Vienna
Die Grossmutter hätte als junge Frau während des Bridgespielens fast die Geburt ihres Sohnes vergessen. Ihre Kinder werden durch den Krieg in der ganzen Welt verstreut.
Die Saga einer jüdischen Familie aus Wien, die sich vor allem wortgewaltig, mit viel...
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Die Grossmutter hätte als junge Frau während des Bridgespielens fast die Geburt ihres Sohnes vergessen. Ihre Kinder werden durch den Krieg in der ganzen Welt verstreut.
Die Saga einer jüdischen Familie aus Wien, die sich vor allem wortgewaltig, mit viel Witz und Charme durch die Geschichte eines Jahrhunderts kämpft.
Ausstattung: mit Lesebändchen
'Schwer unterhaltsam, literarisch intelligent, historisch hochinteressant.' -- Die Zeit
"Die wichtigste Frage bei jedem Buch: Kann man es weglegen? Die Antwort heisst: 'Vienna' nicht." -- Welt am Sonntag
Vienna von Eva Menasse
LESEPROBE
Mein Vater war eine Sturzgeburt. Er und einPelzmantel wurden Opfer der Bridgeleidenschaft meiner Grossmutter, die, obwohldie Wehen einsetzten, unbedingt noch die Partie fertigspielenmusste. Bis auf ein einziges dramatisches Mal hatmeine Grossmutter alle Partien ihres Lebens fertiggespielt,denn eine Partie in der Mitte abzubrechen war unzumutbar. Deshalb hätte sieüber den Karten beinahe die
Geburt meines Vaters versäumt. Oder besser gesagt:Deshalb wäre mein Vater beinahe unter einem mit grünem Filz bespanntenKartentisch zur Welt gekommen, was übrigens seinem Charakter und seinemLebensweg gar nicht schlecht entsprochen hätte. Das einzige, was meinerGrossmutter im Leben Freude machte, war Bridge. Sie sass, wie an fast jedem Tagseit jenem, an dem sie meinen Grossvater geheiratet hatte und aus einem kleinenmährischen Dorf nach Wien gezogen war, mit ihren Bekannten im Café Bauernfeindund spielte. Das war ihre Art, mit der Welt, die ihr selten behagte, fertig zuwerden. Sie verschloss davor die Augen, ging insKaffeehaus und spielte Bridge.
An jenem Tag, als mein Vater geboren wurde,verzögerte sich die Partie. Es wurde noch Kaffee bestellt. Die Wehen schienennicht stärker zu werden, und die Bridgepartnerinnen meiner Grossmutter kümmertensich ohne hin nicht darum. Beim Abrechnen brach der rituelle Streit unter denSpielerinnen aus. Eine zahlte ihre Spielschulden nie gleich, sondern bat immerum Aufschub und stiftete dadurch Verwirrung. Dabei ging es bloss um ein paarGroschen. Manchmal gelang es einer vielleicht, einen Schilling zu gewinnen,doch den war sie am nächsten Tag bestimmt wieder los. Im gesamten gesehen gabes kein signifikantes Ergebnis.
Trotzdem zeterten sie und machten einanderVorhaltungen. Zwei von ihnen konnten nicht besonders gut rechnen, die anderenbeiden, darunter meine Grossmutter, sahen schlecht, gaben es aber nicht zu.
Diejenige, die immer die Abrechnung führte, war einevon denen, die nicht rechnen konnten. Sie verwechselte oft die Kolonnen, ob aus Konzentrationsmangel oder ausUnredlichkeit, weiss heute niemand mehr. Denn sie irrte sich auch zu ihreneigenen Ungunsten. Darüber hinaus hatte sie
eine sehr kleine, verschnörkelte Schrift, gerade beiZiffern. Die dritte, die immer Kredit wünschte, war nur bereit, ihre Schuld vomvorvergangenen Tag zu bezahlen. Am vergangenen Taghatte sie auch verloren, aber mehr. Und am meisten verlor sie an jenem Tag, andem mein Vater geboren werden sollte. Das nun wollte sie aber am allerwenigstenbezahlen. Von der vierten weiss ich nichts. Der Zahlkellner vom Bauernfeindkam lange nicht.
Er war ein stadtbekannter Feschak, und die Damen, mitAusnahme meiner Grossmutter, pfl egtenmit ihm kindisch zu kokettieren. Meine Grossmutter kokettierte nie. Irgend etwasin ihr war schon früh erfroren, sie war eine blasse, rotblonde Schönheit, dieder Welt bloss ironische Strenge zeigte. Sie tobte nur zu Hause. Ihr Busen warsagenhaft. Der Zahlkellner vom Bauernfeind behandelte sie ausgesucht. Er war mindestens zehn Jahrejünger als sie, und wobei sich die Bridgepartnerinnen ihn und meine Grossmuttergerne vorstellten, hätten sie bei ihrer Seele nicht laut gesagt, nicht einmalheimlich, zueinander. Dabei hatte der Zahlkellner vom Bauernfeindwahrscheinlich bloss Respekt vor der Unnahbarkeit meiner Grossmutter, und sie hatihn vielleicht niemals richtig bemerkt. Am Tag der Geburt meines Vatersbemerkte sie nur ärgerlich, dass er nicht kam. DieDamen kramten in ihren Börsen und rutschten auf den Plüschbänken hin und her. MeineGrossmutter wurde nervös. Es wurde dunkel, und die Wehen wurden stärker. MeinOnkel, der damals sieben Jahre alt war, erwachte, als das Licht anging. Erschlief auf einem schmalen Sofa, das quer zum Ehebett seiner Eltern an dessenFussende stand. Er erwachte, weil es plötzlich hell war und weil seine Mutterschrie. Sie lag in ihrem Pelzmantel, einem schwarzen Persianer, quer über demEhebett. Mein Grossvater schrie auch, aber von der Tür her. Ausserdem schrie meinVater, der, wie es später immer wieder erzählt wurde, einfach herausgerutschtwar und den Pelzmantel verdorben hatte.
Mein Vater schrie, weil das für ein Neugeborenesnormal ist. Zeit seines Lebens würde mein Vater die Dinge gewissenhaft somachen, wie er sie für normal hielt, auch wenn ihm das objektiv selten gelingensollte. Die Einstellung meiner Grossmutter zu dieser letzten Schwangerschaft unddiese Geburt selbst erforderten es allerdings besonders, sich von Anfang an sonormal wie möglich zu verhalten. Denn meine Grossmutter, bereits über vierzig,hatte dieses dritte Kind nicht haben wollen. Sie hatte mit Stricknadeln, heissenSitzbädern und mit Vom-Tisch-Springen versucht, esloszuwerden.
Sie erzählte das später gern. Aber mein Vater war denStricknadeln ausgewichen und hatte sich bei den Sprüngen angeklammert, so müssees gewesen sein, sagte man in meiner Familie später immer
und nickte dazu. Über die heissen Bäder sagte mannichts. Er wollte es ihr dann recht machen, indem er schnell und schmerzlosherausrutschte, aber meiner Grossmutter hat es selten jemand recht machenkönnen. Mein Vater hatte die Bridgepartie verdorben und er verdarb denschwarzen Persianer, eines der grosszügigen Geschenke, mit denen mein Grossvaterseine zahllosen Seitensprünge zu sühnen versucht hatte.
Meine Grossmutter geruhte diese Geschenke wortlosanzunehmen und ins Kaffeehaus zu gehen, um Bridge zu spielen. Meine Grossmutterschrie, weil die Hebamme noch nicht da war. Weil das Kind noch an derNabelschnur hing und alles voll Blut war. Weil mein Grossvater weder in der Lageschien, das ältere Kind, meinen Onkel, aus dem Zimmer zu entfernen, wie meineGrossmutter es für passend gehalten hätte, noch sich anzuziehen und einen Arztoder die Hebamme holen zu gehen.
Mein Grossvater, dessen Lieblingstonart eigentlich dashalblaute, mürrische Schimpfen war, das man in Wien »keppeln« nennt, schrie,weil meine Grossmutter schrie. Anders hätte er sich kaum Gehör verschafft.Ausserdem lagen auch seine Nerven bloss. Das Bild, das sich ihm auf seinemEhebett bot, war ebenso grotesk wie faszinierend. Es mussein wenig an die griechische Mythologie erinnert haben, von der mein Grossvaterallerdings keine Kenntnis hatte: Ein Wesen, halb schwarzes Schaf, halb Mensch,hatte geboren. Denn aus Scham vor ihrem Mann und ihrem Sohn hielt meineGrossmutter den Pelzmantel über ihrem Unterleib fest geschlossen. Sie lag halbeingerollt auf der Seite und umfing mit ihrem Körper meinen Vater, von dem nurder Kopf aus dem Mantel sah und der vor dem schwarzen, pelzigen Hintergrundbesonders blutig und neugeboren wirkte.
»Du bist an allem schuld«, schrie meine Grossmutter,»du hast mich zu spät abgeholt!«
»Wo ist mein Schal«, schrie mein Grossvater von derTür her, »du hättest früher nach Hause gehen sollen!«
»Du hast mir dieses Kind angehängt«, schrie meineGrossmutter, »im Kasten neben der Tür!«
»Wahrscheinlich hast du unbedingt die Partie zu Endespielen müssen«, schrie mein Grossvater, »in welchem Kasten?«
»Mit welcher Schickse hast du dich herumgetrieben«,schrie meine Grossmutter, »du Blinder, neben der Tür, hab ich gesagt!«
»Geh, gib a Ruh«, sagte mein Grossvater resigniert,der seinen Schal gefunden hatte und sich anschickte zu gehen.
Denn wie jeder wusste, derihn auch nur ein bisschen kannte, waren alle seineGeliebten immer jüdisch und übrigens meistens ebenfalls verheiratet. Noch niehatte er mit einer Schickse ein Verhältnis gehabt. Er kannte nur eine einzigeSchickse näher - die Frau, mit der er verheiratet war. Unter diesen Umständenkam mein Vater zur Welt: als Sohn eines jüdischen Vertreters für Weine undSpirituosen
und einer katholischen Sudetendeutschen, die aus derKirche ausgetreten war.
Ein paar Wochen später kam die Tante Gustl, eine derSchwestern meines Grossvaters, um das Kind zu begutachten. Die Tante Gustl hatteeinen reichen Christen geheiratet und benahm sich seither wie eine grosse Dame.Ihr Vater, mein Urgrossvater, hatte schon die konfessionsübergreifende Wahlseines Sohnes, meines Grossvaters, zu einem Familienskandal gemacht. Obwohlmeine Grossmutter aus der Nähe von Freudenthal und nicht aus Bratislava stammte,begann er, wenn die Rede auf sie kam, missmutig den alten Schüttelreim zudeklamieren:
»Zum Vesuv ging a Bratislavaer Gojte,damit sie dort gratis Lava erbeute.«
Man pflegte nur den notwendigsten Kontakt. Die Elternmeines Grossvaters, die aus Tarnów stammten, warendort geblieben, wo die Einwanderung sie angespült hatte: auf der »Mazzesinsel«, ganz nah beim Augarten, in einer diesergrauen Gassen, wo es auch im Sommer kühl und feucht ist und die Stiegenhäusernach Moder und Kohl riechen.
© BTB
- Autor: Eva Menasse
- 2007, 427 Seiten, mit Schwarz-Weiss-Abbildungen, Masse: 11,7 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442732530
- ISBN-13: 9783442732531
- Erscheinungsdatum: 08.02.2007
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