Das Bild der Mutter (ePub)
Auszug: 'Seit vielen Jahren schon lebte in der Stadt die Witwe eines reichen Mannes, der in hohem Alter gestorben war und seiner jungen Frau Haus und Garten und ihre Freiheit hinterlassen hatte. Die schöne Anna zeigte wenig Lust, diese drei sicheren Güter,...
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Auszug: 'Seit vielen Jahren schon lebte in der Stadt die Witwe eines reichen Mannes, der in hohem Alter gestorben war und seiner jungen Frau Haus und Garten und ihre Freiheit hinterlassen hatte. Die schöne Anna zeigte wenig Lust, diese drei sicheren Güter, zu denen sich im Laufe der Zeit mehr als Ein Liebhaber meldete, gegen das ungewisse Gut einer neuen Ehe zu vertauschen. Sie zog es vor, ihre eigene Herrin zu bleiben, von ihrem Reichtum einen sinnigen und wohltätigen Gebrauch zu machen, in den schönen Gemächern ihres Hauses dann und wann die Freunde ihres verstorbenen Gemahls zu bewirten und sich die einsamen Stunden mit Musik, Blumenzucht und Lektüre zu vertreiben. Man sah sie oft im Theater und Konzert, nicht selten auch in der Kirche, überall ohne Scheinsucht und Gepränge, eine völlig anmutige Gestalt, deren Anblick einem jeden erfreulich war. Niemand fühlte sich veranlasst, auf ihre Kosten einige jener halblauten Geschichtchen herumzubringen, wie man sie jungen Witwen aus Missgunst auf die mancherlei Rechte ihrer freien Stellung anzuhängen pflegt. Auch näherte sie sich mehr und mehr der kühleren Zone des Frauenlebens, und die ernsthaften Gespräche, die sie mit ihrem Freunde, dem Domprediger, pflog, klangen aus ihrem Munde nicht drollig mehr, obwohl dieselben roten Lippen zu anderer Zeit im traulichen Kreise aufs Beste zu scherzen wussten, und ein kindlich träumerischer Zug die verständigen Augen noch oft umschwebte. Sie hatte mit ihrem alten Manne, der von kranken Launen vielfach heimgesucht war, eine friedliche Ehe geführt und mit ihrer gleichmässigen Heiterkeit sein Haus durchwärmt. Ob sie selbst unerfüllte Wünsche dabei im Herzen niederkämpfte, vertraute sie Niemand, wie denn auch unter Allen, die später ihr Haus betraten, nicht Einer sich rühmen konnte, einen Vorzug zu geniessen. Es war stillschweigend zum Gesetz geworden, dass die kleine Gesellschaft, die sich oft auch ungeladen um ihren Teetisch einfand, nie später als um Elf auseinanderging, und dass Alle zugleich aufbrachen. Wenn die alte Margot die Haustür hinter ihnen zuschloss, dachte wohl mancher bei sich, wie sehr es ihm behagen möchte, hier zu Hause und des Heimwegs überhoben zu sein. Nachgerade aber hielt man es für geratener, dergleichen fromme Wünsche nicht mehr bei der obersten Behörde vorzutragen, da zehn Jahre hindurch immer nur derselbe Bescheid erfolgt war.
Bibliographische Angaben
- Autor: Paul Heyse
- 2021, 1. Auflage, 53 Seiten, Deutsch
- Verlag: Otbebookpublishing
- ISBN-10: 3968653572
- ISBN-13: 9783968653570
- Erscheinungsdatum: 06.01.2021
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Grösse: 0.24 MB
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