Ameisengesellschaften
Eine Faszinationsgeschichte
Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äusserst flexibel und kann als...
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Produktinformationen zu „Ameisengesellschaften “
Klappentext zu „Ameisengesellschaften “
Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äusserst flexibel und kann als Vorlage sowohl für republikanische wie monarchistische, libertäre oder totalitäre Vorstellungen einer Gemeinschaft verwendet werden. In seiner wissenshistorischen Studie verfolgt Niels Werber die wechselhafte Faszinationsgeschichte dieses Vergleichs und untersucht die Evidenzen und blinden Flecken, die er produziert. Was an Ameisen beobachtet wird, so der Befund, gibt Antworten auf soziologische oder anthropologische Probleme - und stellt jenseits aller Disziplinen die Frage, was der Mensch ist und was die Gesellschaft, in der er lebt.
Lese-Probe zu „Ameisengesellschaften “
Ameisengesellschaften von Niels WerberI. Von der Analogie zur Identität Wie die Ameisen. Ein Topos der Selbstbeschreibung
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Bill Gates und Michael Eisner nehmen diesmal nicht den Hubschrauber, sondern die Jet-Packs, als sie mit ihrem weltweit operierenden System privater Überwachungssatelliten den flüchtigen Brian Griffin lokalisiert haben. Jet-Packs machen einfach mehr Spaß. Gates freut sich wie ein Knabe, der von Q persönlich mit James-Bond-Equipment versorgt wird, und bedienen kann er sein Spielzeug sogar selbst. In einiger Höhe düsen die beiden Milliardäre Seite an Seite, weit unter ihnen zieht eine Stadtlandschaft aus Häusern und Straßen, Brücken und Fabriken voller winziger Menschen vorbei. Eine Perspektive der Vögel, Götter oder Überwachungskameras. Sie schauen herab. »Die Leute sehen wie Ameisen aus von hier oben«, bemerkt Eisner eher beiläufig. Aber Gates lässt ihm das nicht einfach durchgehen. Der erwidert umgehend mit ungewohnt hart klingender Stimme und passendem Gesichtsausdruck: »Nein Michael, es sind Ameisen.« Selbst wer wenig Cartoons schaut und Peter Griffins Hund nicht kennt, wird diese Szene aus der 41. Episode der Zeichentrickserie Family Guy unschwer verstehen. So kinderleicht dieses Verständnis fallen mag: Um die wissens- und kulturgeschichtlichen Implikationen dieser Szene auch nur anzudeuten, wird einiger Raum nötig sein. Man könnte ein Buch darüber schreiben ... Die Topographie ist im Grunde simpel: Die beiden Herrscher über die Weltkonzerne Microsoft® und Disney® schauen auf den Rest der Welt von oben herab. Zwei Dinge, nämlich »der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir«, weckten Immanuel Kants »Bewunderung und Ehrfurcht «. Mit Eisner und Gates lässt sich diese Formel umkehren: Der »Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet« nun eben nicht ihre eigene »Wichtigkeit« als bloß vergängliche Wesen, sondern rückt sie vielmehr selbst in eine Position der »Erhabenheit«, von der aus sie auf das Gewimmel der im Grunde »tierische[n] Geschöpfe[]« herabblicken. In Verkehrung der Ethik und Ästhetik des Erhabenen geht der Blick der beiden Wirtschaftsführer von erhobener Position nach unten. Nicht unsterbliche Werte, sondern die Gewissheit ökonomischer und technischer Omnipotenz gewährt ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer Welt, die ihnen zu Füßen liegt. Dies ist nicht gerade eine Situation, die zu Bescheidenheit nötigt, wohl aber zur Reflexion der eigenen Lage: ›den blauen Himmel um uns und die wimmelnden Ameisen unter uns‹. Das Bild dient der Selbstvergewisserung einer elitären Clique von Superreichen. Die Lagebeschreibung stiftet Identität durch Inklusion und Exklusion: wir hier oben / die da unten. Das geht ganz schnell, in Sekunden, die die beiden für ihren kurzen Dialog haben. Für diese Verortung von Gates und Eisner in der Gesellschaft ist nicht mehr nötig als ein prägnantes Bild: die anderen sind oder sind wie Ameisen. Das Bild impliziert eine Reihe von Annahmen über die Verfassung unserer Gesellschaft: dass wir es beispielsweise mit einer Industrie- und Massengesellschaft zu tun haben, deren Bevölkerung sich in Großstädten ballt. Wer von »Verameisung« spricht, vergleicht nicht nur, wie Eisner es tut, sondern macht zugleich einen Vorschlag zur Beschreibung der herrschenden sozialen Ordnung.
Wenn dieses Bild, das der kulturellen Selbstverortung der Akteure in einer Gesellschaft dient, zu einer Formel geronnen ist, die wie ein Gemeinplatz abgerufen werden kann, verlaufen Selbstvergewisserung und Abgrenzung in einem so hohen Tempo, dass für second thoughts kaum Zeit bleibt. Das Bild des Ameisenhaufens als belebte Stadt ist schon seit der Antike ein Topos, und ein solcher Gemeinplatz überzeugt nicht deswegen unmittelbar, weil er zu raffinierten Überlegungen und kritischem Nachdenken anregt, sondern wirkt aufgrund seiner geradezu naturhaften Selbstverständlichkeit, die ohne weitere Reflexionen und Hinterfragungen unproblematisch Anschlussfähigkeit stiftet. Topoi wie die des Ameisenhaufens sind populär, das teilen sie mit dem Medium der Zeichentrickserie.
Die Episode Screwed the Pooch benötigt nur wenige Sekunden, um Gates und Eisner zu diskreditieren, wobei es keine allzu große Rolle spielt, dass sie Milliardäre sind. Den Ausschlag gibt vielmehr ihr dank des Ameisenbildes unübersehbarer Habitus, alle unter sich, also eigentlich fast jeden, zu verachten. Eisner erinnert das Gewimmel am Boden an Ameisen. In dieser Situation der eigenen Erhebung und der Erniedrigung aller anderen drückt der Vergleich der Großstadtbevölkerung mit Ameisen in einem einzigen Bild anschaulich aus, was Eisner daher gar nicht erst eigens erläutern muss: Die Leute da unten, sie, das sind viele. Nach den Marktgesetzen der klassischen Volkswirtschaftslehre führt diese überflüssige Menge zur Minderung des Wertes ihrer Bestandteile. Die vielen Menschen erscheinen nicht nur winzig, sondern sie sind auch belanglos.
Der moderne Massenmensch, so die gängige Forschungsmeinung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, werde auf den Plätzen und Straßen der Großstadt zu einem »Automaten« ohne jede Individualität oder eigentümliche »Persönlichkeit«. Der sprichwörtliche Mann auf der Straße wird bereits in der Massenpsychologie und frühen Soziologie von Herbert Spencer über Gustave Le Bon bis Gabriel de Tarde nicht als Individuum aufgefasst, sondern als Herdentier.7 Es wär ein Irrtum, von der Individualität eines jeden auszugehen, denn es handelt sich bei der Anhäufung im Grunde, wie bei Ameisen auch, um eine Masse, gesichtslos und anonym. In dem Gewimmel wäre ein Einzelner ohnehin kaum auszumachen. Warum sollte man diesen Wesen irgendeine Qualität konzedieren? Nur die Masse selbst ist erheblich ...
Wer einen der zahllosen Dokumentar- oder Naturfilme aus den letzten zwei Jahrzehnten über die heimliche Weltmacht, das geheime Leben oder die verborgenen Welten der Ameisen gesehen hat, weiß: Sie sind immer in Bewegung, einzelne Exemplare sind nur schwer über längere Zeit zu verfolgen. Dass Eisner die Szenerie, die ihn viele, winzig erscheinende Menschen jeweils nur kurz im Überflug sehen lässt, gerade mit Ameisen vergleicht, liegt aber nicht nur an seiner Perspektive. Hinzu kommt, dass die Analogisierung von Ameisen und Menschen seit langem etabliert ist: Bereits in der Antike werden Menschen und Ameisen verglichen, und zwar selbstverständlich nicht deshalb, weil es irgendwelche morphologischen Ähnlichkeiten gäbe, wie sie bei Menschenaffen zum Tragen kommen. Die Ameise mit ihren sechs Beinen, ihrer Chitinpanzerung, ihren Antennen und Zangen, ihrem modularen, zweifach geteilten Torso sieht denkbar anders aus als ein Mensch. Vergleichbar macht sie nicht ihr Äußeres, obschon hier Fabeln, Comics oder Animationsfilme mit mehr oder minder menschenähnlichen Illustrationen nachhelfen. Vergleichbar macht sie vielmehr ihre Sozialität.
Der auf Ameisengröße geschrumpfte Lukas im Gespräch mit seinem Mentor Zoc über die Vergleichbarkeit von Ameisen und Menschen. Im Hintergrund nimmt die Skyline Manhattans die Form eines Ameisenhügels an. Bei New York und dem Ameisennest im Vorgarten handelt es sich um eine Polis. Zocs Gesichtszüge sind, wie üblich in Animationsfilmen zum Thema sozialer Insekten, deutlich anthropomorphisiert. The Ant Bully, Warner Bros. 2006.
Politische Tiere
Die Anthropomorphisierung von Insekten ist weithin bekannt aus den vielen Ameisenfabeln, deren Varianten sich bis zu antiken Ausprägungen der Gattung bei Äsop, Phaedrus, Babrios oder Avianus zurückverfolgen lassen. Doch schöpft die Analogisierung von Mensch und Ameise aus einer weiteren, viel wichtigeren Quelle, die zu den abendländischen Gründungsakten einer Reflexion des Gemeinwesens zählt: Wenn nämlich Aristoteles in der Politik feststellt, dass es zu den substantiellen Eigenschaften des Menschen gehört, »von Natur aus« ein »staatenbildendes Lebewesen« zu sein: ein zoon politikon, dann eröffnet er damit eine ganz andere Ebene des Vergleichs jenseits der Morphologie. Denn auch die Ameise ist für ihn ein politisches Tier. Sie ist es für Aristoteles deshalb, weil sie wie der Mensch außerhalb einer « nicht zu existieren vermag. Die Ameise lebt in Städten bzw. Staaten. Sie ist kooperativ oder gar nicht. Im Unterschied zu unzähligen anderen Tieren und Insekten, die nur vorübergehend die Gemeinschaft suchen, etwa zur Zeugung des Nachwuchses, leben Menschen und Ameisen - als Gattung - dauerhaft in einer Gesellschaft. Deshalb errichten sie auch gemeinsam Gebäude. Politische Tiere haben nicht etwa in irgendeiner historischen Urzeit »alleine« existiert und dann nach und nach zu größeren Aggregationen zusammengefunden; vielmehr habe der Mensch, und eben auch die Ameise, »immer schon sozial gelebt«. Diese unterstellte Gemeinsamkeit macht es seit der Antike plausibel und selbstverständlich, unter den Ameisen erstens nach vertrauten Sozialstrukturen Ausschau zu halten, um dann zweitens das, was man finden wollte, in der literarischen oder bildnerischen Repräsentation menschenähnlich zu gestalten und einzukleiden. Wie man es aus Walt Disneys The Ant and the Grasshopper aus dem Jahre 1934 (auf der Basis von Äsops antiker Fabel Die Grille und die Ameise), aus der Biene Maja-Zeichentrickserie oder aus neueren Animationsfilmen wie Antz - Was krabbelt da? (Dreamworks 1998) kennt, trägt die Ameisenkönigin eine Krone, und ihre Soldaten sind mit Helm und Speer gewappnet. Die ubiquitäre Anthropomorphisierung wäre mithin eine Konsequenz der aristotelischen Überlegungen zum politischen Tier und ihrer Resonanz in der politischen Theorie, und ob die Ameisen Speere tragen oder Mao-Anzüge, hinge vom jeweiligen Gesellschaftsentwurf ab, der dem zoon politikon im Laufe der Geschichte angepasst wird.
Das, was allen politischen Tieren gemeinsam eignet, eröffnet eine politische Zoologie, die entweder nach den biologischen Bedingungen der Gesellschaftsbildung fragen kann oder nach der Möglichkeit, eine soziale Ordnung auch für eine solche Spezies zu errichten, die »nicht fürs Soziale gemacht« ist und gerade deshalb zum geselligen Leben und seinen Spielregeln gezwungen werden muss. Dass Menschen, Ameisen und natürlich Bienen, denn auch dieses Staatstier nennt Aristoteles, anders als Schafe, Pferde, Rinder oder Fische außerhalb der Gesellschaft gar nicht zu existieren vermögen, legt es ja keineswegs als einzig denkbaren Schluss nahe, Menschen, Ameisen und Bienen seien eben von Natur aus sozial. Denn wenn sie so friedlich nebeneinander weiden, grasen, schlafen oder schwimmen würden wie so viele Herdentiere, dann hätten sie ja womöglich eine Gesellschaft gar nicht nötig, die ihnen jene von Thomas Hobbes so bildreich beschriebene Angst nehmen müsste, dass bereits der nächstbeste Angehörige der gleichen Spezies uns alles nehmen könnte, was uns gehört: unsere Angehörigen, unseren Besitz, unser Leben. Aber gerade der Mensch sei ja dem Menschen ein Wolf, meint Hobbes. Der Mensch, heißt es im Leviathan, der ohne die »einschränkende Macht« des Staates auskommen müsse, friste seine Existenz im »tausendfache[n] Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben«. Ohne »Macht« und »Gesetz« sei »ein jeder eines jeden Feind«, denn die »Natur des Menschen« habe ihn durchaus »ungesellig gemacht«. Von Natur aus, so ließe sich Hobbes gegen Aristoteles in Stellung bringen, ist der Mensch kein politisches Tier. Die Frage, wie ein so beschaffenes Menschengeschlecht dennoch zu einem geordneten und befriedeten Zusammenleben finde, hat die politische Philosophie von Hobbes bis Rousseau oder Kant mit Vertragsmodellen zu beantworten versucht; der naturrechtliche Kontraktualismus kann aber schon im
19. Jahrhundert nicht mehr überzeugen und macht rechtspositivistischen Lehren Platz, deren vorgebliche Substanzlosigkeit und Beliebigkeit wiederum von politischen Theologen wie Carl Schmitt scharf kritisiert worden ist. Dieser rechtsgeschichtliche Wandel von natur- und vertragsrechtlichen Modellen der Gesellschaft zu existentialistisch-dezisionistischen Entwürfen der Gemeinschaft wird in allen Ameisenfilmen der letzten Jahre zum Thema: in Das große Krabbeln, in Antz, in Lucas, der Ameisenschreck ... Diese Werke haben keine Altersfreigabe und können von Drei- oder Vierjährigen gesehen werden, doch nehmen wir sie einmal gerade deshalb ernst: In diesen Filmen werden natur-, gewohnheits- und vertragsrechtliche Grundlagen der Gesellschaft suspendiert zugunsten einer Gemeinschaft, die aus einer erfolgreichen existentiellen Auseinandersetzung mit dem Feind hervorgeht. Ob dieser Feind nun als Gang von Grashüpfern auftritt oder als heruntergekommener Schädlingsbekämpfer - er wird bekämpft und besiegt. Zerfällt mit der Feinderklärung die alte Gesellschaft, so entsteht nach dem Sieg die neue Gemeinschaft. Ob sich in Antz die Arbeiter durch Kooperation aus einer tödlichen Falle befreien, die Kolonie in Lucas, der Ameisenschreck der Vernichtung durch chemische Massenvernichtungsmittel durch einen präventiven wie chirurgischen Schlag entgeht oder das von den Grashüpfern terrorisierte Ameisenvolk in Das große Krabbeln sich der potentiellen Macht ihrer schieren Menge bewusst wird und der Motorradbande widersteht: Das Überleben legitimiert genau die Organisation oder Ordnung, die das Überleben ermöglicht hat. Weder das Einhalten von Verträgen und Regeln noch das Bewahren von Traditionen und Gewohnheiten sichert die soziale Ordnung, sondern die pure Faktizität, den ›Kampf ums Dasein‹ aufgenommen, geführt und entschieden zu haben.
Die von diesen Filmen verbreitete Rechtsauffassung ist nicht nur aufgrund der ewigen Ameise-Mensch-Analogisierungen biologistisch, sondern in den Begriff des Politischen selbst eingewoben. Carl Schmitt stützt seine existentialistische politische Theorie bzw. Theologie auch auf biologische Untersuchungen. Das Leben selbst, nicht nur eine historische Gesellschaft oder ihre politische Theorie, macht seine geopolitischen Grund- annahmen evident. Die Lehre lautete: Ein Organismus muss den Raum nehmen und gestalten, um zu (über)leben; so will es die Natur.18 Diese Rechtswissenschaft kann von der Biologie lernen, zumindest dann, wenn sie auch im Staat einen lebendigen Organismus zu sehen vermag. Das Leben schließt keine Verträge, es lebt. Und weil es lebt, hat es den darwinistischen struggle for existence (oft übersetzt mit Kampf ums Dasein) einstweilen für sich entschieden.
Vom survival of the fittest (etwa: Überleben der am besten Angepassten) spricht gerade mit Blick auf Gemeinschaften heute explizit niemand mehr. Die moderne Soziobiologie würde die Frage nach dem Grund der Gemeinschaft in Analogie zur Genese sozialer Insekten mit einer These zur emergenten Entwicklung beantworten, die der Gattung evolutionäre Vorteile verschafft. Darauf komme ich zurück. Auch für das selfish gene (das ›egoistische Gen‹), das uns samt seinen Promotor Dawkins ebenfalls noch genauer beschäftigen wird, lohnt sich die Kooperation seiner Träger, seien es Ameisen, seien es Menschen, denn sie erhöht die inclusive fitness (genetische Gesamtfitness) der Spezies. In den erhöhten Reproduktions- und Überlebenschancen der kin selection oder auch group selection (Verwandten- bzw. Gruppenselektion) habe man aus biologischer und zumal aus entomologischer Sicht die Grundlagen der sozialen Ordnung zu suchen. Das Leben erfinde die Gesellschaft als evolutionären Vorteil, und die Wissenschaft, die für die Erklärung der Genese sozialer Ordnung zuständig zeichne, wäre also die Biologie - und nicht etwa Philosophie, Politologie, Soziologie oder sonst eine ›Geisteswissenschaft‹ - und vor allem aber die Entomologie, die Insektenkunde. Gerade soziale Insekten sind seit 100 Jahren ihr bevorzugtes Thema. Speziell Ameisen gelten als »ungeheuer erfolgreiche« Spezies. Und der Grund für die im Vergleich zu anderen Arten »überwältigende Macht« der Ameisen liege in ihrer »Kooperation«. Aus ihrer sozialen Ordnung resultiere die Überlegenheit im evolutionären struggle for existence. Welche Ordnung das sei, lautet das Preisrätsel der Soziobiologie, das im Verlauf des letzten Jahrhunderts auf verschiedenste Weise ›gelöst‹ worden ist.
Die Antwort, die Aristoteles in seiner Naturgeschichte der Tiere gibt, lautet Stadtstaat. Dort heißt es: »Eine Gemeinde [Polis] bilden diejenigen Thiere, welche alle ein gemeinschaftliches Werk verrichten, was nicht bei allen Thieren der Fall ist; dahin gehören der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise, der Kranich.« Der Mensch teilt eine Errungenschaft mit den Insekten, die man eher für ein Alleinstellungsmerkmal menschlicher Kultur halten würde, nämlich die gemeinschaftliche Errichtung einer gemeinschaftlichen Einrichtung. Was sowohl Menschen als auch Ameisen in ihrer Gemeinschaft aufbauenten, ist für Aristoteles offensichtlich: die Polis. Davon zeugen die Stadtstaaten der Griechen und jeder Ameisenhügel - und natürlich jede Bienenwabe oder jedes Wespennest. Es ist daher auch eine Stadt, die Gates und Eisner überfliegen, als sie auf Ameisen zu sprechen kommen.
›Staatenbildend‹ bedeutet in der griechischen Antike ganz selbstverständlich stets auch ›städtebauend‹. Die Polis ist Staat und Stadt zugleich, sie ist sowohl Institution als auch ein Ort. In der Gliederung der Stadt aus Plätzen und Häusern, Straßen und Palästen, Gärten und Festungen wird die Verfasstheit des Staates sichtbar. Im Begriff der Polis kommen Sozialordnung und Raumordnung zur Deckung. Jede Mauer, jedes Tor, jeder Platz, jedes Haus, jede Burg, jeder Wall, jeder Graben stehen für eine ihnen inhärente Rechtsordnung, die Schmitt Nomos genannt hat. Diese durchaus nicht selbstverständliche Zusammenführung, die beispielsweise die Möglichkeit einer nomadischen Gesellschaft ausschließt, ist der Grund dafür, dass 1.) Ameisennester so beschrieben werden, als seien sie Städte. Bei Aelian etwa, einem um 177 n. Chr. geborenen Naturkundler, liest man in De natura animalium von den Straßen und Lagerhallen der Ameisenstädte, von ihren Friedhöfen und ihren Bauwerken, ihren unterschiedlichen Quartieren für Wohnen, Gebären, Speichern. Ameisen gelten Aelian als »hervorragende, sparsame Haushälter«. Und natürlich sind sie unermüdlich und froh bei der Arbeit: »Durch die Beschäftigung mit Ameisen konnte ich viel lernen. Sie sind unermüdlich, allzeit bereit zu arbeiten, und das ohne Ausreden und Freiheitsgesuch; nicht mal an Festtagen legen sie ihre Arbeit nieder.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Bill Gates und Michael Eisner nehmen diesmal nicht den Hubschrauber, sondern die Jet-Packs, als sie mit ihrem weltweit operierenden System privater Überwachungssatelliten den flüchtigen Brian Griffin lokalisiert haben. Jet-Packs machen einfach mehr Spaß. Gates freut sich wie ein Knabe, der von Q persönlich mit James-Bond-Equipment versorgt wird, und bedienen kann er sein Spielzeug sogar selbst. In einiger Höhe düsen die beiden Milliardäre Seite an Seite, weit unter ihnen zieht eine Stadtlandschaft aus Häusern und Straßen, Brücken und Fabriken voller winziger Menschen vorbei. Eine Perspektive der Vögel, Götter oder Überwachungskameras. Sie schauen herab. »Die Leute sehen wie Ameisen aus von hier oben«, bemerkt Eisner eher beiläufig. Aber Gates lässt ihm das nicht einfach durchgehen. Der erwidert umgehend mit ungewohnt hart klingender Stimme und passendem Gesichtsausdruck: »Nein Michael, es sind Ameisen.« Selbst wer wenig Cartoons schaut und Peter Griffins Hund nicht kennt, wird diese Szene aus der 41. Episode der Zeichentrickserie Family Guy unschwer verstehen. So kinderleicht dieses Verständnis fallen mag: Um die wissens- und kulturgeschichtlichen Implikationen dieser Szene auch nur anzudeuten, wird einiger Raum nötig sein. Man könnte ein Buch darüber schreiben ... Die Topographie ist im Grunde simpel: Die beiden Herrscher über die Weltkonzerne Microsoft® und Disney® schauen auf den Rest der Welt von oben herab. Zwei Dinge, nämlich »der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir«, weckten Immanuel Kants »Bewunderung und Ehrfurcht «. Mit Eisner und Gates lässt sich diese Formel umkehren: Der »Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet« nun eben nicht ihre eigene »Wichtigkeit« als bloß vergängliche Wesen, sondern rückt sie vielmehr selbst in eine Position der »Erhabenheit«, von der aus sie auf das Gewimmel der im Grunde »tierische[n] Geschöpfe[]« herabblicken. In Verkehrung der Ethik und Ästhetik des Erhabenen geht der Blick der beiden Wirtschaftsführer von erhobener Position nach unten. Nicht unsterbliche Werte, sondern die Gewissheit ökonomischer und technischer Omnipotenz gewährt ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer Welt, die ihnen zu Füßen liegt. Dies ist nicht gerade eine Situation, die zu Bescheidenheit nötigt, wohl aber zur Reflexion der eigenen Lage: ›den blauen Himmel um uns und die wimmelnden Ameisen unter uns‹. Das Bild dient der Selbstvergewisserung einer elitären Clique von Superreichen. Die Lagebeschreibung stiftet Identität durch Inklusion und Exklusion: wir hier oben / die da unten. Das geht ganz schnell, in Sekunden, die die beiden für ihren kurzen Dialog haben. Für diese Verortung von Gates und Eisner in der Gesellschaft ist nicht mehr nötig als ein prägnantes Bild: die anderen sind oder sind wie Ameisen. Das Bild impliziert eine Reihe von Annahmen über die Verfassung unserer Gesellschaft: dass wir es beispielsweise mit einer Industrie- und Massengesellschaft zu tun haben, deren Bevölkerung sich in Großstädten ballt. Wer von »Verameisung« spricht, vergleicht nicht nur, wie Eisner es tut, sondern macht zugleich einen Vorschlag zur Beschreibung der herrschenden sozialen Ordnung.
Wenn dieses Bild, das der kulturellen Selbstverortung der Akteure in einer Gesellschaft dient, zu einer Formel geronnen ist, die wie ein Gemeinplatz abgerufen werden kann, verlaufen Selbstvergewisserung und Abgrenzung in einem so hohen Tempo, dass für second thoughts kaum Zeit bleibt. Das Bild des Ameisenhaufens als belebte Stadt ist schon seit der Antike ein Topos, und ein solcher Gemeinplatz überzeugt nicht deswegen unmittelbar, weil er zu raffinierten Überlegungen und kritischem Nachdenken anregt, sondern wirkt aufgrund seiner geradezu naturhaften Selbstverständlichkeit, die ohne weitere Reflexionen und Hinterfragungen unproblematisch Anschlussfähigkeit stiftet. Topoi wie die des Ameisenhaufens sind populär, das teilen sie mit dem Medium der Zeichentrickserie.
Die Episode Screwed the Pooch benötigt nur wenige Sekunden, um Gates und Eisner zu diskreditieren, wobei es keine allzu große Rolle spielt, dass sie Milliardäre sind. Den Ausschlag gibt vielmehr ihr dank des Ameisenbildes unübersehbarer Habitus, alle unter sich, also eigentlich fast jeden, zu verachten. Eisner erinnert das Gewimmel am Boden an Ameisen. In dieser Situation der eigenen Erhebung und der Erniedrigung aller anderen drückt der Vergleich der Großstadtbevölkerung mit Ameisen in einem einzigen Bild anschaulich aus, was Eisner daher gar nicht erst eigens erläutern muss: Die Leute da unten, sie, das sind viele. Nach den Marktgesetzen der klassischen Volkswirtschaftslehre führt diese überflüssige Menge zur Minderung des Wertes ihrer Bestandteile. Die vielen Menschen erscheinen nicht nur winzig, sondern sie sind auch belanglos.
Der moderne Massenmensch, so die gängige Forschungsmeinung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, werde auf den Plätzen und Straßen der Großstadt zu einem »Automaten« ohne jede Individualität oder eigentümliche »Persönlichkeit«. Der sprichwörtliche Mann auf der Straße wird bereits in der Massenpsychologie und frühen Soziologie von Herbert Spencer über Gustave Le Bon bis Gabriel de Tarde nicht als Individuum aufgefasst, sondern als Herdentier.7 Es wär ein Irrtum, von der Individualität eines jeden auszugehen, denn es handelt sich bei der Anhäufung im Grunde, wie bei Ameisen auch, um eine Masse, gesichtslos und anonym. In dem Gewimmel wäre ein Einzelner ohnehin kaum auszumachen. Warum sollte man diesen Wesen irgendeine Qualität konzedieren? Nur die Masse selbst ist erheblich ...
Wer einen der zahllosen Dokumentar- oder Naturfilme aus den letzten zwei Jahrzehnten über die heimliche Weltmacht, das geheime Leben oder die verborgenen Welten der Ameisen gesehen hat, weiß: Sie sind immer in Bewegung, einzelne Exemplare sind nur schwer über längere Zeit zu verfolgen. Dass Eisner die Szenerie, die ihn viele, winzig erscheinende Menschen jeweils nur kurz im Überflug sehen lässt, gerade mit Ameisen vergleicht, liegt aber nicht nur an seiner Perspektive. Hinzu kommt, dass die Analogisierung von Ameisen und Menschen seit langem etabliert ist: Bereits in der Antike werden Menschen und Ameisen verglichen, und zwar selbstverständlich nicht deshalb, weil es irgendwelche morphologischen Ähnlichkeiten gäbe, wie sie bei Menschenaffen zum Tragen kommen. Die Ameise mit ihren sechs Beinen, ihrer Chitinpanzerung, ihren Antennen und Zangen, ihrem modularen, zweifach geteilten Torso sieht denkbar anders aus als ein Mensch. Vergleichbar macht sie nicht ihr Äußeres, obschon hier Fabeln, Comics oder Animationsfilme mit mehr oder minder menschenähnlichen Illustrationen nachhelfen. Vergleichbar macht sie vielmehr ihre Sozialität.
Der auf Ameisengröße geschrumpfte Lukas im Gespräch mit seinem Mentor Zoc über die Vergleichbarkeit von Ameisen und Menschen. Im Hintergrund nimmt die Skyline Manhattans die Form eines Ameisenhügels an. Bei New York und dem Ameisennest im Vorgarten handelt es sich um eine Polis. Zocs Gesichtszüge sind, wie üblich in Animationsfilmen zum Thema sozialer Insekten, deutlich anthropomorphisiert. The Ant Bully, Warner Bros. 2006.
Politische Tiere
Die Anthropomorphisierung von Insekten ist weithin bekannt aus den vielen Ameisenfabeln, deren Varianten sich bis zu antiken Ausprägungen der Gattung bei Äsop, Phaedrus, Babrios oder Avianus zurückverfolgen lassen. Doch schöpft die Analogisierung von Mensch und Ameise aus einer weiteren, viel wichtigeren Quelle, die zu den abendländischen Gründungsakten einer Reflexion des Gemeinwesens zählt: Wenn nämlich Aristoteles in der Politik feststellt, dass es zu den substantiellen Eigenschaften des Menschen gehört, »von Natur aus« ein »staatenbildendes Lebewesen« zu sein: ein zoon politikon, dann eröffnet er damit eine ganz andere Ebene des Vergleichs jenseits der Morphologie. Denn auch die Ameise ist für ihn ein politisches Tier. Sie ist es für Aristoteles deshalb, weil sie wie der Mensch außerhalb einer « nicht zu existieren vermag. Die Ameise lebt in Städten bzw. Staaten. Sie ist kooperativ oder gar nicht. Im Unterschied zu unzähligen anderen Tieren und Insekten, die nur vorübergehend die Gemeinschaft suchen, etwa zur Zeugung des Nachwuchses, leben Menschen und Ameisen - als Gattung - dauerhaft in einer Gesellschaft. Deshalb errichten sie auch gemeinsam Gebäude. Politische Tiere haben nicht etwa in irgendeiner historischen Urzeit »alleine« existiert und dann nach und nach zu größeren Aggregationen zusammengefunden; vielmehr habe der Mensch, und eben auch die Ameise, »immer schon sozial gelebt«. Diese unterstellte Gemeinsamkeit macht es seit der Antike plausibel und selbstverständlich, unter den Ameisen erstens nach vertrauten Sozialstrukturen Ausschau zu halten, um dann zweitens das, was man finden wollte, in der literarischen oder bildnerischen Repräsentation menschenähnlich zu gestalten und einzukleiden. Wie man es aus Walt Disneys The Ant and the Grasshopper aus dem Jahre 1934 (auf der Basis von Äsops antiker Fabel Die Grille und die Ameise), aus der Biene Maja-Zeichentrickserie oder aus neueren Animationsfilmen wie Antz - Was krabbelt da? (Dreamworks 1998) kennt, trägt die Ameisenkönigin eine Krone, und ihre Soldaten sind mit Helm und Speer gewappnet. Die ubiquitäre Anthropomorphisierung wäre mithin eine Konsequenz der aristotelischen Überlegungen zum politischen Tier und ihrer Resonanz in der politischen Theorie, und ob die Ameisen Speere tragen oder Mao-Anzüge, hinge vom jeweiligen Gesellschaftsentwurf ab, der dem zoon politikon im Laufe der Geschichte angepasst wird.
Das, was allen politischen Tieren gemeinsam eignet, eröffnet eine politische Zoologie, die entweder nach den biologischen Bedingungen der Gesellschaftsbildung fragen kann oder nach der Möglichkeit, eine soziale Ordnung auch für eine solche Spezies zu errichten, die »nicht fürs Soziale gemacht« ist und gerade deshalb zum geselligen Leben und seinen Spielregeln gezwungen werden muss. Dass Menschen, Ameisen und natürlich Bienen, denn auch dieses Staatstier nennt Aristoteles, anders als Schafe, Pferde, Rinder oder Fische außerhalb der Gesellschaft gar nicht zu existieren vermögen, legt es ja keineswegs als einzig denkbaren Schluss nahe, Menschen, Ameisen und Bienen seien eben von Natur aus sozial. Denn wenn sie so friedlich nebeneinander weiden, grasen, schlafen oder schwimmen würden wie so viele Herdentiere, dann hätten sie ja womöglich eine Gesellschaft gar nicht nötig, die ihnen jene von Thomas Hobbes so bildreich beschriebene Angst nehmen müsste, dass bereits der nächstbeste Angehörige der gleichen Spezies uns alles nehmen könnte, was uns gehört: unsere Angehörigen, unseren Besitz, unser Leben. Aber gerade der Mensch sei ja dem Menschen ein Wolf, meint Hobbes. Der Mensch, heißt es im Leviathan, der ohne die »einschränkende Macht« des Staates auskommen müsse, friste seine Existenz im »tausendfache[n] Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben«. Ohne »Macht« und »Gesetz« sei »ein jeder eines jeden Feind«, denn die »Natur des Menschen« habe ihn durchaus »ungesellig gemacht«. Von Natur aus, so ließe sich Hobbes gegen Aristoteles in Stellung bringen, ist der Mensch kein politisches Tier. Die Frage, wie ein so beschaffenes Menschengeschlecht dennoch zu einem geordneten und befriedeten Zusammenleben finde, hat die politische Philosophie von Hobbes bis Rousseau oder Kant mit Vertragsmodellen zu beantworten versucht; der naturrechtliche Kontraktualismus kann aber schon im
19. Jahrhundert nicht mehr überzeugen und macht rechtspositivistischen Lehren Platz, deren vorgebliche Substanzlosigkeit und Beliebigkeit wiederum von politischen Theologen wie Carl Schmitt scharf kritisiert worden ist. Dieser rechtsgeschichtliche Wandel von natur- und vertragsrechtlichen Modellen der Gesellschaft zu existentialistisch-dezisionistischen Entwürfen der Gemeinschaft wird in allen Ameisenfilmen der letzten Jahre zum Thema: in Das große Krabbeln, in Antz, in Lucas, der Ameisenschreck ... Diese Werke haben keine Altersfreigabe und können von Drei- oder Vierjährigen gesehen werden, doch nehmen wir sie einmal gerade deshalb ernst: In diesen Filmen werden natur-, gewohnheits- und vertragsrechtliche Grundlagen der Gesellschaft suspendiert zugunsten einer Gemeinschaft, die aus einer erfolgreichen existentiellen Auseinandersetzung mit dem Feind hervorgeht. Ob dieser Feind nun als Gang von Grashüpfern auftritt oder als heruntergekommener Schädlingsbekämpfer - er wird bekämpft und besiegt. Zerfällt mit der Feinderklärung die alte Gesellschaft, so entsteht nach dem Sieg die neue Gemeinschaft. Ob sich in Antz die Arbeiter durch Kooperation aus einer tödlichen Falle befreien, die Kolonie in Lucas, der Ameisenschreck der Vernichtung durch chemische Massenvernichtungsmittel durch einen präventiven wie chirurgischen Schlag entgeht oder das von den Grashüpfern terrorisierte Ameisenvolk in Das große Krabbeln sich der potentiellen Macht ihrer schieren Menge bewusst wird und der Motorradbande widersteht: Das Überleben legitimiert genau die Organisation oder Ordnung, die das Überleben ermöglicht hat. Weder das Einhalten von Verträgen und Regeln noch das Bewahren von Traditionen und Gewohnheiten sichert die soziale Ordnung, sondern die pure Faktizität, den ›Kampf ums Dasein‹ aufgenommen, geführt und entschieden zu haben.
Die von diesen Filmen verbreitete Rechtsauffassung ist nicht nur aufgrund der ewigen Ameise-Mensch-Analogisierungen biologistisch, sondern in den Begriff des Politischen selbst eingewoben. Carl Schmitt stützt seine existentialistische politische Theorie bzw. Theologie auch auf biologische Untersuchungen. Das Leben selbst, nicht nur eine historische Gesellschaft oder ihre politische Theorie, macht seine geopolitischen Grund- annahmen evident. Die Lehre lautete: Ein Organismus muss den Raum nehmen und gestalten, um zu (über)leben; so will es die Natur.18 Diese Rechtswissenschaft kann von der Biologie lernen, zumindest dann, wenn sie auch im Staat einen lebendigen Organismus zu sehen vermag. Das Leben schließt keine Verträge, es lebt. Und weil es lebt, hat es den darwinistischen struggle for existence (oft übersetzt mit Kampf ums Dasein) einstweilen für sich entschieden.
Vom survival of the fittest (etwa: Überleben der am besten Angepassten) spricht gerade mit Blick auf Gemeinschaften heute explizit niemand mehr. Die moderne Soziobiologie würde die Frage nach dem Grund der Gemeinschaft in Analogie zur Genese sozialer Insekten mit einer These zur emergenten Entwicklung beantworten, die der Gattung evolutionäre Vorteile verschafft. Darauf komme ich zurück. Auch für das selfish gene (das ›egoistische Gen‹), das uns samt seinen Promotor Dawkins ebenfalls noch genauer beschäftigen wird, lohnt sich die Kooperation seiner Träger, seien es Ameisen, seien es Menschen, denn sie erhöht die inclusive fitness (genetische Gesamtfitness) der Spezies. In den erhöhten Reproduktions- und Überlebenschancen der kin selection oder auch group selection (Verwandten- bzw. Gruppenselektion) habe man aus biologischer und zumal aus entomologischer Sicht die Grundlagen der sozialen Ordnung zu suchen. Das Leben erfinde die Gesellschaft als evolutionären Vorteil, und die Wissenschaft, die für die Erklärung der Genese sozialer Ordnung zuständig zeichne, wäre also die Biologie - und nicht etwa Philosophie, Politologie, Soziologie oder sonst eine ›Geisteswissenschaft‹ - und vor allem aber die Entomologie, die Insektenkunde. Gerade soziale Insekten sind seit 100 Jahren ihr bevorzugtes Thema. Speziell Ameisen gelten als »ungeheuer erfolgreiche« Spezies. Und der Grund für die im Vergleich zu anderen Arten »überwältigende Macht« der Ameisen liege in ihrer »Kooperation«. Aus ihrer sozialen Ordnung resultiere die Überlegenheit im evolutionären struggle for existence. Welche Ordnung das sei, lautet das Preisrätsel der Soziobiologie, das im Verlauf des letzten Jahrhunderts auf verschiedenste Weise ›gelöst‹ worden ist.
Die Antwort, die Aristoteles in seiner Naturgeschichte der Tiere gibt, lautet Stadtstaat. Dort heißt es: »Eine Gemeinde [Polis] bilden diejenigen Thiere, welche alle ein gemeinschaftliches Werk verrichten, was nicht bei allen Thieren der Fall ist; dahin gehören der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise, der Kranich.« Der Mensch teilt eine Errungenschaft mit den Insekten, die man eher für ein Alleinstellungsmerkmal menschlicher Kultur halten würde, nämlich die gemeinschaftliche Errichtung einer gemeinschaftlichen Einrichtung. Was sowohl Menschen als auch Ameisen in ihrer Gemeinschaft aufbauenten, ist für Aristoteles offensichtlich: die Polis. Davon zeugen die Stadtstaaten der Griechen und jeder Ameisenhügel - und natürlich jede Bienenwabe oder jedes Wespennest. Es ist daher auch eine Stadt, die Gates und Eisner überfliegen, als sie auf Ameisen zu sprechen kommen.
›Staatenbildend‹ bedeutet in der griechischen Antike ganz selbstverständlich stets auch ›städtebauend‹. Die Polis ist Staat und Stadt zugleich, sie ist sowohl Institution als auch ein Ort. In der Gliederung der Stadt aus Plätzen und Häusern, Straßen und Palästen, Gärten und Festungen wird die Verfasstheit des Staates sichtbar. Im Begriff der Polis kommen Sozialordnung und Raumordnung zur Deckung. Jede Mauer, jedes Tor, jeder Platz, jedes Haus, jede Burg, jeder Wall, jeder Graben stehen für eine ihnen inhärente Rechtsordnung, die Schmitt Nomos genannt hat. Diese durchaus nicht selbstverständliche Zusammenführung, die beispielsweise die Möglichkeit einer nomadischen Gesellschaft ausschließt, ist der Grund dafür, dass 1.) Ameisennester so beschrieben werden, als seien sie Städte. Bei Aelian etwa, einem um 177 n. Chr. geborenen Naturkundler, liest man in De natura animalium von den Straßen und Lagerhallen der Ameisenstädte, von ihren Friedhöfen und ihren Bauwerken, ihren unterschiedlichen Quartieren für Wohnen, Gebären, Speichern. Ameisen gelten Aelian als »hervorragende, sparsame Haushälter«. Und natürlich sind sie unermüdlich und froh bei der Arbeit: »Durch die Beschäftigung mit Ameisen konnte ich viel lernen. Sie sind unermüdlich, allzeit bereit zu arbeiten, und das ohne Ausreden und Freiheitsgesuch; nicht mal an Festtagen legen sie ihre Arbeit nieder.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Niels Werber
Niels Werber, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen. Er studierte Germanistik und Philosophie und lehrte an zahlreichen in- und ausländischen Universitäten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Soziale Insekten, Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft, Literatur und ihre Medien sowie Geopolitik der Literatur.
Bibliographische Angaben
- Autor: Niels Werber
- 2013, 1. Auflage, 480 Seiten, Masse: 13,4 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100912128
- ISBN-13: 9783100912121
- Erscheinungsdatum: 18.06.2013
Rezension zu „Ameisengesellschaften “
'Ameisengesellschaften' von Niels Werber liest sich trotz seines komplexen Gegenstandes leicht und spannend. Matthias Eckoldt Deutschlandfunk (Büchermarkt) 20140120
Pressezitat
'Ameisengesellschaften' von Niels Werber liest sich trotz seines komplexen Gegenstandes leicht und spannend. Matthias Eckoldt Deutschlandfunk (Büchermarkt) 20140120
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