Russ
Roman
Liebe, Trauer und Vergeltung im Ruhrpott - eine deutsche Saga. Ein Kiosk in Duisburg ist der Ausgangspunkt einer rasanten Geschichte, die ihren Helden durch das Ruhrgebiet, nach Warschau und bis auf die Großglocknerstraße führt - und an die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Russ “
Liebe, Trauer und Vergeltung im Ruhrpott - eine deutsche Saga. Ein Kiosk in Duisburg ist der Ausgangspunkt einer rasanten Geschichte, die ihren Helden durch das Ruhrgebiet, nach Warschau und bis auf die Großglocknerstraße führt - und an die Grenzen seiner Liebes- und Leidensfähigkeit. Renz war Arzt, doch als seine Frau von einem Einbrecher ermordet wurde, zerbrach seine Welt. Er hilft in einem Kiosk aus, kümmert sich um die Alltagssorgen der Trinker und Hänger, trauert um seine Frau und sinnt auf Vergeltung. Als der Mörder seiner Frau freikommt, holt ihn seine Vergangenheit ein, und er heftet sich an die Fersen des Täters. Feridun Zaimoglu zeigt das Drama eines Menschen, den kaum noch etwas im Leben hält, vor dem Hintergrund einer Welt im Umbruch, die durch eine lange Tradition geprägt ist und sich gerade neu erfindet. Mit den Romanen 'Liebesbrand', 'Hinterland' und 'Ruß' hat Feridun Zaimoglu sprachmächtig die Romantik in die deutsche Gegenwartsliteratur zurückgeholt.
Klappentext zu „Russ “
Liebe, Trauer und Vergeltung im Ruhrpott - eine deutsche Saga.Ein Kiosk in Duisburg ist der Ausgangspunkt einer rasanten Geschichte, die ihren Helden durch das Ruhrgebiet, nach Warschau und bis auf die Grossglocknerstrasse führt - und an die Grenzen seiner Liebes- und Leidensfähigkeit. Renz war Arzt, doch als seine Frau von einem Einbrecher ermordet wurde, zerbrach seine Welt. Er hilft in einem Kiosk aus, kümmert sich um die Alltagssorgen der Trinker und Hänger, trauert um seine Frau und sinnt auf Vergeltung. Als der Mörder seiner Frau freikommt, holt ihn seine Vergangenheit ein, und er heftet sich an die Fersen des Täters. Feridun Zaimoglu zeigt das Drama eines Menschen, den kaum noch etwas im Leben hält, vor dem Hintergrund einer Welt im Umbruch, die durch eine lange Tradition geprägt ist und sich gerade neu erfindet. Mit den Romanen 'Liebesbrand', 'Hinterland' und 'Russ' hat Feridun Zaimoglu sprachmächtig die Romantik in die deutsche Gegenwartsliteratur zurückgeholt.
Lese-Probe zu „Russ “
Ruß von Feridun Zaimoglu 1.
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Vor Tau und Tag stand er auf, stellte sich im Schlafanzug ans Fenster, es schneite und der Schnee blieb liegen. Er sah: Tauben auf den Antennen. Krähen auf den Lichtmasten. Schnee auf dem Meisenknödel, der am Zweig vor dem Balkon hing - die Vögel, aufgeweckt und aufgescheucht vom Blau des winterklaren Himmels, hatten hineingehackt. Schnee auf den Ästen.
Er wandte sich ab, strich sich übers Gesicht, lief durch die Räume seiner Wohnung, nicht langsam, nicht in großer Hast. Im Bad schaute er kurz in den Spiegel, ließ das Waschbecken mit heißem Wasser volllaufen, dann tauchte er die Hände hinein. Zwei tote Fische, die nicht nach oben trieben, zwei tote Fische, die auf den Grund sanken. Die Hitze spürte er kaum, er zuckte nicht zurück. An zwei Streifen Haushaltstuch trocknete er die Hände. Er ging um die auf dicke Stollen gestelzte Truhe in der Mitte des Wohnzimmers, nun wurde es Zeit.
In den Morgenstunden malte Renz Ikonen, er malte magere Männer, jeden Tag, die schlechten Tage ausgenommen. Es gelang ihm selten ein Bild auf Anhieb, aber er versuchte es immer wieder, er war kein schlechter Zeichner.
Sein Blick fiel auf die Urne im Regal - ein Schritt, drei Schritte. Er hob den Deckel, befeuchtete eine Fingerkuppe, die Fingerspitze verschwand kurz in der Urne, dann rieb er sich Asche auf die Zunge. Renz schluckte nicht.
Er griff zur Haarspraydose und drückte auf den Sprühknopf - es ging nicht. Mit einer Nadel stach er mehrmals
in die verstopfte Düse, beim nächsten Versuch ging es. Er sah sich das Blatt an, ließ Ruß und Goldblatt darauf niedergehen. Der leuchtende Kranz am Haupt des heiligen Mannes in Gold. Die Robe, die sich auf dem Spann der Füße in Falten legt, rußgeschwärzt. Nun drückte er auf die Düse, der Sprühnebel verklebte die hellen und dunklen Stücke mit dem Papier, es wellte sich, das Blatt glänzte. Er lehnte es gegen die halb leere Wasserflasche, trat zwei Schritte zurück, sah aus einigem Abstand hin. Der Täufer mit dem Gesicht seines Bekannten Kallu.
Kallu war fetter, der Täufer, sein gemalter Täufer, hatte eingefallene Wangen, dieser Täufer, so stellte Renz es sich vor, litt keine große Not, er aß sich einmal am Tag satt, verschmähte aber Beeren und Früchte. Sein Bart lief in Brusthöhe in verfilzten Locken aus. Da habe ich mich vermalt, dachte Renz, alles richtig bis auf den Bart. In der Schublade, in der er seine Bunt- und Pastellkreidestifte aufbewahrte, fand er auch den Pinsel zum Ausstreichen der überstehenden Farbe. Noch war es zu früh, der billige Lacküberzug musste trocknen, er würde den dünnen Film aufreißen, wenn er sich vor der Zeit an die Arbeit machte.
Er öffnete das Fenster, trat aber schnell zurück. Ein Mann, den er kannte, lief am Haus vorbei. Aus dem Augenwinkel sah Renz, dass das gewellte Blatt zur Seite fiel, sprang zum Tisch, drehte das Bild um und kratzte mit der Spitze eines Vorlegemessers am Lack auf dem Bart des Heiligen. Dann nahm er einen Teleskoppinsel, tauchte ihn in eine Kristallphiole und verstrich das verdünnte Weiß vorsichtig über die Bartlocken. Eine Viertelstunde saß er ab, Schicht um Schicht verdeckte er den Makel, den Fehler, den Pfusch. Den weißen Fleck bestrich er mit durchsichtigem Bindemittel. Renz war nicht unzufrieden, aber auch nicht glücklich. Es hätte ihm doch heute alles gelingen können.
Draußen schrie ein Mann: Heut gibt's Speck, das gibt Glanz auf die Kötteln! Kommt raus, ihr pennt euch doch in den Tod! Wüste Gebärden, der Mann torkelte, fing sich aber vor dem Fall. Seine Schreie trieben die Frauen ans Fenster, sie hatten sich gesteppte Morgenmäntel übergestreift. Die Neuverheiratete vom Haus gegenüber zupfte aufgeregt am Haarnetz, lehnte sich über die Fensterbank und rief dem Mann unten zu, er solle Ruhe geben und abziehen. Und der Mann gab kein Widerwort, Renz sah ihn davongehen, bis zur Baustelle am Ende des Marktplatzes, er hielt sich kurz an einem Steinpoller fest, dann verschwand er um die Ecke. Die Neuverheiratete schaute zu Renz herüber. Hätte er die Tischlampe rechtzeitig ausgeschaltet, müsste er ihr nun nicht verlegen zuwinken. Sie zog den Vorhang zu, und Renz löste sich vom Fensterplatz, der bittere Geschmack in seinem Mund ließ ihn würgen.
Er wollte, da das fixierte Blatt noch weiter trocknen musste, die Intarsienblattranken an der vorderen Kastenwand der Truhe abzeichnen. Bögen konnte er nicht, er musste aber. Also übte er den Schwung aus dem Handgelenk: ein Mann am Wintermorgen mit kreisender rechter Hand. Er zeichnete halbe und ganze Kreise in die Luft, der Schmerz fuhr ihm jäh in den Arm, darauf hatte er gewartet. Er legte seine Hand auf den Truhendeckel, ein zappelnder Fisch auf dem Trockenen. Er wartete ab, er geduldete sich. Bögen konnte er nicht, was missriet ihm noch trotz Übung? Bart und Haar und Knie am Mann, Rücken und Nacken und Schultern an der Frau. Bein konnte er, Kopf konnte er, Fingerkuppen konnte er. Die groben Poren der Nase von alten Männern hatte er bis zum Überdruss geübt, er konnte sie sogar auf Leinwand malen: Farbe aufstreichen, dünn, Farbe abtragen mit der Schmierkelle, mit dem festgedrückten Wattepfropfen nachtupfen.
Nun ballte er die Hand zur Faust und pumpte und pumpte. Über dem Abfalleimer schnitt er ein Brötchen auf, rupfte Bissen ab und schob sie sich in den Mund, kaute und schluckte, schluckte das Brot, schluckte die Asche hinunter.
In welchen Himmel ragt der Heilige?, dachte Renz, ist er nach langen Jahren herausgetreten aus der Höhle und blendet ihn das Blau? Ein Blau ohne Weiß, oder ein Eisblau ohne Licht. Am langen Stiel des Pinsels in seiner Hand entdeckte er verkrustete Farbe, Pickel und Pocken an der Zwinge. Also schabte er sie mit der Rasierklinge ab, um hiernach das Blau zu rühren, ein dunstverschleiertes Blau. Und dann trug er die Farbe auf, der Glorienschein strahlte, wie er strahlen sollte. Er befeuchtete die Bleistiftspitze und drückte die weiche Mine beim Zeichnen auf. Ein Kringel, ein zweiter Kringel, kein Zittern mehr. Am Ende hatte er es hinbekommen, es war ihm gelungen. Fast. Er könnte, wie er das manchmal tat, den Körper und den Himmel ausschneiden, auf ein anderes makelloses Blatt kleben und einen bartlosen Kopf dazumalen. Ein pfuschender Tafelmaler war Renz aber nicht, und er fertigte auch keine Abbilder von rattengesichtigen Heiligen an. Es wurde Zeit.
Den Schal stopfte er in den Ausschnitt seiner zugeknöpften Cordjacke, die Gürtelschnalle zog er über den obersten Hosenknopf, stieg in die Schuhe, rückte und drückte, bis die Fersen endlich hineinglitten. Sein Blick fiel auf die beiden kleinen Zinkkübel im Flur, Glasscherben statt Topferde, aus jedem eingefassten Scherbenhaufen ragte der Stängel einer Plastikblume in die Höhe. Krepppapier statt echter Blüten. Die Kübel nahm er mit, er konnte sie zur Not verschenken.
Die Straßenlaternen brannten noch, die Metzgerei war erleuchtet, die ins Pflaster eingetretenen Kaugummiplacken leuchteten an diesem trüben Morgen. Renz ging über die
Straße, setzte hier und da den Fuß über Schneematschkämme und stand nach abgezählten siebzehneinhalb Schritten vor dem Seltershäuschen aus Klinker. Kein Schaden, keine neue gesprühte Losung oder Ferkelei. Nur zwei gestauchte Bierdosen, die zwischen den Scherengittern vorm Verkaufstresen steckten. Er schloss auf, klopfte an der Trittkante den Schnee von den Sohlen, faltete Zeitungspapier auf und legte die Doppelseiten übereinander auf den Boden. Dann schaltete er die Kaffeemaschine an, ging hinaus, schloss die Eisenkiste auf, die schwere Kette fiel klirrend auf seine Schuhe. Die eingeschweißten Zeitungsstapel trug er in die Bude, kehrte nach draußen zurück, um über die Plastikstangen unterm Flachdach Werbefahnen für Eis, Lotto und Zeitungen zu streifen. Eine Leiter brauchte Renz dafür nicht, er stellte sich einfach auf die Fußspitzen. Dann klappte er die Stelltafeln auf, eine Kreidetafel links außen, eine Tafel rechts außen, die Eingangsschneise zur Bude war markiert. Er fror. Eine schwarz-weiß gescheckte Taube flog ihm vor die Füße. Renz zog die Hosentaschen nach außen, Körner und Brotkrümel fielen der Taube vor den Schnabel. Sie fing sofort an zu picken, das müsste reichen. Wieder hinein, jetzt erst einmal die Inventarliste durchgehen.
Dann sah er das entstellte Gesicht unter der roten Strumpfhose¬, es erschien plötzlich in der Sichtluke über der Münzschale. Renz starrte auf die flachen Lippen, die sich öffneten und schlossen, sich öffneten und schlossen, und da stieß der Mann mit dem Kolben des schwarzen Metalls in seiner Hand gegen die Scheibe, klopfte mit der Mündung dagegen. Renz schob die Scheibe zur Seite, und der Mann sagte mit hoher, verstellter Stimme: Gib alles her, was du hast, aber zack, zack! Und weil sonst nichts half, packte er mit der freien Hand Renz am Kragen und schüttelte ihn. Renz riss sich los, griff nach hinten, bekam eine Konserve zu fassen, warf und traf. Im nächsten Moment sprang der Räuber weg, lief bis zu den Pollern, fiel trotz des vereisten Pflasters nicht hin, und das verblüffte Renz.
Er schreckte zusammen, als das Mobiltelefon in seiner Jackentasche klingelte.
Du bist heut früh dran, sagte Renz.
Ich kann nicht kommen, sagte sein Schwiegervater, wenn du denkst, ich mach blau, hast du dich geschnitten.
Ich hab einen Überfall überlebt.
Was ist los?
Gerade eben, sagte Renz, ein Kerl in meinem Alter oder etwas älter. Hatte ne rote Strumpfhose ohne Füßling überm Kopf. Die Waffe war nicht echt, glaub ich, das war ne bessere Zündstreifenpistole ...
Da wird der Hund inner Pfanne verrückt!
Ja, sagte Renz.
Hast du ihn aus'm Hemd gehauen?
Der hat ne Raviolidose abgekriegt. Ausgeraubt hat er mich jedenfalls nicht.
Alles klar, heut ist ja dein besonderer Tag, sagte Eckart. Ja.
Musst du unbedingt weg?
Muss sein, ja, sagte Renz.
Dann verdienen wir so gut wie nix. Und nix geteilt durch zwei ist wieder nix.
Ich hab noch bis Mittag, sagte Renz, den Vormittag kassieren wir wie gehabt. Und abends schließe ich wieder auf.
Auf der A2 ist ein Laster umgekippt. Kam im Funk durch. Würd ja gerne, kann aber nicht. Ich steck hier fest.
Das wird so nix, sagte Renz, du musst sie mal fragen, ob sie einen Freund hat. Oder ob sie einen Freund braucht.
Zähl das Rückgeld immer ab, sagte Eckart und beendete das Gespräch.
Renz' Schwiegervater verbrachte zwei Nächte und anderthalb Tage in einem Rasthofmotel bei Hamm im Gewerbegebiet. Er schwärmte die Bedienung am Schaschlik- und Schnitzeltresen an, eine Frau mit Papierhaube und Papierschürze, eine müde Frau, die die Kelle schwang und fast immer ernst und nüchtern sprach. Sie hatte Eckart angesehen und gefragt: Was kann ich für Sie tun? Da hatte er gewusst, wenn er nicht aufpasste, würde es ihn erwischen - und er passte nicht auf. Die Angestellten stießen sich an, sie feixten und machten ihre Späßchen, doch Eckart saß nur in ihrer Nähe und traute sich nicht, die Müde von der Essensausgabe anzusprechen. Er glaubte fest daran: Das war eine Frau, die das Glück heraussang - aus dem Beton, aus dem Asphalt, aus dem Schnaps und dem Bier, aus dem alten Bratfett in der Pfanne. Wenn es so weiterging, würde für ihn ein Sonntagsmärchen wahr werden.
Nun war Ruhe. Nun öffneten die Geschäfte. Renz goss sich den Becher voll, verließ die Bude, rüttelte an der Tür der Toilette für Frauen, abgeschlossen, rüttelte an der Tür der Herrentoilette, auch zu. Sein allmorgendlicher Kontrollgang war im Pachtvertrag festgeschrieben, und auch abends musste er nachschauen, dass keiner sich versteckte in einer kalten Kabine. An die alte Bedürfnisanstalt hatte man die Bude angebaut, die Leute nannten Renz im Scherz den Pullerbudenwärter. Nun machten die Menschen in der Früh Laute und Geräusche, er schaute hoch zum Stück Duisburger Himmel über den Dächern der Häuser auf dem Neumarkt, graues Licht und ein Streifen Weiß. Was noch grünte, war sterbendes Grün, kein Blatt an den Ästen. Oktober, November, und nach dem letzten Monat war ein Jahr schon wieder
um. Die Frau mit Haaren in Brombeerrot, Renz sah sie von einer schmalen Seite des Platzes zur anderen eilen, sie drehte sich mittendrin um, nickte ihm zu, und da er vergaß, zurückzunicken, eilte sie kopfschüttelnd weiter.
Renz träumte mit offenen Augen.
Wir tilgen den Makel, wir beheben den Fehler, wir werden sanft und nüchtern, wir werden zu Schweinen nicht entarten.
Wir wischen uns den schwarzen Staub vom Gesicht.
Wir spucken nicht in den Rhein. Wir spucken nicht in die Ruhr. Wir träumen: Die Feuer sind nicht verloschen, die Hochöfen sind nicht ausgeblasen, die Hochofenabstiche färben den Himmel rot. Wir pfl ücken wilde Möhre auf der Brache. Und essen. Wir legen die Portionswurst ins Näpfchen. Und essen. Es schwimmt eine Kugel Vanilleeis im Kaffee. Wir trinken und essen.
Wir können von Resten leben. Wir essen. Wir kommen über den Winter.
In der neuen Zeit legt man die schokolierte Espressobohne auf die Untertasse. Wir legen sie uns wie ein Bonbon auf die Zunge. Und zerknacken sie. Und essen und schlucken.
Renz wischte sich den Traum aus den Augen, stellte die Zinkkübel auf das dünne Holzbrett vor dem Verkaufstresen, an den Glasscherben fing sich das bisschen Licht, die Scher-ben funkelten in den Farben des kalten Herbsttages. Er ging wieder hinein, trank den Kaffee aus, setzte sich auf den Hocker, hüllte sich in die Decke ein.
Und dann kam Kallu im weißen Zopfstrickpulli, Nieten an den beiden vorderen Hosentaschen und kleine, in den Stoff eingestochene Bügel, sie sahen aus wie Rouladenklammern. Er rasierte sich, wie er einmal verkündet hatte, seit zwei Monaten selektiv, die Bartleisten setzten unter den Nasenlöchern auf der Oberlippe an und zogen sich einen Fingerbreit neben den Mundwinkeln bis zum Hals. Die Leisten trimmte er auf die richtige Länge, und die Restfl äche
seines Gesichts schabte er von Stoppeln frei. Renz sah ihn unterwegs die Raviolidose aufheben, natürlich steckte er sie ein.
Kallus erster Satz an der Sichtluke der Bude: Schnee gehört auf Postkarten.
Versteh ich, sagte Renz.
Was starrst du mich an?
Ich stell mir vor, wie du mit langem Bart aussiehst.
Kannst du abhaken, sagte Kallu, ich rasier mich acht Mal die Woche. Sieben Mal morgens, am Sonntag auch vorm Schlafengehen.
Wieso denn das?
Mein Vatter selig hats mir eingeprügelt. Der meinte immer: Sonntag machst du dich zwo Male fein für den guten Gott ... Is auch egal. Gib mir lieber Reformzaretten, nicht die Milden, da hat sich Eckart mit der Marke vertan, gestern¬. Und ein Pott voll von deinem Landserkaffee will ich auch haben. Was kost der?
Achtzig Cent, sagte Renz und stellte ihm die Zigarettenschachtel und den dampfenden Becher hin. Kallu riss das Zellophan auf, fummelte sich eine Filterzigarette heraus, hielt die hohle Hand an der Zippoflamme. Nahm einen tiefen Zug. Trank einen großen Schluck.
Himmelarsch, rief er aus, schmeckt wie Knüppel auffen Kopp.
Vier gestrichene Löffel Kaffee kipp ich in die Filtertüte, sagte Renz, erst aufgießen, dann warten, bis das Wasser ganz durchläuft. Dann nachgießen.
Das ist ne Mörderbrühe, sagte Kallu.
Musst du nicht trinken.
Doch, muss ich. Im Keller hab ich Ratten. Die machen sich über alles her, dem Nachbarn haben sie sogar die Jutesäcke zerfressen. Da musst du dir was einfallen lassen,
hab ich ihm gesagt, kannst ja nicht mitm Pumpgewehr im Kabäuschen wachen wien Soldat und das Viech abballern. Gibt ja Riesensauerei. Wollt der aber, der Nachbar, der is doof wie ne Karre Asche. Ich hab gedacht, wenn der Tortenarsch im Keller schießen tut, sind meine Flaschen in Gefahr. Ein Querschläger, und ich zieh die Arschkarte. Seine Kellerzelle ist gleich neben meiner. Ich also nach unten, schlepp drei Kisten auf einmal zu mir hoch auffen Balkon. Und was glaubst du, was passiert is?
Kein Schimmer, sagte Renz.
Na rate mal.
Bist ausgerutscht, runtergefallen und unten vorm Haus aufgeschlagen.
Hör mal auf jetzt, sagte Kallu, die Flaschen, alle kaputt, wegen Frost zerplatzt. Der Nachbar müsste mir Schadenersatz zahlen. Nur, seit ich weiß, der knallt im Keller die Ratten ab, hab ich Schiss. Der könnt mich glatt wegballern und dann sagen: Na ja, Kallu isn Riesentier vonnem Mann, das war reine Notwehr, der hat mich angefallen.
Der hat Angst vor seinem Schatten, sagte Renz.
Eben. Vor solchen Leuten musst du dich hüten. Da denkst du, ich bin ihm über. Und dann, na dann stehst du in deinem kurzen gewaschenen Hemd da.
Sie waren losgezogen, die vor sich hin summenden Kraftprotze, das tätowierte Volk, die fahlen Brüder, die die nassen Asphaltwege absuchten nach kleinem Dreck, man nannte sie die Ruhrathleten. Renz erkannte die Alten, er erkannte die Neuzugänge. Auch Kallu sah sich nach ihnen um. Jeder hatte einen Eimer und eine Greifzange, sie schwärmten über den Platz in Keilformation aus. An der Spitze schritt einer, den kannte man hier nicht, der kam wohl aus einem anderen Bezirk - er duckte sich weg bei jedem Schritt, und
wegen der Kälte vermummt war er auch. Hinter ihm die Jungen, mancher dünn, mancher dick, einer hatte Unterarme wie Jonglierkeulen, der sah tapfer aus. Er war flink, wahrscheinlich arbeitete er im Schlaf.
Die Truppe machte einen Schwenk an der Schmalseite des Platzes. Die Männer blieben stehen, wischten sich die Stirn trocken, steckten die Handtücher wieder ein, starrten zurück. Renz blickte weg, Kallu starrte weiter. Dann sagte er: Pünktlich auf die Minute, Bahn frei für die Gebrüder.
Renz griff blind zwei Schachteln Ohne Filter aus dem Zigarettenregal, legte die aufgerissenen Schachteln aufs Brett, und um die kurze Zeit bis zur Ankunft der neuen Kunden zu überbrücken, polierte er die Münzschale mit einem feuchten Lappen.
Grüß die Herren zur Morgenstund, sagte Hansgerd.
Ich frag mich, ist das mein Glückstag oder geh ich drauf, sagte Norbert mit der Plastikhand.
Du hast keine großen Organschäden, sagte Kallu, heut wird sein wie gestern und morgen.
Renz sah sie Rauch aus Mund und Nase ausstoßen, der Qualm hielt sich kurz in der Luft, dann zerstob er im Wind. Die Pfennigarbeiter waren weitergezogen, er hatte gehofft, dass sie bei ihm eine Pause einlegten. Bei ihm gab es keinen Rabatt, er schrieb nichts an, und Schuldzettel stellte er auch nicht aus - das hatte sich herumgesprochen. Manche kamen trotzdem, manche machten einen Bogen um seine Bude.
Gestern sollst du gemeint haben, mir meine Frau übernimmt das Schneeschippen, sagte Norbert zu Kallu.
Das is falsch, sagte Kallu, deine Frau war gestern hier. Die Schippe hatse uns allen vorgezeigt, dann hat sie von gesprochen, dass sie wullacken muss wie blöd.
Wenn die n Pappschälchen mit Pommes leer futtert, hatse danach Rückenschmerzen, sagte Norbert, wir wohnen Par-
terre, und im Mietvertrag steht: Bei Schnee und Eis obliegt die Räumpfl icht dem Mieter.
Angeschissen, rief Hansgerd.
So isses, sagte Norbert, wir habens schwarz auf weiß, dass wir ranmüssen. Ich hab mich mal schlaugemacht. Wenns rutschig wird vor der Haustür musst du streuen. Und streuen darfst du nur Sand, Schlacke oder Granulat.
Watt?
Granulat.
Aha.
Gehst hin zum Wertstoffhof, gibts für lau. Aber musst schon n eigenen Eimer mitbringen, sonst schicken sie dich weg.
Und du bist angeschissen, sagte Hansgerd.
So isses. Salz is verboten. Nur wenns hagelt. Oder wenn die Leute auffen Sohlen Schlitten fahren. Dann streust du Salz.
Oder Granulat.
Granulat geht immer, sagte Norbert, meine Frau hat mal damit gestreut, da hatte sie rote Flossen von. Sie sagt: Das nächste Mal zieh ich mir Handschuhe an, das brennt dann nicht nach.
Nun zier dich nich, sagte Kallu zu Renz.
Sein Schwiegervater hatte das Schnapsfach neu sortiert. Also stand Renz auf, drehte sich um: Korn, Wodka, Birnenbrand, Waldhimbeerschnaps, Feigenlikör, echter Überseerum - das preiswerte Sortiment. Ganz am Rande standen die größeren Flaschen Zisterzienserlikör aus Bochum-Stiepel. Eckart war zum Kloster gefahren und hatte einen Vorzugspreis ausgehandelt. Am Anfang des Monats tranken die Männer Likör, die ersten fünf Tage des Monats, dann wurde das Geld knapp und sie tranken bis zum Monatsende nur noch Korn oder Wodka.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Vor Tau und Tag stand er auf, stellte sich im Schlafanzug ans Fenster, es schneite und der Schnee blieb liegen. Er sah: Tauben auf den Antennen. Krähen auf den Lichtmasten. Schnee auf dem Meisenknödel, der am Zweig vor dem Balkon hing - die Vögel, aufgeweckt und aufgescheucht vom Blau des winterklaren Himmels, hatten hineingehackt. Schnee auf den Ästen.
Er wandte sich ab, strich sich übers Gesicht, lief durch die Räume seiner Wohnung, nicht langsam, nicht in großer Hast. Im Bad schaute er kurz in den Spiegel, ließ das Waschbecken mit heißem Wasser volllaufen, dann tauchte er die Hände hinein. Zwei tote Fische, die nicht nach oben trieben, zwei tote Fische, die auf den Grund sanken. Die Hitze spürte er kaum, er zuckte nicht zurück. An zwei Streifen Haushaltstuch trocknete er die Hände. Er ging um die auf dicke Stollen gestelzte Truhe in der Mitte des Wohnzimmers, nun wurde es Zeit.
In den Morgenstunden malte Renz Ikonen, er malte magere Männer, jeden Tag, die schlechten Tage ausgenommen. Es gelang ihm selten ein Bild auf Anhieb, aber er versuchte es immer wieder, er war kein schlechter Zeichner.
Sein Blick fiel auf die Urne im Regal - ein Schritt, drei Schritte. Er hob den Deckel, befeuchtete eine Fingerkuppe, die Fingerspitze verschwand kurz in der Urne, dann rieb er sich Asche auf die Zunge. Renz schluckte nicht.
Er griff zur Haarspraydose und drückte auf den Sprühknopf - es ging nicht. Mit einer Nadel stach er mehrmals
in die verstopfte Düse, beim nächsten Versuch ging es. Er sah sich das Blatt an, ließ Ruß und Goldblatt darauf niedergehen. Der leuchtende Kranz am Haupt des heiligen Mannes in Gold. Die Robe, die sich auf dem Spann der Füße in Falten legt, rußgeschwärzt. Nun drückte er auf die Düse, der Sprühnebel verklebte die hellen und dunklen Stücke mit dem Papier, es wellte sich, das Blatt glänzte. Er lehnte es gegen die halb leere Wasserflasche, trat zwei Schritte zurück, sah aus einigem Abstand hin. Der Täufer mit dem Gesicht seines Bekannten Kallu.
Kallu war fetter, der Täufer, sein gemalter Täufer, hatte eingefallene Wangen, dieser Täufer, so stellte Renz es sich vor, litt keine große Not, er aß sich einmal am Tag satt, verschmähte aber Beeren und Früchte. Sein Bart lief in Brusthöhe in verfilzten Locken aus. Da habe ich mich vermalt, dachte Renz, alles richtig bis auf den Bart. In der Schublade, in der er seine Bunt- und Pastellkreidestifte aufbewahrte, fand er auch den Pinsel zum Ausstreichen der überstehenden Farbe. Noch war es zu früh, der billige Lacküberzug musste trocknen, er würde den dünnen Film aufreißen, wenn er sich vor der Zeit an die Arbeit machte.
Er öffnete das Fenster, trat aber schnell zurück. Ein Mann, den er kannte, lief am Haus vorbei. Aus dem Augenwinkel sah Renz, dass das gewellte Blatt zur Seite fiel, sprang zum Tisch, drehte das Bild um und kratzte mit der Spitze eines Vorlegemessers am Lack auf dem Bart des Heiligen. Dann nahm er einen Teleskoppinsel, tauchte ihn in eine Kristallphiole und verstrich das verdünnte Weiß vorsichtig über die Bartlocken. Eine Viertelstunde saß er ab, Schicht um Schicht verdeckte er den Makel, den Fehler, den Pfusch. Den weißen Fleck bestrich er mit durchsichtigem Bindemittel. Renz war nicht unzufrieden, aber auch nicht glücklich. Es hätte ihm doch heute alles gelingen können.
Draußen schrie ein Mann: Heut gibt's Speck, das gibt Glanz auf die Kötteln! Kommt raus, ihr pennt euch doch in den Tod! Wüste Gebärden, der Mann torkelte, fing sich aber vor dem Fall. Seine Schreie trieben die Frauen ans Fenster, sie hatten sich gesteppte Morgenmäntel übergestreift. Die Neuverheiratete vom Haus gegenüber zupfte aufgeregt am Haarnetz, lehnte sich über die Fensterbank und rief dem Mann unten zu, er solle Ruhe geben und abziehen. Und der Mann gab kein Widerwort, Renz sah ihn davongehen, bis zur Baustelle am Ende des Marktplatzes, er hielt sich kurz an einem Steinpoller fest, dann verschwand er um die Ecke. Die Neuverheiratete schaute zu Renz herüber. Hätte er die Tischlampe rechtzeitig ausgeschaltet, müsste er ihr nun nicht verlegen zuwinken. Sie zog den Vorhang zu, und Renz löste sich vom Fensterplatz, der bittere Geschmack in seinem Mund ließ ihn würgen.
Er wollte, da das fixierte Blatt noch weiter trocknen musste, die Intarsienblattranken an der vorderen Kastenwand der Truhe abzeichnen. Bögen konnte er nicht, er musste aber. Also übte er den Schwung aus dem Handgelenk: ein Mann am Wintermorgen mit kreisender rechter Hand. Er zeichnete halbe und ganze Kreise in die Luft, der Schmerz fuhr ihm jäh in den Arm, darauf hatte er gewartet. Er legte seine Hand auf den Truhendeckel, ein zappelnder Fisch auf dem Trockenen. Er wartete ab, er geduldete sich. Bögen konnte er nicht, was missriet ihm noch trotz Übung? Bart und Haar und Knie am Mann, Rücken und Nacken und Schultern an der Frau. Bein konnte er, Kopf konnte er, Fingerkuppen konnte er. Die groben Poren der Nase von alten Männern hatte er bis zum Überdruss geübt, er konnte sie sogar auf Leinwand malen: Farbe aufstreichen, dünn, Farbe abtragen mit der Schmierkelle, mit dem festgedrückten Wattepfropfen nachtupfen.
Nun ballte er die Hand zur Faust und pumpte und pumpte. Über dem Abfalleimer schnitt er ein Brötchen auf, rupfte Bissen ab und schob sie sich in den Mund, kaute und schluckte, schluckte das Brot, schluckte die Asche hinunter.
In welchen Himmel ragt der Heilige?, dachte Renz, ist er nach langen Jahren herausgetreten aus der Höhle und blendet ihn das Blau? Ein Blau ohne Weiß, oder ein Eisblau ohne Licht. Am langen Stiel des Pinsels in seiner Hand entdeckte er verkrustete Farbe, Pickel und Pocken an der Zwinge. Also schabte er sie mit der Rasierklinge ab, um hiernach das Blau zu rühren, ein dunstverschleiertes Blau. Und dann trug er die Farbe auf, der Glorienschein strahlte, wie er strahlen sollte. Er befeuchtete die Bleistiftspitze und drückte die weiche Mine beim Zeichnen auf. Ein Kringel, ein zweiter Kringel, kein Zittern mehr. Am Ende hatte er es hinbekommen, es war ihm gelungen. Fast. Er könnte, wie er das manchmal tat, den Körper und den Himmel ausschneiden, auf ein anderes makelloses Blatt kleben und einen bartlosen Kopf dazumalen. Ein pfuschender Tafelmaler war Renz aber nicht, und er fertigte auch keine Abbilder von rattengesichtigen Heiligen an. Es wurde Zeit.
Den Schal stopfte er in den Ausschnitt seiner zugeknöpften Cordjacke, die Gürtelschnalle zog er über den obersten Hosenknopf, stieg in die Schuhe, rückte und drückte, bis die Fersen endlich hineinglitten. Sein Blick fiel auf die beiden kleinen Zinkkübel im Flur, Glasscherben statt Topferde, aus jedem eingefassten Scherbenhaufen ragte der Stängel einer Plastikblume in die Höhe. Krepppapier statt echter Blüten. Die Kübel nahm er mit, er konnte sie zur Not verschenken.
Die Straßenlaternen brannten noch, die Metzgerei war erleuchtet, die ins Pflaster eingetretenen Kaugummiplacken leuchteten an diesem trüben Morgen. Renz ging über die
Straße, setzte hier und da den Fuß über Schneematschkämme und stand nach abgezählten siebzehneinhalb Schritten vor dem Seltershäuschen aus Klinker. Kein Schaden, keine neue gesprühte Losung oder Ferkelei. Nur zwei gestauchte Bierdosen, die zwischen den Scherengittern vorm Verkaufstresen steckten. Er schloss auf, klopfte an der Trittkante den Schnee von den Sohlen, faltete Zeitungspapier auf und legte die Doppelseiten übereinander auf den Boden. Dann schaltete er die Kaffeemaschine an, ging hinaus, schloss die Eisenkiste auf, die schwere Kette fiel klirrend auf seine Schuhe. Die eingeschweißten Zeitungsstapel trug er in die Bude, kehrte nach draußen zurück, um über die Plastikstangen unterm Flachdach Werbefahnen für Eis, Lotto und Zeitungen zu streifen. Eine Leiter brauchte Renz dafür nicht, er stellte sich einfach auf die Fußspitzen. Dann klappte er die Stelltafeln auf, eine Kreidetafel links außen, eine Tafel rechts außen, die Eingangsschneise zur Bude war markiert. Er fror. Eine schwarz-weiß gescheckte Taube flog ihm vor die Füße. Renz zog die Hosentaschen nach außen, Körner und Brotkrümel fielen der Taube vor den Schnabel. Sie fing sofort an zu picken, das müsste reichen. Wieder hinein, jetzt erst einmal die Inventarliste durchgehen.
Dann sah er das entstellte Gesicht unter der roten Strumpfhose¬, es erschien plötzlich in der Sichtluke über der Münzschale. Renz starrte auf die flachen Lippen, die sich öffneten und schlossen, sich öffneten und schlossen, und da stieß der Mann mit dem Kolben des schwarzen Metalls in seiner Hand gegen die Scheibe, klopfte mit der Mündung dagegen. Renz schob die Scheibe zur Seite, und der Mann sagte mit hoher, verstellter Stimme: Gib alles her, was du hast, aber zack, zack! Und weil sonst nichts half, packte er mit der freien Hand Renz am Kragen und schüttelte ihn. Renz riss sich los, griff nach hinten, bekam eine Konserve zu fassen, warf und traf. Im nächsten Moment sprang der Räuber weg, lief bis zu den Pollern, fiel trotz des vereisten Pflasters nicht hin, und das verblüffte Renz.
Er schreckte zusammen, als das Mobiltelefon in seiner Jackentasche klingelte.
Du bist heut früh dran, sagte Renz.
Ich kann nicht kommen, sagte sein Schwiegervater, wenn du denkst, ich mach blau, hast du dich geschnitten.
Ich hab einen Überfall überlebt.
Was ist los?
Gerade eben, sagte Renz, ein Kerl in meinem Alter oder etwas älter. Hatte ne rote Strumpfhose ohne Füßling überm Kopf. Die Waffe war nicht echt, glaub ich, das war ne bessere Zündstreifenpistole ...
Da wird der Hund inner Pfanne verrückt!
Ja, sagte Renz.
Hast du ihn aus'm Hemd gehauen?
Der hat ne Raviolidose abgekriegt. Ausgeraubt hat er mich jedenfalls nicht.
Alles klar, heut ist ja dein besonderer Tag, sagte Eckart. Ja.
Musst du unbedingt weg?
Muss sein, ja, sagte Renz.
Dann verdienen wir so gut wie nix. Und nix geteilt durch zwei ist wieder nix.
Ich hab noch bis Mittag, sagte Renz, den Vormittag kassieren wir wie gehabt. Und abends schließe ich wieder auf.
Auf der A2 ist ein Laster umgekippt. Kam im Funk durch. Würd ja gerne, kann aber nicht. Ich steck hier fest.
Das wird so nix, sagte Renz, du musst sie mal fragen, ob sie einen Freund hat. Oder ob sie einen Freund braucht.
Zähl das Rückgeld immer ab, sagte Eckart und beendete das Gespräch.
Renz' Schwiegervater verbrachte zwei Nächte und anderthalb Tage in einem Rasthofmotel bei Hamm im Gewerbegebiet. Er schwärmte die Bedienung am Schaschlik- und Schnitzeltresen an, eine Frau mit Papierhaube und Papierschürze, eine müde Frau, die die Kelle schwang und fast immer ernst und nüchtern sprach. Sie hatte Eckart angesehen und gefragt: Was kann ich für Sie tun? Da hatte er gewusst, wenn er nicht aufpasste, würde es ihn erwischen - und er passte nicht auf. Die Angestellten stießen sich an, sie feixten und machten ihre Späßchen, doch Eckart saß nur in ihrer Nähe und traute sich nicht, die Müde von der Essensausgabe anzusprechen. Er glaubte fest daran: Das war eine Frau, die das Glück heraussang - aus dem Beton, aus dem Asphalt, aus dem Schnaps und dem Bier, aus dem alten Bratfett in der Pfanne. Wenn es so weiterging, würde für ihn ein Sonntagsmärchen wahr werden.
Nun war Ruhe. Nun öffneten die Geschäfte. Renz goss sich den Becher voll, verließ die Bude, rüttelte an der Tür der Toilette für Frauen, abgeschlossen, rüttelte an der Tür der Herrentoilette, auch zu. Sein allmorgendlicher Kontrollgang war im Pachtvertrag festgeschrieben, und auch abends musste er nachschauen, dass keiner sich versteckte in einer kalten Kabine. An die alte Bedürfnisanstalt hatte man die Bude angebaut, die Leute nannten Renz im Scherz den Pullerbudenwärter. Nun machten die Menschen in der Früh Laute und Geräusche, er schaute hoch zum Stück Duisburger Himmel über den Dächern der Häuser auf dem Neumarkt, graues Licht und ein Streifen Weiß. Was noch grünte, war sterbendes Grün, kein Blatt an den Ästen. Oktober, November, und nach dem letzten Monat war ein Jahr schon wieder
um. Die Frau mit Haaren in Brombeerrot, Renz sah sie von einer schmalen Seite des Platzes zur anderen eilen, sie drehte sich mittendrin um, nickte ihm zu, und da er vergaß, zurückzunicken, eilte sie kopfschüttelnd weiter.
Renz träumte mit offenen Augen.
Wir tilgen den Makel, wir beheben den Fehler, wir werden sanft und nüchtern, wir werden zu Schweinen nicht entarten.
Wir wischen uns den schwarzen Staub vom Gesicht.
Wir spucken nicht in den Rhein. Wir spucken nicht in die Ruhr. Wir träumen: Die Feuer sind nicht verloschen, die Hochöfen sind nicht ausgeblasen, die Hochofenabstiche färben den Himmel rot. Wir pfl ücken wilde Möhre auf der Brache. Und essen. Wir legen die Portionswurst ins Näpfchen. Und essen. Es schwimmt eine Kugel Vanilleeis im Kaffee. Wir trinken und essen.
Wir können von Resten leben. Wir essen. Wir kommen über den Winter.
In der neuen Zeit legt man die schokolierte Espressobohne auf die Untertasse. Wir legen sie uns wie ein Bonbon auf die Zunge. Und zerknacken sie. Und essen und schlucken.
Renz wischte sich den Traum aus den Augen, stellte die Zinkkübel auf das dünne Holzbrett vor dem Verkaufstresen, an den Glasscherben fing sich das bisschen Licht, die Scher-ben funkelten in den Farben des kalten Herbsttages. Er ging wieder hinein, trank den Kaffee aus, setzte sich auf den Hocker, hüllte sich in die Decke ein.
Und dann kam Kallu im weißen Zopfstrickpulli, Nieten an den beiden vorderen Hosentaschen und kleine, in den Stoff eingestochene Bügel, sie sahen aus wie Rouladenklammern. Er rasierte sich, wie er einmal verkündet hatte, seit zwei Monaten selektiv, die Bartleisten setzten unter den Nasenlöchern auf der Oberlippe an und zogen sich einen Fingerbreit neben den Mundwinkeln bis zum Hals. Die Leisten trimmte er auf die richtige Länge, und die Restfl äche
seines Gesichts schabte er von Stoppeln frei. Renz sah ihn unterwegs die Raviolidose aufheben, natürlich steckte er sie ein.
Kallus erster Satz an der Sichtluke der Bude: Schnee gehört auf Postkarten.
Versteh ich, sagte Renz.
Was starrst du mich an?
Ich stell mir vor, wie du mit langem Bart aussiehst.
Kannst du abhaken, sagte Kallu, ich rasier mich acht Mal die Woche. Sieben Mal morgens, am Sonntag auch vorm Schlafengehen.
Wieso denn das?
Mein Vatter selig hats mir eingeprügelt. Der meinte immer: Sonntag machst du dich zwo Male fein für den guten Gott ... Is auch egal. Gib mir lieber Reformzaretten, nicht die Milden, da hat sich Eckart mit der Marke vertan, gestern¬. Und ein Pott voll von deinem Landserkaffee will ich auch haben. Was kost der?
Achtzig Cent, sagte Renz und stellte ihm die Zigarettenschachtel und den dampfenden Becher hin. Kallu riss das Zellophan auf, fummelte sich eine Filterzigarette heraus, hielt die hohle Hand an der Zippoflamme. Nahm einen tiefen Zug. Trank einen großen Schluck.
Himmelarsch, rief er aus, schmeckt wie Knüppel auffen Kopp.
Vier gestrichene Löffel Kaffee kipp ich in die Filtertüte, sagte Renz, erst aufgießen, dann warten, bis das Wasser ganz durchläuft. Dann nachgießen.
Das ist ne Mörderbrühe, sagte Kallu.
Musst du nicht trinken.
Doch, muss ich. Im Keller hab ich Ratten. Die machen sich über alles her, dem Nachbarn haben sie sogar die Jutesäcke zerfressen. Da musst du dir was einfallen lassen,
hab ich ihm gesagt, kannst ja nicht mitm Pumpgewehr im Kabäuschen wachen wien Soldat und das Viech abballern. Gibt ja Riesensauerei. Wollt der aber, der Nachbar, der is doof wie ne Karre Asche. Ich hab gedacht, wenn der Tortenarsch im Keller schießen tut, sind meine Flaschen in Gefahr. Ein Querschläger, und ich zieh die Arschkarte. Seine Kellerzelle ist gleich neben meiner. Ich also nach unten, schlepp drei Kisten auf einmal zu mir hoch auffen Balkon. Und was glaubst du, was passiert is?
Kein Schimmer, sagte Renz.
Na rate mal.
Bist ausgerutscht, runtergefallen und unten vorm Haus aufgeschlagen.
Hör mal auf jetzt, sagte Kallu, die Flaschen, alle kaputt, wegen Frost zerplatzt. Der Nachbar müsste mir Schadenersatz zahlen. Nur, seit ich weiß, der knallt im Keller die Ratten ab, hab ich Schiss. Der könnt mich glatt wegballern und dann sagen: Na ja, Kallu isn Riesentier vonnem Mann, das war reine Notwehr, der hat mich angefallen.
Der hat Angst vor seinem Schatten, sagte Renz.
Eben. Vor solchen Leuten musst du dich hüten. Da denkst du, ich bin ihm über. Und dann, na dann stehst du in deinem kurzen gewaschenen Hemd da.
Sie waren losgezogen, die vor sich hin summenden Kraftprotze, das tätowierte Volk, die fahlen Brüder, die die nassen Asphaltwege absuchten nach kleinem Dreck, man nannte sie die Ruhrathleten. Renz erkannte die Alten, er erkannte die Neuzugänge. Auch Kallu sah sich nach ihnen um. Jeder hatte einen Eimer und eine Greifzange, sie schwärmten über den Platz in Keilformation aus. An der Spitze schritt einer, den kannte man hier nicht, der kam wohl aus einem anderen Bezirk - er duckte sich weg bei jedem Schritt, und
wegen der Kälte vermummt war er auch. Hinter ihm die Jungen, mancher dünn, mancher dick, einer hatte Unterarme wie Jonglierkeulen, der sah tapfer aus. Er war flink, wahrscheinlich arbeitete er im Schlaf.
Die Truppe machte einen Schwenk an der Schmalseite des Platzes. Die Männer blieben stehen, wischten sich die Stirn trocken, steckten die Handtücher wieder ein, starrten zurück. Renz blickte weg, Kallu starrte weiter. Dann sagte er: Pünktlich auf die Minute, Bahn frei für die Gebrüder.
Renz griff blind zwei Schachteln Ohne Filter aus dem Zigarettenregal, legte die aufgerissenen Schachteln aufs Brett, und um die kurze Zeit bis zur Ankunft der neuen Kunden zu überbrücken, polierte er die Münzschale mit einem feuchten Lappen.
Grüß die Herren zur Morgenstund, sagte Hansgerd.
Ich frag mich, ist das mein Glückstag oder geh ich drauf, sagte Norbert mit der Plastikhand.
Du hast keine großen Organschäden, sagte Kallu, heut wird sein wie gestern und morgen.
Renz sah sie Rauch aus Mund und Nase ausstoßen, der Qualm hielt sich kurz in der Luft, dann zerstob er im Wind. Die Pfennigarbeiter waren weitergezogen, er hatte gehofft, dass sie bei ihm eine Pause einlegten. Bei ihm gab es keinen Rabatt, er schrieb nichts an, und Schuldzettel stellte er auch nicht aus - das hatte sich herumgesprochen. Manche kamen trotzdem, manche machten einen Bogen um seine Bude.
Gestern sollst du gemeint haben, mir meine Frau übernimmt das Schneeschippen, sagte Norbert zu Kallu.
Das is falsch, sagte Kallu, deine Frau war gestern hier. Die Schippe hatse uns allen vorgezeigt, dann hat sie von gesprochen, dass sie wullacken muss wie blöd.
Wenn die n Pappschälchen mit Pommes leer futtert, hatse danach Rückenschmerzen, sagte Norbert, wir wohnen Par-
terre, und im Mietvertrag steht: Bei Schnee und Eis obliegt die Räumpfl icht dem Mieter.
Angeschissen, rief Hansgerd.
So isses, sagte Norbert, wir habens schwarz auf weiß, dass wir ranmüssen. Ich hab mich mal schlaugemacht. Wenns rutschig wird vor der Haustür musst du streuen. Und streuen darfst du nur Sand, Schlacke oder Granulat.
Watt?
Granulat.
Aha.
Gehst hin zum Wertstoffhof, gibts für lau. Aber musst schon n eigenen Eimer mitbringen, sonst schicken sie dich weg.
Und du bist angeschissen, sagte Hansgerd.
So isses. Salz is verboten. Nur wenns hagelt. Oder wenn die Leute auffen Sohlen Schlitten fahren. Dann streust du Salz.
Oder Granulat.
Granulat geht immer, sagte Norbert, meine Frau hat mal damit gestreut, da hatte sie rote Flossen von. Sie sagt: Das nächste Mal zieh ich mir Handschuhe an, das brennt dann nicht nach.
Nun zier dich nich, sagte Kallu zu Renz.
Sein Schwiegervater hatte das Schnapsfach neu sortiert. Also stand Renz auf, drehte sich um: Korn, Wodka, Birnenbrand, Waldhimbeerschnaps, Feigenlikör, echter Überseerum - das preiswerte Sortiment. Ganz am Rande standen die größeren Flaschen Zisterzienserlikör aus Bochum-Stiepel. Eckart war zum Kloster gefahren und hatte einen Vorzugspreis ausgehandelt. Am Anfang des Monats tranken die Männer Likör, die ersten fünf Tage des Monats, dann wurde das Geld knapp und sie tranken bis zum Monatsende nur noch Korn oder Wodka.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Feridun Zaimoglu
Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit etwa 45 Jahren in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel, wo er seither als Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und Journalist arbeitet. Er schreibt für »Die Welt«, die »Frankfurter Rundschau«, »Die Zeit« und die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. 2002 wurde er mit dem Hebbel-Preis ausgezeichnet, 2003 dem Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und 2004 dem Adelbert-von-Chamisso-Preis. Im Jahr 2005 war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Im selben Jahr erhielt er den Hugo-Ball-Preis und 2007 den Grimmelshausen-Preis, 2008 den Corine-Preis, 2010 den Jakob-Wassermann-Literaturpreis und 2012 den Preis der Literaturhäuser. Im Jahr 2015 war er Stadtschreiber von Mainz, und 2016 wurde ihm der Berliner Literaturpreis zugesprochen. Er veröffentlichte unter anderem die Erzählungen »Zwölf Gramm Glück« und das Buch »Rom intensiv«, die Romane »German Amok«, »Leyla«, »Liebesbrand«, »Hinterland«, »Isabel«, »Siebentürmeviertel« und zuletzt »Die Geschichte der Frau«.Literaturpreise:Berliner Literaturpreis 2016Preis der Literaturhäuser 2012Corine 2008Grimmelshausen-Preis, 2007Hugo-Ball-Preis, 2005Stipendiat der Villa Massimo in Rom, 2005Adelbert-von-Chamisso-Preis, 2004Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, Klagenfurt, 2003 Hebbel-Preis, 2002
Bibliographische Angaben
- Autor: Feridun Zaimoglu
- 2013, 1. Auflage, 272 Seiten, Masse: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596194857
- ISBN-13: 9783596194858
- Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Rezension zu „Russ “
So kunstvoll wie immer, aber dieses Mal mit den Mitteln bewusster Verknappung, hat Feridun Zaimoglu einen lebensklugen und spannenden Roman über Deutschlands verwildernden Westen geschrieben. Meike Fessmann Süddeutsche Zeitung
Pressezitat
So kunstvoll wie immer, aber dieses Mal mit den Mitteln bewusster Verknappung, hat Feridun Zaimoglu einen lebensklugen und spannenden Roman über Deutschlands verwildernden Westen geschrieben. Meike Fessmann Süddeutsche Zeitung
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