Tallinn
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Europa erlesen - Tallinnherausgegebenvon SabineSchmidt
LESEPROBE
PAUL FLEMING
(1609 - 1640)
So liegt die tapfreStadt
So liegt die tapfre Stadt, wenn man sie aussen schauet,
Die König Waldemar der Andre hat erbauet,
die Gott und die Natur so reich gesegnet hat,
Als sonsten an der See in Liefland eine Stadt,
An Hafen, Land und Volk, an Zucht und reiner Lehre.
Du bist Spartaner Art an Wesen, Ruhm und Ehre.
Dein Adel um dich her dir Zier und Nahrung giebt,
Du wirst von ihm, gleich er auch wird von dir geliebt.
Dein Gubernator ist, so hoch als von Geblüte,
Auch von Verstand und Rath, tragt zu dir solch
Gemüthe,
als sonst ein Vater pflegt: wie auch sein andre Hand,
Um welche du mir bist mein ander Vaterland.
Dein Wall ist wohl verwahrt von aussen und von innen;
Der Herre Zebaoth wohnt selber bei dir drinnen,
Umringet deine Mauer, verriegelt deine Thor,
Auf dass, wer nicht als Freund kommt, sitzen bleibt
davor.
Du warst Numantia, als dich der Czar bekriegte,
Der sonst mit Heeresmacht, wo er nur hinkam, siegte,
Wird deiner Mauern Spott; sie lachen seinen Schutz,
also ein jeder Feind dich noch anschauen muss.
Dein wohlgekröntes Haupt und deine tapfern Glieder,
Die müssen thätig sein und sich nicht legen nieder.
So lange du wirst sein, es müsse dir wohlgehn,
So lange dieser Bau der Welt wird bleiben stehn.
WERNER BERGENGRUEN
(1892 - 1964)
Die Stadt der Toten
Mein Lieber, setze dich zu mir. Die Flasche steht auf dem Tisch.Es ist Herbst, es ist Dämmerzeit, draussen schreien die Krähen, draussen schreiendie Winde. Horst du nicht die armen Seelen im Fegfeuer stöhnen? Ich mochte direin paar Geschichten erzahlen: Geschichten aus einer alten Stadt hoch droben imNorden, hoch droben im Osten, einer Stadt am Meer. Aber es sind nichtGeschichten von dieser Stadt: es sind Geschichten von ihren Toten. Alle altenStädte sind Nekropolen. Dies wenigstens haben sie voraus vor den jungen, denüberwachen, den hurtig zur Hohe gewachsenen: das Volk ihrer Toten istunzahlbar. Eine alte Stadt mag Menschen haben, so viel sie will; was ist die Mengederer, die sie bewohnen, vor der Menge derer, die sie bewohnt haben? Die inHäusern leben und über Strassen gehen, das sind ja die Wenigen; die Vielen aberwohnen in den grauen Kirchen und Gruftkapellen der Stadt unter den schweren,gemeisselten Grabplatten, unter dem Rasen der Friedhofe vor ihren Toren, unterdem Steinpflaster ihrer Kirchenplatze. Die Lebenden sind ein Augenblick gleichder Gegenwart; die Toten aber sind die Unendlichkeit der Zeit und sind dieBeständigen. Heute ist ihnen wie gestern und morgen, den Unterschied der Jahrekennen sie nicht, und sie sind in einer grossen Gelassenheit. Die Stadt, vonwelcher ich dir erzahlen will, hat eine sonderbare Sage. Nämlich von dem Domberge als von dem ersten Keim der Stadt Reval wussten die Ureinwohner des Landesvon jeher zu überliefern, die Riesin Linda habe den mächtigen Kalksteinfelsenaufgerichtet als ein Grabmal für ihren Geliebten, den starken Kalew. Und sosteht ein Grab am Anfang dieser Stadt. Auf einem halb verwitterten, dunkelübermoosten Revaler Grabstein las ich die Worte, mit Muhe zu entziffern: .Parvadomus, magna quies -klein das Haus, gross die Ruhe.≪Der Gräber sind viele in den Kirchen und auf den Friedhöfen von Reval. Da sindmerkwürdige Grabstätten und Totensteine in einer grossen Fülle, kunstvolleMonumente, kostbare Epitaphe. Da liegt jene Frau, deren Gesang das Herz einesLeipziger Studenten ergriff und die seither den Menschen der Goethezeit alsVorbilder Mignon galt; da liegt der Graf Matthias Thurn, an welchem ein grosserund totenreicher Krieg sich entzündete. Da liegen allerlei fürstliche Personen,allerlei berühmte Kriegsleute; Seehelden und Weltumsegler liegen in Revalbegraben. Und es ist in Reval auch eine kleine Strasse, welche den NamenSpukgasse fuhrt noch am heutigen Tage. Die Nikolaikirche bewahrt einmittelalterliches Totentanzgemälde, und es sind niederdeutsche Verse voll einergrossartigen Unerbittlichkeit, welche die Malereien begleiten. .To dessem dansserope ik alghemene: pawes, kaiser unde alle creaturen, arme, ryke, grote undeklene!≪
Und es steht hier auch das Wort geschrieben: .Se ik vore efteachter my, ik vole den dot my alle tyt by.≪ Geschlechter umGeschlechter haben diese Malereien und diese Verse vor Augen gehabt. Undvielleicht magst du auch die Geschehnisse, von denen ich dir berichten mochte,als eine wunderliche Ergänzung jener Malereien annehmen. Aber das ist keineStadt der Schwermut, und es sind auch nicht Geschichten der Schwermut, die ichdir erzahlen will. Jeder Tod hat ja sein Gelachter. Und es ist keineUnehrerbietung, wenn wir uns auch unsern Scherz mit ihm machen; denn er willuns ja vertraut werden, und auch wir sollen ihm keine Fremdlinge sein. Und dawir zu einem vertraulichen Umgang selbst mit der Gottheit als mit derGewalthaberin über Leben und Tod aufgefordert werden, unbeschadet ihrerMajestät - wie sollte ein vertraulicher Umgang nicht auch mit dem Todestattfinden können, unbeschadet seiner Schauer und seiner Strenge? Aber verhaltes sich denn so, magst du mir einwerfen, dass eine Stadt mit dem Tode eineengere Nachbarschaft soll halten können als eine andere? Denn der Tod hat docheinerlei Beschaffenheit in Reval und in Rom, in La Trappe und in Gent.Vielleicht, so meinst du, eigne der alten Stadt Reval eine graue und nordischeDüsternis, und von dieser habe ich mich verfuhren lassen, Reval in eineauszeichnende Verbindung zum Tode zu setzen und in diesem Betracht allerleiVorfallen ein Augenmerk und ein Gedenken zuzukehren. Ach nein; ein solcherCharakter, wenn denn von ihm gesprochen werden durfte, hatte allenfalls aufeinen Landfremden wirken können, nicht aber auf mich, der ich als ein Nachbardieser Stadt zur Welt gekommen bin. Allein darin will ich dir recht geben, dassman vielleicht ein Nordländer sein muss, gewohnt an lange Winternächte und ankurze Getränke, um eine solchermassen unbefangene Nachbarschaft mit dem Todehalten zu können und es selber nicht einmal gewahr zu werden. In den hellen,heissen Ländern, in denen der Wein gekeltert und getrunken wird, hat auch derTod ein anderes Gesicht. Sie kennen keine Dämmerung und keinen Übergang: Tagund Nacht, Licht und Dunkel, Leben und Tod sind hart voneinander gesondert. Dassüsse Licht strömt klar über alle Erscheinungen hin und gibt ihnen scharfeUmrisse. Der Tod ist ein schwarzes und schauervolles Loch; niemand mag an ihndenken. Und die Abgeschiedenen sind tot. Aber dort im Norden, dort oben imOsten, dort oben am Meer, dort wird der schwere kräftige Branntwein getrunken.Dort sind die Dämmerungen zu Hause und die Nebelwolken und Schneegestöber, undim hohen Sommer geht die Abendrote mählich hinüber in den roten Morgenschein.Und mitten in allem Leben sind die Toten gegenwärtig. Heute ist ihr Tag. Heutetreten die Menschen an die Gräber, in Trauer, in Beschämung oder in Gehorsamgegen ein Herkommen; und vielleicht manche in Furcht. Wir aber wollen uns nichtvor dem Tode furchten, sondern getrost nach seiner Vertraulichkeit trachten.
(...)
Abschied
Es ist spät geworden, und die Flasche ist leer. Gross steht dieNacht vor den Fenstern. Der Wind hat die letzten Blätter von den Zweigengerissen. Die Kalte tropft silberfarben nieder durch die kahlen Aste. Der Windist still geworden, die Wolken hat er davon getrieben. Der Orion funkelt. Inder Stadt, von der ich dir erzahlt habe, liegt wohl schon der Schnee. Dienadelscharfen Spitzen der schlanken Turme, die altväterischen Giebel und Dächer,die grauen Festungswerke sind weiss wie Salz. Die Ecken füllen sich aus, dieMauervorsprunge, die schroff abgesetzten Treppengiebel glatten sich, der dickeweisse Schnee nimmt allen Konturen die Scharfe. Alles rundet sich, alles wirdweich. Die Menschen holen ihre Pelze hervor, die Schlittenglocken klingen. Esist, als dampfe der Schnee alle Laute. Sind es denn Schlittenglocken? Ist esTotengeläut? Vielleicht klingen auch Glaser aneinander oder winzigeNarrenschellen. Es ist vieles anders geworden in Reval wie in dem ganzen Landezwischen der Narowa und dem Memelstrom. Uns aber, die wir keine Scheu haben,unser Herz an die vergangenen und unterlegenen Dinge zu hangen - da ja dengegenwärtigen und siegreichen ohnehin so viele Neigungen sich zuwenden -, unsist es ein Trost, dass noch immer die alten Linden um St. Nikolai stehen und diealten Eichen um die Grabmaler von Ziegelskoppel; dass noch immer die RevalerTurme sich zu den Wolken heben und zu den unverletzten Gestirnen; dass die altenGrabstätten noch da sind, die Kreuze und die Obelisken, und immer noch unterihnen die Gebeine der gleichen Toten liegen. Immer ist es noch das gleicheunzahlbare Volk, und alle, alle werden sich zu ihm gesellen: die Erben deralten Herrschaft, die hurtigen Neuerer und die nach ihnen kommen; alle, allewerden sie in die Erde gelangen wie du und ich. Der Tod ist ein grosser Trost.Er macht, dass niemand sich zu furchten braucht. Wir werden einmal unseren Todsterben, ein jeder in seiner Art und zu seiner Stunde; darum darf unser Herznicht schwer sein. Wer in Reval war, der wird den Tod nicht mehr furchten mögen.Und wir wollen den Tod lieb haben, gleichwie wir die Stadt lieb haben. Und nunmagst du mir einwenden, es habe alles, was ich zu Anfang von der RevalerNachbarschaft des Lebens und des Todes sagte, seine Richtigkeit nicht, sondernes behaupte seinen Platz nur in den Dämmergespinsten eines Herzens, das jaallen wunderlichen Grillen sich offen halte. Vielleicht hast du recht. Alleinich will ja lieber an solche Dämmergespinste glauben als an Gesetzesbucher undTabellen, an Berechnungen und Proklamationen. Ich bin ein Narr, und du, der dumir hast zuhören und mit mir trinken mögen, du wirst meiner Narrheit einigeszugute halten, obzwar, furchte ich, nicht übermässig viel.
Hierin verfahre, wie es dir gefallt; ich will nicht trachten, dichzu überreden. Mir aber wirst du erlauben, bei dem Meinigen zu bleiben, selbstwenn ich keine andere Rechtfertigung haben sollte als diese, dass durch mancheJahrhunderte hin eine Reihe meiner Vorfahren in Revaler Kirchen und auf RevalerFriedhöfen die Ruhe erlangt hat; vielleicht kann keine bündigere Rechtfertigunggedacht werden. Und nun lasse mich die letzten Tropfen der Flasche hinaussprengenin die Nacht als ein Opfer für die noch Unruhigen, ein Gedächtnis für die,welche zu ihrer Ruhe gekommen sind. Requiemaeternam dona eis, Domine. Et lux perpetua luceat eis.
© Wieser Verlag
- 2019, 1., Aufl., 256 Seiten, Masse: 10,3 x 16 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Sabine Schmidt
- Verlag: Wieser
- ISBN-10: 3851293924
- ISBN-13: 9783851293920
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