»Das musst du erzählen« / Ullstein eBooks (ePub)
Erinnerungen an Willy Brandt
Auf dem Sterbebett von seinem Sohn Lars gefragt, wer seine Freunde gewesen seien, antwortete Willy Brandt: »Egon.« Tatsächlich war Egon Bahr jahrzehntelang Brandts engster politischer und persönlicher Weggefährte. In "Das musst du erzählen" schildert er...
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Produktinformationen zu „»Das musst du erzählen« / Ullstein eBooks (ePub)“
Auf dem Sterbebett von seinem Sohn Lars gefragt, wer seine Freunde gewesen seien, antwortete Willy Brandt: »Egon.« Tatsächlich war Egon Bahr jahrzehntelang Brandts engster politischer und persönlicher Weggefährte. In "Das musst du erzählen" schildert er erstmals seine ganz persönlichen Erinnerungen an den grossen Sozialdemokraten und die gemeinsamen Jahre - ein intimes Porträt Brandts und ein Zeitzeugnis ersten Ranges.
Lese-Probe zu „»Das musst du erzählen« / Ullstein eBooks (ePub)“
»Das musst du erzählen« Erinnerungen an Willy Brandt von Egon Bahr Vorbemerkung
Willy Brandt hat in seinen »Erinnerungen« bewusst weiße Flächen gelassen: »Das musst du erzählen.« Sein Vertrauensbeweis galt für die Ost- und Entspannungspolitik. Ich bin dem in dem Buch »Zu meiner Zeit« nachgekommen. Nun nutze ich die Gelegenheit, Geschichte und Geschichten zu reflektieren und zu schildern, wie aus Zusammenarbeit eine Freundschaft geworden ist, die mich über seinen Tod hinaus begleitet.
Das Leben lässt im Laufe der Jahre Einzelheiten verschwinden, die hierher gehören würden. Das Gedächtnis hat andererseits Schlüsselerlebnisse und Formulierungen in Momentaufnahmen bewahrt, die unverlierbar geworden sind.
Nähe erlaubt Einblicke in Persönlichstes, das nur so weit berührt werden darf, um eine Freundschaft zu illustrieren. Das verlangt der Respekt vor Lebenden und Toten.
Auftakt
Wir wussten beide: Es ist das letzte Mal, dass wir uns sehen und sprechen. Die Leidenschaften dieser Welt hatte er hinter sich gelassen, Triumph und Verletzungen erreichten ihn schon nicht mehr. Seine letzten, sehr persönlichen Worte bewahre ich. Sie sind sein Geschenk, das Bewunderung auslöst, mit welcher Würde er dem Ende gegenübersteht. An der Tür drehe ich mich noch einmal um. Wir winken uns zu.
Danach fühle ich mich allein und leer.
... mehr
Es mag eine Woche später gewesen sein, als ich einen handschriftlichen Brief von Lars Brandt erhalte. Er habe sich von seinem Vater, wie es sich gehöre, verabschiedet und zuletzt, schon an der Tür, noch gefragt: »Wer waren deine Freunde?« Willy habe geantwortet: »Egon.« Das ermutigt mich zwanzig Jahre danach zu dem Versuch, die Summe meiner Erinnerungen zu erzählen.
TEIL 1 - BERLIN
Vorlauf
Wann ich den Namen Willy Brandt zum ersten Mal gehört habe, weiß ich nicht mehr. Wann und wo ich ihn zum ersten Mal gesehen und gesprochen habe, gibt das Gedächtnis nicht mehr her. Aufregend kann die Begegnung nicht gewesen sein. In der unmittelbaren Nachkriegszeit konnte Brandt als Mitglied der norwegischen Militärmission für mich gar nicht auftauchen.
Im Sommer 1945 hatte mich in Berlin das Vertrauen beeindruckt, mit dem Jakob Kaiser, Vorsitzender der CDU in der sowjetisch besetzten Zone und Berlin, von Plänen erzählte, zusammen mit Karl Arnold in Nordrhein-Westfalen und Josef Müller, dem »Ochsensepp« in München, Adenauer zu entmachten. »Adenauer, dieser Separatist, darf nicht die ganze CDU in die Hand bekommen.« Nun saß er 1949 im ersten Kabinett Adenauers in Bonn, mahnte als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, die Überwindung der deutschen Teilung nicht zu vergessen, und versuchte, mit dem Arbeitnehmerflügel seiner Partei eine bescheidene Hausmacht zu organisieren.
Als Korrespondent des RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) seit 1949 in Bonn, unterhielt ich wie andere Journalisten Kontakte zu führenden Persönlichkeiten der Parteien im Bundestag. In einem Montagskreis, den ich mit Kollegen gegründet hatte, diskutierten wir sehr offen (die versprochene Diskretion hielt) mit den wichtigen Herren - Damen waren politisch noch kaum präsent - aus allen Parteien. Adenauer lud zum Kanzler-Tee ins Palais Schaumburg. In unserem Kreis bezeichneten wir Jakob Kaiser als »Kaiser ohne Reich«, bis 1955 Respekt den achtungsvollen Spott ablöste. Der Minister hatte gegen seinen Kanzler, der mit Paris das Europäische Saarstatut vereinbart hatte, ziemlich offen agitiert und den Wahlkampf gegen das Statut finanziert. Er »gewann«: Mit fast 68 Prozent stimmten die Saarländer für den Beitritt zur Bundesrepublik.
Bonn zeigte sich als gemütliches Städtchen. Fast entrüstet reagierte die Wirtin, bei der ich ein möbliertes Zimmer mietete, auf meine Frage, ob sie sich nicht freue, dass Bonn nun die provisorische Hauptstadt sei: »Natürlich nicht! Man kann ja nicht einmal mehr über die Straße gehen, ohne sich umsehen zu müssen, ob ein Auto kommt.«
Aus Berlin kannte ich den Chefredakteur des französisch lizensierten Kurier, Paul Bourdin. Er sympathisierte mit der Neigung des Kanzlers zu Frankreich und glänzte als Sprecher der Bundesregierung. Eines Morgens rief er mich an und berichtete schockiert, er habe Adenauer gestern Abend nach Rhöndorf begleitet. »Es gibt keine Zweifel: Der alte Herr will die Einheit gar nicht.« Ihm bleibe nur der Rücktritt, weil er täglich das Gegenteil verkünden müsse. Nach drei weiteren Wochen artistischer verbaler Verrenkungen trat er zurück. Das wurde ein Schlüsselerlebnis für meine Gegnerschaft zu Adenauer. Mir wurde zunehmend bewusst, dass er und Walter Ulbricht im Grunde kongenial waren. Jeder der beiden wollte seinen Landesteil sichern und sein Gewicht im jeweiligen Lager, ob Ost oder West, erhöhen. Und jeder erwies sich als die in seinem Teilstaat stärkste Persönlichkeit, die die politische Szenerie beherrschte. Das galt im Falle Adenauers auch gegenüber Schumacher.
Den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher hatte ich bewundert, als er, noch bevor das Grundgesetz in Kraft trat, das deutsche Gewicht zum Tragen brachte und kühl die Finanzhoheit des Bundes gegen die Alliierten ertrotzte, die Adenauer schon aufgegeben hatte. Nicht auszudenken, wie später der Aufbau der Bundeswehr erfolgt wäre, wenn ihre Finanzierung von der Zustimmung der Länder abhängig gewesen wäre. Ein Staatenbund statt des Bundesstaates: Ohne die von Schumacher erzwungene Finanzhoheit wäre es eine andere Bundesrepublik geworden.
Schumacher hatte noch eine andere historische Entscheidung bewirkt. Das war bereits 1945 gewesen. In den Westzonen gab es eine vergleichbare Neigung wie im Osten, aus den Fehlern von Weimar zu lernen. Otto Grotewohl rief als Vorsitzender des Zentralausschusses der SPD zum Kampf für die organisatorische Einheit der deutschen Arbeiterklasse auf und hoffte, der erste Mann zu werden, der für Deutsche in Ost und West sprechen würde. Das war zu einem Zeitpunkt, als in den drei Westzonen noch nicht einmal die übergreifende Organisation der SPD genehmigt war. Hier waren zwei Männer mit Führungsanspruch. Nicht zuletzt persönliche Rivalität dürfte dabei mitgespielt haben, dass Schumacher eine einheitliche Parteiorganisation im »Reich« verhinderte, von dem noch alle sprachen, nachdem die Potsdamer Konferenz Deutschland nicht geteilt hatte. Bundespräsident Theodor Heuss bezeichnete es als unverlierbares Verdienst Schumachers, den Einbruch totalitärer Ideologie aufgehalten zu haben. Schumacher fand sich in seinem Zweifel bestätigt, ob »die Leute in Berlin Handlungsfreiheit behalten würden«, nachdem Moskau KPD und SPD zur SED verschmelzen ließ. Ernst Lemmer, Stellvertreter Jakob Kaisers, urteilte, etwas später sei es der CDU ebenso mit ihren Antipoden Kaiser und Adenauer ergangen. Im Misstrauen gegenüber den Berlinern trafen sich beide - ein kleiner deutscher Beitrag zur deutschen Spaltung, für die Mächtigere verantwortlich waren.
Schumacher war ein selbstbewusster Deutscher. Der Stolz des befreiten Kämpfers gegen die Nazis, mit dem er gegenüber den Vier Mächten deutsche Interessen vertrat, ließ ihn eine an Schroffheit grenzende unbedingte Sprache finden, die einem Gleichen unter Gleichen, dem Vertreter eines souveränen Landes zukam, was wir ja nun wirklich nicht waren. Das klang in manchen ausländischen Ohren nationalistisch, jedenfalls unvergleichbar mit der Sprache Adenauers, die Schumacher verächtlich »anpasserisch « nannte. Ich begann diesen Mann zu verehren, der sich nicht mehr ohne Hilfe bewegen konnte und dennoch, als ahnte er, wie wenig Zeit ihm blieb, rücksichtslos gegen sich selbst leidenschaftlich für seine Ziele kämpfte.
Außerdem hatten mich drei Jahre in Bonn überzeugt, dass die SPD die einzige Partei war, die ehrlich die Vereinigung unseres Landes zur Priorität ihrer Politik gemacht hatte. Also wollte ich Mitglied werden. Aber Schumacher riet ab: Ihm sei es lieber, wenn ich bei dem schon damals virulenten Quotendenken im Rundfunk nicht den Sozialdemokraten angerechnet werden könne.
Den zähen Wahlkampf Willy Brandts gegen Franz Neumann um den Parteivorsitz in Berlin hatte ich von Bonn aus verfolgt und ihn lose kennengelernt. Er galt als junger Mann des »großen Bürgermeisters« Ernst Reuter. Beide hatten das »Reich« aus der Emigration untergehen sehen. Beide waren amerikageneigter als die Führung der SPD in Bonn. Beide waren weltläufiger, als es Schumacher sein konnte. Nachdem ich Anfang 1953 RIAS-Chefredakteur geworden war, traf ich Reuter mehrfach. Wir erörterten die fühlbaren Spannungen zwischen ihm und der SPD-Führung in Bonn in Fragen der Außenpolitik. Ich gewann den Eindruck, dass er für meine Anregung, sich um den Vorsitz der Partei zu bemühen, offen war. Die Verabredung, unser Gespräch fortzusetzen, wurde gegenstandslos, als er plötzlich im Herbst 1953 starb.
Danach wurde Brandt für mich fast wie ein »Mister Berlin«, nicht durch den Inhalt seiner Bundestagsreden, aber durch den modernen Stil seiner Sprache, die nicht nach Parteichinesisch klang. Das war ein Mann, der den Blick auch nach Osten zu richten wusste, während die Bonner zunehmend westwärts dachten und handelten. Erneut wollte ich mich um eine Mitgliedschaft in seiner Partei bewerben. Um seine Meinung zu hören, verabredete ich mich mit ihm im Bundestagsrestaurant. »Nach allen Erfahrungen, die ich in Bonn gemacht habe, ist das die einzige Partei, die die Einheit wirklich will«, begründete ich meinen Wunsch. Er bremste meinen Eifer: »Sie überschätzen die Einflussmöglichkeiten durch Parteieintritt. « Zuweilen könne man durch Stellungnahmen von außen mehr erreichen als von innen. So war ich zum zweiten Mal abgewiesen worden.
© Ullstein eBooks
Es mag eine Woche später gewesen sein, als ich einen handschriftlichen Brief von Lars Brandt erhalte. Er habe sich von seinem Vater, wie es sich gehöre, verabschiedet und zuletzt, schon an der Tür, noch gefragt: »Wer waren deine Freunde?« Willy habe geantwortet: »Egon.« Das ermutigt mich zwanzig Jahre danach zu dem Versuch, die Summe meiner Erinnerungen zu erzählen.
TEIL 1 - BERLIN
Vorlauf
Wann ich den Namen Willy Brandt zum ersten Mal gehört habe, weiß ich nicht mehr. Wann und wo ich ihn zum ersten Mal gesehen und gesprochen habe, gibt das Gedächtnis nicht mehr her. Aufregend kann die Begegnung nicht gewesen sein. In der unmittelbaren Nachkriegszeit konnte Brandt als Mitglied der norwegischen Militärmission für mich gar nicht auftauchen.
Im Sommer 1945 hatte mich in Berlin das Vertrauen beeindruckt, mit dem Jakob Kaiser, Vorsitzender der CDU in der sowjetisch besetzten Zone und Berlin, von Plänen erzählte, zusammen mit Karl Arnold in Nordrhein-Westfalen und Josef Müller, dem »Ochsensepp« in München, Adenauer zu entmachten. »Adenauer, dieser Separatist, darf nicht die ganze CDU in die Hand bekommen.« Nun saß er 1949 im ersten Kabinett Adenauers in Bonn, mahnte als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, die Überwindung der deutschen Teilung nicht zu vergessen, und versuchte, mit dem Arbeitnehmerflügel seiner Partei eine bescheidene Hausmacht zu organisieren.
Als Korrespondent des RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) seit 1949 in Bonn, unterhielt ich wie andere Journalisten Kontakte zu führenden Persönlichkeiten der Parteien im Bundestag. In einem Montagskreis, den ich mit Kollegen gegründet hatte, diskutierten wir sehr offen (die versprochene Diskretion hielt) mit den wichtigen Herren - Damen waren politisch noch kaum präsent - aus allen Parteien. Adenauer lud zum Kanzler-Tee ins Palais Schaumburg. In unserem Kreis bezeichneten wir Jakob Kaiser als »Kaiser ohne Reich«, bis 1955 Respekt den achtungsvollen Spott ablöste. Der Minister hatte gegen seinen Kanzler, der mit Paris das Europäische Saarstatut vereinbart hatte, ziemlich offen agitiert und den Wahlkampf gegen das Statut finanziert. Er »gewann«: Mit fast 68 Prozent stimmten die Saarländer für den Beitritt zur Bundesrepublik.
Bonn zeigte sich als gemütliches Städtchen. Fast entrüstet reagierte die Wirtin, bei der ich ein möbliertes Zimmer mietete, auf meine Frage, ob sie sich nicht freue, dass Bonn nun die provisorische Hauptstadt sei: »Natürlich nicht! Man kann ja nicht einmal mehr über die Straße gehen, ohne sich umsehen zu müssen, ob ein Auto kommt.«
Aus Berlin kannte ich den Chefredakteur des französisch lizensierten Kurier, Paul Bourdin. Er sympathisierte mit der Neigung des Kanzlers zu Frankreich und glänzte als Sprecher der Bundesregierung. Eines Morgens rief er mich an und berichtete schockiert, er habe Adenauer gestern Abend nach Rhöndorf begleitet. »Es gibt keine Zweifel: Der alte Herr will die Einheit gar nicht.« Ihm bleibe nur der Rücktritt, weil er täglich das Gegenteil verkünden müsse. Nach drei weiteren Wochen artistischer verbaler Verrenkungen trat er zurück. Das wurde ein Schlüsselerlebnis für meine Gegnerschaft zu Adenauer. Mir wurde zunehmend bewusst, dass er und Walter Ulbricht im Grunde kongenial waren. Jeder der beiden wollte seinen Landesteil sichern und sein Gewicht im jeweiligen Lager, ob Ost oder West, erhöhen. Und jeder erwies sich als die in seinem Teilstaat stärkste Persönlichkeit, die die politische Szenerie beherrschte. Das galt im Falle Adenauers auch gegenüber Schumacher.
Den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher hatte ich bewundert, als er, noch bevor das Grundgesetz in Kraft trat, das deutsche Gewicht zum Tragen brachte und kühl die Finanzhoheit des Bundes gegen die Alliierten ertrotzte, die Adenauer schon aufgegeben hatte. Nicht auszudenken, wie später der Aufbau der Bundeswehr erfolgt wäre, wenn ihre Finanzierung von der Zustimmung der Länder abhängig gewesen wäre. Ein Staatenbund statt des Bundesstaates: Ohne die von Schumacher erzwungene Finanzhoheit wäre es eine andere Bundesrepublik geworden.
Schumacher hatte noch eine andere historische Entscheidung bewirkt. Das war bereits 1945 gewesen. In den Westzonen gab es eine vergleichbare Neigung wie im Osten, aus den Fehlern von Weimar zu lernen. Otto Grotewohl rief als Vorsitzender des Zentralausschusses der SPD zum Kampf für die organisatorische Einheit der deutschen Arbeiterklasse auf und hoffte, der erste Mann zu werden, der für Deutsche in Ost und West sprechen würde. Das war zu einem Zeitpunkt, als in den drei Westzonen noch nicht einmal die übergreifende Organisation der SPD genehmigt war. Hier waren zwei Männer mit Führungsanspruch. Nicht zuletzt persönliche Rivalität dürfte dabei mitgespielt haben, dass Schumacher eine einheitliche Parteiorganisation im »Reich« verhinderte, von dem noch alle sprachen, nachdem die Potsdamer Konferenz Deutschland nicht geteilt hatte. Bundespräsident Theodor Heuss bezeichnete es als unverlierbares Verdienst Schumachers, den Einbruch totalitärer Ideologie aufgehalten zu haben. Schumacher fand sich in seinem Zweifel bestätigt, ob »die Leute in Berlin Handlungsfreiheit behalten würden«, nachdem Moskau KPD und SPD zur SED verschmelzen ließ. Ernst Lemmer, Stellvertreter Jakob Kaisers, urteilte, etwas später sei es der CDU ebenso mit ihren Antipoden Kaiser und Adenauer ergangen. Im Misstrauen gegenüber den Berlinern trafen sich beide - ein kleiner deutscher Beitrag zur deutschen Spaltung, für die Mächtigere verantwortlich waren.
Schumacher war ein selbstbewusster Deutscher. Der Stolz des befreiten Kämpfers gegen die Nazis, mit dem er gegenüber den Vier Mächten deutsche Interessen vertrat, ließ ihn eine an Schroffheit grenzende unbedingte Sprache finden, die einem Gleichen unter Gleichen, dem Vertreter eines souveränen Landes zukam, was wir ja nun wirklich nicht waren. Das klang in manchen ausländischen Ohren nationalistisch, jedenfalls unvergleichbar mit der Sprache Adenauers, die Schumacher verächtlich »anpasserisch « nannte. Ich begann diesen Mann zu verehren, der sich nicht mehr ohne Hilfe bewegen konnte und dennoch, als ahnte er, wie wenig Zeit ihm blieb, rücksichtslos gegen sich selbst leidenschaftlich für seine Ziele kämpfte.
Außerdem hatten mich drei Jahre in Bonn überzeugt, dass die SPD die einzige Partei war, die ehrlich die Vereinigung unseres Landes zur Priorität ihrer Politik gemacht hatte. Also wollte ich Mitglied werden. Aber Schumacher riet ab: Ihm sei es lieber, wenn ich bei dem schon damals virulenten Quotendenken im Rundfunk nicht den Sozialdemokraten angerechnet werden könne.
Den zähen Wahlkampf Willy Brandts gegen Franz Neumann um den Parteivorsitz in Berlin hatte ich von Bonn aus verfolgt und ihn lose kennengelernt. Er galt als junger Mann des »großen Bürgermeisters« Ernst Reuter. Beide hatten das »Reich« aus der Emigration untergehen sehen. Beide waren amerikageneigter als die Führung der SPD in Bonn. Beide waren weltläufiger, als es Schumacher sein konnte. Nachdem ich Anfang 1953 RIAS-Chefredakteur geworden war, traf ich Reuter mehrfach. Wir erörterten die fühlbaren Spannungen zwischen ihm und der SPD-Führung in Bonn in Fragen der Außenpolitik. Ich gewann den Eindruck, dass er für meine Anregung, sich um den Vorsitz der Partei zu bemühen, offen war. Die Verabredung, unser Gespräch fortzusetzen, wurde gegenstandslos, als er plötzlich im Herbst 1953 starb.
Danach wurde Brandt für mich fast wie ein »Mister Berlin«, nicht durch den Inhalt seiner Bundestagsreden, aber durch den modernen Stil seiner Sprache, die nicht nach Parteichinesisch klang. Das war ein Mann, der den Blick auch nach Osten zu richten wusste, während die Bonner zunehmend westwärts dachten und handelten. Erneut wollte ich mich um eine Mitgliedschaft in seiner Partei bewerben. Um seine Meinung zu hören, verabredete ich mich mit ihm im Bundestagsrestaurant. »Nach allen Erfahrungen, die ich in Bonn gemacht habe, ist das die einzige Partei, die die Einheit wirklich will«, begründete ich meinen Wunsch. Er bremste meinen Eifer: »Sie überschätzen die Einflussmöglichkeiten durch Parteieintritt. « Zuweilen könne man durch Stellungnahmen von außen mehr erreichen als von innen. So war ich zum zweiten Mal abgewiesen worden.
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Autoren-Porträt von Egon Bahr
Egon Bahr, geboren 1922 in Thüringen. Nach dem Krieg als Journalist tätig, u. a. als Leiter des Bonner RIAS-Büros. 1960 - 66 Sprecher des Berliner Senats. Unter Willy Brandt 1966 - 69 Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, 1969 - 1974 Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Er verhandelte u. a. den Moskauer Vertrag, das Viermächteabkommen und den Grundlagenvertrag mit der DDR. Nach Brandts Rücktritt u. a. Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Bundesgeschäftsführer der SPD und Direktor des Instituts für Friedensforschung in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Egon Bahr
- 2013, 1. Auflage, 240 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843705070
- ISBN-13: 9783843705073
- Erscheinungsdatum: 08.03.2013
Abhängig von Bildschirmgrösse und eingestellter Schriftgrösse kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Grösse: 7.96 MB
- Ohne Kopierschutz
Pressezitat
"Grossartig sein jüngstes Buch "Das musst du erzählen. Erinnerungen an Willy Brandt"., Süddeutsche Zeitung, Holger Gertz, 21.08.2015
Family Sharing
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