Aller Tage Abend
Roman. Ausgezeichnet mit dem Evangelischen Buchpreis 2013
Das Leben ist die Zeit, die dir bleibt
Wie lang wird das Leben des Kindes sein, das gerade geboren wird? Wer sind wir, wenn uns die Stunde schlägt? Wer wird um uns trauern? Jenny Erpenbeck nimmt uns mit auf ihrer Reise durch die vielen Leben, die...
Wie lang wird das Leben des Kindes sein, das gerade geboren wird? Wer sind wir, wenn uns die Stunde schlägt? Wer wird um uns trauern? Jenny Erpenbeck nimmt uns mit auf ihrer Reise durch die vielen Leben, die...
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Produktinformationen zu „Aller Tage Abend “
Das Leben ist die Zeit, die dir bleibt
Wie lang wird das Leben des Kindes sein, das gerade geboren wird? Wer sind wir, wenn uns die Stunde schlägt? Wer wird um uns trauern? Jenny Erpenbeck nimmt uns mit auf ihrer Reise durch die vielen Leben, die in einem Leben enthalten sein können. Sie wirft einen scharfen Blick auf die Verzweigungen, an denen sich Grundlegendes entscheidet. Die Hauptfigur ihres Romans stirbt als Kind. Oder doch nicht? Stirbt als Liebende. Oder doch nicht? Stirbt als Verratene. Als Hochgeehrte. Als von allen Vergessene. Oder doch nicht? Meisterhaft und lebendig erzählt Erpenbeck, wie sich, was wir »Schicksal« nennen, als ein unfassbares Zusammenspiel von Kultur- und Zeitgeschichte, von familiären und persönlichen Verstrickungen erweist. Der Zufall aber sitzt bei alldem »in seiner eisernen Stube und rechnet«.
Wie lang wird das Leben des Kindes sein, das gerade geboren wird? Wer sind wir, wenn uns die Stunde schlägt? Wer wird um uns trauern? Jenny Erpenbeck nimmt uns mit auf ihrer Reise durch die vielen Leben, die in einem Leben enthalten sein können. Sie wirft einen scharfen Blick auf die Verzweigungen, an denen sich Grundlegendes entscheidet. Die Hauptfigur ihres Romans stirbt als Kind. Oder doch nicht? Stirbt als Liebende. Oder doch nicht? Stirbt als Verratene. Als Hochgeehrte. Als von allen Vergessene. Oder doch nicht? Meisterhaft und lebendig erzählt Erpenbeck, wie sich, was wir »Schicksal« nennen, als ein unfassbares Zusammenspiel von Kultur- und Zeitgeschichte, von familiären und persönlichen Verstrickungen erweist. Der Zufall aber sitzt bei alldem »in seiner eisernen Stube und rechnet«.
Klappentext zu „Aller Tage Abend “
Das Leben ist die Zeit, die dir bleibtWie lang wird das Leben des Kindes sein, das gerade geboren wird? Wer sind wir, wenn uns die Stunde schlägt? Wer wird um uns trauern? Jenny Erpenbeck nimmt uns mit auf ihrer Reise durch die vielen Leben, die in einem Leben enthalten sein können. Sie wirft einen scharfen Blick auf die Verzweigungen, an denen sich Grundlegendes entscheidet. Die Hauptfigur ihres Romans stirbt als Kind. Oder doch nicht? Stirbt als Liebende. Oder doch nicht? Stirbt als Verratene. Als Hochgeehrte. Als von allen Vergessene. Oder doch nicht? Meisterhaft und lebendig erzählt Erpenbeck, wie sich, was wir »Schicksal« nennen, als ein unfassbares Zusammenspiel von Kultur- und Zeitgeschichte, von familiären und persönlichen Verstrickungen erweist. Der Zufall aber sitzt bei alldem »in seiner eisernen Stube und rechnet«.
Lese-Probe zu „Aller Tage Abend “
Aller Tage Abend von Jenny Erpenbeck1
Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war - auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde. Drei Handvoll Erde, und das kleine Mädchen, das mit dem Schulranzen auf dem Rücken aus dem Haus läuft, lag unter der Erde, der Schulranzen wippt auf und ab, während es sich immer weiter entfernt; drei Handvoll Erde, und die Zehnjährige, die mit blassen Fingern Klavier spielt, lag da; drei Handvoll, und die Halbwüchsige, der die Männer nachschauen, weil ihr Haar so kupferrot leuchtet, wurde verschüttet; dreimal Erde geworfen, und es wurde auch die erwachsene Frau, die ihr, wenn sie selbst begonnen hätte, langsam zu werden, eine Arbeit aus der Hand genommen hätte mit den Worten: ach, Mutter, auch die wurde langsam von Erde, die ihr in den Mund fiel, erstickt. Unter drei Händen voll Erde lag eine alte Frau da im Grab, eine Frau, die selbst schon begonnen hat, langsam zu werden, zu der eine andere junge Frau oder ein Sohn manchmal gesagt hätte: ach, Mutter, auch die wartete nun darauf, dass man Erde auf sie warf, bis die Grube irgendwann wieder ganz voll sein würde, und ein wenig voller als voll, denn den Hügel über der Grube wölbt ja der Körper aus, wenn der auch viel weiter unten liegt, wo man ihn nicht mehr sieht. Über einem Säugling, der plötzlich gestorben ist, wölbt sich der Hügel fast gar nicht. Eigentlich aber müsste der Hügel so riesig sein wie die Alpen. Das denkt sie, und dabei hat sie die Alpen noch niemals mit eigenen Augen gesehen.
... mehr
Sie sitzt auf derselben Fußbank, auf der sie als Kind immer saß, wenn ihre Großmutter ihr Geschichten erzählte. Diese Fußbank war das Einzige, was sie sich von der Großmutter für ihren eigenen Hausstand gewünscht hatte. Sie sitzt im Flur auf dieser Fußbank, lehnt sich an die Wand, hält die Augen geschlossen und rührt das Essen und Trinken, das eine Freundin vor sie hingestellt hat, nicht an. Sieben Tage wird sie jetzt so da sitzen. Ihr Mann hat versucht, sie hochzuziehen, aber gegen ihren Willen hat er es nicht geschafft. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war sie froh. Noch am letzten Freitag hatte die Urgroßmutter der schlafenden Kleinen über den Kopf gestrichen und sie ihr Maideleh genannt. Sie selbst hatte durch die Geburt des Kindes ihre Großmutter in eine Urgroßmutter verwandelt, und ihre Mutter in eine Großmutter, aber jetzt waren all die Verwandlungen schon wieder aufgehoben. Vorgestern hatte ihre Mutter, die zu der Zeit noch eine Großmutter genannt werden konnte, ihr eine wollene Decke mitgebracht, die sollte sie sich umlegen, wenn sie an kalten Tagen mit dem Säugling im Park spazierenging. Angeschrien hatte ihr Mann sie in der Nacht, sie solle doch irgendetwas tun. Aber sie hatte nicht gewusst, was in solch einer Lage zu tun war. Nach seinem Schreien, und nach den wenigen Minuten in dieser Nacht, als sie nicht gewusst hatte, was tun, nach diesem einen Moment, in dem auch ihr Mann nicht gewusst hatte, was tun, hatte er kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Sie war in ihrer Not zur Mutter gelaufen, die nun keine Großmutter mehr war, die Mutter hatte zu ihr gesagt, sie solle nach Hause zurückgehen und dort auf sie warten, sie schicke die Leute. Während ihr Mann im Wohnzimmer auf und ab ging, hatte sie nicht gewagt, das Kind noch einmal zu berühren. Sie hatte alle Eimer, die mit Wasser gefüllt waren, aus dem Haus gebracht und ausgeschüttet, hatte den Spiegel im Flur mit einem Laken verhängt, hatte die Fenster des Zimmers, in dem das Kind lag, zur Nacht hin geöffnet, und sich dann neben die Wiege gesetzt. Mit diesen Handgriffen hatte sie sich an den Teil des Lebens erinnert, der von Menschen besiedelt war. Das aber, was sich vor nicht einmal einer Stunde hier in ihrer Wohnung ereignet hatte, ließ sich von keiner Menschenhand greifen.
So war es auch bei der Geburt des Kindes gewesen, die noch nicht einmal acht Monate her war. Nach einer Nacht, einem Tag und wieder einer Nacht, in der das Kind nicht gekommen war, hatte sie sterben wollen. So weit entfernt hatte sie sich während dieser Stunden vom Leben: von ihrem Mann, der draußen wartete, von ihrer Mutter, die in einer Ecke des Zimmers auf einem Stuhl saß, von der Hebamme, die mit Wasserschüsseln und Tüchern hantierte, und längst auch von diesem Kind, das angeblich in ihrem Leib sein sollte, sich aber in der Unsichtbarkeit verkeilt hatte. Am Morgen nach der Geburt dann sah sie von ihrem Bett aus, wie alle einfach das taten, was zu tun war: Ihre Mutter, nun in eine Großmutter verwandelt, empfing eine Freundin, die gekommen war, um zu gratulieren, die in eine Urgroßmutter verwandelte Großmutter brachte die Kindbett-Zettel mit dem Psalm 21 und frischgebackenen Kuchen, und ihr Mann war ins Gasthaus gegangen, um auf das Wohl des Kindes zu trinken. Sie selbst hielt das Kind in den Armen, und das Kind trug die Wäsche, an der sie selbst, ihre Mutter und ihre Großmutter in den Monaten vor der Geburt gestickt hatten.
Auch für das, was jetzt passiert war, gab es Regeln. Die Leute waren bei Sonnenaufgang erschienen, hatten das Kind aus der Wiege genommen, es in ein Tuch gewickelt und auf eine große Bahre gelegt. So leicht und klein war das Bündel gewesen, dass einer es festhalten musste, als sie die Treppe hinuntergingen, sonst wäre es fortgerollt. Saj mojchl un fal mir mejne trep nit arunter. Sei so gut. Sie hatte gewusst, dass das Kind noch am selben Tag unter der Erde sein musste.
Jetzt sitzt sie auf dieser kleinen Fußbank aus Holz, die sie von ihrer Großmutter zur Hochzeit bekommen hat, sitzt da mit geschlossenen Augen, so wie sie andere in Zeiten der Trauer hat sitzen sehen. Manchmal war sie es, die Trauernden Essen gebracht hat, nun hat eine Freundin ihr selbst Schüsseln mit Essen vor die Füße gestellt. So wie sie gestern in der Nacht alles Wasser, das im Haus war, ausgeschüttet hat, weil es heißt, der Todesengel spüle darin sein Schwert, wie sie den Spiegel verhängt und das Fenster geöffnet hat, weil sie es andere so hat machen sehen, aber auch, weil die Seele des Kindes dann nicht wiederkehren, sondern für immer hinausfliegen würde, so wird sie jetzt sieben Tage da sitzen, weil sie andere so hat sitzen sehen, aber auch, weil sie anders gar nicht wüsste, wo bleiben, während sie diesen unmenschlichen Ort nicht mehr betreten will, der das Zimmer des Kindes in der letzten Nacht war. Wie Stege sind die Sitten der Menschen ins Unmenschliche hineingebaut, denkt sie, greifbare Gebilde, an denen ein Schiffbrüchiger sich wieder hinaufziehen könnte, wenn überhaupt. Schön wäre es, denkt sie, wenn der Zufall regieren würde, und nicht ein Gott.
Dass die Decke zu dick war, könnte doch der Grund gewesen sein. Dass das Kind auf dem Rücken schlief. Dass es sich womöglich verschluckt hat. Dass es krank war, und keiner es wusste. Dass durch die Türen das Schreien des Kindes beinahe gar nicht zu hören war. Im Zimmer des Kindes hört sie jetzt die Schritte ihrer Mutter und weiß, ohne hinzusehen, was diese dort macht: Sie nimmt Decken und Kissen aus der Wiege und zieht die Bettwäsche ab, sie streift den Stoff, der die Wiege überdacht, vom Holzgestell ab und schiebt die Wiege beiseite. Mit dem Arm voller Wäsche kommt sie jetzt aus dem Zimmer, geht an ihrer auf der Fußbank sitzenden Tochter vorbei, die hält die Augen noch immer geschlossen, und trägt alles in die Waschküche hinunter. Dass sie zu jung war, um zu wissen, was tun. Dass ihre Mutter nie über all das mit ihr gesprochen hat. Dass auch ihr Mann nicht gewusst hatte, was tun. Dass sie, im Grunde genommen, immer ganz allein war mit dem Kind, mit diesem Wesen, das am Leben zu halten war. Dass niemand ihr vorher gesagt hat, dass das Leben nicht funktioniert wie eine Maschine. Die Mutter kehrt wieder zurück. Sie nimmt im Vorbeigehen das Laken, das den Spiegel im Flur verhängt, ab, faltet es zusammen und bringt es ins Zimmer des Kindes. Zuunterst legt sie es in den Koffer, den sie eigens zu diesem Zweck mitgebracht hat, dann nimmt sie die Sachen des Kindes aus dem Schubfach in der Kommode und legt sie zu dem Tuch in den Koffer. In den Monaten vor der Geburt haben sie, die Schwangere, ihre Mutter und ihre Großmutter an diesen Jacken, Kleidern und Mützen genäht, gestickt und gestrickt. Ihre Mutter schiebt jetzt die leere Schublade zu. Oben auf der Kommode liegt das Spielzeug mit den silbernen Glöckchen. Als sie es wegnimmt, klirren die Glöckchen. Gestern haben sie auch geklirrt, als die Tochter selbst noch eine Mutter war und mit ihrem Kind gespielt hat. Das Klirren hat in den vierundzwanzig Stunden, die seither vergangen sind, seinen Klang nicht verändert. Ihre Mutter legt das Spielzeug jetzt zuoberst in den Koffer, dann schließt sie den Koffer und hebt ihn auf, sie kommt aus dem Zimmer, trägt den Koffer durch den Flur, an der Tochter vorbei, und bringt ihn in den Keller. Vielleicht aber doch, dass das Kind noch nicht getauft und die Ehe der Eltern nur eine sogenannte Notzivilehe war. Nach jüdischem Brauch haben sie es heute begraben, und nach jüdischem Brauch wird sie nun auf der Fußbank sitzen für sieben Tage, doch der Mann spricht nicht mit ihr. Sicherlich ist er jetzt in der Kirche und betet für die Seele des Kindes. Wo kann denn die Seele des Kindes nun hin? Ins Fegefeuer, ins Paradies oder die Hölle? Oder war es so, wie manche sagen, dass das Kind eines von denen war, die nur kurze Zeit brauchen, um irgendetwas aus einem anderen Leben, von dem die Eltern nichts wissen, zu Ende zu bringen, und deshalb so bald schon dahin zurückkehren, woher sie kamen? Ihre Mutter kommt wieder, geht in das Zimmer des Kindes und schließt dort die Fenster. Vielleicht gab es doch jenseits des Lebens einfach nur nichts? Ganz still ist es jetzt in der Wohnung geworden. Das wäre ihr im Grunde genommen das liebste.
Als es dunkel wird, beginnen ihre Brüste, hart zu werden und zu schmerzen. Milch hat sie noch, Milch für ein Kind, das unter der Erde liegt. Am liebsten will sie an dem, was sie jetzt zuviel hat, verrecken. Während das Kind noch nach Luft schnappte und dann blau anlief, hatte sie in Gedanken alle Zeit ihres Lebens dem Kind geschenkt, hatte mit dem Gott ihrer Väter einen Handel schließen wollen und ihr Leben für das Leben, das aus ihr gekommen war, eintauschen wollen. Aber der Gott, wenn es ihn gab, hatte das Geschenk nicht angenommen. Sie lebte. Jetzt fällt ihr wieder ein, wie die Großmutter von der Hochzeit an nie wieder zuließ, dass sie mitkam, um den Großvater zu besuchen. Erst als das Kind schon da war, und sie es ihm unbedingt zeigen wollte, erfuhr sie, dass der Großvater an dem Tag, als sie, seine Enkelin, den Goj geheiratet hatte, für diese lebendige Braut die Totenwache abgehalten und trotz seiner Schwäche sieben Tage lang auf dem Bett gesessen hatte. Von oben, aus dem Himmel des Großvaters gesehen, hatte also auch sie schon die Grenze des Lebens überschritten und besaß gar nichts mehr, das sie dem Gott zum Tausch hätte anbieten können. Als die Nacht kommt, schiebt sie die Schüsseln mit dem Essen beiseite und legt sich dort, wo die Fußbank steht, schlafen. Sie hört nicht, wann die Mutter sich schlafen legt. Sie hört auch nicht, wann ihr Mann zurückkommt. Irgendwann in dieser Nacht ist es genau vierundzwanzig Stunden her, dass in einer kleinen galizischen Stadt, 50.08333 Grad nördlicher Breite, 25.15000 Grad östlicher Länge, ein Säugling plötzlich gestorben ist.
2
Ein alter Mann liegt in einem Bett in einer dunklen Hütte und schweigt. Schon seit langer Zeit liegt er so, Tag für Tag, er weiß, dass die Leute sagen, er liege im Sterben, aber während das Sterben für manche ein kleines Vorzimmer ist, das sie mit einem Schritt, einem Sprung durchqueren, um auf die andere Seite zu gelangen, liegt er in einem riesigen Sterben, das zu durchqueren ihm einfach nicht gelingen will, vielleicht, weil er schon zu schwach ist.
Neben ihm sitzt seine Frau, sitzt lange, ohne etwas zu sagen, draußen ist es inzwischen schon wieder dunkel. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, sagt sie schließlich.
Im letzten Frühjahr hatte seine Frau oft neben ihm gesessen und gestrickt, und obgleich seine Augen nicht mehr die besten waren, hatte er gesehen, dass die Sachen, an denen sie arbeitete, sehr klein waren. Eines Tages dann hatte sie aus den Vorräten, die für die ganze Woche hätten reichen sollen, einen Kuchen gebacken und war aus dem Haus gegangen. In dieser Woche hatte es am Sabbat kein Ei in der Suppe gegeben. Er hatte sie nichts fragen, sie nichts erklären müssen.
Heute früh, als es noch dunkel war, hat er im Halbschlaf seine Frau und die Tochter in der Stube tuscheln hören, nach dem Mittag dann ist seine Frau aus dem Haus gegangen und erst bei Einbruch der Dunkelheit wiedergekehrt, sie hat sich neben ihn gesetzt, lange geschwiegen, und schließlich gesagt: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen.
Zur Hochzeit der Enkelin waren die beiden Alten nicht eingeladen worden. An dem Tag, an dem die Enkelin einen Goj heiratete, hatte der Alte sich in seinem Bett aufgesetzt und sieben Tage gesessen, um für diese lebendige Braut, wie es sonst nur üblich war, wenn jemand starb, die Totenwache zu halten.
Jetzt schweigt seine Frau neben ihm, ihrem alten, bettlägerig gewordenen Mann, und schüttelt den Kopf. Weiß Gott, was unserem Maideleh eingefallen ist, ihre Kleine mit einem Goj zu verheiraten, sagt der Alte.
3
Sie nimmt Decken und Kissen aus der Wiege, zieht die Bettwäsche ab, sie streift den Stoff, der die Wiege überdacht, vom Holzgestell ab und schiebt die Wiege beiseite. Begonnen hatte das Unglück vor vielen Jahren, da war ihre Tochter selbst noch ein Säugling gewesen. Als sie den Lärm draußen hörten, hatte ihr Mann die Amme mit dem Kind gleich ins Kinderzimmer hinaufgeschickt, sie solle die Tür verriegeln, auf gar keinen Fall aufmachen, wenn es klopfe, und die Fensterläden fest schließen. Dann waren sie in der unteren Etage von Fenster zu Fenster gelaufen, um zu schauen, was los war: In den umliegenden Straßen und auf dem Platz vor dem Haus schienen sich Leute zu sammeln, manche rannten, manche schrien, aber was sie schrien, war nicht zu verstehen. Sie und ihr Mann waren nicht mehr dazu gekommen, auch unten die Fensterläden zu schließen, bevor die ersten Steine das Haus trafen. Der Mann hatte versucht zu erkennen, wer die Steine warf, und hatte Andrej erkannt. Andrej, hatte er hinausgerufen, Andrej! Aber Andrej hörte nicht, oder tat so, als ob er nicht hörte, was wahrscheinlicher war, denn er wusste ja, wer in dem Haus lebte, das er mit Steinen bewarf. Dann flog ein Stein von Andrej durch eine Fensterscheibe, flog nur um Haaresbreite an ihrem Kopf vorbei, krachte hinter ihr in den verglasten Bücherschrank und traf den 9. Band der in Leder gebundenen Gesamtausgabe von Goethe, die ihr Mann von seinen Eltern als Geschenk zum Schulabschluss bekommen hatte. Keine Luft von keiner Seite!/ Todesstille fürchterlich!/ In der ungeheuern Weite/ Reget keine Welle sich! Daraufhin hatte ihr Mann voller Zorn die Eingangstür aufgerissen, offenbar, um Andrej beim Kragen zu packen und zur Vernunft zu bringen, hatte aber die Tür sofort wieder zugemacht, als er sah, wie Andrej jetzt, zusammen mit drei oder vier anderen jungen Männern, von denen einer eine Axt in der Hand hielt, im Laufschritt aufs Haus zukam. Hatte schnell den Schlüssel im Schloss umgedreht und gemeinsam mit ihr, seiner Frau, versucht, die Bretter, die für einen solchen Notfall immer griffbereit in der Nähe der Tür standen, vor die Tür zu nageln. Dazu aber war es schon zu spät gewesen, wo die Nägel, wo der Hammer, schon begann die Tür unter den Axthieben zu splittern. Andrej, Andrej. Da waren sie und ihr Mann die Treppe hinaufgelaufen, hatten an die Tür gepocht, hinter der die Amme mit dem Kind saß, aber die hatte nicht aufgemacht, entweder weil sie nicht verstand, wer da um Einlass bat, oder weil ihre Angst so groß war, dass sie die Tür einfach nicht aufmachen wollte. Über die letzte, steile Stiege waren sie und ihr Mann dann auf den Dachboden geflüchtet, als Andrej und seine Männer schon unten ins Haus drangen. Im Erdgeschoss zerschlugen die Eindringlinge die restlichen Fensterscheiben, rissen die Fensterrahmen aus der Wand, stießen den Bücherschrank um, schlitzten die Bettdecken auf, zerschmissen Geschirr und Einweckgläser, schütteten die Vorräte auf die Straße, dann aber musste einer von ihnen gehört haben, wie sie und ihr Mann versuchten, die Dachbodentür zu verriegeln, denn ohne sich im ersten Stock aufzuhalten, liefen die Männer jetzt die Treppe hinauf, rissen auf dem Weg nach oben die Tapete von den Wänden und hieben mit der Axt hier und da Löcher ins Mauerwerk. Sie und ihr Mann standen hinter der Dachbodentür, die sehr dünn war, sie hatten den Riegel vorgeschoben, aber kein Möbel gefunden, das schwer genug gewesen wäre, um damit die Tür zu verbarrikadieren, jetzt hörten sie die Schritte der Männer auf der letzten, steilen Stiege. Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen; denn ich bin ein Gast bei dir, ein Fremdling wie alle meine Väter. Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe ich dahinfahre und nicht mehr bin. Der Himmel, der Himmel. Ging es nicht nach unten, musste es nach oben einen Ausweg geben. Sie begannen, die Ziegel des Daches mit den Händen fortzustoßen und sich so eine Öffnung zu schaffen. Aber die Tür in ihrem Rücken, die die Verfolger einen Moment lang aufhält, ist dünn, nur ein paar Bretter. Ihr Mann hilft ihr, sich hochzuziehen und durch die Öffnung aufs Dach zu klettern. Und dann will sie ihn nachziehen. Und dann hält die dünne Tür den Schlägen der Meute nicht mehr stand. Und dann zieht sie ihn an dem einen Arm, und die Männer unten ihn an dem anderen. Lot will die Engel, die bei ihm zu Gast sind, nicht herausgeben. Lot steht auf der Schwelle, das Volk packt ihn am Arm und will ihn hinausziehen, um ihn für das Gastrecht, das er gewährt, zu strafen, sich wenigstens über i h n herzumachen, sich an i h m zu vergehen, i h n anzuspeien, zu schinden und zu zertreten, die Engel aber packen ihn von drinnen mit ihren Engelhänden an dem anderen Arm, sie sind stark, sie schlagen die Menschen draußen mit Blindheit, ziehen Lot wieder ins Haus und schließen die Tür zwischen ihm und den Menschen, die Menschen draußen können einander nicht mehr sehen und auch nicht mehr den Eingang zu Lots Haus, sie tasten sich mit den Händen an den Mauern entlang und müssen abziehen. Mein Gott, säume doch nicht. Sie hat nicht die Kraft von Engeln, es gelingt ihr nicht, ihren Mann zu sich nach oben zu ziehen, ihren Mann am Arm festhaltend bittet sie Andrej, den sie von Kindesbeinen an kennt, um Erbarmen, auch die Männer, die sie nicht kennt, darunter den mit der Axt, um Erbarmen, aber während sie die Hand ihres Mannes noch festhält, wird ihr Mann unter ihr von den Männern, die sie nicht kennt, und von Andrej, den sie von Kindesbeinen an kennt, erst beschimpft, dann geschlagen, Erbarmen, und schließlich unter ihren Augen zerhackt. Sie lässt nicht los. Erst hält sie ihren Mann an der Hand, dann hält sie nur noch ein Stück Fleisch an der Hand, dann gibt es nichts Lebendiges mehr, das sie zu sich ins Freie hinaufziehen könnte.
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Copyright © 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Sie sitzt auf derselben Fußbank, auf der sie als Kind immer saß, wenn ihre Großmutter ihr Geschichten erzählte. Diese Fußbank war das Einzige, was sie sich von der Großmutter für ihren eigenen Hausstand gewünscht hatte. Sie sitzt im Flur auf dieser Fußbank, lehnt sich an die Wand, hält die Augen geschlossen und rührt das Essen und Trinken, das eine Freundin vor sie hingestellt hat, nicht an. Sieben Tage wird sie jetzt so da sitzen. Ihr Mann hat versucht, sie hochzuziehen, aber gegen ihren Willen hat er es nicht geschafft. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war sie froh. Noch am letzten Freitag hatte die Urgroßmutter der schlafenden Kleinen über den Kopf gestrichen und sie ihr Maideleh genannt. Sie selbst hatte durch die Geburt des Kindes ihre Großmutter in eine Urgroßmutter verwandelt, und ihre Mutter in eine Großmutter, aber jetzt waren all die Verwandlungen schon wieder aufgehoben. Vorgestern hatte ihre Mutter, die zu der Zeit noch eine Großmutter genannt werden konnte, ihr eine wollene Decke mitgebracht, die sollte sie sich umlegen, wenn sie an kalten Tagen mit dem Säugling im Park spazierenging. Angeschrien hatte ihr Mann sie in der Nacht, sie solle doch irgendetwas tun. Aber sie hatte nicht gewusst, was in solch einer Lage zu tun war. Nach seinem Schreien, und nach den wenigen Minuten in dieser Nacht, als sie nicht gewusst hatte, was tun, nach diesem einen Moment, in dem auch ihr Mann nicht gewusst hatte, was tun, hatte er kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Sie war in ihrer Not zur Mutter gelaufen, die nun keine Großmutter mehr war, die Mutter hatte zu ihr gesagt, sie solle nach Hause zurückgehen und dort auf sie warten, sie schicke die Leute. Während ihr Mann im Wohnzimmer auf und ab ging, hatte sie nicht gewagt, das Kind noch einmal zu berühren. Sie hatte alle Eimer, die mit Wasser gefüllt waren, aus dem Haus gebracht und ausgeschüttet, hatte den Spiegel im Flur mit einem Laken verhängt, hatte die Fenster des Zimmers, in dem das Kind lag, zur Nacht hin geöffnet, und sich dann neben die Wiege gesetzt. Mit diesen Handgriffen hatte sie sich an den Teil des Lebens erinnert, der von Menschen besiedelt war. Das aber, was sich vor nicht einmal einer Stunde hier in ihrer Wohnung ereignet hatte, ließ sich von keiner Menschenhand greifen.
So war es auch bei der Geburt des Kindes gewesen, die noch nicht einmal acht Monate her war. Nach einer Nacht, einem Tag und wieder einer Nacht, in der das Kind nicht gekommen war, hatte sie sterben wollen. So weit entfernt hatte sie sich während dieser Stunden vom Leben: von ihrem Mann, der draußen wartete, von ihrer Mutter, die in einer Ecke des Zimmers auf einem Stuhl saß, von der Hebamme, die mit Wasserschüsseln und Tüchern hantierte, und längst auch von diesem Kind, das angeblich in ihrem Leib sein sollte, sich aber in der Unsichtbarkeit verkeilt hatte. Am Morgen nach der Geburt dann sah sie von ihrem Bett aus, wie alle einfach das taten, was zu tun war: Ihre Mutter, nun in eine Großmutter verwandelt, empfing eine Freundin, die gekommen war, um zu gratulieren, die in eine Urgroßmutter verwandelte Großmutter brachte die Kindbett-Zettel mit dem Psalm 21 und frischgebackenen Kuchen, und ihr Mann war ins Gasthaus gegangen, um auf das Wohl des Kindes zu trinken. Sie selbst hielt das Kind in den Armen, und das Kind trug die Wäsche, an der sie selbst, ihre Mutter und ihre Großmutter in den Monaten vor der Geburt gestickt hatten.
Auch für das, was jetzt passiert war, gab es Regeln. Die Leute waren bei Sonnenaufgang erschienen, hatten das Kind aus der Wiege genommen, es in ein Tuch gewickelt und auf eine große Bahre gelegt. So leicht und klein war das Bündel gewesen, dass einer es festhalten musste, als sie die Treppe hinuntergingen, sonst wäre es fortgerollt. Saj mojchl un fal mir mejne trep nit arunter. Sei so gut. Sie hatte gewusst, dass das Kind noch am selben Tag unter der Erde sein musste.
Jetzt sitzt sie auf dieser kleinen Fußbank aus Holz, die sie von ihrer Großmutter zur Hochzeit bekommen hat, sitzt da mit geschlossenen Augen, so wie sie andere in Zeiten der Trauer hat sitzen sehen. Manchmal war sie es, die Trauernden Essen gebracht hat, nun hat eine Freundin ihr selbst Schüsseln mit Essen vor die Füße gestellt. So wie sie gestern in der Nacht alles Wasser, das im Haus war, ausgeschüttet hat, weil es heißt, der Todesengel spüle darin sein Schwert, wie sie den Spiegel verhängt und das Fenster geöffnet hat, weil sie es andere so hat machen sehen, aber auch, weil die Seele des Kindes dann nicht wiederkehren, sondern für immer hinausfliegen würde, so wird sie jetzt sieben Tage da sitzen, weil sie andere so hat sitzen sehen, aber auch, weil sie anders gar nicht wüsste, wo bleiben, während sie diesen unmenschlichen Ort nicht mehr betreten will, der das Zimmer des Kindes in der letzten Nacht war. Wie Stege sind die Sitten der Menschen ins Unmenschliche hineingebaut, denkt sie, greifbare Gebilde, an denen ein Schiffbrüchiger sich wieder hinaufziehen könnte, wenn überhaupt. Schön wäre es, denkt sie, wenn der Zufall regieren würde, und nicht ein Gott.
Dass die Decke zu dick war, könnte doch der Grund gewesen sein. Dass das Kind auf dem Rücken schlief. Dass es sich womöglich verschluckt hat. Dass es krank war, und keiner es wusste. Dass durch die Türen das Schreien des Kindes beinahe gar nicht zu hören war. Im Zimmer des Kindes hört sie jetzt die Schritte ihrer Mutter und weiß, ohne hinzusehen, was diese dort macht: Sie nimmt Decken und Kissen aus der Wiege und zieht die Bettwäsche ab, sie streift den Stoff, der die Wiege überdacht, vom Holzgestell ab und schiebt die Wiege beiseite. Mit dem Arm voller Wäsche kommt sie jetzt aus dem Zimmer, geht an ihrer auf der Fußbank sitzenden Tochter vorbei, die hält die Augen noch immer geschlossen, und trägt alles in die Waschküche hinunter. Dass sie zu jung war, um zu wissen, was tun. Dass ihre Mutter nie über all das mit ihr gesprochen hat. Dass auch ihr Mann nicht gewusst hatte, was tun. Dass sie, im Grunde genommen, immer ganz allein war mit dem Kind, mit diesem Wesen, das am Leben zu halten war. Dass niemand ihr vorher gesagt hat, dass das Leben nicht funktioniert wie eine Maschine. Die Mutter kehrt wieder zurück. Sie nimmt im Vorbeigehen das Laken, das den Spiegel im Flur verhängt, ab, faltet es zusammen und bringt es ins Zimmer des Kindes. Zuunterst legt sie es in den Koffer, den sie eigens zu diesem Zweck mitgebracht hat, dann nimmt sie die Sachen des Kindes aus dem Schubfach in der Kommode und legt sie zu dem Tuch in den Koffer. In den Monaten vor der Geburt haben sie, die Schwangere, ihre Mutter und ihre Großmutter an diesen Jacken, Kleidern und Mützen genäht, gestickt und gestrickt. Ihre Mutter schiebt jetzt die leere Schublade zu. Oben auf der Kommode liegt das Spielzeug mit den silbernen Glöckchen. Als sie es wegnimmt, klirren die Glöckchen. Gestern haben sie auch geklirrt, als die Tochter selbst noch eine Mutter war und mit ihrem Kind gespielt hat. Das Klirren hat in den vierundzwanzig Stunden, die seither vergangen sind, seinen Klang nicht verändert. Ihre Mutter legt das Spielzeug jetzt zuoberst in den Koffer, dann schließt sie den Koffer und hebt ihn auf, sie kommt aus dem Zimmer, trägt den Koffer durch den Flur, an der Tochter vorbei, und bringt ihn in den Keller. Vielleicht aber doch, dass das Kind noch nicht getauft und die Ehe der Eltern nur eine sogenannte Notzivilehe war. Nach jüdischem Brauch haben sie es heute begraben, und nach jüdischem Brauch wird sie nun auf der Fußbank sitzen für sieben Tage, doch der Mann spricht nicht mit ihr. Sicherlich ist er jetzt in der Kirche und betet für die Seele des Kindes. Wo kann denn die Seele des Kindes nun hin? Ins Fegefeuer, ins Paradies oder die Hölle? Oder war es so, wie manche sagen, dass das Kind eines von denen war, die nur kurze Zeit brauchen, um irgendetwas aus einem anderen Leben, von dem die Eltern nichts wissen, zu Ende zu bringen, und deshalb so bald schon dahin zurückkehren, woher sie kamen? Ihre Mutter kommt wieder, geht in das Zimmer des Kindes und schließt dort die Fenster. Vielleicht gab es doch jenseits des Lebens einfach nur nichts? Ganz still ist es jetzt in der Wohnung geworden. Das wäre ihr im Grunde genommen das liebste.
Als es dunkel wird, beginnen ihre Brüste, hart zu werden und zu schmerzen. Milch hat sie noch, Milch für ein Kind, das unter der Erde liegt. Am liebsten will sie an dem, was sie jetzt zuviel hat, verrecken. Während das Kind noch nach Luft schnappte und dann blau anlief, hatte sie in Gedanken alle Zeit ihres Lebens dem Kind geschenkt, hatte mit dem Gott ihrer Väter einen Handel schließen wollen und ihr Leben für das Leben, das aus ihr gekommen war, eintauschen wollen. Aber der Gott, wenn es ihn gab, hatte das Geschenk nicht angenommen. Sie lebte. Jetzt fällt ihr wieder ein, wie die Großmutter von der Hochzeit an nie wieder zuließ, dass sie mitkam, um den Großvater zu besuchen. Erst als das Kind schon da war, und sie es ihm unbedingt zeigen wollte, erfuhr sie, dass der Großvater an dem Tag, als sie, seine Enkelin, den Goj geheiratet hatte, für diese lebendige Braut die Totenwache abgehalten und trotz seiner Schwäche sieben Tage lang auf dem Bett gesessen hatte. Von oben, aus dem Himmel des Großvaters gesehen, hatte also auch sie schon die Grenze des Lebens überschritten und besaß gar nichts mehr, das sie dem Gott zum Tausch hätte anbieten können. Als die Nacht kommt, schiebt sie die Schüsseln mit dem Essen beiseite und legt sich dort, wo die Fußbank steht, schlafen. Sie hört nicht, wann die Mutter sich schlafen legt. Sie hört auch nicht, wann ihr Mann zurückkommt. Irgendwann in dieser Nacht ist es genau vierundzwanzig Stunden her, dass in einer kleinen galizischen Stadt, 50.08333 Grad nördlicher Breite, 25.15000 Grad östlicher Länge, ein Säugling plötzlich gestorben ist.
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Ein alter Mann liegt in einem Bett in einer dunklen Hütte und schweigt. Schon seit langer Zeit liegt er so, Tag für Tag, er weiß, dass die Leute sagen, er liege im Sterben, aber während das Sterben für manche ein kleines Vorzimmer ist, das sie mit einem Schritt, einem Sprung durchqueren, um auf die andere Seite zu gelangen, liegt er in einem riesigen Sterben, das zu durchqueren ihm einfach nicht gelingen will, vielleicht, weil er schon zu schwach ist.
Neben ihm sitzt seine Frau, sitzt lange, ohne etwas zu sagen, draußen ist es inzwischen schon wieder dunkel. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, sagt sie schließlich.
Im letzten Frühjahr hatte seine Frau oft neben ihm gesessen und gestrickt, und obgleich seine Augen nicht mehr die besten waren, hatte er gesehen, dass die Sachen, an denen sie arbeitete, sehr klein waren. Eines Tages dann hatte sie aus den Vorräten, die für die ganze Woche hätten reichen sollen, einen Kuchen gebacken und war aus dem Haus gegangen. In dieser Woche hatte es am Sabbat kein Ei in der Suppe gegeben. Er hatte sie nichts fragen, sie nichts erklären müssen.
Heute früh, als es noch dunkel war, hat er im Halbschlaf seine Frau und die Tochter in der Stube tuscheln hören, nach dem Mittag dann ist seine Frau aus dem Haus gegangen und erst bei Einbruch der Dunkelheit wiedergekehrt, sie hat sich neben ihn gesetzt, lange geschwiegen, und schließlich gesagt: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen.
Zur Hochzeit der Enkelin waren die beiden Alten nicht eingeladen worden. An dem Tag, an dem die Enkelin einen Goj heiratete, hatte der Alte sich in seinem Bett aufgesetzt und sieben Tage gesessen, um für diese lebendige Braut, wie es sonst nur üblich war, wenn jemand starb, die Totenwache zu halten.
Jetzt schweigt seine Frau neben ihm, ihrem alten, bettlägerig gewordenen Mann, und schüttelt den Kopf. Weiß Gott, was unserem Maideleh eingefallen ist, ihre Kleine mit einem Goj zu verheiraten, sagt der Alte.
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Sie nimmt Decken und Kissen aus der Wiege, zieht die Bettwäsche ab, sie streift den Stoff, der die Wiege überdacht, vom Holzgestell ab und schiebt die Wiege beiseite. Begonnen hatte das Unglück vor vielen Jahren, da war ihre Tochter selbst noch ein Säugling gewesen. Als sie den Lärm draußen hörten, hatte ihr Mann die Amme mit dem Kind gleich ins Kinderzimmer hinaufgeschickt, sie solle die Tür verriegeln, auf gar keinen Fall aufmachen, wenn es klopfe, und die Fensterläden fest schließen. Dann waren sie in der unteren Etage von Fenster zu Fenster gelaufen, um zu schauen, was los war: In den umliegenden Straßen und auf dem Platz vor dem Haus schienen sich Leute zu sammeln, manche rannten, manche schrien, aber was sie schrien, war nicht zu verstehen. Sie und ihr Mann waren nicht mehr dazu gekommen, auch unten die Fensterläden zu schließen, bevor die ersten Steine das Haus trafen. Der Mann hatte versucht zu erkennen, wer die Steine warf, und hatte Andrej erkannt. Andrej, hatte er hinausgerufen, Andrej! Aber Andrej hörte nicht, oder tat so, als ob er nicht hörte, was wahrscheinlicher war, denn er wusste ja, wer in dem Haus lebte, das er mit Steinen bewarf. Dann flog ein Stein von Andrej durch eine Fensterscheibe, flog nur um Haaresbreite an ihrem Kopf vorbei, krachte hinter ihr in den verglasten Bücherschrank und traf den 9. Band der in Leder gebundenen Gesamtausgabe von Goethe, die ihr Mann von seinen Eltern als Geschenk zum Schulabschluss bekommen hatte. Keine Luft von keiner Seite!/ Todesstille fürchterlich!/ In der ungeheuern Weite/ Reget keine Welle sich! Daraufhin hatte ihr Mann voller Zorn die Eingangstür aufgerissen, offenbar, um Andrej beim Kragen zu packen und zur Vernunft zu bringen, hatte aber die Tür sofort wieder zugemacht, als er sah, wie Andrej jetzt, zusammen mit drei oder vier anderen jungen Männern, von denen einer eine Axt in der Hand hielt, im Laufschritt aufs Haus zukam. Hatte schnell den Schlüssel im Schloss umgedreht und gemeinsam mit ihr, seiner Frau, versucht, die Bretter, die für einen solchen Notfall immer griffbereit in der Nähe der Tür standen, vor die Tür zu nageln. Dazu aber war es schon zu spät gewesen, wo die Nägel, wo der Hammer, schon begann die Tür unter den Axthieben zu splittern. Andrej, Andrej. Da waren sie und ihr Mann die Treppe hinaufgelaufen, hatten an die Tür gepocht, hinter der die Amme mit dem Kind saß, aber die hatte nicht aufgemacht, entweder weil sie nicht verstand, wer da um Einlass bat, oder weil ihre Angst so groß war, dass sie die Tür einfach nicht aufmachen wollte. Über die letzte, steile Stiege waren sie und ihr Mann dann auf den Dachboden geflüchtet, als Andrej und seine Männer schon unten ins Haus drangen. Im Erdgeschoss zerschlugen die Eindringlinge die restlichen Fensterscheiben, rissen die Fensterrahmen aus der Wand, stießen den Bücherschrank um, schlitzten die Bettdecken auf, zerschmissen Geschirr und Einweckgläser, schütteten die Vorräte auf die Straße, dann aber musste einer von ihnen gehört haben, wie sie und ihr Mann versuchten, die Dachbodentür zu verriegeln, denn ohne sich im ersten Stock aufzuhalten, liefen die Männer jetzt die Treppe hinauf, rissen auf dem Weg nach oben die Tapete von den Wänden und hieben mit der Axt hier und da Löcher ins Mauerwerk. Sie und ihr Mann standen hinter der Dachbodentür, die sehr dünn war, sie hatten den Riegel vorgeschoben, aber kein Möbel gefunden, das schwer genug gewesen wäre, um damit die Tür zu verbarrikadieren, jetzt hörten sie die Schritte der Männer auf der letzten, steilen Stiege. Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen; denn ich bin ein Gast bei dir, ein Fremdling wie alle meine Väter. Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe ich dahinfahre und nicht mehr bin. Der Himmel, der Himmel. Ging es nicht nach unten, musste es nach oben einen Ausweg geben. Sie begannen, die Ziegel des Daches mit den Händen fortzustoßen und sich so eine Öffnung zu schaffen. Aber die Tür in ihrem Rücken, die die Verfolger einen Moment lang aufhält, ist dünn, nur ein paar Bretter. Ihr Mann hilft ihr, sich hochzuziehen und durch die Öffnung aufs Dach zu klettern. Und dann will sie ihn nachziehen. Und dann hält die dünne Tür den Schlägen der Meute nicht mehr stand. Und dann zieht sie ihn an dem einen Arm, und die Männer unten ihn an dem anderen. Lot will die Engel, die bei ihm zu Gast sind, nicht herausgeben. Lot steht auf der Schwelle, das Volk packt ihn am Arm und will ihn hinausziehen, um ihn für das Gastrecht, das er gewährt, zu strafen, sich wenigstens über i h n herzumachen, sich an i h m zu vergehen, i h n anzuspeien, zu schinden und zu zertreten, die Engel aber packen ihn von drinnen mit ihren Engelhänden an dem anderen Arm, sie sind stark, sie schlagen die Menschen draußen mit Blindheit, ziehen Lot wieder ins Haus und schließen die Tür zwischen ihm und den Menschen, die Menschen draußen können einander nicht mehr sehen und auch nicht mehr den Eingang zu Lots Haus, sie tasten sich mit den Händen an den Mauern entlang und müssen abziehen. Mein Gott, säume doch nicht. Sie hat nicht die Kraft von Engeln, es gelingt ihr nicht, ihren Mann zu sich nach oben zu ziehen, ihren Mann am Arm festhaltend bittet sie Andrej, den sie von Kindesbeinen an kennt, um Erbarmen, auch die Männer, die sie nicht kennt, darunter den mit der Axt, um Erbarmen, aber während sie die Hand ihres Mannes noch festhält, wird ihr Mann unter ihr von den Männern, die sie nicht kennt, und von Andrej, den sie von Kindesbeinen an kennt, erst beschimpft, dann geschlagen, Erbarmen, und schließlich unter ihren Augen zerhackt. Sie lässt nicht los. Erst hält sie ihren Mann an der Hand, dann hält sie nur noch ein Stück Fleisch an der Hand, dann gibt es nichts Lebendiges mehr, das sie zu sich ins Freie hinaufziehen könnte.
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Copyright © 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München,
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Autoren-Porträt von Jenny Erpenbeck
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Von Publikum und Kritik gleichermassen gefeiert, wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Hans-Fallada-Preis und dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Auch international gilt Erpenbeck als wichtige literarische Gegenwartsautorin. So wurde sie u.a. mit dem britischen Independent Foreign Fiction Prize (inzwischen bekannt als Man Booker International Prize) und dem italienischen Premio Strega Europeo geehrt. Ihr Roman »Heimsuchung« wird vom Guardian auf der Liste der »100 Best Books of the 21st Century« geführt. Die amerikanische Übersetzung ihres jüngsten Romans »Kairos« war in den USA für den National Book Award nominiert und steht 2024 auf der Shortlist für den International Booker Prize. Erpenbecks Werk erscheint in über 30 Sprachen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jenny Erpenbeck
- 2012, Originalausgabe, 282 Seiten, Masse: 14,4 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813503690
- ISBN-13: 9783813503692
- Erscheinungsdatum: 16.08.2012
Rezension zu „Aller Tage Abend “
"Ernst, eindringlich, und klug."
Pressezitat
"Eine grosse Erzählerin!" Brigitte Woman (11/2012), Antje Liebsch
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