Alberta empfängt einen Liebhaber

Kurz vor Himmelfahrt sind wir durchgebrannt.
Ende März hatten wir entdeckt, dass wir uns unser Leben lang immer schon lieben und geliebt haben, von Anfang an und bis zum Jüngsten Tag.
Es war nicht das erste Mal, dass wir diese Entdeckung machten, wir machen sie alle drei, vier Jahre, und was wir danach machen, ist sehr anstrengend und richtet gewaltigen Schaden an, und nach einer Zeit sind wir nicht mehr sicher, dass wir uns schon immer geliebt haben, und halten es für den fatalen Irrtum unseres Lebens, je geglaubt zu haben, wir könnten uns auch nur fünf Minuten gefahrlos in ein und demselben Raum beide gleichzeitig auf halten, ohne dass irgendein Unglück passiert, aber eines Tages sind wir tatsächlich durchgebrannt, weil wir festgestellt hatten, dass man einer so grossen Liebe wie unserer irgendwann einmal nachgeben muss, man kann sie nicht dauernd bekämpfen. Wir hatten dieser grossen Liebe schon mehrmals versuchsweise nachgegeben und sie nach jedem Nachgeben mit all unserem Restverstand und allen verbliebenen Kräften bekämpft, weil es eine von diesen Lieben ist, die einen leicht erledigen können, wenn man sich nicht mit Händen und Füssen dagegen wehrt, aber sie ist alle paar Jahre hartnäckig wiedergekommen. Wie eine Heuschreckenplage. Irgendwann waren wir müde, vielleicht auch ein bisschen unaufmerksam, weil wir erschöpft davon waren, uns dauernd dagegen zu wehren, um dann für zwei, drei Jahre halbwegs in Ruhe leben zu können, unsere Arbeit zu machen, unsere Wohnungen einzurichten, und hinterher ist das alles vergebens, weil die Heuschreckenplage darüber herfällt und es in kürzester Zeit frisst und verdirbt und verwüstet. So gross diese Liebe ist, so gewaltig ist ihr Appetit, und sie hat selten länger als höchstens ein Vierteljahr gebraucht, um unsere Leben, Arbeiten, Wohnungen ratzeputz kahlzufressen, meistens brauchte sie kaum vierzehn Tage, um uns zu ruinieren. Ich glaube, wir waren es leid, und so sind wir darauf gekommen, dass wir durchbrennen sollten. Wir haben gesagt:

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebte bis zu ihrem Tod Ende 2021 im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.