NUR HEUTE: 12%¹ Rabatt + GRATIS-Versand! Gleich Code kopieren:

 
 
Merken
Merken
 
 
lieferbar
versandkostenfrei

Bestellnummer: 140644902

Hörbuch (CD) Fr. 24.90
inkl. MwSt.
Dekorierter Weihnachtsbaum
In den Warenkorb
Sortiert nach: relevanteste Bewertung zuerst
Filtern nach: alle
  • 5 Sterne

    Tanja P., 14.03.2022

    Held wider Willen

    Im November 2019 ist Michael Hartung selbst der beste Kunde seiner Videothek, ausser ein paar Nachbarn leiht schon lange keiner mehr DVDs aus. Vorher war er Stellwerker bei der S-Bahn, Baggerfahrer im Tagebau, Vertriebsmitarbeiter einer Satellitenschüssel-Firma und hat C-Netz-Telefone verkauft – eine typische DDR- und Nachwendekarriere.
    Da taucht Alexander Landmann vom Nachrichtenmagazin Fakt bei ihm auf und will ein Interview zum 30. Jahrestag des Mauerfalls machen. Er hat in einem Stasi-Archiv eine Akte ausgegraben, nach der Hartung am 02.07.1983 am Bahnhof Friedrichstrasse eine S-Bahn in den Westen umgeleitet und damit 127 DDR-Bürgern die Flucht ermöglicht hat. „Sie, Herr Hartung, haben die Weiche gestellt, die den Zug der Geschichte in die Zukunft fahren liess.“ Und obwohl Hartung ihm erklärt, dass es nur eine Verkettung widriger Umstände war, überzeugt Landmann ihn mit viel Geld, dass er den Artikel schreiben darf. Keiner von ihnen rechnet damit, dass sie dadurch über Nacht berühmt werden. Hartung ist plötzlich ein Held und Landmann wird endlich Chefredakteur.
    Doch die Geschichte verselbständigt sich, Hartung wird ins Radio und Fernsehen eingeladen, ein Verlag lässt Landmann ein Buch über die Massenflucht schreiben, das auch noch verfilmt werden soll. Und als Krönung soll Hartung am beim offiziellen Festakt zum Mauerfall am 9. November eine Rede im Bundestag halten. Während Landmann jubiliert und immer mehr Geld für sie beide scheffelt, versucht Hartung verzweifelt, der Medienmaschinerie wieder zu entkommen …

    Maxim Leo erzählt die Geschichte eines absoluten Antihelden, der mir in seiner Hilflosigkeit, Beeinflussbarkeit und Lebensuntüchtigkeit ans Herz gewachsen ist. Bei Hartung geht immer alles schief: Die Massenflucht war nicht geplant, als Strafe wurde er in den Tagebau abgeschoben, nach der Wende hat ihn seine Partnerin mit der gemeinsamen Tochter verlassen und Landmanns Artikel sollte ihm nur ein bisschen Geld einbringen, damit er seine Videothek noch ein paar Monate vor der Pleite retten kann. Doch dann geht die Geschichte viral, jeder sieht etwas in ihm, überträgt seine Erwartungen, Erfahrungen und Erinnerungen auf ihn. Und je öfter Hartung die Geschichte erzählen muss, um so mehr glaubt er sie selber, die kleinen Lügen, die beschönigten Wahrheiten – sie kommen ihm realer vor als das, was wirklich passiert ist. Dabei hat er sie zum Teil noch nicht mal selbst erfunden – das war Landmann. Immer öfter hofft er, dass ihn jemand durchschaut damit endlich Schluss ist. Und dass er jemanden hat, mit dem er sein Geheimnis teilen kann.
    Dieser Jemand könnte Paula sein, die eines Tages in seinem Laden steht. Sie sass damals in der S-Bahn und wollte mit ihren Eltern an die Ostsee fahren. Aber sie sind in den falschen Zug gestiegen und im Westen gelandet. Das Trauma hat sie nie richtig verarbeitet. „Dieser Bahnhof ist mir unheimlich geblieben, als könnte man hier immer wieder, ohne es zu wollen, von einem Leben in ein anderes rutschen.“ Hartung und Paula verlieben sich, aber die Lüge steht zwischen ihnen …

    Maxim Leo hält uns einen Spiegel vor. Wer von uns würde seine Vergangenheit nicht beschönigen, wenn uns daraus Vorteile erwachsen und wir unsere Gegenwart und Zukunft massgeblich verbessern könnten? So wie Hartung, der sich von seinem Erfolg mitreissen lässt, die Aufmerksamkeiten geniesst, den schnellen Ruhm, das Geld. Und dann kann er irgendwann nicht mehr zurück.

    Der Autor spielt gekonnt mit den Vorurteilen und Unterschieden zwischen Ost und West, mit dem Verhalten der Medien, die sich ohne einen Hintergrund-Check sofort auf den neuen Helden stürzen, alle etwas vom grossen Kuchen abhaben wollen. Er schreibt sehr ehrlich, plakativ und sarkastisch, lässt Hartung in seiner Hilflosigkeit unfreiwillig komisch wirken.

    Peter Kurths Stimme verkörpert Hartung perfekt. Ich sehe einen mittelalten Mann vor meinem inneren Auge, der schon viel erlebt hat. Zu Beginn klingt dessen Stimme leidenschaftslos, er hat sich längst mit seinem Versagen abgefunden. Doch mit dem zunehmenden Erfolg wird er hoffnungsvoller, fast schon euphorisch und dann panisch, weil er nicht mehr weiss, wie er da wieder rauskommt.

    „Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse“ hat mich an meine Kindheit und Jugend in der DDR und die Nachwendezeit erinnert. Er regt zum Nachdenken an, was ist wahr und was beschönigt, wie gehen wir mit unseren Wahrheiten bzw. Erinnerungen um, denn „Wir legen uns … selbst die Vergangenheit zurecht!“ …

    War dieser Kommentar für Sie hilfreich?

    ja nein
  • 5 Sterne

    Claudia S., 22.03.2022

    Die Wahrheit aus den Akten und die Wahrheit aus dem Leben

    Michael Hartung lebt im Grunde so vor sich hin. Recht ziellos, von einem Tag auf den anderen, nicht wirklich erfolgreich und ein bisschen verloren. Irgendwie klappt nie etwas, das er anfängt. Kein Wunder also, dass er noch immer an seiner Videothek festhält, obwohl längst kaum Umsatz damit zu machen ist, weil alle Welt Filme streamt. Auch kein Wunder, dass er die Miete nicht zusammenbekommt. Und wenn dann ein Journalist auf der Suche nach einer guten Story zum 30. Jahrestag des Mauerfalls Michael quasi die Lösung all seiner Probleme aufdrängt, dann, ja dann … ergreift Michael diese Chance. Dass das nicht wirklich gutgehen kann, ist ihm klar, aber was hat er schon zu verlieren?

    Michael Hartung ist das, was man bei uns eine „verkrachte Existenz“ nennt. Super sympathisch im Grunde, aber auch an seiner Lage selbst schuld. Wer es sich immer bequem macht, der kommt eben zu nix. Aber dennoch mag man ihn irgendwie. Und ganz ehrlich, wenn es einem so leicht gemacht wird, einige Probleme auf einmal loszuwerden, ein bisschen zu glänzen und der erwachsenen Tochter die Chance zu geben, stolz auf sich zu sein, dann, ja dann … nutzt man das!

    Ich hätte unseren Helden öfter mal gern geschüttelt, aber gleichzeitig auch wie ein kleines Kind schützen wollen und ihm helfen, endlich in die Puschen zu kommen. Nach und nach erfährt man nicht nur, was 1983 passiert ist – laut Akten und der Wahrheit -, sondern auch, wie Michael wurde, wie er ist. Böse sein kann man ihm nicht wirklich!

    Die Story entwickelt sich wunderschön bildhaft. Viele kleine Ursachen, die sich auswachsen und kleine, mittlere und grosse Lawinen auslösen, sind nicht nur amüsant, sondern regen auch zum Nachdenken an. Der Mensch sieht eben, was er gern sehen möchte. Die Wahrheit dahinter sieht fast immer völlig anders aus. Genau das stellt man hier fest – und zwar in ganz grossem Masse. Aber auch, dass alles seinen Weg geht, ganz gleich, was passiert. Hartungs grosse Liebe, der er irgendwie sein ganzes Leben lang nachhing, hat sein Leben auf völlig andere Weise verändert, als er selbst zunächst und lange Jahre dachte.

    Die Folgen, die der Zeitungsartikel hatte, sind nicht nur für Hartung grösser, als erwartet. Auch der Journalist erkennt, wohin ihn sein Eifer und sein Wunsch, gross herauszukommen, hingebracht haben. Für beide geht es irgendwann darum, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommen darf und sie ihr Konstrukt aufrecht erhalten müssen. Immerhin ist ein Teil davon ja wahr! Und nicht nur die beiden sind darauf bedacht. Köstlich, wie nach und nach alles weite Kreise zieht, wie bei einem Stein, den man ins Wasser wirft und der das Wasser immer mehr nach allen Seiten verdrängt.

    Für Moralapostel dürfte diese Story eine Katastrophe sein. Für Menschen, die feinen Humor lieben, ist sie grossartig. Durchzogen wird die Geschichte aber auch mit ganz vielen goldenen Fädchen der Liebe. Da ist die verflossene Liebe, die unter keinem guten Stern stand. Da ist die Liebe zum eigenen Kind. Da ist die Liebe zum Leben. Und da ist die wahre Liebe, die zarte Liebe, die aufkeimende Liebe. Und sogar die Liebe zur Wahrheit.

    Sehr schön hier ist auch, dass man selbst erkennt, wie leicht man sich ein falsches Bild macht. Und wie schwer es ist, das zuzugeben und dann zur neuen Sicht zu stehen. Die Figuren sind allesamt nicht makellos, nicht fehlerfrei, nicht perfekt. Gerade das macht sie allesamt liebenswert. Vor allem entwickelt man sich selbst quasi mit ihnen zusammen weiter. Wow!

    Ich bin kein Fan der immer wieder aufflackernden Ost-West-Geschichten. Aber diese hier hat mich komplett abgeholt, denn sie ist einfach anders. Sie handelt nicht nur von der DDR, der Stasi, den Fluchthelfern, sondern ist Sinnbild für so viele andere Momente in jedem Leben. Es kommen viele Dinge zusammen, um jemanden zum Helden zu machen. So auch hier. Und ja, Hartung ist ein Held. Aber auf so völlig andere Art, wie er selbst dachte und wie der Rest der Welt dachte. Klischees und Gerüchte – das Leben ist voll davon. Das ist so herrlich schön herausgearbeitet, dass es fünf Sterne verdient!

    War dieser Kommentar für Sie hilfreich?

    ja nein