Morpho peleides

Wieland blieb regelmässig stehen, wenn ihm auf der Strasse oder auf dem Stadtwall ein Passant mit einem Schäferhund begegnete oder - so geschah es hin und wieder auch - ein Hundebesitzer, der einen Boxer an der Leine führte. Es schnürte ihm den Magen zu, und er war unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Nicht selten glaubte er, Freia leibhaftig vor sich zu erblicken - die gleiche Haltung, die gleiche Fellfärbung, die gleichen Augen -, aber dann besann er sich und sah ein, dass er sich täuschte, dass er sich täuschen musste. Wieland befand sich auf dem Weg in die Berliner Strasse, ins Zoologische Institut. Von der Oberen Karspüle aus nahm er den immer gleichen Weg, Tag für Tag, der ihn am alten Botanischen Garten vorbeiführte, in dem er bei schönem Wetter bisweilen auf einer Bank zu sitzen und den Insekten bei ihrem spielerischen Treiben zuzusehen pflegte, und über den sich allmählich herbstlich verfärbenden Wall, auf den der frische, angenehm kühle Wind gerade rote und goldene Blätter regnen liess, unter die sich Marienkäfer und Ohrwürmer verkrochen. Den Hund sah er schon von weitem auf sich zukommen, und er verlangsamte seine Schritte, um Augenblicke später vollends zu erlahmen. "Attila, da bist du ja. Was machst du denn für Sachen. Entschuldigen Sie bitte, er ist mir ausgebüxt, das ist mir wirklich unangenehm. Attila, du ungezogener Flegel, du kannst doch nicht einfach ..." Wieland hatte die junge Frau gar nicht kommen hören, die da nun von oben auf ihn herabsah - er hockte noch immer vor dem Hund und verharrte in dieser Position.

Tobias Schwartz (geb. 1976) lebt als Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer in Berlin. Sein Debütroman "Film B" erschien 2007, seine Stücke wurden an verschiedenen deutschen Theatern gespielt. 2013 war Schwartz Stipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin, 2015 erhielt er das Albrecht-Lempp-Stipendium Krakau.Ebenfalls lieferbar: "Nordwestwärts" (2019) und "Vogelpark" (2020).