24 Weihnachtskrimis / Glöckchen, Gift und Gänsebraten
24 Weihnachtskrimis von Rügen bis ins Zillertal. Originalausgabe
Weihnachten, Zeit der Stille und Besinnung.
Der Schnee rieselt leise, während Plätzchenduft und Chormusik die Stuben erfüllen. Bei Kerzenschein erzählt man sich Geschichten und genießt das traute Beisammensein. Doch Vorsicht!...
Der Schnee rieselt leise, während Plätzchenduft und Chormusik die Stuben erfüllen. Bei Kerzenschein erzählt man sich Geschichten und genießt das traute Beisammensein. Doch Vorsicht!...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „24 Weihnachtskrimis / Glöckchen, Gift und Gänsebraten “
Weihnachten, Zeit der Stille und Besinnung.
Der Schnee rieselt leise, während Plätzchenduft und Chormusik die Stuben erfüllen. Bei Kerzenschein erzählt man sich Geschichten und genießt das traute Beisammensein. Doch Vorsicht! Schnell ist's aus mit Eintracht und Gemütlichkeit, wenn diese 24 Krimis ausgepackt werden und Weihnachten sich von seiner blutigen Seite zeigt. Ob auf Sylt, in Bonn oder Berchtesgaden - quer durchs Land wird verraten, vergiftet und verscharrt. Der friedlichen Adventszeit ist nicht zu trauen, und dem Weihnachtsmann schon gar nicht...
Der Schnee rieselt leise, während Plätzchenduft und Chormusik die Stuben erfüllen. Bei Kerzenschein erzählt man sich Geschichten und genießt das traute Beisammensein. Doch Vorsicht! Schnell ist's aus mit Eintracht und Gemütlichkeit, wenn diese 24 Krimis ausgepackt werden und Weihnachten sich von seiner blutigen Seite zeigt. Ob auf Sylt, in Bonn oder Berchtesgaden - quer durchs Land wird verraten, vergiftet und verscharrt. Der friedlichen Adventszeit ist nicht zu trauen, und dem Weihnachtsmann schon gar nicht...
Klappentext zu „24 Weihnachtskrimis / Glöckchen, Gift und Gänsebraten “
Von drauss' vom Walde komm ich her - Ich muss euch sagen, gemordet wird sehr! In der besinnlichen Adventszeit wird quer durch Deutschland geplündert, gemeuchelt und verscharrt. 24 namhafte Regiokrimi-Autoren packen die Rute aus, bis der Christbaum die Nadeln verliert. Und dabei segnen nicht nur Gänse und Karpfen das Zeitliche ...
Lese-Probe zu „24 Weihnachtskrimis / Glöckchen, Gift und Gänsebraten “
Glöckchen, Gift und Gänsebraten von Johannes Engelke (Hrsg.)Gisa Pauly
Die gute Seele
Sylt
... mehr
Opas Haushälterin war nun mal so. Sie meinte es immer gut. Besonders mit den Menschen, die ihr nahestanden - so wie Opa. Und weil sie es gut mit ihm meinte, hatte sie dafür gesorgt, dass er endlich erkannte, wie sehr er von seiner Ehefrau ausgenommen wurde, die sich eine Haushälterin leistete und selbst den lieben langen Tag auf der faulen Haut lag. Als Opa sich endlich scheiden ließ, weil er einsah, wie gut seine Haushälterin es mit ihm meinte, waren alle Angehörigen empört, nur Marlene nicht. Sie war noch klein, und mit ihr meinte die Haushälterin es besonders gut, indem sie ihr Süßigkeiten zusteckte, die ihre Mutter verboten hatte. Also hatte Marlene nichts dagegen, von Opa und seiner Haushälterin als Mittlerin zwischen den familiären Fronten missbraucht zu werden, denn sie war noch zu jung, um etwas davon zu durchschauen. Alle anderen Angehörigen schränkten den Kontakt zu Opa ein, trotzdem kamen sie dahinter, dass die Haushälterin beide Seiten des nach wie vor vorhandenen Ehebettes bezog, während ihr eigenes Bett weitgehend unbenutzt blieb.
»Sie meint es doch nur gut«, verteidigte Opa sie. »Auch in meinem Alter hat ein Mann noch Bedürfnisse.«
Opas Bedürfnisse wurden lang und breit diskutiert, einige hielten sie für überflüssig, andere sogar für skandalös, Verständnis brachte lediglich Marlene auf. Aber das auch nur, weil ihr die Art der Bedürfnisse verborgen geblieben war.
Die Familie konnte machen, was sie wollte, die Haushälterin verbuchte einen Erfolg nach dem anderen für sich. Jemandem, der es so gut meinte, war eben schwer beizukommen. In einem Punkt jedoch ging ihr Schuss nach hinten los. Die Hochzeit, auf die sie zweifellos hoffte, fand nie statt. Wozu auch? Da sie es so gut mit Opa meinte, fehlte es ihm an nichts. Aus seiner Sicht war es also völlig überflüssig, eine Frau zu heiraten, von der er auch ohne Trauschein und für ein relativ geringes Gehalt alles bekam, was er sich wünschte.
Eines Tages kam die Nachricht, dass Opa sein Haus aufgeben wolle, um mit seiner Lissi, wie er sie nun nannte, nach Sylt zu ziehen. Dort war schließlich ihre Heimat, in List gab es ein Haus, das genau richtig für Opa und seine Haushälterin war, und da die Familie, wie er spitz anmerkte, sich sowieso nicht um ihn kümmerte, konnte er genauso gut am Ende der Republik wohnen.
Die Verwandten liefen Sturm, weil jeder den Verdacht hatte, dass ihnen Opa genommen werden sollte. Aber die Haushälterin bot allen Verwandten die Stirn, indem sie sie einlud, Opa auf Sylt zu besuchen. Man habe an ein Gästezimmer gedacht, und sie würde ihren Schnüsch gern für jeden kochen, der sie besuchen wolle.
Außer Marlene wollte es niemand. Und sie war auch die Einzige, die Schnüsch, den friesischen Gemüseeintopf, mochte. Zwar waren alle nahen und entfernten Angehörigen einmal auf Sylt erschienen, um sich zu vergewissern, dass Opa sich guter Gesundheit erfreute und zufrieden schien, doch länger als bis zur Abfahrt des nächsten Autozuges hatte niemand bleiben wollen. Opas ältester Sohn überprüfte regelmäßig den Zustand der Konten, aber da es keine dubiosen Abbuchungen gab, setzte sich schließlich die Einsicht durch, dass die Haushälterin es tatsächlich gut mit Opa meinte.
Marlene verbrachte jedes Weihnachtsfest auf Sylt. Ihre Eltern waren in die Schweiz gezogen, und dort mochte sie die Feiertage nicht verbringen, obwohl sie jeden November eine entsprechende Aufforderung erhielt. Nein, das Weihnachtsfest gehörte Opa und Tante Lissi. Sonst kümmerte sich ja niemand um die beiden. Tante Lissi hatte keine nahen Anverwandten, nur einen ungeratenen Neffen, der in Marlenes Familie zusätzlich für Aufregung gesorgt hatte.
»Wahrscheinlich zweigt sie von Opas Geld was ab, um es diesem Nichtsnutz zuzustecken!«
Wann immer Marlene von Sylt zurückkehrte, wurde sie gefragt, ob Lissis Neffe sich etwa auf Opas Kosten in List den Bauch vollgeschlagen habe. Aber Marlene konnte jedes Mal guten Gewissens verneinen. Sie war diesem Eckehard niemals begegnet.
Auch in diesem Jahr hatte sie sämtliche Ermahnungen über sich ergehen lassen müssen und es auch diesmal geschafft, nichts darauf zu entgegnen. Drei Tage vor Heiligabend fuhr sie los und freute sich auf Schnüsch, Kenkentjüch, das friesische Weihnachtsgebäck, und auf lange Abende vor dem Kamin. Natürlich auch auf die Tote Tante, die Opa ihr zu kredenzen pflegte, sobald die Haushälterin schlafen gegangen war.
In Itzehoe gab es einen längeren Aufenthalt, weil dort die Lokomotive gewechselt wurde. Einige Fahrgäste zogen sich die Jacken über und sprangen auf den Bahnsteig, um sich Bewegung zu verschaffen, Marlene verzichtete jedoch drauf. Auch deshalb, weil ihr Handy zu läuten begann, kaum dass der Zug zum Stehen gekommen war.
Tante Lissi war am anderen Ende der Leitung. »Deern, ich hoffe, du bist noch nicht losgefahren.«
»Ich habe einen Zug früher genommen, bin schon in Itzehoe. «
»Ach, du lieber Himmel!« Tante Lissi hatte einen ihrer besten Seufzer ins Telefon gestöhnt. Marlenes Mutter behauptete oft, niemand könne so theatralisch seufzen wie Opas Haushälterin. »Dein Großvater ist so schiet zupass. Den ganzen Tag sitzt er bei Tante Meier. Er hat nicht mal Appetit auf Schnüsch. Und auf die Weihnachtsgans erst recht nicht.«
Marlene war alarmiert. Wenn Opa schiet zupass war, hieß das auf Hochdeutsch, dass es ihm schlechtging. Und Tante Meier war eine friesische Umschreibung für das stille Örtchen, auf das Opa sich zurückgezogen hatte. »Was Ernstes?«, fragte sie besorgt.
Wieder seufzte Tante Lissi. »Der Arzt war gerade da. Er sagt, es sähe nicht gut aus.«
Der scharfe Ecki hatte seinen Namen erhalten, als bekannt wurde, dass er mit Vorliebe bei Gosch die Sorte Bratheringe aß, die dort Scharfe Eddis genannt wurden. Da Ecki in jungen Jahren ein Sonnenanbeter und außerdem lange auf dem Bau beschäftigt gewesen war, hatte seine Haut tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem scharfen Eddi bekommen. Aber davon redete er ungern. Dass aus seinem Namen Eckehard der scharfe Ecki geworden war, wollte er lieber anders erklärt haben. Aber leider sprach sich die wahre Assoziation überall schnell rum.
Er saß mit seinem Freund Jannes in dem kleinen Park gegenüber dem Rathaus, wo es ein paar Bänke unter einem Laubengang gab, der ein wenig vor dem eiskalten Wind schützte. Lieber hätten sie sich in der Nanu-Bar in der Strandstraße einen steifen Grog oder einen Pharisäer genehmigt, aber selbst, wenn sie das Kleingeld, das sich in ihren Taschen gefunden hatte, zusammenlegten, reichte es weder für das eine noch das andere.
»Ich möchte wissen«, klagte Jannes, »warum wir unsere letzte Kohle in eine Busfahrt nach List investiert haben. Mit deiner Tante war ja in diesem Jahr nicht zu reden.«
»Konnte ich ahnen, dass der alte Sack, dem sie den Haushalt führt, ins Gras beißt?« Der scharfe Ecki stand auf, wärmte seine Glieder mit ein paar Schritten und zeigte dann auf die Büste am Eingang des Parks. »Das ist übrigens Heinrich von Stephan. Wusstest du, dass er die Ansichtskarte erfunden hat?«
Jannes war an jeglicher Bildung höchst uninteressiert. »Geh mir weg mit deiner Klugscheißerei. Davon können wir uns nichts kaufen. Glaubst du, ich kann bei Annette unterkriechen, wenn ich kein Weihnachtsgeschenk für sie habe?«
Das war das Problem! Denn Ecki ging es nicht anders. Tante Lissi war eigentlich großzügig. Nicht nur, wenn es um die Kohle des alten Mannes ging, dem sie den Haushalt machte, auch, wenn es um ein warmes Bett ging und diverse gute Mahlzeiten. Aber Weihnachten war schon immer die große Ausnahme gewesen. Dann kam eine Verwandte zu Besuch, da durfte nichts geschehen, was die Angehörigen in ihrem Verdacht bestärkte, die Haushälterin habe etwas anderes im Sinn, als ihrem Arbeitgeber den Lebensabend zu versüßen. Dabei brauchte jeder Mensch gerade kurz vor Weihnachten Kohle! Mehr als sonst! Wer nicht in der Lage war, ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen, verlor auch den Rest seiner sozialen Kontakte. Ecki genauso wie Jannes.
»Sonst hatte sie bis zum vierten Advent immer ein paar Hunderter abgezweigt«, klagte Ecki. »Aber woher sollte Tante Lissi wissen, was nun passiert? Möglich, dass sie erbt, vielleicht sogar alles, aber ...«
»Das wär's noch!«, fuhr Jannes dazwischen. »Dann hätten wir ausgesorgt.«
»... möglich aber auch«, fuhr Ecki fort, »dass nun die Angehörigen einfallen und Tante Lissis Haushaltsbuch genau unter die Lupe nehmen.«
»Dann gibt's nur noch eins«, meinte Jannes und nickte zur anderen Straßenseite hinüber. Dort protzte die Sparkasse mit ihrem Neubau. Viel graues Metall, viel Glas und wenige rote Elemente, die den Kunden heiter stimmen sollten. Jannes gefielen sie nicht. Ecki auch nicht.
Jannes hatte die Gedanken seines Freundes im Nu erraten. »Für so was brauchen wir eine Knarre«, sagte er.
Diesmal nickte Ecki in die Strandstraße, wo es auf der rechten Seite, hinter dem Hotel Stadt Hamburg, einen Spielzeugladen gab. »Wer in die Mündung einer Waffe guckt«, behauptete er, »macht sich keine Gedanken darüber, ob es sich um eine Spielzeugpistole oder eine Smith & Wesson handelt. Und selbst wenn dem Kassierer ein Verdacht kommt ... so sicher ist der sich nie, dass er die Hände unten lässt und den Alarm auslöst.«
Marlene hatte sich Tante Lissis Fahrrad geliehen und war zum Fährhafen geradelt. Sie musste raus, brauchte frische Luft, wollte den Wind in den Haaren und auf der Haut spüren. Eiskalt! So war er genau richtig, wenn er aus lodernder Verzweiflung eine Trauer machen sollte, in der irgendwann die schönen Erinnerungen die Oberhand gewannen.
Sie fuhr auf den Parkplatz, der das Erlebniszentrum der Naturgewalten mit dem Fährhafen und der »nördlichsten Fischbude Deutschlands« verband und während der Weihnachtsfeiertage erstaunlich voll war. Die Weihnachtsflüchtlinge! In guten Restaurants bestellten sie sich die Festmenüs, von denen sie zu Hause nichts wissen wollten, und in der Alten Bootshalle sangen sie Weihnachtslieder, die sie vor Antritt ihrer Syltreise Kitsch genannt hatten und über die sie nach ihrer Rückkehr lachen würden.
Marlene überquerte den großen Platz, hörte den Akkordeonspieler, der im Sommer zwischen den Tischen herumging und zu den Fischgerichten die passenden Seemannslieder servierte. Nun spielte er in der Alten Bootshalle »O du fröhliche«. Und nur diejenigen verzichteten aufs Mitsingen, die den Mund voll hatten.
Marlene ging bis zum Fähranleger, wo es menschenleer war, und hockte sich auf die braungestrichene Bank auf der Rückseite des roten Backsteingebäudes. Die »Lister Rentnerbank«, die Opa immer so gut gefallen hatte. Kaum saß sie dort, wurde sie ruhiger. Während sie die Erinnerung an Opa genoss, konnte sie sogar vergessen, was sie zu hören bekommen hatte, als sie die Angehörigen von Opas Tod verständigt hatte.
»Pass bloß auf die Haushälterin auf! Die schafft was beiseite, bis wir als rechtmäßige Erben auftauchen. Oder ihr sauberer Neffe! Ehe Opa unter der Erde liegt, ist das halbe Haus ausgeräumt. Und wenn wir kommen, heißt es, Opa hätte zu Lebzeiten alles verschenkt.«
Marlene wollte davon nichts hören. »Tante Lissi meint es doch nur gut.«
»Bleib in List, bis wir kommen«, hatte ihr Onkel verlangt. »Und schau der Haushälterin auf die Finger!«
Aber Marlene hatte sich geweigert. Nein, für diese Aufgabe wollte sie sich nicht hergeben. Tante Lissi meinte es gut, das wusste sie genau. Marlene vertraute ihr, wenn sie auch die Einzige der Familie war. Sie würde wieder heimfahren, gleich morgen, einen Tag vor Heiligabend. Weihnachten auf Sylt ohne Opa? Nein, das würde sie nicht ertragen. Neben Tante Lissi weinend vor dem Weihnachtsbaum sitzen? Ausgeschlossen! Opas Haushälterin würde bei Nachbarn unterkommen und Marlene in ihrer Studentenbude allein und mit der Erinnerung an Opa Weihnachten feiern.
»Dir steht was von Opas Erbe zu«, hatte ihre Mutter ins Telefon gerufen. »Nimm mit, was du tragen kannst!«
Aber auch da hatte Marlene sich geweigert. Obwohl ... eine Erinnerung an Opa wünschte sie sich durchaus. Vielleicht eine seiner alten Uhren, die er gesammelt hatte? Die würde sie am Handgelenk tragen, in Ehren halten und somit Opa immer bei sich haben. Das wäre schön. Aber als sie wieder in Opas Häuschen ankam, brachte sie es nicht fertig, Tante Lissi darum zu bitten. Und als sie sich verabschiedete und Opas Haushälterin herzlich umarmte, wusste sie, dass es gar nicht nötig gewesen war.
»Ich habe dir was in deine Reisetasche gepackt«, sagte Tante Lissi und wischte sich über die Augen. »Dein Großvater hätte gewollt, dass du es bekommst.«
Marlene stieg in den Bus, der sie von List nach Westerland bringen sollte, und winkte zu Tante Lissi zurück, bis sie nicht mehr zu sehen war. Während sie die Wanderdünen rechts liegen ließen, dachte sie an ihre Mutter, von der sie ermuntert worden war zu verlangen, was ihr angeblich zustand. »Wer nichts verlangt, bekommt auch nichts.«
Ihre Mutter täuschte sich. Marlene hätte sich viel weniger über das gefreut, was Tante Lissi ihr in die Tasche gesteckt hatte, wenn sie es verlangt hätte. Heute Abend, wenn sie zu Hause angekommen war, würde sie eine Kerze anzünden, das Geschenk aus der Tasche holen und ganz fest an Opa denken, während sie es auspackte. Zwar musste sie, während der Bus durch Kampen fuhr, ihre Neugier niederkämpfen, aber es gelang ihr. Nein, Opas Erbe brauchte einen feierlichen Moment.
Tatsächlich klappte alles reibungslos. Der Kassierer dachte nicht im Traum daran, den Alarmknopf zu drücken, sondern händigte ihnen aus, was sie haben wollten. Kunden waren keine in der Sparkasse gewesen, sie hatten den richtigen Moment abgepasst. Und die Idee, den Kassierer mit seinen beiden Kolleginnen ins Damenklo einzusperren, war auch super gewesen. Als der erste Polizeiwagen durch die City von Westerland jagte, hatten Jannes und der scharfe Ecki sich schon ihrer Strumpfmasken entledigt, den Batzen Geld in eine unauffällige Plastiktüte gesteckt und hielten sich gegenseitig davon ab, wie zwei flüchtige Bankräuber Richtung Bahnhof zu hetzen.
»Ruhig, ganz ruhig«, sagte Ecki immer wieder, wenn Jannes sich nervös umsah. »Bloß nicht auffallen!«
Sie benutzten den Fußgängerüberweg am Kaufhaus Jensen und brachten es fertig, vor dem Buchladen Becher stehen zu bleiben und sich dort unauffällig umzublicken. Folgte ihnen jemand? Nein, es gab nichts im Straßenbild, was ihre Besorgnis erregte.
»Jetzt muss nur noch der Zug pünktlich sein«, flüsterte Jannes. »Dann fahren wir schon über den Hindenburgdamm, wenn auf der Insel die Suche nach den beiden Bankräubern beginnt.«
Der scharfe Ecki wagte sogar ein kleines Grinsen. »Und morgen kommen wir zurück, mit einem Sack voller Geschenke. Und dann wird Weihnachten gefeiert.«
Als sie an den grünen Reisenden Riesen im Wind vorbeigingen und auf den Eingang des alten dunklen Bahnhofsgebäudes zusteuerten, fühlten sie sich bereits sicher. Die Polizei würde die ganze Insel durchkämmen, aber nicht auf die Idee kommen, dass die beiden draufgängerischen Bankräuber sich ganz cool in den Zug setzten und gemütlich durchs Watt kutschieren ließen.
Doch wenn sie bis dahin ihren Plan für genial gehalten hatten, so wurden sie kurz darauf eines Besseren belehrt. Den Reisenden, die auf dem Bahnsteig von einem Bein aufs andere traten, war es anzusehen: Der Zug hatte Verspätung.
»Verdammter Mist!«, fluchte Jannes leise. »Wir müssen von der Insel runter.«
»Schnauze!«, zischte der scharfe Ecki. Und als er den Streifenwagen vor dem Bahnhof vorfahren sah, noch einmal: »Schnauze!«
Tatsächlich sah Jannes nun davon ab, sich seine Angst laut und deutlich von der Seele zu schimpfen, aber er blickte den beiden Polizisten, die aus dem Streifenwagen kletterten, derart panisch entgegen, dass auch dem dümmsten Ordnungshüter, der bis dahin nur Ladendiebstähle an der Kurpromenade aufgeklärt hatte, ein böser Verdacht kommen musste.
Ecki stieß seinen Kumpel unauffällig in die Seite. »Wir gehen in den Bahnhofskiosk und schauen uns nach Reiselektüre um«, sagte er und schob Jannes vor sich her. Um ihm zu zeigen, wie cool sich ein versierter Bankräuber zu benehmen hatte, schaukelte er die Plastiktüte mit der Beute hin und her, als enthielte sie nur Schmutzwäsche oder ein paar Sylt-Andenken.
Der Laden, der Zeitschriften, Souvenirs, Bücher und Sylt- Literatur führte, war nicht nur von der Bahnhofshalle zu betreten, sondern auch vom Bahnsteig. »Wir schauen uns jetzt ein bisschen bei den Zeitschriften um«, sagte der scharfe Ecki. »Und vorsichtshalber versteckst du deine Visage dabei.«
»Wieso?«, jammerte Jannes. »Der Kassierer hat unsere Gesichter doch gar nicht gesehen.«
»Sicher ist sicher!« Ecki schob Jannes durch die Tür und dachte nicht mehr daran, die Plastiktüte sorglos zu schwenken.
Sie waren nicht die Einzigen, die die verzögerte Abfahrt des Zuges nutzten, indem sie nach Reiselektüre Ausschau hielten. An dem Tisch mit den Sylt-Krimis war viel los, und der scharfe Ecki kam zu dem Schluss, dass der Einzelne im Gedränge weniger auffi el als dort, wo er allein war. Er schob sich also neben ein junges Mädchen, das in einem Buch blätterte. Ihre Reisetasche hatte sie auf den Boden gestellt. Mit offenem Reißverschluss! Hätte Ecki nicht gerade Probleme genug, wäre er dieser Einladung garantiert gefolgt. Wie leichtsinnig manche Leute waren! Eine kleine Rempelei, ein Stolpern, ein Bücken zum Schnürsenkel, und schon hätte die Geldbörse, die Ecki gut erkennen konnte, den Besitzer gewechselt. Aber er bezähmte sich. Nein, man durfte das Glück nicht herausfordern.
Jannes' Blick wurde plötzlich starr, der Sylt-Kalender, den er in der Hand hielt, begann zu zittern. Der scharfe Ecki wusste sofort, was Sache war. Auf dem Bahnsteig gingen zwei Polizisten von einem männlichen Reisenden zum anderen, und dort, wo zwei zusammenstanden, ließen sie sich den Inhalt des Reisegepäcks zeigen. Verdammt, sie rechneten damit, dass die Bankräuber den nächsten Zug zur Flucht aufs Festland nahmen!
Ecki ließ die beiden Beamten nicht aus dem Auge. Vielleicht würden sie sich gleich in den Streifenwagen setzen und woanders ihre Suche nach den Bankräubern fortsetzen.
Aber er hoffte vergeblich. Alle männlichen Reisenden waren angesprochen worden, sogar diejenigen, die in weiblicher Begleitung waren. Nun kamen die Beamten auf den Eingang des Zeitungskiosks zu. Auch hier würden sie sich an alle Männer wenden. Was tun?
Die rettende Idee kam Ecki, als sich die beiden Hälften der automatisch öffnenden Tür bereits trennten. Blitzartig ließ er die Plastiktüte in die Reisetasche der jungen Frau fallen. Dann zog er den Reißverschluss zu und tadelte lächelnd: »Man sollte sein Gepäck verschlossen halten. Taschendiebe sind überall.«
Die junge Frau bedankte sich, dann traten die beiden Polizisten auf Ecki und Jannes zu. »Ihr Gepäck?«
Ecki antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: »Wir haben keins. War ja nur ein Tagesausflug nach Sylt. Herrlich, die Weihnachtsbeleuchtung auf der Friedrichstraße!«
Der ältere der beiden Beamten schien Erfahrung mit den Gesichtern von Galgenvögeln zu haben. »Sind Sie mit einer Leibesvisitation einverstanden? Wenn nicht, müsste ich Sie bitten, mit mir ins Revier zu kommen.«
»Selbstverständlich!«, rief Ecki und breitete die Arme aus, um sich abtasten zu lassen.
Jannes verhielt sich genauso entgegenkommend, und ein paar Minuten später galten sie als untadelige Zeitgenossen. Die Polizisten waren sogar so freundlich, ihnen zu erklären, warum sie zu diesen Maßnahmen gezwungen waren. »Ein Raubüberfall auf die Sparkasse Westerland - zwei Männer. Da werden Sie verstehen ...«
Jannes und der scharfe Ecki verstanden vollkommen. Sie waren diejenigen, die am lautesten die Schlechtigkeit der Welt beklagten, und Jannes ließ sich sogar dazu hinreißen, die Todesstrafe für Bankräuber zu fordern.
Dann fuhr der Zug ein, und Jannes und Ecki drängten sich mit allen anderen Fahrgästen zu den Wagen der zweiten Klasse. »Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren«, flüsterte der scharfe Ecki. »Ich lenke sie ab, und du klaust ihr dann die Tasche.«
»Und wenn sie Zeter und Mordio schreit?«
»Wir machen es kurz vor dem nächsten Halt. Bis sie was merkt, sind wir mit ihrer Tasche schon aus dem Zug und weg.«
Marlene gab nun besonders gut auf ihre Tasche acht. Der nette Herr im Zeitungskiosk hatte recht gehabt. Es war leichtsinnig, den Reißverschluss der Tasche geöffnet zu lassen. Schließlich gab es darin etwas, was ihrem Opa gehört hatte und ihm sehr wichtig gewesen war. Sie setzte die Tasche auf ihre Knie und umschlang sie mit beiden Armen. Es war ihr, als hielte sie Opa ein letztes Mal im Arm. Kein einziges Mal stellte sie die Tasche zur Seite. Opa festhalten! So lange, bis sie seinen Tod verstanden und akzeptiert hatte, so lange, bis sie in Händen hielt, was er ihr hinterlassen hatte.
Leider konnte sie während der Rückfahrt nicht in Ruhe an Opa denken. Ein ständiges Hin und Her war um sie herum, sie wurde oft gestört. Im Gang stolperte ein Mann und hielt sich ausgerechnet an ihrer Tasche fest, die beinahe zu Boden gefallen wäre, wenn Marlene nicht so gut auf sie achtgegeben hätte. Als sie die Tasche kurz vor Niebüll für einen Augenblick neben ihre Füße stellte, um sich die Nase zu putzen, griff jemand danach, der sie angeblich mit seiner eigenen Reisetasche verwechselt hatte. Auf dem Weg zur Zugtoilette riss dann der Riemen ihrer Tasche, der sogar so aussah, als wäre er durchschnitten worden. Und der Mann, der sich anbot, die Sache zu reparieren, lief so schnell mit der Tasche davon, dass sie Mühe hatte nachzukommen. Doch sie war flotter auf den Beinen, verlangte die Tasche zurück und verzichtete auf die Reparatur. Beim Umsteigen wurde sie dann sogar von hinten angerempelt, so dass sie strauchelte und ihr die Tasche entglitt. Aber zum Glück war der Zugführer sofort zur Stelle, der ihr die Tasche zurückgab, ehe ein Mann sie ergreifen und mit ihr flüchten konnte.
Marlene war froh, als sie heile zu Hause angekommen war und der Inhalt ihrer Tasche keinen Schaden genommen hatte. Es war kalt in ihrer Wohnung. Sie drehte alle Heizungen auf, machte sich außerdem einen Glühwein, holte eine Tafel Schokolade aus dem Schrank, zündete eine Kerze an und setzte sich dann gemütlich ins Wohnzimmer. Genau in den Sessel, von dem aus sie das gerahmte Foto ihres Großvaters im Blick hatte.
Eine halbe Stunde später rief sie ihre Eltern und auch alle anderen Anverwandten an und forderte sie auf, sich bei Tante Lissi zu entschuldigen. Nun mussten es alle einsehen. Opas Haushälterin meinte es wirklich nur gut.
Am zweiten Feiertag saßen sie im Kliffkieker von Wenningstedt und starrten aufs Meer hinaus.
»Scheißweihnachten«, sagte Jannes. »Annette hat mir den Laufpass gegeben.«
»Sieh es positiv«, meinte der scharfe Ecki. »Immerhin sucht die Polizei die beiden Bankräuber bis heute vergeblich.«
»Was hat dieses Mädchen wohl mit der Kohle gemacht?«, fragte Jannes.
»Wahrscheinlich in Schuhe investiert.«
»Oder zur Polizei gebracht?«
»Nur, wenn sie komplett dämlich ist«, maulte der scharfe Ecki. »Verdammt! Zu blöde aber auch, dass wir türmen mussten, als der Zugführer misstrauisch wurde.«
Jannes nickte deprimiert. »Und dass wir sie dann aus den Augen verloren haben ...«
Der Geschäftsführer des Kliffkiekers hatte sich entschlossen, für die Weihnachtsgäste, die Trübsal bliesen, einen Fernseher aufzustellen. Irgendein Regionalprogramm lief, mit Kinderchören, bärtigen Männern, die von Weihnachtserlebnissen aus ihrer Kindheit erzählten, und schönen Frauen, die für die Moderation zuständig waren und mit überschlagender Stimme von einer Begeisterung zur anderen taumelten. »Und nun das rührendste Weihnachtswunder dieses Jahres!«
Ecki stieß seinen Kumpel an und nickte zum Fernseher. Sein Mund stand offen, er war so aufgeregt, dass er beinahe sein Bier umgekippt hätte. »Sieh dir das an! Kennen wir die nicht?« »Marlene!«, jubelte die Moderatorin. »Erzählen Sie von dem Wunder, das Ihnen widerfahren ist!«
Die junge Frau schaute verlegen in die Kamera, und als sie vom Tod ihres Großvaters erzählte, wurden ihre Augen feucht. Dass ihr Opa sie geliebt hatte, das habe sie gewusst, erzählte sie. Dass sie seine wertvollste Uhr bekommen habe, sei keine große Überraschung gewesen, aber dass er für sie ein Vermögen zusammengetragen hatte, davon habe sie keine Ahnung gehabt. »Er muss es sich vom Munde abgespart haben.« Nun hielt sie einen symbolischen Scheck in die Kamera. »Eine halbe Million! Ich möchte sie nicht für mich behalten, sondern der Sylter Tafel spenden. Mein Opa hatte immer ein Herz für Menschen, denen es nicht so gutging wie ihm.«
Die Moderatorin wies sie dezent darauf hin, dass sie das Geld auch hätte behalten können. Aber die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Geld glücklich macht.« Zwei Minuten später wurden Jannes und der scharfe Ecki an die Luft gesetzt. Der Wirt des Kliffkiekers hatte ja während der Weihnachtstage schon viel Frust erlebt, aber dass jemand seine Weihnachtserinnerungen verarbeitete, indem er das Mobiliar einer Gaststätte zerschlug, das war ihm wirklich noch nie vorgekommen.
Copyright © 2012 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Opas Haushälterin war nun mal so. Sie meinte es immer gut. Besonders mit den Menschen, die ihr nahestanden - so wie Opa. Und weil sie es gut mit ihm meinte, hatte sie dafür gesorgt, dass er endlich erkannte, wie sehr er von seiner Ehefrau ausgenommen wurde, die sich eine Haushälterin leistete und selbst den lieben langen Tag auf der faulen Haut lag. Als Opa sich endlich scheiden ließ, weil er einsah, wie gut seine Haushälterin es mit ihm meinte, waren alle Angehörigen empört, nur Marlene nicht. Sie war noch klein, und mit ihr meinte die Haushälterin es besonders gut, indem sie ihr Süßigkeiten zusteckte, die ihre Mutter verboten hatte. Also hatte Marlene nichts dagegen, von Opa und seiner Haushälterin als Mittlerin zwischen den familiären Fronten missbraucht zu werden, denn sie war noch zu jung, um etwas davon zu durchschauen. Alle anderen Angehörigen schränkten den Kontakt zu Opa ein, trotzdem kamen sie dahinter, dass die Haushälterin beide Seiten des nach wie vor vorhandenen Ehebettes bezog, während ihr eigenes Bett weitgehend unbenutzt blieb.
»Sie meint es doch nur gut«, verteidigte Opa sie. »Auch in meinem Alter hat ein Mann noch Bedürfnisse.«
Opas Bedürfnisse wurden lang und breit diskutiert, einige hielten sie für überflüssig, andere sogar für skandalös, Verständnis brachte lediglich Marlene auf. Aber das auch nur, weil ihr die Art der Bedürfnisse verborgen geblieben war.
Die Familie konnte machen, was sie wollte, die Haushälterin verbuchte einen Erfolg nach dem anderen für sich. Jemandem, der es so gut meinte, war eben schwer beizukommen. In einem Punkt jedoch ging ihr Schuss nach hinten los. Die Hochzeit, auf die sie zweifellos hoffte, fand nie statt. Wozu auch? Da sie es so gut mit Opa meinte, fehlte es ihm an nichts. Aus seiner Sicht war es also völlig überflüssig, eine Frau zu heiraten, von der er auch ohne Trauschein und für ein relativ geringes Gehalt alles bekam, was er sich wünschte.
Eines Tages kam die Nachricht, dass Opa sein Haus aufgeben wolle, um mit seiner Lissi, wie er sie nun nannte, nach Sylt zu ziehen. Dort war schließlich ihre Heimat, in List gab es ein Haus, das genau richtig für Opa und seine Haushälterin war, und da die Familie, wie er spitz anmerkte, sich sowieso nicht um ihn kümmerte, konnte er genauso gut am Ende der Republik wohnen.
Die Verwandten liefen Sturm, weil jeder den Verdacht hatte, dass ihnen Opa genommen werden sollte. Aber die Haushälterin bot allen Verwandten die Stirn, indem sie sie einlud, Opa auf Sylt zu besuchen. Man habe an ein Gästezimmer gedacht, und sie würde ihren Schnüsch gern für jeden kochen, der sie besuchen wolle.
Außer Marlene wollte es niemand. Und sie war auch die Einzige, die Schnüsch, den friesischen Gemüseeintopf, mochte. Zwar waren alle nahen und entfernten Angehörigen einmal auf Sylt erschienen, um sich zu vergewissern, dass Opa sich guter Gesundheit erfreute und zufrieden schien, doch länger als bis zur Abfahrt des nächsten Autozuges hatte niemand bleiben wollen. Opas ältester Sohn überprüfte regelmäßig den Zustand der Konten, aber da es keine dubiosen Abbuchungen gab, setzte sich schließlich die Einsicht durch, dass die Haushälterin es tatsächlich gut mit Opa meinte.
Marlene verbrachte jedes Weihnachtsfest auf Sylt. Ihre Eltern waren in die Schweiz gezogen, und dort mochte sie die Feiertage nicht verbringen, obwohl sie jeden November eine entsprechende Aufforderung erhielt. Nein, das Weihnachtsfest gehörte Opa und Tante Lissi. Sonst kümmerte sich ja niemand um die beiden. Tante Lissi hatte keine nahen Anverwandten, nur einen ungeratenen Neffen, der in Marlenes Familie zusätzlich für Aufregung gesorgt hatte.
»Wahrscheinlich zweigt sie von Opas Geld was ab, um es diesem Nichtsnutz zuzustecken!«
Wann immer Marlene von Sylt zurückkehrte, wurde sie gefragt, ob Lissis Neffe sich etwa auf Opas Kosten in List den Bauch vollgeschlagen habe. Aber Marlene konnte jedes Mal guten Gewissens verneinen. Sie war diesem Eckehard niemals begegnet.
Auch in diesem Jahr hatte sie sämtliche Ermahnungen über sich ergehen lassen müssen und es auch diesmal geschafft, nichts darauf zu entgegnen. Drei Tage vor Heiligabend fuhr sie los und freute sich auf Schnüsch, Kenkentjüch, das friesische Weihnachtsgebäck, und auf lange Abende vor dem Kamin. Natürlich auch auf die Tote Tante, die Opa ihr zu kredenzen pflegte, sobald die Haushälterin schlafen gegangen war.
In Itzehoe gab es einen längeren Aufenthalt, weil dort die Lokomotive gewechselt wurde. Einige Fahrgäste zogen sich die Jacken über und sprangen auf den Bahnsteig, um sich Bewegung zu verschaffen, Marlene verzichtete jedoch drauf. Auch deshalb, weil ihr Handy zu läuten begann, kaum dass der Zug zum Stehen gekommen war.
Tante Lissi war am anderen Ende der Leitung. »Deern, ich hoffe, du bist noch nicht losgefahren.«
»Ich habe einen Zug früher genommen, bin schon in Itzehoe. «
»Ach, du lieber Himmel!« Tante Lissi hatte einen ihrer besten Seufzer ins Telefon gestöhnt. Marlenes Mutter behauptete oft, niemand könne so theatralisch seufzen wie Opas Haushälterin. »Dein Großvater ist so schiet zupass. Den ganzen Tag sitzt er bei Tante Meier. Er hat nicht mal Appetit auf Schnüsch. Und auf die Weihnachtsgans erst recht nicht.«
Marlene war alarmiert. Wenn Opa schiet zupass war, hieß das auf Hochdeutsch, dass es ihm schlechtging. Und Tante Meier war eine friesische Umschreibung für das stille Örtchen, auf das Opa sich zurückgezogen hatte. »Was Ernstes?«, fragte sie besorgt.
Wieder seufzte Tante Lissi. »Der Arzt war gerade da. Er sagt, es sähe nicht gut aus.«
Der scharfe Ecki hatte seinen Namen erhalten, als bekannt wurde, dass er mit Vorliebe bei Gosch die Sorte Bratheringe aß, die dort Scharfe Eddis genannt wurden. Da Ecki in jungen Jahren ein Sonnenanbeter und außerdem lange auf dem Bau beschäftigt gewesen war, hatte seine Haut tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem scharfen Eddi bekommen. Aber davon redete er ungern. Dass aus seinem Namen Eckehard der scharfe Ecki geworden war, wollte er lieber anders erklärt haben. Aber leider sprach sich die wahre Assoziation überall schnell rum.
Er saß mit seinem Freund Jannes in dem kleinen Park gegenüber dem Rathaus, wo es ein paar Bänke unter einem Laubengang gab, der ein wenig vor dem eiskalten Wind schützte. Lieber hätten sie sich in der Nanu-Bar in der Strandstraße einen steifen Grog oder einen Pharisäer genehmigt, aber selbst, wenn sie das Kleingeld, das sich in ihren Taschen gefunden hatte, zusammenlegten, reichte es weder für das eine noch das andere.
»Ich möchte wissen«, klagte Jannes, »warum wir unsere letzte Kohle in eine Busfahrt nach List investiert haben. Mit deiner Tante war ja in diesem Jahr nicht zu reden.«
»Konnte ich ahnen, dass der alte Sack, dem sie den Haushalt führt, ins Gras beißt?« Der scharfe Ecki stand auf, wärmte seine Glieder mit ein paar Schritten und zeigte dann auf die Büste am Eingang des Parks. »Das ist übrigens Heinrich von Stephan. Wusstest du, dass er die Ansichtskarte erfunden hat?«
Jannes war an jeglicher Bildung höchst uninteressiert. »Geh mir weg mit deiner Klugscheißerei. Davon können wir uns nichts kaufen. Glaubst du, ich kann bei Annette unterkriechen, wenn ich kein Weihnachtsgeschenk für sie habe?«
Das war das Problem! Denn Ecki ging es nicht anders. Tante Lissi war eigentlich großzügig. Nicht nur, wenn es um die Kohle des alten Mannes ging, dem sie den Haushalt machte, auch, wenn es um ein warmes Bett ging und diverse gute Mahlzeiten. Aber Weihnachten war schon immer die große Ausnahme gewesen. Dann kam eine Verwandte zu Besuch, da durfte nichts geschehen, was die Angehörigen in ihrem Verdacht bestärkte, die Haushälterin habe etwas anderes im Sinn, als ihrem Arbeitgeber den Lebensabend zu versüßen. Dabei brauchte jeder Mensch gerade kurz vor Weihnachten Kohle! Mehr als sonst! Wer nicht in der Lage war, ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen, verlor auch den Rest seiner sozialen Kontakte. Ecki genauso wie Jannes.
»Sonst hatte sie bis zum vierten Advent immer ein paar Hunderter abgezweigt«, klagte Ecki. »Aber woher sollte Tante Lissi wissen, was nun passiert? Möglich, dass sie erbt, vielleicht sogar alles, aber ...«
»Das wär's noch!«, fuhr Jannes dazwischen. »Dann hätten wir ausgesorgt.«
»... möglich aber auch«, fuhr Ecki fort, »dass nun die Angehörigen einfallen und Tante Lissis Haushaltsbuch genau unter die Lupe nehmen.«
»Dann gibt's nur noch eins«, meinte Jannes und nickte zur anderen Straßenseite hinüber. Dort protzte die Sparkasse mit ihrem Neubau. Viel graues Metall, viel Glas und wenige rote Elemente, die den Kunden heiter stimmen sollten. Jannes gefielen sie nicht. Ecki auch nicht.
Jannes hatte die Gedanken seines Freundes im Nu erraten. »Für so was brauchen wir eine Knarre«, sagte er.
Diesmal nickte Ecki in die Strandstraße, wo es auf der rechten Seite, hinter dem Hotel Stadt Hamburg, einen Spielzeugladen gab. »Wer in die Mündung einer Waffe guckt«, behauptete er, »macht sich keine Gedanken darüber, ob es sich um eine Spielzeugpistole oder eine Smith & Wesson handelt. Und selbst wenn dem Kassierer ein Verdacht kommt ... so sicher ist der sich nie, dass er die Hände unten lässt und den Alarm auslöst.«
Marlene hatte sich Tante Lissis Fahrrad geliehen und war zum Fährhafen geradelt. Sie musste raus, brauchte frische Luft, wollte den Wind in den Haaren und auf der Haut spüren. Eiskalt! So war er genau richtig, wenn er aus lodernder Verzweiflung eine Trauer machen sollte, in der irgendwann die schönen Erinnerungen die Oberhand gewannen.
Sie fuhr auf den Parkplatz, der das Erlebniszentrum der Naturgewalten mit dem Fährhafen und der »nördlichsten Fischbude Deutschlands« verband und während der Weihnachtsfeiertage erstaunlich voll war. Die Weihnachtsflüchtlinge! In guten Restaurants bestellten sie sich die Festmenüs, von denen sie zu Hause nichts wissen wollten, und in der Alten Bootshalle sangen sie Weihnachtslieder, die sie vor Antritt ihrer Syltreise Kitsch genannt hatten und über die sie nach ihrer Rückkehr lachen würden.
Marlene überquerte den großen Platz, hörte den Akkordeonspieler, der im Sommer zwischen den Tischen herumging und zu den Fischgerichten die passenden Seemannslieder servierte. Nun spielte er in der Alten Bootshalle »O du fröhliche«. Und nur diejenigen verzichteten aufs Mitsingen, die den Mund voll hatten.
Marlene ging bis zum Fähranleger, wo es menschenleer war, und hockte sich auf die braungestrichene Bank auf der Rückseite des roten Backsteingebäudes. Die »Lister Rentnerbank«, die Opa immer so gut gefallen hatte. Kaum saß sie dort, wurde sie ruhiger. Während sie die Erinnerung an Opa genoss, konnte sie sogar vergessen, was sie zu hören bekommen hatte, als sie die Angehörigen von Opas Tod verständigt hatte.
»Pass bloß auf die Haushälterin auf! Die schafft was beiseite, bis wir als rechtmäßige Erben auftauchen. Oder ihr sauberer Neffe! Ehe Opa unter der Erde liegt, ist das halbe Haus ausgeräumt. Und wenn wir kommen, heißt es, Opa hätte zu Lebzeiten alles verschenkt.«
Marlene wollte davon nichts hören. »Tante Lissi meint es doch nur gut.«
»Bleib in List, bis wir kommen«, hatte ihr Onkel verlangt. »Und schau der Haushälterin auf die Finger!«
Aber Marlene hatte sich geweigert. Nein, für diese Aufgabe wollte sie sich nicht hergeben. Tante Lissi meinte es gut, das wusste sie genau. Marlene vertraute ihr, wenn sie auch die Einzige der Familie war. Sie würde wieder heimfahren, gleich morgen, einen Tag vor Heiligabend. Weihnachten auf Sylt ohne Opa? Nein, das würde sie nicht ertragen. Neben Tante Lissi weinend vor dem Weihnachtsbaum sitzen? Ausgeschlossen! Opas Haushälterin würde bei Nachbarn unterkommen und Marlene in ihrer Studentenbude allein und mit der Erinnerung an Opa Weihnachten feiern.
»Dir steht was von Opas Erbe zu«, hatte ihre Mutter ins Telefon gerufen. »Nimm mit, was du tragen kannst!«
Aber auch da hatte Marlene sich geweigert. Obwohl ... eine Erinnerung an Opa wünschte sie sich durchaus. Vielleicht eine seiner alten Uhren, die er gesammelt hatte? Die würde sie am Handgelenk tragen, in Ehren halten und somit Opa immer bei sich haben. Das wäre schön. Aber als sie wieder in Opas Häuschen ankam, brachte sie es nicht fertig, Tante Lissi darum zu bitten. Und als sie sich verabschiedete und Opas Haushälterin herzlich umarmte, wusste sie, dass es gar nicht nötig gewesen war.
»Ich habe dir was in deine Reisetasche gepackt«, sagte Tante Lissi und wischte sich über die Augen. »Dein Großvater hätte gewollt, dass du es bekommst.«
Marlene stieg in den Bus, der sie von List nach Westerland bringen sollte, und winkte zu Tante Lissi zurück, bis sie nicht mehr zu sehen war. Während sie die Wanderdünen rechts liegen ließen, dachte sie an ihre Mutter, von der sie ermuntert worden war zu verlangen, was ihr angeblich zustand. »Wer nichts verlangt, bekommt auch nichts.«
Ihre Mutter täuschte sich. Marlene hätte sich viel weniger über das gefreut, was Tante Lissi ihr in die Tasche gesteckt hatte, wenn sie es verlangt hätte. Heute Abend, wenn sie zu Hause angekommen war, würde sie eine Kerze anzünden, das Geschenk aus der Tasche holen und ganz fest an Opa denken, während sie es auspackte. Zwar musste sie, während der Bus durch Kampen fuhr, ihre Neugier niederkämpfen, aber es gelang ihr. Nein, Opas Erbe brauchte einen feierlichen Moment.
Tatsächlich klappte alles reibungslos. Der Kassierer dachte nicht im Traum daran, den Alarmknopf zu drücken, sondern händigte ihnen aus, was sie haben wollten. Kunden waren keine in der Sparkasse gewesen, sie hatten den richtigen Moment abgepasst. Und die Idee, den Kassierer mit seinen beiden Kolleginnen ins Damenklo einzusperren, war auch super gewesen. Als der erste Polizeiwagen durch die City von Westerland jagte, hatten Jannes und der scharfe Ecki sich schon ihrer Strumpfmasken entledigt, den Batzen Geld in eine unauffällige Plastiktüte gesteckt und hielten sich gegenseitig davon ab, wie zwei flüchtige Bankräuber Richtung Bahnhof zu hetzen.
»Ruhig, ganz ruhig«, sagte Ecki immer wieder, wenn Jannes sich nervös umsah. »Bloß nicht auffallen!«
Sie benutzten den Fußgängerüberweg am Kaufhaus Jensen und brachten es fertig, vor dem Buchladen Becher stehen zu bleiben und sich dort unauffällig umzublicken. Folgte ihnen jemand? Nein, es gab nichts im Straßenbild, was ihre Besorgnis erregte.
»Jetzt muss nur noch der Zug pünktlich sein«, flüsterte Jannes. »Dann fahren wir schon über den Hindenburgdamm, wenn auf der Insel die Suche nach den beiden Bankräubern beginnt.«
Der scharfe Ecki wagte sogar ein kleines Grinsen. »Und morgen kommen wir zurück, mit einem Sack voller Geschenke. Und dann wird Weihnachten gefeiert.«
Als sie an den grünen Reisenden Riesen im Wind vorbeigingen und auf den Eingang des alten dunklen Bahnhofsgebäudes zusteuerten, fühlten sie sich bereits sicher. Die Polizei würde die ganze Insel durchkämmen, aber nicht auf die Idee kommen, dass die beiden draufgängerischen Bankräuber sich ganz cool in den Zug setzten und gemütlich durchs Watt kutschieren ließen.
Doch wenn sie bis dahin ihren Plan für genial gehalten hatten, so wurden sie kurz darauf eines Besseren belehrt. Den Reisenden, die auf dem Bahnsteig von einem Bein aufs andere traten, war es anzusehen: Der Zug hatte Verspätung.
»Verdammter Mist!«, fluchte Jannes leise. »Wir müssen von der Insel runter.«
»Schnauze!«, zischte der scharfe Ecki. Und als er den Streifenwagen vor dem Bahnhof vorfahren sah, noch einmal: »Schnauze!«
Tatsächlich sah Jannes nun davon ab, sich seine Angst laut und deutlich von der Seele zu schimpfen, aber er blickte den beiden Polizisten, die aus dem Streifenwagen kletterten, derart panisch entgegen, dass auch dem dümmsten Ordnungshüter, der bis dahin nur Ladendiebstähle an der Kurpromenade aufgeklärt hatte, ein böser Verdacht kommen musste.
Ecki stieß seinen Kumpel unauffällig in die Seite. »Wir gehen in den Bahnhofskiosk und schauen uns nach Reiselektüre um«, sagte er und schob Jannes vor sich her. Um ihm zu zeigen, wie cool sich ein versierter Bankräuber zu benehmen hatte, schaukelte er die Plastiktüte mit der Beute hin und her, als enthielte sie nur Schmutzwäsche oder ein paar Sylt-Andenken.
Der Laden, der Zeitschriften, Souvenirs, Bücher und Sylt- Literatur führte, war nicht nur von der Bahnhofshalle zu betreten, sondern auch vom Bahnsteig. »Wir schauen uns jetzt ein bisschen bei den Zeitschriften um«, sagte der scharfe Ecki. »Und vorsichtshalber versteckst du deine Visage dabei.«
»Wieso?«, jammerte Jannes. »Der Kassierer hat unsere Gesichter doch gar nicht gesehen.«
»Sicher ist sicher!« Ecki schob Jannes durch die Tür und dachte nicht mehr daran, die Plastiktüte sorglos zu schwenken.
Sie waren nicht die Einzigen, die die verzögerte Abfahrt des Zuges nutzten, indem sie nach Reiselektüre Ausschau hielten. An dem Tisch mit den Sylt-Krimis war viel los, und der scharfe Ecki kam zu dem Schluss, dass der Einzelne im Gedränge weniger auffi el als dort, wo er allein war. Er schob sich also neben ein junges Mädchen, das in einem Buch blätterte. Ihre Reisetasche hatte sie auf den Boden gestellt. Mit offenem Reißverschluss! Hätte Ecki nicht gerade Probleme genug, wäre er dieser Einladung garantiert gefolgt. Wie leichtsinnig manche Leute waren! Eine kleine Rempelei, ein Stolpern, ein Bücken zum Schnürsenkel, und schon hätte die Geldbörse, die Ecki gut erkennen konnte, den Besitzer gewechselt. Aber er bezähmte sich. Nein, man durfte das Glück nicht herausfordern.
Jannes' Blick wurde plötzlich starr, der Sylt-Kalender, den er in der Hand hielt, begann zu zittern. Der scharfe Ecki wusste sofort, was Sache war. Auf dem Bahnsteig gingen zwei Polizisten von einem männlichen Reisenden zum anderen, und dort, wo zwei zusammenstanden, ließen sie sich den Inhalt des Reisegepäcks zeigen. Verdammt, sie rechneten damit, dass die Bankräuber den nächsten Zug zur Flucht aufs Festland nahmen!
Ecki ließ die beiden Beamten nicht aus dem Auge. Vielleicht würden sie sich gleich in den Streifenwagen setzen und woanders ihre Suche nach den Bankräubern fortsetzen.
Aber er hoffte vergeblich. Alle männlichen Reisenden waren angesprochen worden, sogar diejenigen, die in weiblicher Begleitung waren. Nun kamen die Beamten auf den Eingang des Zeitungskiosks zu. Auch hier würden sie sich an alle Männer wenden. Was tun?
Die rettende Idee kam Ecki, als sich die beiden Hälften der automatisch öffnenden Tür bereits trennten. Blitzartig ließ er die Plastiktüte in die Reisetasche der jungen Frau fallen. Dann zog er den Reißverschluss zu und tadelte lächelnd: »Man sollte sein Gepäck verschlossen halten. Taschendiebe sind überall.«
Die junge Frau bedankte sich, dann traten die beiden Polizisten auf Ecki und Jannes zu. »Ihr Gepäck?«
Ecki antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: »Wir haben keins. War ja nur ein Tagesausflug nach Sylt. Herrlich, die Weihnachtsbeleuchtung auf der Friedrichstraße!«
Der ältere der beiden Beamten schien Erfahrung mit den Gesichtern von Galgenvögeln zu haben. »Sind Sie mit einer Leibesvisitation einverstanden? Wenn nicht, müsste ich Sie bitten, mit mir ins Revier zu kommen.«
»Selbstverständlich!«, rief Ecki und breitete die Arme aus, um sich abtasten zu lassen.
Jannes verhielt sich genauso entgegenkommend, und ein paar Minuten später galten sie als untadelige Zeitgenossen. Die Polizisten waren sogar so freundlich, ihnen zu erklären, warum sie zu diesen Maßnahmen gezwungen waren. »Ein Raubüberfall auf die Sparkasse Westerland - zwei Männer. Da werden Sie verstehen ...«
Jannes und der scharfe Ecki verstanden vollkommen. Sie waren diejenigen, die am lautesten die Schlechtigkeit der Welt beklagten, und Jannes ließ sich sogar dazu hinreißen, die Todesstrafe für Bankräuber zu fordern.
Dann fuhr der Zug ein, und Jannes und Ecki drängten sich mit allen anderen Fahrgästen zu den Wagen der zweiten Klasse. »Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren«, flüsterte der scharfe Ecki. »Ich lenke sie ab, und du klaust ihr dann die Tasche.«
»Und wenn sie Zeter und Mordio schreit?«
»Wir machen es kurz vor dem nächsten Halt. Bis sie was merkt, sind wir mit ihrer Tasche schon aus dem Zug und weg.«
Marlene gab nun besonders gut auf ihre Tasche acht. Der nette Herr im Zeitungskiosk hatte recht gehabt. Es war leichtsinnig, den Reißverschluss der Tasche geöffnet zu lassen. Schließlich gab es darin etwas, was ihrem Opa gehört hatte und ihm sehr wichtig gewesen war. Sie setzte die Tasche auf ihre Knie und umschlang sie mit beiden Armen. Es war ihr, als hielte sie Opa ein letztes Mal im Arm. Kein einziges Mal stellte sie die Tasche zur Seite. Opa festhalten! So lange, bis sie seinen Tod verstanden und akzeptiert hatte, so lange, bis sie in Händen hielt, was er ihr hinterlassen hatte.
Leider konnte sie während der Rückfahrt nicht in Ruhe an Opa denken. Ein ständiges Hin und Her war um sie herum, sie wurde oft gestört. Im Gang stolperte ein Mann und hielt sich ausgerechnet an ihrer Tasche fest, die beinahe zu Boden gefallen wäre, wenn Marlene nicht so gut auf sie achtgegeben hätte. Als sie die Tasche kurz vor Niebüll für einen Augenblick neben ihre Füße stellte, um sich die Nase zu putzen, griff jemand danach, der sie angeblich mit seiner eigenen Reisetasche verwechselt hatte. Auf dem Weg zur Zugtoilette riss dann der Riemen ihrer Tasche, der sogar so aussah, als wäre er durchschnitten worden. Und der Mann, der sich anbot, die Sache zu reparieren, lief so schnell mit der Tasche davon, dass sie Mühe hatte nachzukommen. Doch sie war flotter auf den Beinen, verlangte die Tasche zurück und verzichtete auf die Reparatur. Beim Umsteigen wurde sie dann sogar von hinten angerempelt, so dass sie strauchelte und ihr die Tasche entglitt. Aber zum Glück war der Zugführer sofort zur Stelle, der ihr die Tasche zurückgab, ehe ein Mann sie ergreifen und mit ihr flüchten konnte.
Marlene war froh, als sie heile zu Hause angekommen war und der Inhalt ihrer Tasche keinen Schaden genommen hatte. Es war kalt in ihrer Wohnung. Sie drehte alle Heizungen auf, machte sich außerdem einen Glühwein, holte eine Tafel Schokolade aus dem Schrank, zündete eine Kerze an und setzte sich dann gemütlich ins Wohnzimmer. Genau in den Sessel, von dem aus sie das gerahmte Foto ihres Großvaters im Blick hatte.
Eine halbe Stunde später rief sie ihre Eltern und auch alle anderen Anverwandten an und forderte sie auf, sich bei Tante Lissi zu entschuldigen. Nun mussten es alle einsehen. Opas Haushälterin meinte es wirklich nur gut.
Am zweiten Feiertag saßen sie im Kliffkieker von Wenningstedt und starrten aufs Meer hinaus.
»Scheißweihnachten«, sagte Jannes. »Annette hat mir den Laufpass gegeben.«
»Sieh es positiv«, meinte der scharfe Ecki. »Immerhin sucht die Polizei die beiden Bankräuber bis heute vergeblich.«
»Was hat dieses Mädchen wohl mit der Kohle gemacht?«, fragte Jannes.
»Wahrscheinlich in Schuhe investiert.«
»Oder zur Polizei gebracht?«
»Nur, wenn sie komplett dämlich ist«, maulte der scharfe Ecki. »Verdammt! Zu blöde aber auch, dass wir türmen mussten, als der Zugführer misstrauisch wurde.«
Jannes nickte deprimiert. »Und dass wir sie dann aus den Augen verloren haben ...«
Der Geschäftsführer des Kliffkiekers hatte sich entschlossen, für die Weihnachtsgäste, die Trübsal bliesen, einen Fernseher aufzustellen. Irgendein Regionalprogramm lief, mit Kinderchören, bärtigen Männern, die von Weihnachtserlebnissen aus ihrer Kindheit erzählten, und schönen Frauen, die für die Moderation zuständig waren und mit überschlagender Stimme von einer Begeisterung zur anderen taumelten. »Und nun das rührendste Weihnachtswunder dieses Jahres!«
Ecki stieß seinen Kumpel an und nickte zum Fernseher. Sein Mund stand offen, er war so aufgeregt, dass er beinahe sein Bier umgekippt hätte. »Sieh dir das an! Kennen wir die nicht?« »Marlene!«, jubelte die Moderatorin. »Erzählen Sie von dem Wunder, das Ihnen widerfahren ist!«
Die junge Frau schaute verlegen in die Kamera, und als sie vom Tod ihres Großvaters erzählte, wurden ihre Augen feucht. Dass ihr Opa sie geliebt hatte, das habe sie gewusst, erzählte sie. Dass sie seine wertvollste Uhr bekommen habe, sei keine große Überraschung gewesen, aber dass er für sie ein Vermögen zusammengetragen hatte, davon habe sie keine Ahnung gehabt. »Er muss es sich vom Munde abgespart haben.« Nun hielt sie einen symbolischen Scheck in die Kamera. »Eine halbe Million! Ich möchte sie nicht für mich behalten, sondern der Sylter Tafel spenden. Mein Opa hatte immer ein Herz für Menschen, denen es nicht so gutging wie ihm.«
Die Moderatorin wies sie dezent darauf hin, dass sie das Geld auch hätte behalten können. Aber die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Geld glücklich macht.« Zwei Minuten später wurden Jannes und der scharfe Ecki an die Luft gesetzt. Der Wirt des Kliffkiekers hatte ja während der Weihnachtstage schon viel Frust erlebt, aber dass jemand seine Weihnachtserinnerungen verarbeitete, indem er das Mobiliar einer Gaststätte zerschlug, das war ihm wirklich noch nie vorgekommen.
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Autoren-Porträt von Susanne Mischke, Ingrid Noll, Tatjana Kruse, Sabine Thomas, Friedrich Ani, Helga Beyersdörfer, Nicola Förg, Nina George, Sandra Lüpkes, Wolfgang Schorlau
Friedrich Ani wurde 1959 in Kochel am See geboren. Er schreibt Romane, Kinderbücher, Gedichte, Hörspiele, Drehbücher und Kurzgeschichten. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet: Als bisher einziger Autor erhielt Ani den Deutschen Krimipreis in einem Jahr für drei Süden-Titel gleichzeitig. 2010 folgte der Adolf-Grimme-Preis für das Drehbuch nach seinem Roman "Süden und der Luftgitarrist". 2011 wurde der Roman "Süden" mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, ebenso wie 2014 sein Roman "M", der wochenlang auf der KrimiZEIT-Bestenliste stand. Friedrich Ani ist Mitglied des Internationalen PEN-Clubs und lebt in München. Helga Beyersdörfer studierte in Frankfurt a. M., bevor sie eine Ausbildung zur Journalistin absolvierte. Sie arbeitete als Redakteurin bei der "Frankfurter Rundschau", beim Zeit-Magazin, beim "Stern" und bei Sat.1. Helga Beyersdörfer lebt in Hamburg und Berlin. Bei Knaur veröffentlichte sie u. a. die erfolgreichen Worpswede-Romane "Moornächte" und "Irrlichter". Richard Birkefeld, 1951 in Hannover geboren, Historiker und Politologe, arbeitete am Institut für Bau- und Kunstgeschichte und am Historischen Seminar der Universität Hannover, im Historischen Museum Hannover und in verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Er veröffentlichte zahlreiche Texte zur Stadtgeschichte im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Seit 2003 schreibt Birkefeld Kriminalromane und Kurzgeschichten. Gleich sein erster Roman "Wer übrig bleibt, hat recht" (zusammen mit G. Hachmeister) wurde 2003 mit dem Deutschen Krimipreis und dem Friedrich-Glauser-Preis für das beste Debüt ausgezeichnet. Birkefeld lebt heute als freier Autor in Hannover. Wolfgang Burger lebt und schreibt in Karlsruhe und Regensburg. Er promovierte an der Universität Karlsruhe (TH) zum Dr.-Ing. und war dort 35 Jahre lang als Akademischer Angestellter in leitenden Positionen tätig. Seit 1995 ist er schriftstellerisch tätig. Die Gesamtauflage seiner Romane beträgt weit über
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600.000 Exemplare. Viele davon standen über Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Petra Busch, geboren 1967 in Meersburg, ist freie Schriftstellerin sowie Texterin für internationale Kunden aus Wissenschaft, Technik und Kultur. Sie studierte Mathematik, Informatik, Literaturgeschichte und Musikwissenschaften und promovierte in Mediävistik. Für ihren Kriminalroman »Schweig still, mein Kind« erhielt sie den renommierten Friedrich-Glauser-Preis für das beste Debüt des Jahres 2010. Sie lebt im Nordschwarzwald.Mehr zur Autorin unter www.petra-busch.de. Romy Fölck wurde 1974 in Meissen geboren und arbeitete nach ihrem Jurastudium zehn Jahre in einem grossen Unternehmen. Mittlerweile lebt sie als freie Autorin in einem Haus in der Elbmarsch bei Hamburg. Sie arbeitet an ihrem vierten Kriminalroman und schreibt regelmässig Geschichten für Anthologien und Zeitschriften. Romy Fölck ist Mitglied im Syndikat. Nicola Förg hat mittlerweile 21 Kriminalromane verfasst und an zahlreichen Anthologien mitgewirkt. Zuletzt erschien ihr erster Weihnachtsroman »Das Winterwunder von Dublin« (Piper). Ihre zwei Krimiserien spielen im Voralpenland und an alpinen Tatorten. Förgs Bücher wurden mehrfach für das Engagement im Tier- und Umweltschutz ausgezeichnet. Die gebürtige Oberallgäuerin lebt mit Familie sowie Ponys, Katzen, Hunden und anderem Getier auf einem Hof in Prem am Lech. Christiane Franke lebt gern an der Nordsee, wo ihre bislang 16 Romane und ein Teil ihrer kriminellen Kurzgeschichten spielen. Franke war 2003 für den Deutschen Kurzkrimipreis nominiert und erhielt 2011 das Stipendium der Insel Juist »Tatort Töwerland«. Neben ihrer Wilhelmshavener Krimi-Serie, die im Emons-Verlag erscheint, schreibt sie gemeinsam mit Cornelia Kuhnert für den Rowohlt Verlag eine humorige Krimireihe. Die mehrfach ausgezeichnete internationale Bestsellerautorin Nina George, geboren 1973 in Bielefeld, schreibt seit 1992 Romane, Sachbücher, Essays, Reportagen, Kurzgeschichten, Blogs und Kolumnen. Ihr Roman Das Lavendelzimmer wurde in 36 Sprachen übersetzt und eroberte weltweit die Charts, so etwa die New York Times-Bestsellerliste in den USA. Mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Jens J. Kramer, schreibt Nina George als Jean Bagnol Provencethriller. Sie lebt in Berlin und in der Bretagne. Seit Juni 2019 ist Nina George Präsidentin des European Writers' Council, dem Dachverband von 40 europäischen Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverbänden. Thomas Kastura, geboren 1966 in Bamberg, lebt ebendort mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Er studierte Germanistik und Geschichte und arbeitet seit 1996 als Autor für den Bayerischen Rundfunk. Zahlreiche Erzählungen, Jugendbücher und Kriminalromane, u. a. »Der vierte Mörder« (2007 auf Platz 1 der KrimiWelt-Bestenliste). Die britische Küste, vor allem dort, wo sie am einsamsten und gefährlichsten ist, dient Thomas Kastura immer wieder als Inspiration.
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Susanne Mischke , Ingrid Noll , Tatjana Kruse , Sabine Thomas , Friedrich Ani , Helga Beyersdörfer , Nicola Förg , Nina George , Sandra Lüpkes , Wolfgang Schorlau
- 2012, 6. Aufl., 336 Seiten, 1 Schwarz-Weiss-Abbildungen, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Johannes Engelke
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426512777
- ISBN-13: 9783426512777
- Erscheinungsdatum: 25.09.2012
Rezension zu „24 Weihnachtskrimis / Glöckchen, Gift und Gänsebraten “
"Die Geschichten machen definitv Appetit auf mehr. (...) Jede Geschichte hat ihren eigenen Charme, ihre eigene Spannung. Der Reiz liegt aber auch in den unterschiedlichen Tatorten und den Stilarten der Autoren." www.muensterlandzeitung.de 20121122
Pressezitat
"Die Geschichten machen definitv Appetit auf mehr. (...) Jede Geschichte hat ihren eigenen Charme, ihre eigene Spannung. Der Reiz liegt aber auch in den unterschiedlichen Tatorten und den Stilarten der Autoren." www.muensterlandzeitung.de 20121122
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