gesprochen.«
»Seine Schwester? Ich wusste nicht, dass er eine hat.« »Er hat eine.«
»Seltsame Vorstellung, dass er eine Familie hat. Wie sieht sie aus?«
»Kein bisschen wie er, Gott sei Dank. Aber sie hat gefragt, ob sie mit dir sprechen kann.«
»Was will sie?«
Zoë zuckte die Achseln. »Sich entschuldigen, nehme ich an.« »Was hast du gesagt?«
»Was glaubst du? Nein. Natürlich ist die Antwort nein. Sie ist reingegangen.« Sie warf einen Blick über die Schulter zur Kirchentür. Der Vikar stand da und sprach leise mit Steve Finder, Sallys neuem Freund. Er war ein guter Mann, dachte Zoë - einer, der Sally Halt geben konnte, ohne sie zu sehr zu erdrücken. So jemanden brauchte sie. Er blickte auf, sah, dass Zoë ihn anschaute, und nickte. Dann hob er das Handgelenk und tippte auf seine Uhr, um zu signalisieren, dass es Zeit war. Der Vikar legte die Hände an die Türflügel, um sie zu schließen. Zoë stand auf. »Komm. Bringen wir's hinter uns.«
Sally rührte sich nicht. »Ich muss dich etwas fragen, Zoë. Zu dem, was passiert ist.«
Zoë zögerte. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um darüber zu reden. Sie konnten nicht ändern, was geschehen war, in-
dem sie darüber diskutierten. Aber sie setzte sich wieder. »Okay.«
»Es hört sich bestimmt komisch an.« Sally verdrehte die Taschentuchfetzen mit beiden Händen. »Aber glaubst du im Rückblick ... glaubst du, du hättest es kommen sehen können?«
»Oh, Sally - nein. Nein, das glaube ich nicht. Polizisten sind ja keine Hellseher. Auch wenn die Öffentlichkeit das gern hätte.«
»Ich hab mich nur gefragt. Weil ... «
»Weil was?«
»Weil ich rückblickend glaube, ich hätte es kommen sehen können. Ich glaube, ich habe eine Warnung erhalten. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich glaube es. Es gab eine Warnung. Oder eine Vorahnung. Oder einen Blick in die Zukunft. Wie immer du es nennen willst.«
»Nein, Sally. Das ist verrückt.«
»Ich weiß - und in dem Moment dachte ich es auch. Es war blöd, dachte ich. Aber jetzt kann ich mir nicht helfen: Ich denke dauernd, wenn ich darauf geachtet hätte, wenn ich das alles hier vorausgesehen hätte« - sie spreizte die Hände und deutete auf die Kirche, den Leichenwagen, der unten an der Treppe angehalten hatte, die Übertragungswagen und die Fotografen -, »dann hätte ich es verhindern können.«
Zoë dachte eine Weile darüber nach. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie über eine solche Äußerung gelacht. Doch jetzt war sie nicht mehr sicher. Die Welt war ein seltsamer Ort. Sie schaute zu Steve und dem Vikar hinauf und sah dann wieder ihre Schwester an. »Du hast mir nie etwas von einer ›Warnung‹ erzählt. Was für eine Warnung war das? Und wann hast du sie bekommen?«
»Wann?« Sally schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht ganz sicher. Aber ich glaube, es war an dem Tag, als die Sache mit Lorne Wood anfing.«
ERSTER TEIL
1
Es war ein Frühlingsnachmittag Anfang Mai gewesen, als die Abende wieder länger wurden und die Primeln und Tulpen unter den Bäumen schon zerfranst und unordentlich aussahen. Die ersten Anzeichen wärmeren Wetters hatten alle in gute Laune versetzt, und zum ersten Mal seit Monaten war Sally zu Isabelle zum Lunch gekommen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und ihre halbwüchsigen Kinder waren im Garten. Die beiden Frauen machten eine Flasche Wein auf und blieben in der Küche. Die Fenster waren offen, die Baumwollvorhänge wehten leicht im Wind, und von ihrem Platz am Tisch aus konnte Sally die Teenager beobachten. Sie kannten einander seit dem Kindergarten, aber erst seit ungefähr einem Jahr kam Millie wirklich gern hierher. Jetzt waren sie eine Bande, eine richtige kleine Clique: zwei Mädchen, zwei Jungen, zwei Jahre auseinander, aber auf derselben Privatschule, Kingsmead. Sophie, mit fünfzehn Isabelles Jüngste, machte im Garten Handstand, und ihre dunklen Locken schwangen wild umher. Millie, genauso alt, aber einen Kopf kleiner, hielt ihre Beine fest. Beide Mädchen trugen ähnliche Jeans und Neckholder-Tops, aber im Vergleich zu Sophies Kleidern waren Millies Sachen ausgeblichen und verschlissen.
»Ich muss da was machen«, sagte Sally nachdenklich. »Ihre Schuluniform hält auch nicht mehr lange. Ich war bei der Hausmutter, um zu sehen, ob ich eine Second-Hand-Uniform kriegen kann, aber sie hatte in Millies Größe nichts mehr da. Anscheinend kaufen alle Eltern von Kingsmead nur noch Second Hand.«
»Alle müssen den Gürtel etwas enger schnallen«, sagte Isabelle. Sie machte einen Sirupkuchen und beschwerte gerade den Teigboden mit einer Handvoll Murmeln, die sie in einem Glas auf dem Kühlschrank aufbewahrte. Die Butter und der goldene Sirup blubberten im Topf und erfüllten die Küche mit ihrem schweren, nussigen Duft. »Ich habe Sophies Sachen immer der Hausmutter gebracht.« Sie hatte die Murmeln auf dem Teig verteilt und schob die Form in den Ofen. »Aber von jetzt an hebe ich sie für Millie auf. Sophie trägt eine Nummer größer als sie.«
Sie wischte sich die bemehlten Hände an der Schürze ab, blieb einen Moment stehen und betrachtete ihre Freundin. Sally wusste, was sie dachte: Ihr Gesicht war blass und faltig, ihr Haar ungewaschen. Wahrscheinlich sah Isabelle vor ihrem geistigen Auge die pinkfarbene Schürze der Gebäudereinigungsfirma »Home Maids«, die Sally sonst über verblichenen Jeans und einem Top mit Blumenmuster trug, und empfand Mitleid. Nach all der Zeit fing sie langsam an, sich an Mitleid zu gewöhnen. Natürlich war es die Scheidung. Die Scheidung und Julians neue Frau und ihr Baby.
»Ich wünschte, ich könnte ein bisschen mehr tun, um zu helfen.«
»Du hilfst doch, Isabelle.« Sie lächelte. »Du sprichst noch mit mir. Das ist mehr, als die anderen Mums in Kingsmead tun.« »Ist es so schlimm? Immer noch?«
Schlimmer, dachte sie. Aber sie lächelte. »Es wird schon wieder.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Ich meine - ich habe mit der Bank gesprochen und meine Kredite hin und her geschoben, sodass ich nicht mehr so hohe Zinsen zahlen muss. Und ich kriege jetzt mehr Stunden von der Agentur.«
»Ich weiß nicht, wie du das schaffst.«
Sally zuckte die Achseln. »Das schaffen andere Leute auch.«
»Ja, aber andere Leute sind solche Arbeit gewöhnt.«
Sie sah zu, wie Isabelle an den Herd trat und im Sirup rührte. Daneben standen offene Tüten mit Mehl und Haferflocken. Auf allen Artikeln standen Namen wie »Waitrose« oder »Finest« oder »Goodies Delicatessen«. Zu Hause im Cottage bei Sally und Millie stand »Aldi« oder »Lidl« auf den Packungen, und das Gefrierfach war voll von dem kümmerlichen, faserigen Grünzeug, das sie mühsam im Garten herangezogen hatte. Das war eine Lektion, die Sally sehr schnell gelernt hatte: Gemüsezucht war eine Beschäftigung für Reiche, die nichts zu tun hatten. Viel billiger war es, so etwas im Supermarkt zu kaufen. Jetzt nagte sie am Daumennagel und sah zu, wie Isabelle in der Küche hantierte, sah den vertrauten, kräftigen Rücken, die zweckmäßigen schlammfarbenen Shorts, die Bluse, die mit Blütenzweigen bedruckte Schürze. Sie waren seit Jahren befreundet, und Isabelle war der Mensch, dem Sally am meisten vertraute und bei dem sie sich zuallererst Rat holte. Trotzdem genierte sie sich jetzt ein wenig, über das zu sprechen, was sie beschäftigte.
Aber schließlich ging sie doch zu ihrer Tasche und zog eine blaue Mappe heraus. Sie war schäbig und wurde nur mit einem Gummiband zusammengehalten. Sally kam damit zum Tisch, legte sie neben die Weingläser, zog das Gummiband ab und nahm den Inhalt heraus. Handgemalte Karten, geschmückt mit Perlen, Schleifen und Federn, alles mit klarem Lack überzogen. Sie legte sie auf den Tisch und saß unschlüssig da, halbwegs bereit, alles wieder zusammenzuraffen und in ihre Tasche zu stecken.
»Sally?« Isabelle nahm den Topf vom Herd und rührte weiter darin, als sie herüberkam, um sich die Karten anzusehen. »Die hast du doch nicht etwa selbst gemacht, oder?« Sie betrachtete die oberste. Sie zeigte eine Frau mit einem violetten, mit Sternen besetzten Tuch, das sie sich vor das Gesicht gezogen hatte, sodass nur noch die Augen zu sehen waren. »Gott - wie schön. Was ist das?«
»Tarotkarten.«
»Tarot? Hast du plötzlich ein Faible für Esoterik? Wirst du uns allen die Zukunft weissagen?«
»Selbstverständlich nicht.«
Isabelle setzte den Topf ab und nahm die zweite Karte in die Hand. Abgebildet war eine hochgewachsene Frau, die einen großen, durchsichtigen Stern auf Armlänge vor sich hielt. Es sah aus, als schaue sie durch ihn hindurch zu den Wolken und der Sonne hinauf. Ihre zerzausten, grau gesträhnten Locken reichten weit über den Rücken hinunter. Isabelle lächelte verlegen. »Das bin doch nicht etwa ich, oder?«
»Doch.«
»Im Ernst, Sally? Das Dekolleté schmeichelt mir aber, wenn ich das sagen darf.«
»Wenn du sie alle anschaust, wirst du jede Menge bekannte Gesichter entdecken.«
Isabelle blätterte in den Karten und hielt ab und zu inne, wenn sie jemanden erkannte. »Sophie! Und Millie. Du hast uns alle gemalt. Die Kinder auch. Sie sind wunderschön.«
»Ich hab mich gefragt«, sagte Sally zögernd, »ob ich sie vielleicht verkaufen kann. Zum Beispiel an den Hippieladen in Northumberland Place. Was meinst du?«
Isabelle drehte sich um und warf ihr einen seltsamen Blick zu, halb verwundert, halb amüsiert, als wüsste sie nicht, ob Sally einen Witz machte oder nicht.
Sofort war Sally klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Hastig schob sie die Karten zusammen und spürte, wie ihr vor lauter Verlegenheit die Röte am Hals heraufkroch. »Nein ... ich meine, natürlich sind sie nicht gut genug. Das wusste ich schon.«
»Nein, räum sie nicht weg. Sie sind toll. Wirklich toll. Es ist nur so, dass ... meinst du wirklich, du kriegst dafür so viel, dass es dir - du weißt schon, dass es dir bei deinen ... Schulden hilft?«
Sally starrte die Karten an. Ihr Gesicht glühte. Sie hätte gar nicht davon anfangen sollen. Isabelle hatte recht; sie würde für diese Karten kaum etwas bekommen. Auf keinen Fall genug, um ihren Schuldenberg auch nur anzukratzen. Sie war dumm. So dumm.
»Aber nicht, weil sie nicht gut sind, Sally. Sie sind ausgezeichnet! Ehrlich, sie sind toll. Sieh dir die hier an!« Isabelle hielt Millies Porträt hoch. Die kleine, verrückte Millie, immer kleiner als die andern und das genaue Gegenteil von Sally, mit ihrem Zickzackpony und dem wirren, zottigen roten Haar, mit dem sie aussah wie ein kleines nepalesisches Straßenkind. Ihre Augen waren so wild und rund wie die eines Tieres - genau wie bei Millies Tante Zoë. »Sie ist einfach super. Genau so sieht sie aus. Und die hier mit Sophie - sie ist hinreißend. Hinreißend! Und Nial. Und Peter.« Nial war Isabelles schüchterner Sohn, ihr älteres Kind, und Peter Cyrus war sein gut aussehender Freund, ein Draufgänger und besonders beliebt bei den Mädchen. »Und Lorne - sieh sie nur an ... und noch mal Millie. Und noch mal Sophie, und dann ich. Und ...« Sie brach plötzlich ab und starrte eine Karte an. »Oh«, sagte sie schaudernd. »Oh.«
»Was?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas stimmt nicht mit der Farbe auf dieser da.«
Sally zog die Karte heran. Es war die Prinzessin der Stäbe. Sie trug ein wirbelndes rotes Kleid und hielt mit Mühe einen Tiger zurück, der an der Leine zerrte. Auch hier war Millie das Modell gewesen, aber auf dieser Karte war etwas mit ihrem Gesicht passiert. Sally strich mit dem Finger darüber und drückte darauf. Vielleicht war das Acryl rissig geworden oder hatte sich irgendwie gelöst, denn Körper, Kleidung und Hintergrund waren noch so, wie sie sie gemalt hatte, aber das Gesicht war verschwommen. Es sah aus wie auf einem Gemälde von Francis Bacon oder Lucian Freud. Auf einem dieser erschreckenden Bilder, auf denen man durch die Haut der Figuren hindurchzuschauen und geradewegs das Fleisch zu sehen glaubte.
»Igitt«, sagte Isabelle. »Ich bin froh, dass ich an solchen Kram nicht glaube. Sonst wäre ich jetzt wirklich beunruhigt. Als wär's eine Warnung oder so was.«
Sally sagte nichts. Sie starrte das Gesicht an. Es war, als sei da eine Hand gewesen und habe Millies Züge verwischt.
»Sally? Du glaubst doch nicht an solche Sachen, oder?«
Sally schob die Karte unter den Stapel. Sie hob den Kopf und klapperte mit den Lidern. »Natürlich nicht. Sei nicht albern.«
Isabelle trug den Topf zurück zum Herd. Sally legte die Karten unordentlich zusammen, verstaute sie wieder in ihrer Tasche und trank hastig einen Schluck Wein. Sie hätte das Glas gern auf einen Zug leergetrunken, um das Unbehagen loszuwerden, das sich in ihrem Magen zusammengezogen hatte. Gern hätte sie sich ein bisschen angesäuselt mit Isabelle draußen in der Sonne in einen Liegestuhl gelegt, wie sie es früher getan hatten - damals, als sie noch einen Mann hatte und mit ihrer Zeit anfangen konnte, was sie wollte. Damals war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel Glück sie hatte. Jetzt konnte sie nicht in der Sonne sitzen und trinken, nicht mal sonntags. Den guten Wein, den Isabelle trank, konnte sie sich nicht leisten. Und wenn der Lunch hier vorbei wäre, würde sie nicht in den Garten, sondern zur Arbeit gehen. Vielleicht, dachte sie und rieb sich müde den Nacken, hatte sie genau das ja verdient.
»Mum? Mum! «
Die beiden Frauen drehten sich um. Millie stand in der Tür, rot und atemlos. Ihre Jeans war voller Grasflecken, und sie hielt ihnen ihr Telefon in der erhobenen Hand entgegen.
»Millie?« Sally richtete sich auf. »Was ist denn?«
»Können wir Ihren Computer einschalten, Mrs. Sweetman? Sie twittern alle darüber. Es ist wegen Lorne. Sie ist verschwunden.«
...
Übersetzung: Rainer Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Beerdigung fand in einer anglikanischen Kirche auf einem Hügel etwas außerhalb der alten Bäderstadt Bath statt. Die Kirche, über tausend Jahre alt, war nicht größer als eine Kapelle und die Zufahrt viel zu schmal für die Reporter und Fotografen, die sich hier nach den guten Plätzen drängten. Es war ein warmer Tag, und der Duft von Gras und Geißblatt wehte über den Friedhof, als die Trauergäste eintrafen. Ein paar Rehe, die nachmittags für gewöhnlich hierherkamen und das Moos von den Grabsteinen knabberten, wurden durch den lebhaften Betrieb verschreckt. Sie sprangen davon, setzten über die niedrige Steinmauer und verschwanden im angrenzenden Wald.
Die Leute schoben sich in die Kirche, nur zwei Frauen blieben draußen steif auf einer Bank unter dem weißen Sommerflieder sitzen. Schmetterlinge flatterten und schwirrten zwischen den Blüten über ihren Köpfen umher, aber die Frauen schauten nicht zu ihnen hinauf. Sie waren vereint in ihrem Schweigen - immer noch benommen und fassungslos angesichts der Kette der Ereignisse, die sie hierhergeführt hatte. Sally und Zoë Benedict. Schwestern, auch wenn man es ihnen nicht ansah. Die große, langbeinige war Zoë, um ein Jahr älter als ihre Schwester Sally, die viel kleiner und gefasster war und immer noch das runde, aufgeräumte Gesicht eines Kindes hatte. Sie saß da und schaute hinunter auf ihre kleinen Hände und das Papiertaschentuch, das sie geknetet und in kleine Fetzen gerissen hatte.
»Es ist schwerer, als ich dachte«, sagte sie. »Ich meine - ich weiß nicht, ob ich da reingehen kann. Ich dachte, ich könnte es, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
»Ich auch nicht«, sagte Zoë leise. »Ich auch nicht.«
Eine Zeitlang saßen sie stumm da. Ein oder zwei Leute kamen die Treppe herauf, Leute, die sie nicht kannten. Dann zwei Freunde von Millie: Peter und Nial. Unbeholfen sahen sie aus in ihren feinen Anzügen und mit ihren ernsten Gesichtern.
»Seine Schwester ist hier«, sagte Zoë nach einer Weile. »Ich habe auf der Treppe mit ihr gesprochen.«
»Seine Schwester? Ich wusste nicht, dass er eine hat.« »Er hat eine.«
»Seltsame Vorstellung, dass er eine Familie hat. Wie sieht sie aus?«
»Kein bisschen wie er, Gott sei Dank. Aber sie hat gefragt, ob sie mit dir sprechen kann.«
»Was will sie?«
Zoë zuckte die Achseln. »Sich entschuldigen, nehme ich an.« »Was hast du gesagt?«
»Was glaubst du? Nein. Natürlich ist die Antwort nein. Sie ist reingegangen.« Sie warf einen Blick über die Schulter zur Kirchentür. Der Vikar stand da und sprach leise mit Steve Finder, Sallys neuem Freund. Er war ein guter Mann, dachte Zoë - einer, der Sally Halt geben konnte, ohne sie zu sehr zu erdrücken. So jemanden brauchte sie. Er blickte auf, sah, dass Zoë ihn anschaute, und nickte. Dann hob er das Handgelenk und tippte auf seine Uhr, um zu signalisieren, dass es Zeit war. Der Vikar legte die Hände an die Türflügel, um sie zu schließen. Zoë stand auf. »Komm. Bringen wir's hinter uns.«
Sally rührte sich nicht. »Ich muss dich etwas fragen, Zoë. Zu dem, was passiert ist.«
Zoë zögerte. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um darüber zu reden. Sie konnten nicht ändern, was geschehen war, in-
dem sie darüber diskutierten. Aber sie setzte sich wieder. »Okay.«
»Es hört sich bestimmt komisch an.« Sally verdrehte die Taschentuchfetzen mit beiden Händen. »Aber glaubst du im Rückblick ... glaubst du, du hättest es kommen sehen können?«
»Oh, Sally - nein. Nein, das glaube ich nicht. Polizisten sind ja keine Hellseher. Auch wenn die Öffentlichkeit das gern hätte.«
»Ich hab mich nur gefragt. Weil ... «
»Weil was?«
»Weil ich rückblickend glaube, ich hätte es kommen sehen können. Ich glaube, ich habe eine Warnung erhalten. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich glaube es. Es gab eine Warnung. Oder eine Vorahnung. Oder einen Blick in die Zukunft. Wie immer du es nennen willst.«
»Nein, Sally. Das ist verrückt.«
»Ich weiß - und in dem Moment dachte ich es auch. Es war blöd, dachte ich. Aber jetzt kann ich mir nicht helfen: Ich denke dauernd, wenn ich darauf geachtet hätte, wenn ich das alles hier vorausgesehen hätte« - sie spreizte die Hände und deutete auf die Kirche, den Leichenwagen, der unten an der Treppe angehalten hatte, die Übertragungswagen und die Fotografen -, »dann hätte ich es verhindern können.«
Zoë dachte eine Weile darüber nach. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie über eine solche Äußerung gelacht. Doch jetzt war sie nicht mehr sicher. Die Welt war ein seltsamer Ort. Sie schaute zu Steve und dem Vikar hinauf und sah dann wieder ihre Schwester an. »Du hast mir nie etwas von einer ›Warnung‹ erzählt. Was für eine Warnung war das? Und wann hast du sie bekommen?«
»Wann?« Sally schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht ganz sicher. Aber ich glaube, es war an dem Tag, als die Sache mit Lorne Wood anfing.«
ERSTER TEIL
1
Es war ein Frühlingsnachmittag Anfang Mai gewesen, als die Abende wieder länger wurden und die Primeln und Tulpen unter den Bäumen schon zerfranst und unordentlich aussahen. Die ersten Anzeichen wärmeren Wetters hatten alle in gute Laune versetzt, und zum ersten Mal seit Monaten war Sally zu Isabelle zum Lunch gekommen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und ihre halbwüchsigen Kinder waren im Garten. Die beiden Frauen machten eine Flasche Wein auf und blieben in der Küche. Die Fenster waren offen, die Baumwollvorhänge wehten leicht im Wind, und von ihrem Platz am Tisch aus konnte Sally die Teenager beobachten. Sie kannten einander seit dem Kindergarten, aber erst seit ungefähr einem Jahr kam Millie wirklich gern hierher. Jetzt waren sie eine Bande, eine richtige kleine Clique: zwei Mädchen, zwei Jungen, zwei Jahre auseinander, aber auf derselben Privatschule, Kingsmead. Sophie, mit fünfzehn Isabelles Jüngste, machte im Garten Handstand, und ihre dunklen Locken schwangen wild umher. Millie, genauso alt, aber einen Kopf kleiner, hielt ihre Beine fest. Beide Mädchen trugen ähnliche Jeans und Neckholder-Tops, aber im Vergleich zu Sophies Kleidern waren Millies Sachen ausgeblichen und verschlissen.
»Ich muss da was machen«, sagte Sally nachdenklich. »Ihre Schuluniform hält auch nicht mehr lange. Ich war bei der Hausmutter, um zu sehen, ob ich eine Second-Hand-Uniform kriegen kann, aber sie hatte in Millies Größe nichts mehr da. Anscheinend kaufen alle Eltern von Kingsmead nur noch Second Hand.«
»Alle müssen den Gürtel etwas enger schnallen«, sagte Isabelle. Sie machte einen Sirupkuchen und beschwerte gerade den Teigboden mit einer Handvoll Murmeln, die sie in einem Glas auf dem Kühlschrank aufbewahrte. Die Butter und der goldene Sirup blubberten im Topf und erfüllten die Küche mit ihrem schweren, nussigen Duft. »Ich habe Sophies Sachen immer der Hausmutter gebracht.« Sie hatte die Murmeln auf dem Teig verteilt und schob die Form in den Ofen. »Aber von jetzt an hebe ich sie für Millie auf. Sophie trägt eine Nummer größer als sie.«
Sie wischte sich die bemehlten Hände an der Schürze ab, blieb einen Moment stehen und betrachtete ihre Freundin. Sally wusste, was sie dachte: Ihr Gesicht war blass und faltig, ihr Haar ungewaschen. Wahrscheinlich sah Isabelle vor ihrem geistigen Auge die pinkfarbene Schürze der Gebäudereinigungsfirma »Home Maids«, die Sally sonst über verblichenen Jeans und einem Top mit Blumenmuster trug, und empfand Mitleid. Nach all der Zeit fing sie langsam an, sich an Mitleid zu gewöhnen. Natürlich war es die Scheidung. Die Scheidung und Julians neue Frau und ihr Baby.
»Ich wünschte, ich könnte ein bisschen mehr tun, um zu helfen.«
»Du hilfst doch, Isabelle.« Sie lächelte. »Du sprichst noch mit mir. Das ist mehr, als die anderen Mums in Kingsmead tun.« »Ist es so schlimm? Immer noch?«
Schlimmer, dachte sie. Aber sie lächelte. »Es wird schon wieder.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Ich meine - ich habe mit der Bank gesprochen und meine Kredite hin und her geschoben, sodass ich nicht mehr so hohe Zinsen zahlen muss. Und ich kriege jetzt mehr Stunden von der Agentur.«
»Ich weiß nicht, wie du das schaffst.«
Sally zuckte die Achseln. »Das schaffen andere Leute auch.«
»Ja, aber andere Leute sind solche Arbeit gewöhnt.«
Sie sah zu, wie Isabelle an den Herd trat und im Sirup rührte. Daneben standen offene Tüten mit Mehl und Haferflocken. Auf allen Artikeln standen Namen wie »Waitrose« oder »Finest« oder »Goodies Delicatessen«. Zu Hause im Cottage bei Sally und Millie stand »Aldi« oder »Lidl« auf den Packungen, und das Gefrierfach war voll von dem kümmerlichen, faserigen Grünzeug, das sie mühsam im Garten herangezogen hatte. Das war eine Lektion, die Sally sehr schnell gelernt hatte: Gemüsezucht war eine Beschäftigung für Reiche, die nichts zu tun hatten. Viel billiger war es, so etwas im Supermarkt zu kaufen. Jetzt nagte sie am Daumennagel und sah zu, wie Isabelle in der Küche hantierte, sah den vertrauten, kräftigen Rücken, die zweckmäßigen schlammfarbenen Shorts, die Bluse, die mit Blütenzweigen bedruckte Schürze. Sie waren seit Jahren befreundet, und Isabelle war der Mensch, dem Sally am meisten vertraute und bei dem sie sich zuallererst Rat holte. Trotzdem genierte sie sich jetzt ein wenig, über das zu sprechen, was sie beschäftigte.
Aber schließlich ging sie doch zu ihrer Tasche und zog eine blaue Mappe heraus. Sie war schäbig und wurde nur mit einem Gummiband zusammengehalten. Sally kam damit zum Tisch, legte sie neben die Weingläser, zog das Gummiband ab und nahm den Inhalt heraus. Handgemalte Karten, geschmückt mit Perlen, Schleifen und Federn, alles mit klarem Lack überzogen. Sie legte sie auf den Tisch und saß unschlüssig da, halbwegs bereit, alles wieder zusammenzuraffen und in ihre Tasche zu stecken.
»Sally?« Isabelle nahm den Topf vom Herd und rührte weiter darin, als sie herüberkam, um sich die Karten anzusehen. »Die hast du doch nicht etwa selbst gemacht, oder?« Sie betrachtete die oberste. Sie zeigte eine Frau mit einem violetten, mit Sternen besetzten Tuch, das sie sich vor das Gesicht gezogen hatte, sodass nur noch die Augen zu sehen waren. »Gott - wie schön. Was ist das?«
»Tarotkarten.«
»Tarot? Hast du plötzlich ein Faible für Esoterik? Wirst du uns allen die Zukunft weissagen?«
»Selbstverständlich nicht.«
Isabelle setzte den Topf ab und nahm die zweite Karte in die Hand. Abgebildet war eine hochgewachsene Frau, die einen großen, durchsichtigen Stern auf Armlänge vor sich hielt. Es sah aus, als schaue sie durch ihn hindurch zu den Wolken und der Sonne hinauf. Ihre zerzausten, grau gesträhnten Locken reichten weit über den Rücken hinunter. Isabelle lächelte verlegen. »Das bin doch nicht etwa ich, oder?«
»Doch.«
»Im Ernst, Sally? Das Dekolleté schmeichelt mir aber, wenn ich das sagen darf.«
»Wenn du sie alle anschaust, wirst du jede Menge bekannte Gesichter entdecken.«
Isabelle blätterte in den Karten und hielt ab und zu inne, wenn sie jemanden erkannte. »Sophie! Und Millie. Du hast uns alle gemalt. Die Kinder auch. Sie sind wunderschön.«
»Ich hab mich gefragt«, sagte Sally zögernd, »ob ich sie vielleicht verkaufen kann. Zum Beispiel an den Hippieladen in Northumberland Place. Was meinst du?«
Isabelle drehte sich um und warf ihr einen seltsamen Blick zu, halb verwundert, halb amüsiert, als wüsste sie nicht, ob Sally einen Witz machte oder nicht.
Sofort war Sally klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Hastig schob sie die Karten zusammen und spürte, wie ihr vor lauter Verlegenheit die Röte am Hals heraufkroch. »Nein ... ich meine, natürlich sind sie nicht gut genug. Das wusste ich schon.«
»Nein, räum sie nicht weg. Sie sind toll. Wirklich toll. Es ist nur so, dass ... meinst du wirklich, du kriegst dafür so viel, dass es dir - du weißt schon, dass es dir bei deinen ... Schulden hilft?«
Sally starrte die Karten an. Ihr Gesicht glühte. Sie hätte gar nicht davon anfangen sollen. Isabelle hatte recht; sie würde für diese Karten kaum etwas bekommen. Auf keinen Fall genug, um ihren Schuldenberg auch nur anzukratzen. Sie war dumm. So dumm.
»Aber nicht, weil sie nicht gut sind, Sally. Sie sind ausgezeichnet! Ehrlich, sie sind toll. Sieh dir die hier an!« Isabelle hielt Millies Porträt hoch. Die kleine, verrückte Millie, immer kleiner als die andern und das genaue Gegenteil von Sally, mit ihrem Zickzackpony und dem wirren, zottigen roten Haar, mit dem sie aussah wie ein kleines nepalesisches Straßenkind. Ihre Augen waren so wild und rund wie die eines Tieres - genau wie bei Millies Tante Zoë. »Sie ist einfach super. Genau so sieht sie aus. Und die hier mit Sophie - sie ist hinreißend. Hinreißend! Und Nial. Und Peter.« Nial war Isabelles schüchterner Sohn, ihr älteres Kind, und Peter Cyrus war sein gut aussehender Freund, ein Draufgänger und besonders beliebt bei den Mädchen. »Und Lorne - sieh sie nur an ... und noch mal Millie. Und noch mal Sophie, und dann ich. Und ...« Sie brach plötzlich ab und starrte eine Karte an. »Oh«, sagte sie schaudernd. »Oh.«
»Was?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas stimmt nicht mit der Farbe auf dieser da.«
Sally zog die Karte heran. Es war die Prinzessin der Stäbe. Sie trug ein wirbelndes rotes Kleid und hielt mit Mühe einen Tiger zurück, der an der Leine zerrte. Auch hier war Millie das Modell gewesen, aber auf dieser Karte war etwas mit ihrem Gesicht passiert. Sally strich mit dem Finger darüber und drückte darauf. Vielleicht war das Acryl rissig geworden oder hatte sich irgendwie gelöst, denn Körper, Kleidung und Hintergrund waren noch so, wie sie sie gemalt hatte, aber das Gesicht war verschwommen. Es sah aus wie auf einem Gemälde von Francis Bacon oder Lucian Freud. Auf einem dieser erschreckenden Bilder, auf denen man durch die Haut der Figuren hindurchzuschauen und geradewegs das Fleisch zu sehen glaubte.
»Igitt«, sagte Isabelle. »Ich bin froh, dass ich an solchen Kram nicht glaube. Sonst wäre ich jetzt wirklich beunruhigt. Als wär's eine Warnung oder so was.«
Sally sagte nichts. Sie starrte das Gesicht an. Es war, als sei da eine Hand gewesen und habe Millies Züge verwischt.
»Sally? Du glaubst doch nicht an solche Sachen, oder?«
Sally schob die Karte unter den Stapel. Sie hob den Kopf und klapperte mit den Lidern. »Natürlich nicht. Sei nicht albern.«
Isabelle trug den Topf zurück zum Herd. Sally legte die Karten unordentlich zusammen, verstaute sie wieder in ihrer Tasche und trank hastig einen Schluck Wein. Sie hätte das Glas gern auf einen Zug leergetrunken, um das Unbehagen loszuwerden, das sich in ihrem Magen zusammengezogen hatte. Gern hätte sie sich ein bisschen angesäuselt mit Isabelle draußen in der Sonne in einen Liegestuhl gelegt, wie sie es früher getan hatten - damals, als sie noch einen Mann hatte und mit ihrer Zeit anfangen konnte, was sie wollte. Damals war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel Glück sie hatte. Jetzt konnte sie nicht in der Sonne sitzen und trinken, nicht mal sonntags. Den guten Wein, den Isabelle trank, konnte sie sich nicht leisten. Und wenn der Lunch hier vorbei wäre, würde sie nicht in den Garten, sondern zur Arbeit gehen. Vielleicht, dachte sie und rieb sich müde den Nacken, hatte sie genau das ja verdient.
»Mum? Mum! «
Die beiden Frauen drehten sich um. Millie stand in der Tür, rot und atemlos. Ihre Jeans war voller Grasflecken, und sie hielt ihnen ihr Telefon in der erhobenen Hand entgegen.
»Millie?« Sally richtete sich auf. »Was ist denn?«
»Können wir Ihren Computer einschalten, Mrs. Sweetman? Sie twittern alle darüber. Es ist wegen Lorne. Sie ist verschwunden.«
...
Übersetzung: Rainer Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Mo Hayder
Mo Hayder, 1962 in Essex geboren, verliess mit fünfzehn ihr Zuhause, um in London das Abenteuer zu suchen. Sie hat später viele Jahre im Ausland verbracht, unter anderem auch in Tokio, wo sie eine Zeit lang in einem Nachtclub arbeitete und für eine englische Zeitung schrieb. Sie studierte Filmwissenschaften an der American University in Washington D.C. und später Creative Writing an der Bath Spa University. Die Autorin lebt heute mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Tochter in der Nähe von Bath.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mo Hayder
- 2012, 479 Seiten, Masse: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Rainer
- Übersetzer: Rainer Schmidt
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442312132
- ISBN-13: 9783442312139
Rezension zu „Atem “
"Super Kopfkino!"
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