"Nirgendwo und überall zu Haus"
In den vergangenen Jahren reiste Martin Doerry, dessen Buch über das Schicksal seiner jüdischen Grossmutter Lilli Jahn in 18 Sprachen übersetzt wurde, quer durch Europa und Amerika,...
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In den vergangenen Jahren reiste Martin Doerry, dessen Buch über das Schicksal seiner jüdischen Grossmutter Lilli Jahn in 18 Sprachen übersetzt wurde, quer durch Europa und Amerika, um mit Menschen zu sprechen, die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten knapp entkommen sind. Sie gehören zu den letzten Repräsentanten einer untergegangenen Welt des europäischen Judentums, und sie legen hier eindrucksvoll Zeugnis ab über ihre Geschichte, ihren Kampf ums Überleben und darüber, was es für sie bedeutet, Jude zu sein. Die SPIEGEL-Fotografin Monika Zucht begleitet die Texte mit ausdrucksstarken Schwarzweiss-Porträts.
Gespräche u.a. mit Imre Kertész, Heinz Berggruen, Ruth Klüger, Anita Lasker-Wallfisch, Arno Lustiger, Alfred Grosser, Peter Gay, Ralph Giordano, Agnes Sassoon, Saul Friedländer und Elie Wiesel
Nirgendwo und überall zu Haus vonMartin Doerry
LESEPROBE
Einleitung
Langsam senkt sich ein Schatten über die Erinnerung. Dieletzten Überlebenden des Holocaust und der Vertreibung des europäischenJudentums werden bald verstummt sein.
Viele von ihnen haben von ihrem Leidensweg durch dieKonzentrationslager, von Flucht und Emigration erzählt, andere haben ihr Leben langgeschwiegen und ihre Erinnerungen für sich behalten oder verdrängt.
Dieses Schweigen wird bald schon die Regel sein.Historiker, Nachgeborene müssen dann berichten. Aber was taugt die Erinnerungaus zweiter Hand? Werden kommende Generationen noch die Dimensionen diesesJahrtausendverbrechens erahnen können, wenn kein ehemaliger KZ-Häftling, keinEmigrant mehr aus eigener Erfahrung erzählen kann?
Elie Wiesel, der Friedensnobelpreisträger undÜberlebende von Auschwitz und Buchenwald, gibt auf diese Fragen im vorliegendenBuch eine optimistische Antwort: Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wirdselbst ein Zeuge werden."
Doch woher nimmt Wiesel diese Zuversicht? Womitsollen sich die Zeugen der Zeugen in Zukunft legitimieren? Sie mögen noch sokundig sein, es fehlt ihnen das Entscheidende: die unerschütterbare Beweiskraftder eigenen Vita, die Aura des Authentischen.
Andererseits: Eine Alternative gibt es nicht. DieNachgeborenen müssen sich zwangsläufig dieser grossen Verantwortung stellen, siemüssen den letzten Zeugen zuhören und deren Botschaften dann anderenvermitteln, auch wenn ein solches Unterfangen von Jahr zu Jahr, von Generationzu Generation schwieriger werden wird.
Dieser Aufgabe soll auch dieses Buch dienen. InGesprächen mit 24 Überlebenden werden typische Lebenswege nachgezeichnet -typisch, doch sicher nicht repräsentativ für die Biografien des europäischenJudentums im 20. Jahrhundert. Natürlich fänden sich noch viele weitere Musterund Modelle des Überlebens.
Es bleibt in diesen Gesprächen nicht bei der Rekonstruktion,zumal manche der Befragten ihr Leben schon in Memoiren beschrieben haben. Parallelerfolgt stets eine Interpretation des Erlebten, es werden Lehren gezogen, fürdie Zeitgenossen damals und heute. Aussergewöhnliche Erfahrungen schärfen dasUrteil, und so wirft jeder Zeuge auch einen kritischen Blick auf die Gegenwart.
Wer zählt zu den in diesem Buch versammelten Überlebenden"?
Selbstverständlich jene, die in den Konzentrationslagern- ob nun in Auschwitz, Bergen- Belsen, Dachau oder Buchenwald - durch die schrecklichstePrüfung ihres Lebens gingen. Aber auch jene jüdischen Kinder, die von ihren Elternin den Zug gesetzt und in die Fremde geschickt wurden, die ihre Familie meistnie wieder sahen. Oder jene, die sich über Jahre versteckten und unter falschemNamen untertauchten. Und schliesslich jene, die ihr Land verliessen und nach Amerika,Grossbritannien oder Palästina emigrierten. Sie alle überlebten - und verlorendabei häufig das, was ihnen lieb und teuer war: Eltern, Grosseltern,Geschwister, andere Verwandte, Freunde.
Und sie verloren ihre Heimat, ausnahmslos, selbstwenn sie später an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrten, nichts war oder wurdemehr wie früher. Er sei nirgendwo und überall zu Hause" sagt SaulFriedländer. Der in Prag geborene Historiker war von seinen Eltern in einemfranzösischen Kinderheim versteckt worden und pendelt heute zwischen Tel Avivund Los Angeles, Mutter und Vater kamen im Holocaust um. Fast alleGesprächspartner bezeugen diese Heimatlosigkeit des Überlebenden, die bleibendeEntwurzelung. Viele bestreiten allerdings vehement, zu den Überlebenden desHolocaust" zu zählen. Damit habe ich doch gar nichts zu tun", meint etwa HeinzBerggruen. Nur, der Kunstsammler weiss genau, dass er allein deswegen überlebthat, weil er Deutschland rechtzeitig verlassen hat. Ihm, dem jungen Mitarbeiterder Frankfurter Zeitung", hatten die Nazis das Schreiben verboten - also ginger nach Amerika.
Ich bin kein Überlebender", sagt auch Georges-ArthurGoldschmidt, der aus Reinbek bei Hamburg stammende Schriftsteller und Übersetzer. Überlebende sind nur diejenigen, die aus dem Tor eines KZs heraustretenkonnten." Tatsächlich überlebte der heute in Paris wohnende Autor, weil er, wieFriedländer, in einem französischen Kinderheim versteckt worden war - unterschrecklichen Bedingungen allerdings, als Opfer fast täglicher Prügelstrafen.
Aus Sicht von Berggruen oder Goldschmidt ist dieseenge Definition des Überlebens verständlich. Diejenigen, die nicht die Lagerdurchlitten haben, möchten sich nicht mit jenen KZ_Häftlingen auf eine Stufestellen, die unvorstellbares Leid gesehen und erfahren haben.
Aus unserer Sicht verbietet sich eine solche Unterscheidungjedoch. Wie und vor allem warum wollen wir heute beurteilen, ob die Trennung SaulFriedländers von seinen Eltern, dieses furchtbare Heimweh des plötzlichganz auf sich allein gestellten zehnjährigen Knaben, nun weniger schlimm warals die Tortur eines fünfzehnjährigen KZ-Häftlings wie Imre Kertész? Sicher, auchein Nachgeborener ahnt, dass es unterschiedliche Grade des Schreckens gibt.Aber wem helfen solche Abstufungen?
Zumal jene, die aus den Lagern entkommen konnten,ebenfalls davon überzeugt sind, dass sie die wahre Todesqual gar nicht erlebthaben. Die volle, uneingeschränkte Wahrheit kennen nur jene, die in denGaskammern gestorben sind", erklärt Kertész. Der Schriftsteller undLiteraturnobelpreisträger hatte in seinem Roman eines Schicksallosen" dieBedingungen des Überlebens im Konzentrationslager beschrieben. Um überleben zukönnen", sagt Kertész nun, musste man durch die Hölle gehen - und in der Höllewird man schmutzig." Kertész wird sogar noch deutlicher: Die Unschuldigen sinddie, die gestorben sind."
Ein erschreckendes Bekenntnis. Immer wieder berichtenÜberlebende von Gefühlen der Scham" und der Schuld", die sie zeitlebensverfolgten. So, als ob sie auf Kosten anderer überlebt hätten. Elie Wiesel, zumBeispiel, musste mit ansehen, wie sein Vater in Buchenwald zugrunde gerichtetwurde: Man hatte ihn geschlagen, und ich konnte ihm nicht helfen. In seinerletzten Stunde rief er meinen Namen. Am Ende antwortete ich nicht mehr. Ichfürchtete mich." Dass Wiesel sich bis heute schuldig" fühlt, ist so nachvollziehbarwie tragisch und ungerecht. Was hätte er tun sollen oder können? In der Regel erlaubtedas mörderische Lagersystem allenfalls das Ausnützen mehr oder wenigerglücklicher Umstände: Der eine stahl nur etwas Brot, der andere fand ein paarDollar in der Jacke eines schon getöteten Leidensgenossen und betrieb damiteinen florierenden Schwarzhandel - doch diese Dinge gehörten zum Alltag imLager.
Das Überleben selbst, so erklärt Anita Lasker- Wallfisch, war kompletter Zufall". Mit ihrer Schwester zusammen hatte die Musikerin die letztenKriegswochen im Konzentrationslager Bergen-Belsen verbracht, krank,ausgehungert, zwischen Bergen von Leichen. Wenn die Engländer drei Tage spätergekommen wären, hätten wir nicht mehr gelebt", berichtet Anita Lasker- Wallfisch.
Fast jeder Überlebende hat seinen Zufall gehabt, derihn überleben liess", meint auch die Germanistin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger.Und doch war es manchmal mehr als nur Glück, einige Voraussetzungen erhöhtenzumindest die Chancen: Wer nicht zu jung und nicht zu alt war, hatte bessereAussichten bei der Selektion vor den Gaskammern; wer gesund und kräftig war,schien den Nazis mit seiner Arbeitskraft nützlich; wer sich selbst nichtaufgab, ertrug die schier unerträglichen Strapazen am Ende womöglich doch.
Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben im Lager",berichtet der ehemalige Auschwitz- Häftling Ernest W. Michel, ich habe immer gedacht:Du musst das hier überleben." Der gebürtige Mannheimer wurde zum Zeugen, wie seinFreund Walter im Krankenbau des Lagers starb. Wenn ich heute von Auschwitzberichte, dann auch, weil ich mir damals geschworen habe, dass sein Leidennicht vergessen werden darf." Dieses Motiv teilt der New Yorker Spendensammler mitvielen anderen Zeitzeugen. Sie alle erzählen im Grunde ungern über ihreLeidensjahre, sei es aus Bescheidenheit, sei es, um ihre Kinder nicht zubelasten, sei es, um die schrecklichen Erinnerungen nicht wiederheraufzubeschwören. Und doch berichten sie vor Schulklassen oderKirchengemeinden, bei Gedenktagen oder Feierstunden. Und bei all dem empfindensie die moralische Pflicht, für jene zu sprechen, die an ihrer Seite getötetwurden. Wer sich dieser Aufgabe stellt, macht es sich und seiner Familie nichtleicht. Und wer es nicht tut, wartet vielleicht nur auf eine Aufforderung seinesPartners und seiner Kinder, endlich zu berichten. Doch ein Tabu verstellt invielen Familien solche Gespräche. Wissen wollten wir es nie allzu genau",gesteht etwa Gila Lustiger, die Tochter des ehemaligen Auschwitz-Häftlings ArnoLustiger. Offenbar verbindet die Überlebenden mit den nachfolgendenGenerationen vor allem der Wunsch nach Normalität. Allein schon der Begriff Überlebender" sei ein furchtbares Wort", findet Gila Lustiger. Es klammert denMenschen aus der Gesellschaft aus, auch aus der Gegenwart in Deutschland." Mit diesem Wort", so glaubt die junge Schriftstellerin, kommt einer aus dem Lagernie heraus". Doch ihr Vater, ein heute in Frankfurt lebender Textilkaufmann undHistoriker, widerspricht ausdrücklich: Das Glück, überlebt zu haben,überlagert für mich alles Negative, was in diesem Begriff stecken mag."
Lustiger hat schliesslich seine Geschichte erzählt,wenn auch erst 1985, auf einer Veranstaltung in Frankfurt zum 40. Jahrestag derBefreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Das Tabu war für ihn damiterstmals gebrochen. Niemand allerdings sollte erwarten, dass ein solcher Schritteine für alle Beteiligten befreiende Wir- kung erzielt: Jedes neue Gespräch,jede neue Äusserung über die Vergangenheit ist immer auch eine Belastung - fürden Erzähler und für seine Zuhörer.
In gewisser Hinsicht bleibt das Tabu ohnehin bestehen.Kein Überlebender erzählt alles. Die Sprache kapituliert stets vor dem wirklichEntsetzlichen. Das, was er erlebt habe, sei einfach zu gross und unglaublich",um es in Worte zu fassen, erklärt der in der Bukowina geborene und heute inIsrael lebende Schriftsteller Aharon Appelfeld. Im Alter von neun Jahren mussteer miterleben, wie seine Mutter erschossen wurde. Später floh er aus einemLager in einen Wald, wo er sich wochenlang auf der Flucht vor den Nazisversteckte.
Appelfelds literarisches Werk kreist um das Traumadieser Kindheit, vor der Beschreibung des Äussersten allerdings macht er immerHalt. Er sei persönlich sehr viel mehr Grausamkeiten begegnet", als er seinenLesern zumute, sagtauch Imre Kertész. Unklar bleibt jedoch, ob der Autor dabei nur Rücksicht aufdie Gefühle seines Publikums nimmt. Denkbar wäre auch, dass er sich selbstdamit vor seinen Erinnerungen schützt.
Nur wenige Überlebende sind nämlich in der Lage, dieselbsterlebten physischen Qualen und Quälereien explizit zu benennen. Zu den Ausnahmenzählt die Britin Agnes Sassoon, die 1944 im Alter von elf Jahren vom Schulhofin Budapest nach Dachau verschleppt worden war. Kurz vor Kriegsende musste siemit weiteren Häftlingen in ein anderes Lager marschieren: Eines Tages konnteich wirklich nicht mehr. Ich bin so beim Marschieren ganz langsam aus der Reihegetorkelt. Ein Soldat kam zu mir und sagte scheinbar ganz freundlich: KommKleine, setz dich hin und ruh dich aus. Und kaum sass ich am Strassenrand, dahat er geschossen." Der Schuss traf sie ins Bein, sie wurde ohnmächtig, bliebam Strassenrand liegen - und wurde auf wundersame Weise von einem Trupp französischerKriegsgefangener gerettet. Noch heute aber plagt sie die grosse, schlechtverheilte Narbe am rechten Unterschenkel.
Diese und andere Grausamkeiten beschreibt AgnesSassoon mit schockierender Offenheit. Dabei weiss sie, dass sie sich auf ihreErinnerung nicht unbedingt verlassen kann. Immer wieder gesteht sie: Ach, dageht vieles durcheinander" oder Meine Erinnerungen sind hier nur noch sehrverschwommen". Wer als Kind solchen Torturen ausgesetzt ist, hat freilich einRecht darauf, mehr als 60 Jahre danach bei der Schilderung mancher Details undAbläufe zu irren. Die aus dem ehemals tschechoslowakischen Vylok stammendeAgnes Sassoon hat ihre Ge- schichte in einem kleinen Büchlein unter dem lapidarenTitel Überlebt" bereits einmal erzählt. Viele Autoren wagen es nicht, ihreZweifel an der Präzision der eigenen Erinnerung zu reflektieren. Agnes Sassoondagegen räumt ihre Unsicherheit ein: War es tatsächlich die berüchtigte AufseherinIrma Grese, die ihr in Bergen-Belsen mit dem Stiefel auf die sich am Feuerwärmende Kinderhand trat? Ich weiss es nicht, es gab viele solcher Frauen."
Eine ganze Reihe der hier Befragten haben ihreLebensgeschichten oder Memoiren bereits publiziert. Zu den ersten zählten inden fünfziger Jahren Lotte Paepcke mit ihrem Erinnerungsbuch Unter einemfremden Stern" und Elie Wiesel mit Die Nacht". In den späten Siebzigern folgtendie in Berlin aufgewachsene und im Krieg untergetauchte" Journalistin Inge Deutschkron( Ich trug den gelben Stern") und der Historiker Saul Friedländer ( Wenn die Erinnerungkommt ").
All diese Bücher wurden im Grunde zu früh veröffentlicht.Erst in den neunziger Jahren wuchs das Interesse an solchen Stoffen erkennbar.Lucille Eichengreens Lebenserinnerungen Von Asche zum Leben" und Ruth KlügersBestseller weiter leben" erschienen 1992. Ein Jahr später veröffentlichteErnest W. Michel Promises To Keep" (bisher nur auf Englisch). Heinz Berggruens Hauptwege und Nebenwege" folgte 1996, Anita Lasker-Wallfisch mit Ihr solltdie Wahrheit erben" 1997, Peter Gays Meine deutsche Frage" erschien 1999 indeutscher Übersetzung.
(...)
© DVA
- Autor: Martin Doerry
- 2006, 1, 262 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Gebunden, Deutsch
- Fotografien v. Monika Zucht
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421042071
- ISBN-13: 9783421042071
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