Am Ende des Ozeans
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Am Ende des Ozeans von Barbara Ewing
Leseprobe
Bei Einbruch der Dämmerung hastetendie Laternenanzünder mit ihren Leitern durch die Hauptstrassen, wichen denLeuten aus, kletterten wie Affen empor und zündeten die Gaslampen an. Später,als es dunkler wurde, leuchteten an der Themse die ersten Lichter auf.
In Westminster drang ein hellerSchein aus dem Parlament, sobald die Diener die Lampen für die HerrenAbgeordneten entfachten. Dann flammte und flackerte es nach und nach auch aufden Schiffen aller Art auf, die den Fluss befuhren, und die wendigen Leichterverschwanden flugs in tiefen Schatten oder tauchten daraus auf. Mitten imwirren, lärmenden Gewimmel auf den Brücken steckten die Droschkenkutscher ihreLaternen an; es war Flut, und Hunderte vorüberziehenderWagenlampen spiegelten sich flüchtig im dunkelnden Wasser, das über dieschlammigen Ufer stieg und sich in Finstere Gassen hinabschlängelte. Bisweilenstiessen pferdegezogene Droschken mit pferdegezogenen Omnibussen und Kutschen zusammen, mitFrachtwagen und Handkarren: Pferde strauchelten, Kohlen prasselten zu Boden,Früchte und Gemüse kullerten unter eisenbeschlagene Räder, Strassenhändler schrien und lachten, Damen kreischten, Kutscher schimpftenund fluchten. Wer sich auf eigenen Beinen fortbewegte, bahnte sich seinengefahrvollen Weg schiebend und schubsend zwischen Unrat und Rossäpfeln; vielebenutzten die nur spärlich beleuchtete neue HungerfordBridge, die allein Fussgängern vorbehalten war, obgleich Bauern häufig auch ihrvor Angst kotendes Vieh über diese Brücke zum SmithfieldMarket trieben, zur Schlachtbank.
(Einige Bewohner der Stadt schienenan diesem warmen Spätsommerabend jedoch keinerlei Licht zu benötigen, siekannten wohl ihren Weg durch die schmaleren Strassen und feuchten Gassen, denn eilendsliefen sie unbeleuchtete Pfade entlang, sogar über das aufgeweichte Ufer,dessen Schlamm bei Flut in die Stadt gespült wurde; sie bogen nach rechts oderlinks in einen Durchgang oder einen Hausflur ein, wo ihnen eine trübe Kerzeoder ein Flüstern die Richtung wies.)
Fahl schimmernd ging der Mond auf.Die ersten Sterne funkelten, und die Nacht senkte sich über London,verwandelte das gelbgraue Wasser des Flusses in schwarzen Samt, verbarg denbeissenden, dunklen Rauch, der in Schwaden aus den Schornsteinen aufstieg, undverhüllte die Turmspitzen der grossen Kirchen und Paläste, sodass die Stadt -beinahe - schön anmutete.
Sodass man nicht sah, was alles ausSenkgruben und Abtritten, von Unrathaufen und Nachteimerwagen, vom Siechen- undvom Arbeitshaus, von den Friedhöfen, den Schlachthäusern oder den Läden, dieInnereien feilboten, aus den Gaswerken, den Baumwollfabriken, den Färbereienund den Gerbereien durch Rinnsteine und Gossen in die Themse floss. Man konnteweder die Tierkadaver sehen noch den Schweinekot und Pferdemist oder diemenschlichen Exkremente, weder das Arsen aus den Räudebädern für die Schafe nochdie Metallsalze, das Bleiweiss, die Farbstoffe und die Bleichmittel, die in denFluss gelangten; und auch nicht die menschlichen Leichen, die hier ins Wassergeworfen wurden.
Und lautlos strömte die ganze Nachtlang aus dieser grössten Kloake der Stadt - der Themse - das verunreinigte,verseuchte Wasser durch amtlich genehmigte Rohre wieder in die Stadt zurück,in das Leitungsnetz, das die Einwohner Londons mit Wasser versorgte.
«Gentlemen», begann derPremierminister.
Darauf verfiel er für einen Momentin Schweigen und liess die Mundwinkel hängen. Er setzte seine Brille auf, ehe ernoch einmal einen Blick auf das Papier warf, das vor ihm lag. «Gentlemen, die neueCholeraepidemie fordert bereits mehr als zweihundertfünfzig Todesopfer pro Tag.Unsere Hospitäler sind in hohem Masse überlastet, die Londoner Friedhöfequellen bereits über, im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist dringend geboten,alle üblichen Vorkehrungen zu treffen, und es obliegt uns» - hier hielt er kurzinne -, «Londons Bevölkerung nicht in Unruhe zu versetzen, doch wir müssen dieMenschen warnen, wie ich nun Sie warne, da sich die Seuche wieder einmal nichtmehr auf die - äh - ärmeren Stadtteile unserer Metropole beschränkt.» Er hörtedas Rascheln und Räuspern der Männer, die nicht glauben mochten, dass eineSeuche auch ihnen gefährlich werden könnte. Den einen oder anderen sah er garin seiner Westentasche nach einer Zigarre tasten (einer edlen Zigarre, einemSymbol, einem Talisman gegen das, was anderen, geringeren Leuten widerfuhr).Da hob der Premierminister ein wenig die Stimme. «Wie schon beim letzten Malhat es den Anschein, als habe die Krankheit unversehens Barrieren übersprungen,denn sie brach auch an Orten aus, an denen man sie - äh - nicht erwartet hatte.Bisher wurden die meisten Todesfälle südlich des Flusses gemeldet, doch ichmuss Sie davon in Kenntnis setzen, dass die Cholera in dieser Woche auch in Marylebone aufgetreten sein soll. Und ich bedaure zutiefst,Ihnen mitteilen zu müssen, dass mich eines unserer Ehrenwerten Mitgliedersoeben vom Tod seiner eigenen vierzehnjährigen Tochter unterrichtet hat.»
Das Rascheln und Räuspern schwoll zubeachtlicher Lautstärke an, während die Herren Abgeordneten bestürzt um sichblickten - bestürzt und, wie der Premierminister gleichfalls bemerkte, aufs äussersteerschrocken. Wer? Wer? Doch nicht einer von uns? Doch nicht die Cholera? Hastignahm er die Brille ab und verliess die Kammer.
Als er sein geräumiges Büro betrat,das ihm einen Blick auf den Fluss gewährte, holte er selbst eine Zigarreheraus. Er wollte, er könnte nach Hause gehen. «Nun denn», wies er indes denabwartend neben ihm stehenden Diener an, «schicken Sie die Herren herein.»
Die Schar der Geschäftsleute: diePlaner, die Spekulanten, die Anwälte und Bankiers, sie hatten in einem derRäume am Ende des langen Korridors seiner geharrt. Jetzt strömten sie herein.Einige der Herren lächelten und rieben sich halb frohgemut, halb flehend die Hände,gleichwohl ein wenig davon eingeschüchtert, dass sie sich in dem wiedererrichteten Palast im eindrucksvollen Amtszimmer dieses bedeutenden Mannesbefanden. Manche waren auch zuversichtlich und tatendurstig, hundertmaltatendurstiger als ihr Premierminister. Die Welt veränderte sich, entwickeltesich, und sie wussten, dass sie ihnen gehörte.
Die Vorhänge waren nicht zugezogen,der Premierminister schaute gern auf seine Stadt hinaus. Grosse und kleineBoote, Hunderte dunkler Schemen, da und dort mit flackernden Lichtern, tummeltensich auf dem Wasser. Sogar Geschäftsleuten stockte bei diesem Anblick kurz derAtem: ihr schöner Fluss. Auf einem silbernen Tablett wurden Getränkehereingebracht, ein Bedienter schenkte Whisky ein.
«Gentlemen», begann derPremierminister erneut. Mit einem Male überkam ihn Erschöpfung. Wie ermüdenddas alles war, wie er sich nach seinem Zuhause sehnte! Hastig trank er das ihmgereichte Glas leer. «Gentlemen, wie es sich versteht, wurden mir Ihre Pläne kundgetan.Es ist wahr, dass der Verkehr in London mittlerweile ein unerträgliches, eingewiss ganz und gar unannehmbares Ausmass erreicht hat, und bisweilen frage ichmich ...», in Gedanken noch bei seinem Auftritt vor der Kammer, «... ob esnicht sogar der Verkehr selbst ist, der diese nicht länger hinnehmbaren Seuchenin unsere prächtige Stadt bringt. Wie man mir berichtet, passieren trotz Ihrerneuen Eisenbahnen mehr als fünftausend Pferde jeden Tag TempleBar. Das Gedränge, ganz zu schweigen vom - Miasma - ist vollkommenunerträglich geworden. Aber ...» , er füllte sein Glas nach, «... Sie wissenzweifelsohne, dass Ihr Antrag nur einer von vielen ist, die das Parlament injüngster Zeit überschwemmt haben, und Sie wissen gleichfalls, dass eineKönigliche Kommission bereits empfohlen hat, im Zentrum keine weiterenEisenbahnschienen mehr zu legen.»
Die Herren wurden unruhig undhüstelten, einer schickte sich an, etwas zu sagen, doch der Premierminister hobabwehrend die Hand. «Ja, gewiss, Ihr Vorschlag unterscheidet sich von denanderen. Gleichwohl finde ich es immer noch befremdlich und eher abschreckend,mir Wagenzüge unter unserer Stadt vorzustellen. Unter unserer Stadt! Ineinem ringförmigen Tunnel unter unserer Stadt, wie ihn einige von Ihnenanregen! Haben Sie dabei erwogen, wie viele Kirchspiele und städtische Gildenfür einen derartigen Plan miteinander in Einklang gebracht werden müssten?Guter Gott, machen Sie sich einen Begriff davon, wie schwierig es ist, an soviele Behörden und Administrationen mit einem Anliegen heranzutreten, das dieganze Stadt betrifft? Sie tragen sich, glaube ich, mit der Absicht, unter einermit Häusern bebauten Fläche von London zu graben. Haben Sie dabei bedacht,welche Auswirkungen das auf unsere Häuser, unsere Wohnungen, ja sogar aufdieses Gebäude hier haben könnte, wenn Sie darunter Tunnel errichten? Esbeschleichen einen Schreckensbilder davon, wie unsereprächtige Hauptstadt dabei ins Innere der Erde sinkt. Und ich kann mich desGedankens nicht erwehren, dass Sie auch Mühe haben dürften, die Bevölkerungdieser grossartigen Stadt dafür zu gewinnen, unterirdisch zu reisen.» Dochplötzlich erlahmte sein Interesse. «Gentlemen, ich würde mich dennoch freuen,wenigstens weiterführende Ideen in dieser Sache zu vernehmen. Wie ich höre,werden Sie heute Abend mit einigen der ehrenwerten Mitglieder des Parlamentsspeisen und mit ihnen die Gespräche fortsetzen, und vielleicht könnte ein neuerBericht vorgelegt werden ... ja ... ja ... Ich danke Ihnen, Gentlemen,vergeben Sie mir, aber ich fürchte, auf mich warten noch mehrere Besucher, und IhreMajestät ...» Er nahm stets die Königin zum Vorwand.
Die auf diese Weise verabschiedetenGeschäftsleute - einige waren entmutigt, manche übten offen Kritik, wogegenandere Verständnis für das erforderliche lange Verfahren aufbrachten -, siealle sprachen in gedämpftem Ton miteinander, während sie auf ihrem Rückweg zuzweit oder dritt wieder an den Gemälden der heroischen Gestalten in denbreiten Korridoren vorüberschritten.
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© RowohltVerlag
Übersetzung:Ingrid Altrichter
- Autor: Barbara Ewing
- 2006, 528 Seiten, Masse: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Altrichter, Ingrid
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499233991
- ISBN-13: 9783499233999
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