Abgründe / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.10
Island Krimi
Island, 2005: Die Wirtschaft boomt wie nie zuvor. Unternehmer und Finanzleute sind die neuen Helden. Da kommt es sehr ungelegen, dass ein Banker von einer Klippe zu Tode stürzt. Nur ein Unfall? Wenig später wird eine verschuldete Frau zu Tode...
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Produktinformationen zu „Abgründe / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.10 “
Island, 2005: Die Wirtschaft boomt wie nie zuvor. Unternehmer und Finanzleute sind die neuen Helden. Da kommt es sehr ungelegen, dass ein Banker von einer Klippe zu Tode stürzt. Nur ein Unfall? Wenig später wird eine verschuldete Frau zu Tode geprügelt.
In beiden Fällen ging es um viel, viel Geld.
Klappentext zu „Abgründe / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.10 “
Island 2005 die Wirtschaft boomt in nie gekanntem Ausmass. Ehrgeizige junge Unternehmer machen durch clevere Finanzgeschäfte weltweit von sich reden. Ganz Island bewundert seine Expansionswikinger . In dieser Zeit des unbegrenzten Wachstums stürzt ein Banker von einer Steilklippe in den Tod. Ein Unfall? Kurz darauf wird eine junge Frau von einem Schuldeneintreiber zu Tode geprügelt. Beide Ereignisse scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben. Nur eines ist sicher, Geld spielt in beiden Fällen die entscheidende Rolle.
Lese-Probe zu „Abgründe / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.10 “
Abgründe von Arnaldur IndriðasonEins
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Er nahm die Ledermaske aus der Plastiktüte. Ein handwerkliches Meisterstück war sie nicht, denn er hatte sie nicht mit der erforderlichen Sorgfalt herstellen können. Aber sie würde ihren Zweck erfüllen.
Seine Befürchtung, unterwegs einem Bullen zu begegnen, erwies sich als unbegründet. Und auch niemand anderes schenkte ihm Beachtung. In der Tüte befand sich nicht nur die Maske. Im Alkoholladen hatte er sich zwei Flaschen Brennivín besorgt, und in einem Baumarkt einen kurzstieligen Hammer und einen spitzen Metallstift.
Das Material, das er für die Maske brauchte, hatte er tags zuvor bei einem Großhändler erstanden, der Leder und Felle importierte. Bevor er zu ihm gegangen war, hatte er sich so gut es ging rasiert und sich Sachen angezogen, die einigermaßen vorzeigbar waren. Er hatte genau gewusst, was er brauchte: Leder, Zwirn und eine gute Ledernadel.
Zu dieser frühen Morgenstunde bestand ohnehin kaum die Gefahr, dass er irgendjemandem auffiel. Nur wenige Menschen waren in der Stadt unterwegs. Er blickte niemandem ins Gesicht, sondern ging mit gesenktem Kopf und großen Schritten zu einem Holzhaus an der Grettisgata. Dort beeilte er sich die Kellertreppe hinunter, betrat die Wohnung und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.
Nur einen kurzen Moment hielt er in der Dunkelheit inne. Inzwischen kannte er sich so gut aus, dass er sich auch im Stockfinsteren zurechtfand. Die Wohnung im Keller war nicht groß. Das fensterlose Badezimmer befand sich auf der rechten Seite des Flurs, die Küche ebenfalls. Sie hatte ein großes Fenster zum Hinterhof, vor das er eine dicke Decke gehängt hatte. Direkt gegenüber der Küche war das Wohnzimmer, daneben das Schlafzimmer. Das Fenster im Wohnzimmer ging zur Grettisgata hinaus, und die schweren Vorhänge dort waren zugezogen. Ins Schlafzimmer hatte er nur ein einziges Mal geschaut, das kleine Fenster oben an der Wand war mit einer schwarzen Plastiktüte zugeklebt.
Er machte kein Licht, sondern nahm den Kerzenstummel zur Hand, den er auf einem Regal im Flur aufbewahrte. Er zündete ihn mit einem Streichholz an und ging in dieser schummrigen Beleuchtung ins Wohnzimmer. Er hörte die unterdrückten Laute des Unmenschen, der gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl saß. Er vermied es, den Kerl anzusehen, vor allem wollte er ihm nicht in die Augen blicken. Er stellte die Plastiktüte auf den Tisch und holte den Hammer, die Maske, den Metallstift und die beiden Flaschen heraus. Er öffnete eine Brennivín-Flasche, setzte sie gierig an den Mund und ließ den lauwarmen Inhalt die Kehle hinunterlaufen. Schon seit vielen Jahren spürte er dabei kein Brennen mehr im Hals.
Er stellte die Flasche ab und nahm die Maske zur Hand. Das Material war erstklassig, dickes Schweinsleder mit doppelten Ledernähten aus Takelgarn. Auf der Stirn hatte die Maske eine kreisrunde Öffnung von der Größe eines Ein-Kronen-Stücks, wo der Metallstift angesetzt werden konnte. Den Rand der Öffnung hatte er verstärkt, damit der Stift aus galvanisiertem Eisen Halt darin hatte. Seitlich waren Schlitze für die Lederriemen angebracht, die im Nacken verknotet werden mussten, und außerdem hatte die Maske Öffnungen für Augen und Mund. Der obere Teil reichte bis auf den Schädel hinauf, und das dort befestigte Lederband konnte mit den Riemen im Nacken verzurrt werden, damit die Maske fest saß. Genaue Maße hatte er nicht genommen, er hatte sie nach seinem eigenen Kopf angefertigt.
Er nahm einen weiteren Schluck Brennivín und versuchte, das unterdrückte Wimmern zu ignorieren.
Als kleiner Junge hatte er eine solche Maske gesehen, als er auf dem Land lebte. Die war allerdings aus Eisen gewesen und wurde im alten Schafstall aufbewahrt. Er durfte sie nicht anrühren. Heimlich hatte er es dann doch getan. Das Eisen war rostig und fühlte sich kalt an, und er sah verkrustete Blutflecken an der Öffnung für den Eisenstift. Und nur ein einziges Mal hatte er zugesehen, wie sie verwendet wurde, als der Bauer in einem Sommer ein krankes Kalb töten musste. Der Bauer war so arm, dass er nicht einmal eine Flinte besaß. Die Maske tat ihren Dienst, obwohl sie eigentlich zu klein für einen Kalbskopf war, denn sie war für Schafe gedacht, hatte der Bauer ihm erklärt. Dann nahm er einen großen Hammer zur Hand und schlug einmal kräftig gegen den Eisenstift, der im Kopf des Tieres verschwand. Es brach zusammen und rührte sich danach kaum noch.
Ihm war es auf dem Land gut gegangen. Niemand hatte ihm dort vorgeworfen, ein Nichtsnutz und Versager zu sein.
Den Namen dieser Vorrichtung mit dem Stift, der wie ein Versprechen von einem schnellen und schmerzlosen Tod aus ihr herausragte, hatte er nie vergessen können.
Der Bauer hatte sie die Todesmaske genannt.
Das Wort hatte bedrohlich in seinen Ohren geklungen.
Er blickte lange auf den Metallstift, der aus seinem Machwerk herausragte. Er würde fünf Zentimeter in den Schädel eindringen, das reichte.
Zwei
Sigurður Óli ächzte laut. Er saß schon seit drei Stunden in seinem Auto vor diesem Haus, ohne dass irgendetwas passiert wäre. Die Zeitung steckte immer noch im Briefkasten. Zwar hatten einige Personen das Haus betreten oder verlassen, aber sie hatten der Zeitung, die halb aus dem Briefkasten herausragte, keinerlei Beachtung geschenkt. Dabei wäre es kein Problem gewesen, sie mitgehen zu lassen, wenn man kleptomanisch veranlagt gewesen wäre oder die alte Dame im ersten Stock hätte ärgern wollen.
Dieser Fall war wohl der lausigste, mit dem sich Sigurður Óli in seiner gesamten Laufbahn bei der Kriminalpolizei befasst hatte. Seine Mutter hatte ihn angerufen und ihn gebeten, einer alten Freundin von ihr diesen Gefallen zu tun. Die Freundin lebte in einem Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur. Die Sonntagsausgabe der Zeitung, die sie abonnierte, war regelmäßig aus dem Briefkasten verschwunden, wenn sie sie holen wollte. Der alten Dame war es nicht gelungen, den Übeltäter ausfindig zu machen. Sie hatte sich bei ihren Nachbarn erkundigt, ob sie vielleicht versehentlich ihre Zeitung genommen hätten, aber alle hatten hoch und heilig geschworen, sie niemals angerührt zu haben. Einige hatten sogar Witze über die Zeitung gemacht und sie ein konservatives Käseblatt genannt, das sie nie im Leben lesen würden. Im Grunde genommen war sie der gleichen Meinung, blieb aber der Zeitung wegen der Nachrufe auf verstorbene Mitmenschen treu, die dort in aller Ausführlichkeit abgedruckt wurden und manchmal bis zu einem Viertel des Inhalts ausmachten.
Die Freundin verdächtigte einige Mitbewohner im Haus. Ein Stockwerk über ihr wohnte beispielsweise eine Frau, die nach Meinung der alten Dame mannstoll war. Bei ihr gaben sich die Männer die Klinke in die Hand, vor allem abends und an Wochenenden. Vielleicht war ja einer von den Männern der Dieb, oder aber die Frau selber. Ein weiterer Hausbewohner, der zwei Stockwerke über ihr wohnte, hatte anscheinend keine Arbeit und lungerte den ganzen Tag zu Hause herum. Angeblich war er Komponist.
Gerade eben betrat ein junges Mädchen das Haus, das allem Anschein nach die Nacht durchgemacht hatte. Sie war ziemlich alkoholisiert und brauchte eine Weile, um ihre Schlüssel in der kleinen Handtasche zu finden. Dabei musste sie sich am Türgriff festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie würdigte die Zeitung im Briefkasten keines Blickes. Von ihr war bestimmt kein Bild in den Klatschspalten, dachte Sigurður Óli, während er dem Mädchen nachblickte, das die Treppe hinaufwankte.
Ihm steckte immer noch eine hartnäckige Grippe in den Knochen. Wahrscheinlich war er damit nicht lange genug im Bett geblieben, ihm war es aber schlicht zu langweilig geworden, im Bett zu liegen und sich Spielfilme auf dem neuen 42-Zoll-Flachbildschirm anzusehen. Es war besser, sich mit irgendetwas zu beschäftigen, auch wenn er sich noch immer sehr schlapp fühlte.
Ihm ging der gestrige Abend durch den Kopf. Er war auf einem Abiturtreffen gewesen, das bei Goofy stattgefunden hatte. Goofy war der Spitzname dieses aufgeblasenen Wichtigtuers aus der Juristenzunft, der Sigurður Óli schon seit der gemeinsamen Schulzeit auf die Nerven ging. Es war typisch für Goofy, der sich schon in jungen Jahren angewöhnt hatte, eine Fliege zu tragen, dass er alle zu sich nach Hause eingeladen hatte, nur um diese Rede halten zu können, in der er seinen ehemaligen Klassenkameraden selbstgefällig mitteilte, dass ihm vor Kurzem die Leitung irgendeiner Abteilung in der Bank übertragen worden war. Das sei doch wohl ein guter Grund zum Feiern, hatte er betont. Sigurður Óli hatte nur sehr zurückhaltend geklatscht.
Er hatte seine ehemaligen Klassenkameraden betrachtet und darüber nachgedacht, ob er tatsächlich derjenige war, der es seit dem Abitur im Leben am wenigsten weit gebracht hatte. Dieser Gedanke drängte sich ihm auf Klassentreffen immer auf, wenn er sich überhaupt dazu aufraffte, sich auf einem solchen Treffen blicken zu lassen. Die meisten waren entweder Juristen wie Goofy oder Ingenieure, und außerdem gab es noch zwei Pfarrer und drei Ärzte, die eine lange Ausbildung hinter sich hatten. Auch einen Schriftsteller gab es, von dem Sigurður Óli allerdings noch nie eine Zeile gelesen hatte, obwohl er in gewissen Kreisen wegen seiner stilistischen Brillanz hochgejubelt wurde, weil er angeblich an die Schranken irgendwelcher Mysterien rührte, wenn man diesem tiefsinnigen Geschwafel Glauben schenken durfte. Wenn Sigurður Óli sich mit den Leuten aus seiner Klasse verglich und an Erlendur und Elínborg, seine Kollegen bei der Kriminalpolizei, dachte und an all die verkrachten Existenzen, mit denen er sich tagtäglich herumschlagen musste, fiel dieser Vergleich nicht gerade zu seinen Gunsten aus. Seine Mutter war immer der Meinung gewesen, dass er zu etwas Besserem getaugt hätte als zu so etwas, und damit meinte sie die Kriminalpolizei. Sein Vater hingegen war sehr zufrieden mit ihm, weil sein Sohn seiner Meinung nach mehr zum Wohl der Gesellschaft beitrug als manch anderer.
»Und, wie läuft's denn so bei der Kripo?«, fragte Patrekur, einer der Ingenieure. Er hatte während Goofys Rede neben ihm gestanden. Sie hatten sich schon während der Schulzeit angefreundet.
»Na ja, wie's halt so läuft«, sagte Sigurður Óli. »Und bei dir, hast du bei bei dem Bauboom hier und all den Kraftwerken, die gebaut werden, nicht irre viel zu tun?«
»Wir können uns vor Arbeit nicht retten«, sagte Patrekur, der für seine Verhältnisse ungewöhnlich ernst klang. »Übrigens wollte ich dich fragen, ob wir uns vielleicht mal treffen könnten, da ist etwas, worüber ich mit dir reden möchte.«
»Na klar. Muss ich Handschellen mitbringen?«
Patrekur verzog keine Miene. »Ich ruf dich am Montag an, wenn du nichts dagegen hast«, sagte er und machte Anstalten, sich zu entfernen.
»Tu das«, sagte Sigurður Óli und nickte Patrekurs Frau zu. Sie hieß Súsanna und war mit ihm zu der Feier gekommen, obwohl die meisten normalerweise nicht mit Partner erschienen. Sie lächelte ihm zu. Sigurður Óli hatte sie immer gemocht, seiner Meinung nach war sein Freund ein Glückspilz.
»Du bist immer noch Bulle?«, fragte Ingólfur, der mit einem Bier in der Hand auf Sigurður Óli zukam. Er war einer von den beiden Pfarrern in der Klasse. Er stammte sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits von lauter Theologen ab und hatte sich nie etwas anderes vorstellen können, als in Gottes Dienste zu treten. Aber er war frei von Scheinheiligkeit und Pathos, war weder den Frauen noch dem Alkohol abgeneigt und bereits zum zweiten Mal verheiratet. Er machte sich gern einen Spaß daraus, einen Streit mit Elmar, dem zweiten Pfarrer in der Klasse, vom Zaun zu brechen. Elmar war aus völlig anderem Holz geschnitzt, er war überaus religiös und asketisch und glaubte felsenfest an fast alles, was in der Bibel stand. Alle Veränderungen waren ihm ein Dorn im Auge, vor allem, wenn es um die Homosexuellen ging, die es gerade darauf anlegten, die tief verwurzelten Kirchentraditionen in Island auf den Kopf zu stellen. Ingólfur dagegen war es vollkommen gleichgültig, was für Pärchen aus der menschlichen Flora sich an ihn wandten. Er hielt sich einzig und allein an die Regel, die ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben hatte, dass alle Menschen vor Gott gleich sind. Er liebte es, Elmar aufzuziehen, und er fragte ihn regelmäßig, ob er nicht eine Sekte gründen wolle, die Elmariten.
»Und du bist immer noch Pfaffe?«, fragte Sigurður Óli im Gegenzug.
»Wir sind wohl beide unersetzlich«, entgegnete Ingólfur grinsend.
Goofy gesellte sich zu ihnen und schlug Sigurður Óli jovial auf die Schulter.
»Und was sagt unser Bulle?«, fragte er laut und vernehmlich, der frischgebackene Abteilungsleiter.
»Alles bestens«, sagte Sigurður Óli.
»Hast du es nie bereut, dass du das Jurastudium nicht zu Ende gebracht hast?«, fragte Goofy herablassend. Er hatte mit den Jahren reichlich Speck angesetzt, und die Fliege, die ihm früher einmal gut gestanden hatte, verschwand jetzt beinahe unter seinem enormen Doppelkinn.
»Kann ich eigentlich nicht sagen«, entgegnete Sigurður Óli, obwohl er tatsächlich manchmal darüber nachdachte, den Polizeidienst zu quittieren, das Jurastudium fortzusetzen und irgendetwas Sinnvolles in Angriff zu nehmen. Goofy gegenüber hätte er das aber niemals zugegeben, denn er lieferte ihm ein wichtiges Argument bei solchen Überlegungen: Wenn solche Schwachköpfe wie Goofy imstande waren, sich durch den Paragraphendschungel hindurchzuwuseln, dann konnten das nach Sigurður Ólis Meinung andere auch.
»Du traust also jetzt schon Paare mit widernatürlichen Neigungen«, sagte Elmar, der zu ihnen getreten war und Ingólfur mit tiefer Trauer in den Augen ansah.
Oh Mann, nicht schon wieder, dachte Sigurður Óli, erblickte aber im gleichen Moment eine Chance, den Rückzug anzutreten, bevor die beiden sich wieder wegen Glaubensfragen in die Haare gerieten.
Steinunn ging mit einem Glas Rotwein in der Hand an ihnen vorbei, und Sigurður Óli heftete sich sofort an ihre Fersen. Bis vor Kurzem hatte sie beim Finanzamt gearbeitet, und Sigurður Óli hatte sie hin und wieder um Rat gefragt, wenn er mit seiner Steuererklärung nicht zurechtkam, und sie war ihm immer gern behilflich gewesen. Er wusste, dass sie sich vor einigen Jahren von ihrem Mann getrennt hatte. Seitdem lebte sie allein und schien es zu genießen. Nicht zuletzt ihretwegen hatte er sich dazu durchgerungen, auf der Party bei Goofy zu erscheinen.
»Steinunn«, rief er, »ich hab gehört, du bist nicht mehr beim Finanzamt?«
»Nein, ich arbeite jetzt in derselben Bank wie Goofy«, sagte Steinunn lächelnd. »Ich helfe den Reichen dabei, sich um die Steuern herumzudrücken. Die reinste Goldgrube, sagt Goofy.«
»Und bestimmt zahlt die Bank besser«, entgegnete Sigurður Óli.
»Viel besser. Mein Gehalt hat schwindelnde Höhen erreicht«, sagte Steinunn.
Sie lächelte und entblößte dabei ihre weißen Zähne, während sie eine blonde Locke zurückschob, die ihr in die Stirn gefallen war. Sie hatte schöne, dunkle Augen und färbte ihre Augenbrauen schwarz. Die Haare ringelten sich bis auf die Schultern hinunter, ihr Gesicht war eher breit. Sie sah aus wie eine etwas zu drall geratene Barbie-Puppe, und Sigurður Óli überlegte, ob sie sich dessen bewusst war. Eigentlich zweifelte er nicht daran, denn sie war nicht auf den Kopf gefallen.
»Ja, wie man hört, nagt ihr nicht am Hungertuch«, sagte Sigurður Óli.
»Und was ist mit dir, spekulierst du nicht auch ein bisschen?«
»Ich? Spekulieren?«
»Du hast doch bestimmt Aktien«, sagte Steinunn. »Jedenfalls würde es gut zu dir passen.«
»Zu mir passen?«, fragte Sigurður Óli lächelnd. »Ja, in dir steckt doch was von einem Zocker?« »Ich kann es mir nicht leisten, irgendwelche Risiken
»Zu mir passen?«, fragte Sigurður Óli lächelnd. »Ja, in dir steckt doch was von einem Zocker?« »Ich kann es mir nicht leisten, irgendwelche Risiken einzugehen«, erklärte Sigurður Óli. »Ich hab nur ganz sichere Wertpapiere.«
»Was heißt schon sicher?«
»Ich kaufe nur Bankaktien«, sagte Sigurður Óli. Steinunn hob ihr Glas. »Sicherer geht es nicht.« »Lebst du immer noch allein?«, fragte er.
»Ja, und ich genieße es.«
»Ja, es kann ganz nett sein«, entgegnete Sigurður Óli.
»Was ist mit dir und Berg£óra?«, fragte Steinunn.
»Ich hab gehört, dass es nicht mehr so richtig läuft?« »Ja, es läuft ziemlich schief«, gab Sigurður Óli zu.
»Leider.«
»Berg£óra ist eine tolle Frau«, sagte Steinunn, die Berg£óra bei Klassentreffen ein paarmal begegnet war.
»Ja, das war ... Das ist sie. Ich überlege die ganze Zeit, ob wir uns nicht vielleicht einmal treffen könnten. Auf einen Kaffee oder was auch immer.«
»Ich soll mit dir ausgehen?«
Sigurður Óli nickte.
»Meinst du so etwas wie ein richtiges Date?«
»Nein, Date, ich weiß nicht, oder ja, vielleicht doch, irgendwas in der Art, wenn du so willst.«
»Siggi«, sagte Steinunn und tätschelte ihm die Wange, »du bist einfach nicht mein Typ.«
Sigurður Óli sah sie an.
»Siggi, das weißt du doch, das bist du nie gewesen, bist es nicht und wirst es auch nie sein.«
»Dein Typ!«
Sigurður Óli spuckte das Wort fast aus, während er vor dem grauen Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur auf den Zeitungsdieb wartete. Typ? Was sollte das eigentlich? War er ein blöderer Typ als die anderen? Und wieso redete Steinunn eigentlich immer über ihren Typ?
Ein junger Mann mit einem Instrumentenkoffer betrat den Hauseingang. Ohne zu zögern schnappte er sich die Zeitung aus dem Briefkasten und öffnete die Tür zum Treppenhaus mit seinem Schlüssel. Bevor die Tür ins Schloss fallen konnte, war Sigurður Óli bereits am Eingang, setzte seinen Fuß zwischen die Tür und gelangte ins Treppenhaus. Er packte den jungen Mann, dem nichts Böses schwante, auf dem Weg nach oben am Arm, zog ihn zu sich hinunter, entriss ihm die Zeitung und versetzte ihm damit einen Schlag auf den Kopf. Der Mann ließ vor lauter Schreck den Instrumentenkasten fallen, verlor das Gleichgewicht und fiel hin.
»Steh auf, du Blödmann!«, schnauzte Sigurður Óli und versuchte, den Mann hochzuziehen. Er war sich ziemlich sicher, dass es sich um den Tagedieb handelte, der zwei Stockwerke über der Freundin seiner Mutter wohnte, den Kerl, der sich als Komponist ausgab. »Tu mir nichts«, rief der Komponist.
»Ich tu dir doch gar nichts! Aber wie wär's, wenn du damit aufhören würdest, Guðmunda aus dem ersten Stock ihre Zeitung zu klauen? Weißt du überhaupt, wer sie ist? Nur ein Vollidiot stiehlt alten Damen die Sonntagszeitung! Macht es dir Spaß, Leute zu ärgern, die sich nicht wehren können?«
Der junge Mann war aufgestanden und sah Sigurður Óli wütend an. Dann riss er ihm die Zeitung aus der Hand.
»Das ist meine Zeitung«, sagte er. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«
»Deine Zeitung?«, rief Sigurður Óli. »Oh nein, Freundchen, die gehört Guðmunda.«
Doch dann blickte er nach unten in den Eingangsbereich zu den Briefkästen, fünf nebeneinander und drei übereinander, und sah, dass die Zeitung immer noch so aus Guðmundas Briefkasten herausguckte, wie er sie selber hineingesteckt hatte.
»Scheiße«, schnaubte er, setzte sich wieder ins Auto und fuhr frustriert davon.
Übersetzung: Coletta Bürling
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Er nahm die Ledermaske aus der Plastiktüte. Ein handwerkliches Meisterstück war sie nicht, denn er hatte sie nicht mit der erforderlichen Sorgfalt herstellen können. Aber sie würde ihren Zweck erfüllen.
Seine Befürchtung, unterwegs einem Bullen zu begegnen, erwies sich als unbegründet. Und auch niemand anderes schenkte ihm Beachtung. In der Tüte befand sich nicht nur die Maske. Im Alkoholladen hatte er sich zwei Flaschen Brennivín besorgt, und in einem Baumarkt einen kurzstieligen Hammer und einen spitzen Metallstift.
Das Material, das er für die Maske brauchte, hatte er tags zuvor bei einem Großhändler erstanden, der Leder und Felle importierte. Bevor er zu ihm gegangen war, hatte er sich so gut es ging rasiert und sich Sachen angezogen, die einigermaßen vorzeigbar waren. Er hatte genau gewusst, was er brauchte: Leder, Zwirn und eine gute Ledernadel.
Zu dieser frühen Morgenstunde bestand ohnehin kaum die Gefahr, dass er irgendjemandem auffiel. Nur wenige Menschen waren in der Stadt unterwegs. Er blickte niemandem ins Gesicht, sondern ging mit gesenktem Kopf und großen Schritten zu einem Holzhaus an der Grettisgata. Dort beeilte er sich die Kellertreppe hinunter, betrat die Wohnung und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.
Nur einen kurzen Moment hielt er in der Dunkelheit inne. Inzwischen kannte er sich so gut aus, dass er sich auch im Stockfinsteren zurechtfand. Die Wohnung im Keller war nicht groß. Das fensterlose Badezimmer befand sich auf der rechten Seite des Flurs, die Küche ebenfalls. Sie hatte ein großes Fenster zum Hinterhof, vor das er eine dicke Decke gehängt hatte. Direkt gegenüber der Küche war das Wohnzimmer, daneben das Schlafzimmer. Das Fenster im Wohnzimmer ging zur Grettisgata hinaus, und die schweren Vorhänge dort waren zugezogen. Ins Schlafzimmer hatte er nur ein einziges Mal geschaut, das kleine Fenster oben an der Wand war mit einer schwarzen Plastiktüte zugeklebt.
Er machte kein Licht, sondern nahm den Kerzenstummel zur Hand, den er auf einem Regal im Flur aufbewahrte. Er zündete ihn mit einem Streichholz an und ging in dieser schummrigen Beleuchtung ins Wohnzimmer. Er hörte die unterdrückten Laute des Unmenschen, der gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl saß. Er vermied es, den Kerl anzusehen, vor allem wollte er ihm nicht in die Augen blicken. Er stellte die Plastiktüte auf den Tisch und holte den Hammer, die Maske, den Metallstift und die beiden Flaschen heraus. Er öffnete eine Brennivín-Flasche, setzte sie gierig an den Mund und ließ den lauwarmen Inhalt die Kehle hinunterlaufen. Schon seit vielen Jahren spürte er dabei kein Brennen mehr im Hals.
Er stellte die Flasche ab und nahm die Maske zur Hand. Das Material war erstklassig, dickes Schweinsleder mit doppelten Ledernähten aus Takelgarn. Auf der Stirn hatte die Maske eine kreisrunde Öffnung von der Größe eines Ein-Kronen-Stücks, wo der Metallstift angesetzt werden konnte. Den Rand der Öffnung hatte er verstärkt, damit der Stift aus galvanisiertem Eisen Halt darin hatte. Seitlich waren Schlitze für die Lederriemen angebracht, die im Nacken verknotet werden mussten, und außerdem hatte die Maske Öffnungen für Augen und Mund. Der obere Teil reichte bis auf den Schädel hinauf, und das dort befestigte Lederband konnte mit den Riemen im Nacken verzurrt werden, damit die Maske fest saß. Genaue Maße hatte er nicht genommen, er hatte sie nach seinem eigenen Kopf angefertigt.
Er nahm einen weiteren Schluck Brennivín und versuchte, das unterdrückte Wimmern zu ignorieren.
Als kleiner Junge hatte er eine solche Maske gesehen, als er auf dem Land lebte. Die war allerdings aus Eisen gewesen und wurde im alten Schafstall aufbewahrt. Er durfte sie nicht anrühren. Heimlich hatte er es dann doch getan. Das Eisen war rostig und fühlte sich kalt an, und er sah verkrustete Blutflecken an der Öffnung für den Eisenstift. Und nur ein einziges Mal hatte er zugesehen, wie sie verwendet wurde, als der Bauer in einem Sommer ein krankes Kalb töten musste. Der Bauer war so arm, dass er nicht einmal eine Flinte besaß. Die Maske tat ihren Dienst, obwohl sie eigentlich zu klein für einen Kalbskopf war, denn sie war für Schafe gedacht, hatte der Bauer ihm erklärt. Dann nahm er einen großen Hammer zur Hand und schlug einmal kräftig gegen den Eisenstift, der im Kopf des Tieres verschwand. Es brach zusammen und rührte sich danach kaum noch.
Ihm war es auf dem Land gut gegangen. Niemand hatte ihm dort vorgeworfen, ein Nichtsnutz und Versager zu sein.
Den Namen dieser Vorrichtung mit dem Stift, der wie ein Versprechen von einem schnellen und schmerzlosen Tod aus ihr herausragte, hatte er nie vergessen können.
Der Bauer hatte sie die Todesmaske genannt.
Das Wort hatte bedrohlich in seinen Ohren geklungen.
Er blickte lange auf den Metallstift, der aus seinem Machwerk herausragte. Er würde fünf Zentimeter in den Schädel eindringen, das reichte.
Zwei
Sigurður Óli ächzte laut. Er saß schon seit drei Stunden in seinem Auto vor diesem Haus, ohne dass irgendetwas passiert wäre. Die Zeitung steckte immer noch im Briefkasten. Zwar hatten einige Personen das Haus betreten oder verlassen, aber sie hatten der Zeitung, die halb aus dem Briefkasten herausragte, keinerlei Beachtung geschenkt. Dabei wäre es kein Problem gewesen, sie mitgehen zu lassen, wenn man kleptomanisch veranlagt gewesen wäre oder die alte Dame im ersten Stock hätte ärgern wollen.
Dieser Fall war wohl der lausigste, mit dem sich Sigurður Óli in seiner gesamten Laufbahn bei der Kriminalpolizei befasst hatte. Seine Mutter hatte ihn angerufen und ihn gebeten, einer alten Freundin von ihr diesen Gefallen zu tun. Die Freundin lebte in einem Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur. Die Sonntagsausgabe der Zeitung, die sie abonnierte, war regelmäßig aus dem Briefkasten verschwunden, wenn sie sie holen wollte. Der alten Dame war es nicht gelungen, den Übeltäter ausfindig zu machen. Sie hatte sich bei ihren Nachbarn erkundigt, ob sie vielleicht versehentlich ihre Zeitung genommen hätten, aber alle hatten hoch und heilig geschworen, sie niemals angerührt zu haben. Einige hatten sogar Witze über die Zeitung gemacht und sie ein konservatives Käseblatt genannt, das sie nie im Leben lesen würden. Im Grunde genommen war sie der gleichen Meinung, blieb aber der Zeitung wegen der Nachrufe auf verstorbene Mitmenschen treu, die dort in aller Ausführlichkeit abgedruckt wurden und manchmal bis zu einem Viertel des Inhalts ausmachten.
Die Freundin verdächtigte einige Mitbewohner im Haus. Ein Stockwerk über ihr wohnte beispielsweise eine Frau, die nach Meinung der alten Dame mannstoll war. Bei ihr gaben sich die Männer die Klinke in die Hand, vor allem abends und an Wochenenden. Vielleicht war ja einer von den Männern der Dieb, oder aber die Frau selber. Ein weiterer Hausbewohner, der zwei Stockwerke über ihr wohnte, hatte anscheinend keine Arbeit und lungerte den ganzen Tag zu Hause herum. Angeblich war er Komponist.
Gerade eben betrat ein junges Mädchen das Haus, das allem Anschein nach die Nacht durchgemacht hatte. Sie war ziemlich alkoholisiert und brauchte eine Weile, um ihre Schlüssel in der kleinen Handtasche zu finden. Dabei musste sie sich am Türgriff festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie würdigte die Zeitung im Briefkasten keines Blickes. Von ihr war bestimmt kein Bild in den Klatschspalten, dachte Sigurður Óli, während er dem Mädchen nachblickte, das die Treppe hinaufwankte.
Ihm steckte immer noch eine hartnäckige Grippe in den Knochen. Wahrscheinlich war er damit nicht lange genug im Bett geblieben, ihm war es aber schlicht zu langweilig geworden, im Bett zu liegen und sich Spielfilme auf dem neuen 42-Zoll-Flachbildschirm anzusehen. Es war besser, sich mit irgendetwas zu beschäftigen, auch wenn er sich noch immer sehr schlapp fühlte.
Ihm ging der gestrige Abend durch den Kopf. Er war auf einem Abiturtreffen gewesen, das bei Goofy stattgefunden hatte. Goofy war der Spitzname dieses aufgeblasenen Wichtigtuers aus der Juristenzunft, der Sigurður Óli schon seit der gemeinsamen Schulzeit auf die Nerven ging. Es war typisch für Goofy, der sich schon in jungen Jahren angewöhnt hatte, eine Fliege zu tragen, dass er alle zu sich nach Hause eingeladen hatte, nur um diese Rede halten zu können, in der er seinen ehemaligen Klassenkameraden selbstgefällig mitteilte, dass ihm vor Kurzem die Leitung irgendeiner Abteilung in der Bank übertragen worden war. Das sei doch wohl ein guter Grund zum Feiern, hatte er betont. Sigurður Óli hatte nur sehr zurückhaltend geklatscht.
Er hatte seine ehemaligen Klassenkameraden betrachtet und darüber nachgedacht, ob er tatsächlich derjenige war, der es seit dem Abitur im Leben am wenigsten weit gebracht hatte. Dieser Gedanke drängte sich ihm auf Klassentreffen immer auf, wenn er sich überhaupt dazu aufraffte, sich auf einem solchen Treffen blicken zu lassen. Die meisten waren entweder Juristen wie Goofy oder Ingenieure, und außerdem gab es noch zwei Pfarrer und drei Ärzte, die eine lange Ausbildung hinter sich hatten. Auch einen Schriftsteller gab es, von dem Sigurður Óli allerdings noch nie eine Zeile gelesen hatte, obwohl er in gewissen Kreisen wegen seiner stilistischen Brillanz hochgejubelt wurde, weil er angeblich an die Schranken irgendwelcher Mysterien rührte, wenn man diesem tiefsinnigen Geschwafel Glauben schenken durfte. Wenn Sigurður Óli sich mit den Leuten aus seiner Klasse verglich und an Erlendur und Elínborg, seine Kollegen bei der Kriminalpolizei, dachte und an all die verkrachten Existenzen, mit denen er sich tagtäglich herumschlagen musste, fiel dieser Vergleich nicht gerade zu seinen Gunsten aus. Seine Mutter war immer der Meinung gewesen, dass er zu etwas Besserem getaugt hätte als zu so etwas, und damit meinte sie die Kriminalpolizei. Sein Vater hingegen war sehr zufrieden mit ihm, weil sein Sohn seiner Meinung nach mehr zum Wohl der Gesellschaft beitrug als manch anderer.
»Und, wie läuft's denn so bei der Kripo?«, fragte Patrekur, einer der Ingenieure. Er hatte während Goofys Rede neben ihm gestanden. Sie hatten sich schon während der Schulzeit angefreundet.
»Na ja, wie's halt so läuft«, sagte Sigurður Óli. »Und bei dir, hast du bei bei dem Bauboom hier und all den Kraftwerken, die gebaut werden, nicht irre viel zu tun?«
»Wir können uns vor Arbeit nicht retten«, sagte Patrekur, der für seine Verhältnisse ungewöhnlich ernst klang. »Übrigens wollte ich dich fragen, ob wir uns vielleicht mal treffen könnten, da ist etwas, worüber ich mit dir reden möchte.«
»Na klar. Muss ich Handschellen mitbringen?«
Patrekur verzog keine Miene. »Ich ruf dich am Montag an, wenn du nichts dagegen hast«, sagte er und machte Anstalten, sich zu entfernen.
»Tu das«, sagte Sigurður Óli und nickte Patrekurs Frau zu. Sie hieß Súsanna und war mit ihm zu der Feier gekommen, obwohl die meisten normalerweise nicht mit Partner erschienen. Sie lächelte ihm zu. Sigurður Óli hatte sie immer gemocht, seiner Meinung nach war sein Freund ein Glückspilz.
»Du bist immer noch Bulle?«, fragte Ingólfur, der mit einem Bier in der Hand auf Sigurður Óli zukam. Er war einer von den beiden Pfarrern in der Klasse. Er stammte sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits von lauter Theologen ab und hatte sich nie etwas anderes vorstellen können, als in Gottes Dienste zu treten. Aber er war frei von Scheinheiligkeit und Pathos, war weder den Frauen noch dem Alkohol abgeneigt und bereits zum zweiten Mal verheiratet. Er machte sich gern einen Spaß daraus, einen Streit mit Elmar, dem zweiten Pfarrer in der Klasse, vom Zaun zu brechen. Elmar war aus völlig anderem Holz geschnitzt, er war überaus religiös und asketisch und glaubte felsenfest an fast alles, was in der Bibel stand. Alle Veränderungen waren ihm ein Dorn im Auge, vor allem, wenn es um die Homosexuellen ging, die es gerade darauf anlegten, die tief verwurzelten Kirchentraditionen in Island auf den Kopf zu stellen. Ingólfur dagegen war es vollkommen gleichgültig, was für Pärchen aus der menschlichen Flora sich an ihn wandten. Er hielt sich einzig und allein an die Regel, die ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben hatte, dass alle Menschen vor Gott gleich sind. Er liebte es, Elmar aufzuziehen, und er fragte ihn regelmäßig, ob er nicht eine Sekte gründen wolle, die Elmariten.
»Und du bist immer noch Pfaffe?«, fragte Sigurður Óli im Gegenzug.
»Wir sind wohl beide unersetzlich«, entgegnete Ingólfur grinsend.
Goofy gesellte sich zu ihnen und schlug Sigurður Óli jovial auf die Schulter.
»Und was sagt unser Bulle?«, fragte er laut und vernehmlich, der frischgebackene Abteilungsleiter.
»Alles bestens«, sagte Sigurður Óli.
»Hast du es nie bereut, dass du das Jurastudium nicht zu Ende gebracht hast?«, fragte Goofy herablassend. Er hatte mit den Jahren reichlich Speck angesetzt, und die Fliege, die ihm früher einmal gut gestanden hatte, verschwand jetzt beinahe unter seinem enormen Doppelkinn.
»Kann ich eigentlich nicht sagen«, entgegnete Sigurður Óli, obwohl er tatsächlich manchmal darüber nachdachte, den Polizeidienst zu quittieren, das Jurastudium fortzusetzen und irgendetwas Sinnvolles in Angriff zu nehmen. Goofy gegenüber hätte er das aber niemals zugegeben, denn er lieferte ihm ein wichtiges Argument bei solchen Überlegungen: Wenn solche Schwachköpfe wie Goofy imstande waren, sich durch den Paragraphendschungel hindurchzuwuseln, dann konnten das nach Sigurður Ólis Meinung andere auch.
»Du traust also jetzt schon Paare mit widernatürlichen Neigungen«, sagte Elmar, der zu ihnen getreten war und Ingólfur mit tiefer Trauer in den Augen ansah.
Oh Mann, nicht schon wieder, dachte Sigurður Óli, erblickte aber im gleichen Moment eine Chance, den Rückzug anzutreten, bevor die beiden sich wieder wegen Glaubensfragen in die Haare gerieten.
Steinunn ging mit einem Glas Rotwein in der Hand an ihnen vorbei, und Sigurður Óli heftete sich sofort an ihre Fersen. Bis vor Kurzem hatte sie beim Finanzamt gearbeitet, und Sigurður Óli hatte sie hin und wieder um Rat gefragt, wenn er mit seiner Steuererklärung nicht zurechtkam, und sie war ihm immer gern behilflich gewesen. Er wusste, dass sie sich vor einigen Jahren von ihrem Mann getrennt hatte. Seitdem lebte sie allein und schien es zu genießen. Nicht zuletzt ihretwegen hatte er sich dazu durchgerungen, auf der Party bei Goofy zu erscheinen.
»Steinunn«, rief er, »ich hab gehört, du bist nicht mehr beim Finanzamt?«
»Nein, ich arbeite jetzt in derselben Bank wie Goofy«, sagte Steinunn lächelnd. »Ich helfe den Reichen dabei, sich um die Steuern herumzudrücken. Die reinste Goldgrube, sagt Goofy.«
»Und bestimmt zahlt die Bank besser«, entgegnete Sigurður Óli.
»Viel besser. Mein Gehalt hat schwindelnde Höhen erreicht«, sagte Steinunn.
Sie lächelte und entblößte dabei ihre weißen Zähne, während sie eine blonde Locke zurückschob, die ihr in die Stirn gefallen war. Sie hatte schöne, dunkle Augen und färbte ihre Augenbrauen schwarz. Die Haare ringelten sich bis auf die Schultern hinunter, ihr Gesicht war eher breit. Sie sah aus wie eine etwas zu drall geratene Barbie-Puppe, und Sigurður Óli überlegte, ob sie sich dessen bewusst war. Eigentlich zweifelte er nicht daran, denn sie war nicht auf den Kopf gefallen.
»Ja, wie man hört, nagt ihr nicht am Hungertuch«, sagte Sigurður Óli.
»Und was ist mit dir, spekulierst du nicht auch ein bisschen?«
»Ich? Spekulieren?«
»Du hast doch bestimmt Aktien«, sagte Steinunn. »Jedenfalls würde es gut zu dir passen.«
»Zu mir passen?«, fragte Sigurður Óli lächelnd. »Ja, in dir steckt doch was von einem Zocker?« »Ich kann es mir nicht leisten, irgendwelche Risiken
»Zu mir passen?«, fragte Sigurður Óli lächelnd. »Ja, in dir steckt doch was von einem Zocker?« »Ich kann es mir nicht leisten, irgendwelche Risiken einzugehen«, erklärte Sigurður Óli. »Ich hab nur ganz sichere Wertpapiere.«
»Was heißt schon sicher?«
»Ich kaufe nur Bankaktien«, sagte Sigurður Óli. Steinunn hob ihr Glas. »Sicherer geht es nicht.« »Lebst du immer noch allein?«, fragte er.
»Ja, und ich genieße es.«
»Ja, es kann ganz nett sein«, entgegnete Sigurður Óli.
»Was ist mit dir und Berg£óra?«, fragte Steinunn.
»Ich hab gehört, dass es nicht mehr so richtig läuft?« »Ja, es läuft ziemlich schief«, gab Sigurður Óli zu.
»Leider.«
»Berg£óra ist eine tolle Frau«, sagte Steinunn, die Berg£óra bei Klassentreffen ein paarmal begegnet war.
»Ja, das war ... Das ist sie. Ich überlege die ganze Zeit, ob wir uns nicht vielleicht einmal treffen könnten. Auf einen Kaffee oder was auch immer.«
»Ich soll mit dir ausgehen?«
Sigurður Óli nickte.
»Meinst du so etwas wie ein richtiges Date?«
»Nein, Date, ich weiß nicht, oder ja, vielleicht doch, irgendwas in der Art, wenn du so willst.«
»Siggi«, sagte Steinunn und tätschelte ihm die Wange, »du bist einfach nicht mein Typ.«
Sigurður Óli sah sie an.
»Siggi, das weißt du doch, das bist du nie gewesen, bist es nicht und wirst es auch nie sein.«
»Dein Typ!«
Sigurður Óli spuckte das Wort fast aus, während er vor dem grauen Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur auf den Zeitungsdieb wartete. Typ? Was sollte das eigentlich? War er ein blöderer Typ als die anderen? Und wieso redete Steinunn eigentlich immer über ihren Typ?
Ein junger Mann mit einem Instrumentenkoffer betrat den Hauseingang. Ohne zu zögern schnappte er sich die Zeitung aus dem Briefkasten und öffnete die Tür zum Treppenhaus mit seinem Schlüssel. Bevor die Tür ins Schloss fallen konnte, war Sigurður Óli bereits am Eingang, setzte seinen Fuß zwischen die Tür und gelangte ins Treppenhaus. Er packte den jungen Mann, dem nichts Böses schwante, auf dem Weg nach oben am Arm, zog ihn zu sich hinunter, entriss ihm die Zeitung und versetzte ihm damit einen Schlag auf den Kopf. Der Mann ließ vor lauter Schreck den Instrumentenkasten fallen, verlor das Gleichgewicht und fiel hin.
»Steh auf, du Blödmann!«, schnauzte Sigurður Óli und versuchte, den Mann hochzuziehen. Er war sich ziemlich sicher, dass es sich um den Tagedieb handelte, der zwei Stockwerke über der Freundin seiner Mutter wohnte, den Kerl, der sich als Komponist ausgab. »Tu mir nichts«, rief der Komponist.
»Ich tu dir doch gar nichts! Aber wie wär's, wenn du damit aufhören würdest, Guðmunda aus dem ersten Stock ihre Zeitung zu klauen? Weißt du überhaupt, wer sie ist? Nur ein Vollidiot stiehlt alten Damen die Sonntagszeitung! Macht es dir Spaß, Leute zu ärgern, die sich nicht wehren können?«
Der junge Mann war aufgestanden und sah Sigurður Óli wütend an. Dann riss er ihm die Zeitung aus der Hand.
»Das ist meine Zeitung«, sagte er. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«
»Deine Zeitung?«, rief Sigurður Óli. »Oh nein, Freundchen, die gehört Guðmunda.«
Doch dann blickte er nach unten in den Eingangsbereich zu den Briefkästen, fünf nebeneinander und drei übereinander, und sah, dass die Zeitung immer noch so aus Guðmundas Briefkasten herausguckte, wie er sie selber hineingesteckt hatte.
»Scheiße«, schnaubte er, setzte sich wieder ins Auto und fuhr frustriert davon.
Übersetzung: Coletta Bürling
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Arnaldur Indridason
Der preisgekrönte Schriftsteller Arnaldur Indriðason, geboren 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands grösster Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor in Reykjavik.Coletta Bürling ist die langjährige ehemalige Leiterin des Goethe-Instituts Reykjavik. Seit dessen Schliessung übersetzte sie bereits zahlreiche Werke aus dem Isländischen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Arnaldur Indridason
- 2011, 428 Seiten, Masse: 12,8 x 20,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Bürling, Coletta
- Übersetzer: Coletta Bürling
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785724195
- ISBN-13: 9783785724194
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