Meine Dibbuks
Verbesserte Träume
Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind? Was macht Freundschaft aus und wie hält man sich die toten und lebenden Dibbuks vom Leib, die von einem Besitz ergreifen wollen?
Luc Bondy erzählt von den Verlockungen und Schrecken der Kindheit, seiner Schulzeit...
Luc Bondy erzählt von den Verlockungen und Schrecken der Kindheit, seiner Schulzeit...
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Produktinformationen zu „Meine Dibbuks “
Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind? Was macht Freundschaft aus und wie hält man sich die toten und lebenden Dibbuks vom Leib, die von einem Besitz ergreifen wollen?
Luc Bondy erzählt von den Verlockungen und Schrecken der Kindheit, seiner Schulzeit im streng calvinistischen Internat, von zerbrechlichen Freundschaften und dem Tod des Vaters, von Künstlerfamilien und dem Alltag eines Regisseurs.
Prosaminiaturen, Dialoge und Erinnerungen eines grossen Theatermachers.
Luc Bondy erzählt von den Verlockungen und Schrecken der Kindheit, seiner Schulzeit im streng calvinistischen Internat, von zerbrechlichen Freundschaften und dem Tod des Vaters, von Künstlerfamilien und dem Alltag eines Regisseurs.
Prosaminiaturen, Dialoge und Erinnerungen eines grossen Theatermachers.
Klappentext zu „Meine Dibbuks “
Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind? Was macht Freundschaft aus und wie hält man sich die toten und lebenden Dibbuks vom Leib, die von einem Besitz ergreifen wollen?Luc Bondy erzählt von den Verlockungen und Schrecken der Kindheit, seiner Schulzeit im streng calvinistischen Internat, von zerbrechlichen Freundschaften und dem Tod des Vaters, von Künstlerfamilien und dem Alltag eines Regisseurs.
Prosaminiaturen, Dialoge und Erinnerungen eines grossen Theatermachers.
Lese-Probe zu „Meine Dibbuks “
Verspätete WidmungIch hatte zwei Väter: einen vor und einen nach dem Hirnschlag. Den zweiten sehe ich immer in seinem weissen Sessel vor mir und lesen, sich beim Lesen verlierend, über den Rand des Buches hinaus in die Ecke des Zimmers. Die Bücher, die ihm etwas bedeuteten, las er immer wieder. Mir war es, als liessen sie sich von ihm lesen, er musste sie nur aufschlagen.. Die Sätze schwebten ihm zu, glitten durch seine Stirnfalten. Sie heilten ihn, stellten sein Gedächtnis wieder her: Der Gesichtsausdruck verwandelte sich zurück zu seinem früheren ...
Mein Vater vor dem Schlag: Ich sehe seinen Rücken vor der Bibliothek und seine ausgestreckten Arme, die nach den Büchern tasten. Er nimmt eines heraus, streicht über den Einband, blättert kurz darin und schiebt es rasch zurück. Jetzt dreht er sich jäh um und ruft: Dis ! ("Sag!"), das alles bedeuten konnte: "Stell dir vor ..." "Weisst du, ..." "Da fällt mir ein ..." Es konnte etwas ganz Alltägliches sein, wie dieses Mal: "Vergiss nicht, deinen Grossvater anzurufen! Er hat Geburtstag." Ich nicke, er zieht wieder ein Buch heraus, öffnet es, atmet hinein, die Lippen zu einem leisen Pfeifen gespitzt - er war Asthmatiker, er bekam nie genug Luft. Lesend und mit dem Buch eine Beziehung aufnehmend, die nur er selbst verstand, geht er die Treppe hoch in sein Arbeitszimmer. In Paris wie in Zürich, immer lag sein Arbeitszimmer direkt unter dem Dach.
Schon früh am Morgen hörte ich die Schreibmaschine klappern, schnell und in unregelmässigen Intervallen. Wenn die Schreibmaschine schwieg, konsultierte er seine Bücher, deren Seiten er am Rand mit energischen Strichen versah. Er zitierte nie direkt, er bezog sich auf... Die Bücher, Zeitschriften, Aufsätze, Tageszeitungen waren seine Gesprächspartner oder Gegner. Seine Diskussionen führte er mit heftigem Schlagen gegen die Tasten seiner kleinen Olivetti, die auf dem Tisch nach hinten rutschte, wenn er sie nicht durch eine Unterlage bremste. Sonst war es still im Haus, die Mutter
... mehr
war einkaufen, die zwei Schwestern im Lycéum Molière, rue de l'Assomption, und ich auf der Privatschule, die ich fast jeden Monat wechselte, bevor ich ins Internat kam in den Pyrenäen, zwischen der Musikstadt Prades und dem gegen den Hang gepressten Dorf Mosset. Dorthin schrieb er mir Briefe in seiner kryptischen Schrift, und ich hatte Mühe, das Geschriebene zu entziffern. Doch weil er mit einer recht dicken Feder schrieb, die die Buchstaben in Schriftzeichen verwandelte, liess sich an ihnen seine jeweilige Stimmung ablesen. Der Inhalt der Briefe glich sich ohnehin, meist wollte er mich ermutigen, besser zu lernen, oder er wies mich auf ein Buch hin.
Ich versuche, so weit wie möglich zurückzugehen in meiner Erinnerung. Versuche herauszufinden, wann mir mein Vater das erste Mal erschienen ist. Meine Kindheit verbrachte ich bei meiner Grossmutter, Elsa Blumenstein, die Mutter meiner Mutter, und Joseph, meinem Grossvater. Letzterer trat kaum in Erscheinung, obwohl auch er sich die bescheidene Vierzimmerwohnung teilte. Er war dabei, sein Gedächtnis zu verlieren, und während er sich selbst verlor, verloren auch wir ihn - man nahm ihn immer weniger wahr. Ich suche meinen Vater und verweile bei Joseph, der sein Schwiegervater war.
Joseph hatte ein Gebiss. Das nahm er beim Mittag- und beim Abendessen heraus und legte es in ein Glas. Dann fielen seine obere Mundhälfte und die untere zusammen, und er sah aus wie ein tropischer Fisch. Unsere gemeinsamen Essen wurden von dem langsamen Rhythmus bestimmt, mit dem er gleichförmig die Speisen zerkaute. Mit dem Schliessen des Mundes schloss er die Augen, und beim Öffnen riss er sie wieder auf. Nach dem Essen sass er, der Gedächtnislose, in seinem blassolivem Fauteuil vor dem kleinem schwarzen Radio und lauschte den Nachrichten von "Radio Beromünster". Auch in diesem Bild sehe ich meinen Vater nicht. Und auch nicht meine Mutter und meine ältere Schwester.
Auf einem Schwarzweissphoto aus den fünfziger Jahren sitzt ein unförmiger Plüschlöwe auf meiner linken Schulter. Wer hat mich aufgenommen, und wem lächele ich zu? Im Hintergrund das gelbe Nachbarwohnhaus. Alle Häuser entlang der gewundenen Strasse waren gleichfarbig und gleichförmig gebaut. Zwischen ihnen die Wiese und zwei Hänge. Da taucht mein Vater zum ersten Mal auf, in einer hellen Wildlederjacke. Er macht einen sportlichen Eindruck, aber das war er nicht. Er spielte zwar sternschnuppenrasch Ping-Pong, aber sonst... Er konnte nicht einmal Autofahren, obwohl er es so gerne tat.
Ich sehe ihn mich lange nicht wirklich wahrnehmen. Am Heiligabend spazierten wir über die Invalides mit meinen Schwestern, während meine Mutter den Weihnachtsbaum schmückte. "Für die Kinder, warum sonst?", pflegte sie zu sagen. Mein Vater sprach mehr zu meinen Schwestern, er ging mit ihnen die Schulfächer durch: Geschichte, Literatur, Latein. Es war sehr kalt, und ich war beeindruckt von den grossen schwarzen Kanonen im Hintergrund. Jetzt drücken sich wieder die Gedächtnismuskeln zu. Etwas will mich diese Vergangenheit nicht sehen lassen.
Fast nie hörte ich ihn brüllen. Streng, manchmal unnachsichtig, ja, das war er ... Er konnte weder Übermut noch Affektiertheit ertragen. Er wollte nicht, dass wir uns in Illusionen wiegen. Persönliche Gespräche waren für ihn ein Greuel, das "intime Leben", "die Sorgen" mussten sich ihr eigenes Vokabular finden oder sich in Sokrates oder La Rochefoucauld verwandeln. Trotz dieser Abneigung gegen das "zu Persönliche" konnte man die Sorgen in seinen Augen lesen. Diese Art Zurückhaltung, ja, Scham fand ich später in der Figur Swann wieder. Jedesmal, wenn ich Proust lese, finde ich etwas von meinem Vater.
Wenn er sich einmal doch dazu aufraffte, eine persönliche Mitteilung zu machen, blieb sie mir im Bewusstsein, bis heute. Zum Beispiel diese: "Wenn man sich von einer Frau trennt, dann muss Zeit vergehen bis zur nächsten, sonst stimmt die Liebe zu letzterer nicht, es haftet an ihr zu viel Trauer oder Wut von der vorherigen." Dieselbe Logik liess ihn Naoum Goldman zustimmen, der meinte, Israel sei zu früh gegründet worden, es sei zu wenig Zeit vergangen nach Auschwitz. Schliesslich hätten die Juden damals auch viel Zeit in der Wüste verbracht nach ihrem Rausschmiss aus Ägypten, bevor sie ins Gelobte Land kamen. Mein Vater mochte es nicht, dass wir unser Judentum zu sehr betonten. Vor allem verabscheute er es, wenn es sich in eine Waffe des Mitleids verwandelte - er, der so jüdisch aussah und mir dieses Aussehen vererbt hat ...
Am meisten verabscheute mein Vater Sentimentalität, nackte Gefühle, überfliessende Herzen. Wenn ihm jemand zu nahe kam, trat er ein paar Schritte zurück. Ein Kuss von ihm fühlte sich an wie die Umarmung eines Skeletts. Seine Backe liess er nie länger als eine Viertelsekunde an meiner. Wie einen kleinen elektrischen Schlag spürte ich seine frischrasierte Haut.
Wir sitzen unter dem Weihnachtsbaum, und ich reisse ein Päckchen auf, eine kleine rote Schachtel. Es liegt ein silbernes Armband darin, das ich mir voller Freude um den Hals hänge. Mein Vater zuckt zusammen: Es ist für meine ältere Schwester bestimmt und war irrtümlicherweise auf meinem Haufen gelandet. Das Armband wird durch eine Cordhose ersetzt. Ich weine. Seitdem verspüre ich in mir ein Ziehen, wenn ich ein Geschenk aufmache. Und seitdem hasse ich nützliche Geschenke. Ich flüchte hinauf in das Arbeitszimmer meines Vaters - und ich weiss nicht mehr, wie es geschah, aber eine Ecke des Diwans fing Feuer. Habe ich ihn angezündet aus Rache? Aber wie hätte ich eine so mutige Tat vergessen können? Meine Mutter und meine Schwestern löschten die Flammen mit grossen Wassereimern. Weihnachten roch also nach kaltem Rauch.
Ich erinnere mich an eine andere Szene: Spätabends, es klingelt. Meine Mutter, barfuss und im Nachthemd, rennt in den Flur, reisst die Haustür auf und wirft sich weinend vor Glück an den Hals meines Vaters, der von einer langen Asienreise zurückkehrt. An der Türschwelle verletzt sie sich den Zeh, so dass inmitten der Freude auch Blut floss.
Und dann die Geschichte von Vivier und Semeuse, so hiessen sie. Im Bois de Saint Cloud erschossen sie Anfang der sechziger Jahre ein Liebespaar, für ein paar Geldscheine. Leblos und bleich lagen die Körper im Herbstlaub. Das Bild der beiden Mörder war in allen Zeitungen auf dem Titelblatt. Beide trugen feine Schnurbärte, so dass ich mich von da an vor Schnurrbärten fürchtete. Wenn ich meine Mutter zur Bäckerei begleitete und ein Mann mit Schnurrbart den Laden betrat, ergriff ich auf der Stelle die Flucht. Ich sammelte die Zeitungsausschnitte über Vivier und Semeuse und studierte ihr Gesicht. An die Umgebrachten dachte ich kaum. Ich roch an den Illustrierten, aus denen mir Vivier und Semeuse entgegenblickten, in Schwarzweiss, damals gab es noch keine Farbbilder in Paris-Match: Ich fragte mich, wo ich diesen Geruch wiederfinden könnte. Im Wald vielleicht? Aber dort wollte ich auf keinen Fall mehr hin. In einer der Illustrierten sah ich eine Mandeloperation: der Patient, um ihn herum vier Chirurgen, der offene Rachen. Trug einer der Chirurgen einen Schnurbart? Ich weiss es nicht mehr, aber das Photo roch wie das der Verbrecher, also brachte ich die Operation mit dem Mord in Zusammenhang. Der Bus, der die Kinder des Viertels zur Schule brachte, hielt oberhalb unseres Hauses an der rue de Momenrency, dort, wo auch die Eisenbahngleise nach Nordfrankreich verlaufen. Eines Morgens, als wir auf den Schulbus warteten, hielt gegenüber der Haltestelle ein Wagen. Ein Mann stieg aus, und die Angst packte mich bei der Brust: "Das ist einer der beiden Mörder!" schrie ich aus vollem Hals und sah, wie er zwei Revolver auf mich richtete. Ich rannte davon, rannte und rannte, bis ich gegen einen schwarzgekleideten Mann stiess. Es war ein Pfarrer. Ich versteckte mein Gesicht in seiner Kutte und zeigte auf die Strasse: "Dort! Dort! Man will mich erschiessen!" Der Pfarrer blickte mich ungläubig an, und ich rannte weiter. Ich rannte nach Hause. Zitternd lag ich im Bett meiner Eltern, als mein Vater von der Redaktion nach Hause kam. Meine Mutter hatte ihm am Telephon die ganze Geschichte erzählt. Nun wollte er seinen Sohn mit einem Geschenk überraschen. Hinter seinem Rücken hatt er etwas Silbernes versteckt. Mir blieb das Herz stehen, und ich brüllte vor Angst, weil ich das Schokoladenpapier für einen Revolver hielt.
Mein Vater entdeckte mich etwa mit siebzehn Jahren, als ich ihm einen Aufsatz von mir gab. Er las ihn und las ihn noch einmal. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: "Schreib!" Der Text war surrealistisch und stark beeinflusst von Monsieur Plume von Henri Michaux. Es war die Geschichte von zwei gelähmten Tanten und einem unförmigen Wesen, das sich nur von Menschenknochen ernährte. Irgendwann hat es sogar den Prinz von England verspeist! Zum ersten Mal fühlte ich mich meinem Vater verwandt, bis dahin hatte ich ihn immer auf der Flucht erlebt. Auf der Flucht nicht nur von mir, sondern von uns allen.
Später, als mir mein Vater Gombrowicz zu lesen gab, und zwar Ferdydurke, wurde ich ein Adept. Nichts gab es mehr für mich ausser diesem polnischen Schriftsteller. Ich habe versucht, seinen Stil zu imitieren, nein, nicht versucht, ich konnte gar nicht anders. Mein Vater hat Gombrowicz in Argentinien besucht, und in Witolds Tagebuch findet sich eine treffende Charakterisierung: "Dieser bedeutende Redakteur, den man sich schwer ohne vier Telefone und drei Sekretärinnen vorstellen kann, hat sehr viel von einem Dichter. So viel, dass uns Dichtern manchmal der Verdacht kommt, diese Indolenz, diese kindlich verlorene Miene, dieser verzehrende Blick, die seltsame Begabung aufzutauchen (statt normal einzutreten), seien dazu da, uns anzulocken und kaltblütig für seine Ziele zu gebrauchen. Aber ich tröste mich damit, dass die Politiker umgekehrt zu der Befürchtung neigen, Bondys kühles Organisationstalent sollte sie an der Nase herumführen, damit sie sich in den Netzen der Poesie verfangen. Bondy zählt wahrscheinlich zu den Menschen, deren Stärke in der Abwesenheit liegt: immer ist er nicht ganz dabei, ist zumindest mit einem Bein woanders, seine Weisheit ist die des Freiers, der auf zwei Hochzeiten tanzt."
Jedesmal, wenn mein Vater ein Buch oder einen Aufsatz entdeckte, wollte er, dass ich es auch lese. "Da, nimm!", sagte er, "ein unentdecktes Genie." Und als das Jahr 1968 die Jungen von den Alten trennte und auf der Rive Gauche Barrikaden aufgerichtet wurden, ging auch ich mir die Demonstrationen anschauen - aus Neugierde auf die Turbulenzen und den Russgeruch der Lacrymogenbomben. Einzumischen traute ich mich nicht. Mein Vater fühlte sich diesen Geschehnissen nah und fern zugleich. Er war einmal Kommunist gewesen, und dann, lange vor dem ungarischen Aufstand, war er es nicht mehr. Trotzdem empfand er Sympathie für Daniel Cohn-Bendit, um so mehr, als die kommunistische Zeitung in einem Leitartikel verkündete, der Anführer sei kein echter Franzose...und ein Ausländer sollte nicht das Land aufwühlen. Da schrien die Studenten auf den Strassen: "Wir sind alle deutsche Juden!" - "Wir sind ja auch deutsche Juden, wenigstens zum Teil!", rief mein Vater.
Mein Vater hatte gewünscht, dass ich eine literarische Karriere verfolge wie er, sein Vater und zum Teil auch sein Grossvater. Wir sollten eine Dynastie werden, die Prager! Er hat es mir nie ausdrücklich gesagt, und dennoch spürte ich es. Ich aber wollte zum Theater, Bücher gab es bei uns genug. Und vom Sitzen vor der Schreibmaschine bekam ich Rückenschmerzen. Von jenem Moment an, als er mir seine Aufmerksamkeit schenkte, war alles, was ich in meinem Leben anstellte, irgendwie auf ihn gerichtet, auf meinen Vater. Ich denke an ihn bei jeder Inszenierung und frage mich: Was wird er wohl davon halten? Auch wenn Theater nie ganz seine Sache war. Wie sein Vater zog er die Oper vor, und wie sein Vater kannte er den ganzen Tristan auswendig.
Als mein Vater mit sechsundsiebzig seinen Hirnschlag erlitt, habe ich angefangen, um ihn zu trauern. Erst wurde er toll, sprach wirre Dinge, aber stets im Zusammenhang seines universalen Wissens. Er konnte nicht mehr gehen, seine Artikulation war gestört. Dann lernte er alles wieder: Gehen, Sprechen, Lesen. Geschrieben hat er nicht mehr. Der oberste Stock war von nun an still, kein Schreibmaschinengeräusch drang mehr die Treppe herunter. Nach einer Weile, kurz bevor er starb, verbrachte er wieder viele Stunden in seinem Arbeitszimmer. Er ordnete seine Manuskripte und schuf, zum Leidwesen meiner Mutter, ein einziges Chaos. Ich sagte ihr, das sei doch egal, Hauptsache, mein Vater habe das Gefühl, etwas mit seinen Artikeln anzustellen...
All das, was er einst gern gelesen hatte, las er nun wieder, wie zum ersten Mal, und wieder unterstrich er mit einem Stift einzelne Sätze und ganze Passagen. Als es mit seiner Artikulation besser ging, sprach er auch wieder über Literatur. Politik interessierte ihn gar nicht mehr. Saddam, Bush, Sharon, Chirac...Links, Mitte, Rechts, das alles gehörte nicht mehr zu seinem Universum. Oft küsste er voller Dankbarkeit meiner Mutter die Aussenfläche der Hände. Er wusste um seine Hilflosigkeit.
Er sah weniger Leute, und weniger Leute meldeten sich bei ihm. Manchmal fragte mich jemand, wann mein Vater gestorben wäre, oder jemand sagte zu mir: "Er war grossartig, Gott hab ihn selig." Es machte mir Spass, die Person in Verlegenheit zu bringen und zu sagen: "Aber er lebt doch noch!"
Vor eineinhalb Jahr starb mein Vater tatsächlich. Ich erhielt die Nachricht, als ich auf dem Weg zu ihm war, im Bus zum Flughafen. Doch schon am Morgen, schon beim Aufwachen wusste ich, dass an diesem Tag mein Vater sterben würde. Ich erkannte es an meiner Umgebung. Am Licht, das weder düster noch hell war, an der Schwere in meinem Körper. An den Gegenständen um mich herum, der dampfenden Kaffeetasse, die ich nicht anrührte, der Zahnbürste, die ich in die Hand nahm und an ihren Platz zurücklegte, ohne sie zu benutzen. Sein Ableben, sein langsames Sterben, war wie eine Druckwelle nach einer Explosion. Ich stand in der Küche gegen die Wand gedrückt.
Im Bus hörte ich das Telefon, bevor es tatsächlich klingelte. Ich holte es aus meiner Manteltasche, und da läutete es. Bevor ich es ans Ohr drückte, vernahm ich schon den Satz, dass mein Vater tot sei, meine Schwester wiederholte nur, was ich bereits gehört hatte. Im Flugzeug, wo ich sonst immer Todesangst hatte, nahm ich gar nicht wahr, dass ich flog.
Ich stellte mir vor, wie es ist, einen Toten zu sehen, ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben einen gesehen. Dem Taxifahrer, der mich zum Krankhaus fuhr, habe ich es gesagt, worauf er mir die ganze Fahrt über erzählte, wer alles in seiner Familie gestorben sei und wie allein er jetzt sei. Doch das war mir egal. Ich habe im Taxi meine Brieftasche liegenlassen, zusammen mit meinem Pass. An dem Tag, an dem ich meinen Vater verlor, verlor ich auch meine Papiere.
Sein Zimmer lag ebenerdig, schnell lief ich den Gang entlang, schneller, als mein Herz klopfte Mein Vater lag flach auf dem Bett, die Arme eng an den Körper gelegt, die Handflächen nach aussen. Eine gelbe Rose lag auf der Bettdecke, und um sein gelbliches Gesicht war eine rosarote Schleife gebunden, die seinen Kiefer zusammenhielt. Die Augen waren geschlossen wie heruntergezogene Jalousien.
Zuerst hat meine Mutter mir von dem Augenblick seines Sterbens erzählt und davon, wie froh sie sei, mit ihm ganz allein gewesen zu sein - "ganz allein und ungestört". Dann haben sie und meine ältere Schwester mir Platz gemacht und sind aus dem Zimmer gegangen. Ich nahm seine Hand und legte meine Backe hinein. Ich war mir sicher, dass seine Seele noch im Raum war, dass sie gar nicht daran dachte, einfach so aus dem Fenster zu fliegen. Ich versuchte sie zu lokalisieren wie eine summende Fliege.
Die Krankenschwester war nach kaum fünf Minunten wieder hereingekommen, gefolgt von meiner ungeduldigen Mutter und meiner Schwester. Sie händigte uns die Uhr und den Stock meines Vaters aus, bevor sie, wie sie sagte, "das Bett herausrollen musste", um für den nächsten Klienten Platz zu machen.
Auf seinem Nachttisch lagen die Zeitungen, wie immer. Das letzte Mal, als ich ihn im Krankenhaus besucht hatte, hielt er die New York Times verkehrt herum.Und wie ich neben der Krankenschwester stand, eine hübsche schwarzharige Asserbaidschanerin, blickte mein Vater ein wenig verärgert auf mich, denn er wollte die Krankenschwester ganz für sich. Er küsste ihre Hand. Und seine letzten Worte an mich waren: "Toi fiches moi la paix!" - "Du lass mich in Ruhe!"
Ich versuche, so weit wie möglich zurückzugehen in meiner Erinnerung. Versuche herauszufinden, wann mir mein Vater das erste Mal erschienen ist. Meine Kindheit verbrachte ich bei meiner Grossmutter, Elsa Blumenstein, die Mutter meiner Mutter, und Joseph, meinem Grossvater. Letzterer trat kaum in Erscheinung, obwohl auch er sich die bescheidene Vierzimmerwohnung teilte. Er war dabei, sein Gedächtnis zu verlieren, und während er sich selbst verlor, verloren auch wir ihn - man nahm ihn immer weniger wahr. Ich suche meinen Vater und verweile bei Joseph, der sein Schwiegervater war.
Joseph hatte ein Gebiss. Das nahm er beim Mittag- und beim Abendessen heraus und legte es in ein Glas. Dann fielen seine obere Mundhälfte und die untere zusammen, und er sah aus wie ein tropischer Fisch. Unsere gemeinsamen Essen wurden von dem langsamen Rhythmus bestimmt, mit dem er gleichförmig die Speisen zerkaute. Mit dem Schliessen des Mundes schloss er die Augen, und beim Öffnen riss er sie wieder auf. Nach dem Essen sass er, der Gedächtnislose, in seinem blassolivem Fauteuil vor dem kleinem schwarzen Radio und lauschte den Nachrichten von "Radio Beromünster". Auch in diesem Bild sehe ich meinen Vater nicht. Und auch nicht meine Mutter und meine ältere Schwester.
Auf einem Schwarzweissphoto aus den fünfziger Jahren sitzt ein unförmiger Plüschlöwe auf meiner linken Schulter. Wer hat mich aufgenommen, und wem lächele ich zu? Im Hintergrund das gelbe Nachbarwohnhaus. Alle Häuser entlang der gewundenen Strasse waren gleichfarbig und gleichförmig gebaut. Zwischen ihnen die Wiese und zwei Hänge. Da taucht mein Vater zum ersten Mal auf, in einer hellen Wildlederjacke. Er macht einen sportlichen Eindruck, aber das war er nicht. Er spielte zwar sternschnuppenrasch Ping-Pong, aber sonst... Er konnte nicht einmal Autofahren, obwohl er es so gerne tat.
Ich sehe ihn mich lange nicht wirklich wahrnehmen. Am Heiligabend spazierten wir über die Invalides mit meinen Schwestern, während meine Mutter den Weihnachtsbaum schmückte. "Für die Kinder, warum sonst?", pflegte sie zu sagen. Mein Vater sprach mehr zu meinen Schwestern, er ging mit ihnen die Schulfächer durch: Geschichte, Literatur, Latein. Es war sehr kalt, und ich war beeindruckt von den grossen schwarzen Kanonen im Hintergrund. Jetzt drücken sich wieder die Gedächtnismuskeln zu. Etwas will mich diese Vergangenheit nicht sehen lassen.
Fast nie hörte ich ihn brüllen. Streng, manchmal unnachsichtig, ja, das war er ... Er konnte weder Übermut noch Affektiertheit ertragen. Er wollte nicht, dass wir uns in Illusionen wiegen. Persönliche Gespräche waren für ihn ein Greuel, das "intime Leben", "die Sorgen" mussten sich ihr eigenes Vokabular finden oder sich in Sokrates oder La Rochefoucauld verwandeln. Trotz dieser Abneigung gegen das "zu Persönliche" konnte man die Sorgen in seinen Augen lesen. Diese Art Zurückhaltung, ja, Scham fand ich später in der Figur Swann wieder. Jedesmal, wenn ich Proust lese, finde ich etwas von meinem Vater.
Wenn er sich einmal doch dazu aufraffte, eine persönliche Mitteilung zu machen, blieb sie mir im Bewusstsein, bis heute. Zum Beispiel diese: "Wenn man sich von einer Frau trennt, dann muss Zeit vergehen bis zur nächsten, sonst stimmt die Liebe zu letzterer nicht, es haftet an ihr zu viel Trauer oder Wut von der vorherigen." Dieselbe Logik liess ihn Naoum Goldman zustimmen, der meinte, Israel sei zu früh gegründet worden, es sei zu wenig Zeit vergangen nach Auschwitz. Schliesslich hätten die Juden damals auch viel Zeit in der Wüste verbracht nach ihrem Rausschmiss aus Ägypten, bevor sie ins Gelobte Land kamen. Mein Vater mochte es nicht, dass wir unser Judentum zu sehr betonten. Vor allem verabscheute er es, wenn es sich in eine Waffe des Mitleids verwandelte - er, der so jüdisch aussah und mir dieses Aussehen vererbt hat ...
Am meisten verabscheute mein Vater Sentimentalität, nackte Gefühle, überfliessende Herzen. Wenn ihm jemand zu nahe kam, trat er ein paar Schritte zurück. Ein Kuss von ihm fühlte sich an wie die Umarmung eines Skeletts. Seine Backe liess er nie länger als eine Viertelsekunde an meiner. Wie einen kleinen elektrischen Schlag spürte ich seine frischrasierte Haut.
Wir sitzen unter dem Weihnachtsbaum, und ich reisse ein Päckchen auf, eine kleine rote Schachtel. Es liegt ein silbernes Armband darin, das ich mir voller Freude um den Hals hänge. Mein Vater zuckt zusammen: Es ist für meine ältere Schwester bestimmt und war irrtümlicherweise auf meinem Haufen gelandet. Das Armband wird durch eine Cordhose ersetzt. Ich weine. Seitdem verspüre ich in mir ein Ziehen, wenn ich ein Geschenk aufmache. Und seitdem hasse ich nützliche Geschenke. Ich flüchte hinauf in das Arbeitszimmer meines Vaters - und ich weiss nicht mehr, wie es geschah, aber eine Ecke des Diwans fing Feuer. Habe ich ihn angezündet aus Rache? Aber wie hätte ich eine so mutige Tat vergessen können? Meine Mutter und meine Schwestern löschten die Flammen mit grossen Wassereimern. Weihnachten roch also nach kaltem Rauch.
Ich erinnere mich an eine andere Szene: Spätabends, es klingelt. Meine Mutter, barfuss und im Nachthemd, rennt in den Flur, reisst die Haustür auf und wirft sich weinend vor Glück an den Hals meines Vaters, der von einer langen Asienreise zurückkehrt. An der Türschwelle verletzt sie sich den Zeh, so dass inmitten der Freude auch Blut floss.
Und dann die Geschichte von Vivier und Semeuse, so hiessen sie. Im Bois de Saint Cloud erschossen sie Anfang der sechziger Jahre ein Liebespaar, für ein paar Geldscheine. Leblos und bleich lagen die Körper im Herbstlaub. Das Bild der beiden Mörder war in allen Zeitungen auf dem Titelblatt. Beide trugen feine Schnurbärte, so dass ich mich von da an vor Schnurrbärten fürchtete. Wenn ich meine Mutter zur Bäckerei begleitete und ein Mann mit Schnurrbart den Laden betrat, ergriff ich auf der Stelle die Flucht. Ich sammelte die Zeitungsausschnitte über Vivier und Semeuse und studierte ihr Gesicht. An die Umgebrachten dachte ich kaum. Ich roch an den Illustrierten, aus denen mir Vivier und Semeuse entgegenblickten, in Schwarzweiss, damals gab es noch keine Farbbilder in Paris-Match: Ich fragte mich, wo ich diesen Geruch wiederfinden könnte. Im Wald vielleicht? Aber dort wollte ich auf keinen Fall mehr hin. In einer der Illustrierten sah ich eine Mandeloperation: der Patient, um ihn herum vier Chirurgen, der offene Rachen. Trug einer der Chirurgen einen Schnurbart? Ich weiss es nicht mehr, aber das Photo roch wie das der Verbrecher, also brachte ich die Operation mit dem Mord in Zusammenhang. Der Bus, der die Kinder des Viertels zur Schule brachte, hielt oberhalb unseres Hauses an der rue de Momenrency, dort, wo auch die Eisenbahngleise nach Nordfrankreich verlaufen. Eines Morgens, als wir auf den Schulbus warteten, hielt gegenüber der Haltestelle ein Wagen. Ein Mann stieg aus, und die Angst packte mich bei der Brust: "Das ist einer der beiden Mörder!" schrie ich aus vollem Hals und sah, wie er zwei Revolver auf mich richtete. Ich rannte davon, rannte und rannte, bis ich gegen einen schwarzgekleideten Mann stiess. Es war ein Pfarrer. Ich versteckte mein Gesicht in seiner Kutte und zeigte auf die Strasse: "Dort! Dort! Man will mich erschiessen!" Der Pfarrer blickte mich ungläubig an, und ich rannte weiter. Ich rannte nach Hause. Zitternd lag ich im Bett meiner Eltern, als mein Vater von der Redaktion nach Hause kam. Meine Mutter hatte ihm am Telephon die ganze Geschichte erzählt. Nun wollte er seinen Sohn mit einem Geschenk überraschen. Hinter seinem Rücken hatt er etwas Silbernes versteckt. Mir blieb das Herz stehen, und ich brüllte vor Angst, weil ich das Schokoladenpapier für einen Revolver hielt.
Mein Vater entdeckte mich etwa mit siebzehn Jahren, als ich ihm einen Aufsatz von mir gab. Er las ihn und las ihn noch einmal. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: "Schreib!" Der Text war surrealistisch und stark beeinflusst von Monsieur Plume von Henri Michaux. Es war die Geschichte von zwei gelähmten Tanten und einem unförmigen Wesen, das sich nur von Menschenknochen ernährte. Irgendwann hat es sogar den Prinz von England verspeist! Zum ersten Mal fühlte ich mich meinem Vater verwandt, bis dahin hatte ich ihn immer auf der Flucht erlebt. Auf der Flucht nicht nur von mir, sondern von uns allen.
Später, als mir mein Vater Gombrowicz zu lesen gab, und zwar Ferdydurke, wurde ich ein Adept. Nichts gab es mehr für mich ausser diesem polnischen Schriftsteller. Ich habe versucht, seinen Stil zu imitieren, nein, nicht versucht, ich konnte gar nicht anders. Mein Vater hat Gombrowicz in Argentinien besucht, und in Witolds Tagebuch findet sich eine treffende Charakterisierung: "Dieser bedeutende Redakteur, den man sich schwer ohne vier Telefone und drei Sekretärinnen vorstellen kann, hat sehr viel von einem Dichter. So viel, dass uns Dichtern manchmal der Verdacht kommt, diese Indolenz, diese kindlich verlorene Miene, dieser verzehrende Blick, die seltsame Begabung aufzutauchen (statt normal einzutreten), seien dazu da, uns anzulocken und kaltblütig für seine Ziele zu gebrauchen. Aber ich tröste mich damit, dass die Politiker umgekehrt zu der Befürchtung neigen, Bondys kühles Organisationstalent sollte sie an der Nase herumführen, damit sie sich in den Netzen der Poesie verfangen. Bondy zählt wahrscheinlich zu den Menschen, deren Stärke in der Abwesenheit liegt: immer ist er nicht ganz dabei, ist zumindest mit einem Bein woanders, seine Weisheit ist die des Freiers, der auf zwei Hochzeiten tanzt."
Jedesmal, wenn mein Vater ein Buch oder einen Aufsatz entdeckte, wollte er, dass ich es auch lese. "Da, nimm!", sagte er, "ein unentdecktes Genie." Und als das Jahr 1968 die Jungen von den Alten trennte und auf der Rive Gauche Barrikaden aufgerichtet wurden, ging auch ich mir die Demonstrationen anschauen - aus Neugierde auf die Turbulenzen und den Russgeruch der Lacrymogenbomben. Einzumischen traute ich mich nicht. Mein Vater fühlte sich diesen Geschehnissen nah und fern zugleich. Er war einmal Kommunist gewesen, und dann, lange vor dem ungarischen Aufstand, war er es nicht mehr. Trotzdem empfand er Sympathie für Daniel Cohn-Bendit, um so mehr, als die kommunistische Zeitung in einem Leitartikel verkündete, der Anführer sei kein echter Franzose...und ein Ausländer sollte nicht das Land aufwühlen. Da schrien die Studenten auf den Strassen: "Wir sind alle deutsche Juden!" - "Wir sind ja auch deutsche Juden, wenigstens zum Teil!", rief mein Vater.
Mein Vater hatte gewünscht, dass ich eine literarische Karriere verfolge wie er, sein Vater und zum Teil auch sein Grossvater. Wir sollten eine Dynastie werden, die Prager! Er hat es mir nie ausdrücklich gesagt, und dennoch spürte ich es. Ich aber wollte zum Theater, Bücher gab es bei uns genug. Und vom Sitzen vor der Schreibmaschine bekam ich Rückenschmerzen. Von jenem Moment an, als er mir seine Aufmerksamkeit schenkte, war alles, was ich in meinem Leben anstellte, irgendwie auf ihn gerichtet, auf meinen Vater. Ich denke an ihn bei jeder Inszenierung und frage mich: Was wird er wohl davon halten? Auch wenn Theater nie ganz seine Sache war. Wie sein Vater zog er die Oper vor, und wie sein Vater kannte er den ganzen Tristan auswendig.
Als mein Vater mit sechsundsiebzig seinen Hirnschlag erlitt, habe ich angefangen, um ihn zu trauern. Erst wurde er toll, sprach wirre Dinge, aber stets im Zusammenhang seines universalen Wissens. Er konnte nicht mehr gehen, seine Artikulation war gestört. Dann lernte er alles wieder: Gehen, Sprechen, Lesen. Geschrieben hat er nicht mehr. Der oberste Stock war von nun an still, kein Schreibmaschinengeräusch drang mehr die Treppe herunter. Nach einer Weile, kurz bevor er starb, verbrachte er wieder viele Stunden in seinem Arbeitszimmer. Er ordnete seine Manuskripte und schuf, zum Leidwesen meiner Mutter, ein einziges Chaos. Ich sagte ihr, das sei doch egal, Hauptsache, mein Vater habe das Gefühl, etwas mit seinen Artikeln anzustellen...
All das, was er einst gern gelesen hatte, las er nun wieder, wie zum ersten Mal, und wieder unterstrich er mit einem Stift einzelne Sätze und ganze Passagen. Als es mit seiner Artikulation besser ging, sprach er auch wieder über Literatur. Politik interessierte ihn gar nicht mehr. Saddam, Bush, Sharon, Chirac...Links, Mitte, Rechts, das alles gehörte nicht mehr zu seinem Universum. Oft küsste er voller Dankbarkeit meiner Mutter die Aussenfläche der Hände. Er wusste um seine Hilflosigkeit.
Er sah weniger Leute, und weniger Leute meldeten sich bei ihm. Manchmal fragte mich jemand, wann mein Vater gestorben wäre, oder jemand sagte zu mir: "Er war grossartig, Gott hab ihn selig." Es machte mir Spass, die Person in Verlegenheit zu bringen und zu sagen: "Aber er lebt doch noch!"
Vor eineinhalb Jahr starb mein Vater tatsächlich. Ich erhielt die Nachricht, als ich auf dem Weg zu ihm war, im Bus zum Flughafen. Doch schon am Morgen, schon beim Aufwachen wusste ich, dass an diesem Tag mein Vater sterben würde. Ich erkannte es an meiner Umgebung. Am Licht, das weder düster noch hell war, an der Schwere in meinem Körper. An den Gegenständen um mich herum, der dampfenden Kaffeetasse, die ich nicht anrührte, der Zahnbürste, die ich in die Hand nahm und an ihren Platz zurücklegte, ohne sie zu benutzen. Sein Ableben, sein langsames Sterben, war wie eine Druckwelle nach einer Explosion. Ich stand in der Küche gegen die Wand gedrückt.
Im Bus hörte ich das Telefon, bevor es tatsächlich klingelte. Ich holte es aus meiner Manteltasche, und da läutete es. Bevor ich es ans Ohr drückte, vernahm ich schon den Satz, dass mein Vater tot sei, meine Schwester wiederholte nur, was ich bereits gehört hatte. Im Flugzeug, wo ich sonst immer Todesangst hatte, nahm ich gar nicht wahr, dass ich flog.
Ich stellte mir vor, wie es ist, einen Toten zu sehen, ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben einen gesehen. Dem Taxifahrer, der mich zum Krankhaus fuhr, habe ich es gesagt, worauf er mir die ganze Fahrt über erzählte, wer alles in seiner Familie gestorben sei und wie allein er jetzt sei. Doch das war mir egal. Ich habe im Taxi meine Brieftasche liegenlassen, zusammen mit meinem Pass. An dem Tag, an dem ich meinen Vater verlor, verlor ich auch meine Papiere.
Sein Zimmer lag ebenerdig, schnell lief ich den Gang entlang, schneller, als mein Herz klopfte Mein Vater lag flach auf dem Bett, die Arme eng an den Körper gelegt, die Handflächen nach aussen. Eine gelbe Rose lag auf der Bettdecke, und um sein gelbliches Gesicht war eine rosarote Schleife gebunden, die seinen Kiefer zusammenhielt. Die Augen waren geschlossen wie heruntergezogene Jalousien.
Zuerst hat meine Mutter mir von dem Augenblick seines Sterbens erzählt und davon, wie froh sie sei, mit ihm ganz allein gewesen zu sein - "ganz allein und ungestört". Dann haben sie und meine ältere Schwester mir Platz gemacht und sind aus dem Zimmer gegangen. Ich nahm seine Hand und legte meine Backe hinein. Ich war mir sicher, dass seine Seele noch im Raum war, dass sie gar nicht daran dachte, einfach so aus dem Fenster zu fliegen. Ich versuchte sie zu lokalisieren wie eine summende Fliege.
Die Krankenschwester war nach kaum fünf Minunten wieder hereingekommen, gefolgt von meiner ungeduldigen Mutter und meiner Schwester. Sie händigte uns die Uhr und den Stock meines Vaters aus, bevor sie, wie sie sagte, "das Bett herausrollen musste", um für den nächsten Klienten Platz zu machen.
Auf seinem Nachttisch lagen die Zeitungen, wie immer. Das letzte Mal, als ich ihn im Krankenhaus besucht hatte, hielt er die New York Times verkehrt herum.Und wie ich neben der Krankenschwester stand, eine hübsche schwarzharige Asserbaidschanerin, blickte mein Vater ein wenig verärgert auf mich, denn er wollte die Krankenschwester ganz für sich. Er küsste ihre Hand. Und seine letzten Worte an mich waren: "Toi fiches moi la paix!" - "Du lass mich in Ruhe!"
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Autoren-Porträt von Luc Bondy
Luc Bondy (1948-2015) wurde in Zürich geboren und wuchs in Südfrankreich auf. Ausbildung in Paris an der Schauspielschule von Jacques Lecoq. Er galt als einer der führenden Bühnenregisseure der Welt und arbeitete an allen grossen Häusern. Von 2002 bis 2013 Intendant der Wiener Festwochen. Zuletzt leitete er das Odéon-Theater in Paris.Filme: Die Ortliebschen Frauen (1980), Das weite Land (1987). Bücher: Das Fest des Augenblicks (1997), Wo war ich. Einbildungen (1998), 2005 bei Zsolnay Meine Dibbuks, 2009 Am Fenster und 2012 Toronto (Gedichte).
Bibliographische Angaben
- Autor: Luc Bondy
- 2005, 186 Seiten, Masse: 13,4 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552053573
- ISBN-13: 9783552053571
- Erscheinungsdatum: 19.09.2005
Rezension zu „Meine Dibbuks “
"Mit der federleichten Theatralik, die seine Inszenierungen kennzeichnet, feiern Bondys Erzählungen das Dasein - als Sieg über die Schwerkraft."Irene Bazinger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.01.06
"Bondys Buch versammelt Erinnerungen an Tote, Krankheiten, Verluste, zerbrochene Freundschaften, an sexuelle Obsessionen und Leiden - alles, was hier so schwer klingt, ist von einer wundersamen Helle und Klarheit, von einer geradezu erschreckend heiteren Ironie, einem todeserfahrenen Sarkasmus getragen."
Helmuth Karasek, DIE WELT, 15.10.2005
"Die Frage des Gleichgewichts. Wahrscheinlich ist ihm jener schwerelose, aber tragfähige Zauber zu danken, der dieses schmale, vielfältige und stoffreiche Buch durchzieht. Das Anliegen sind die Menschen und ihre kuriose Ernsthaftigkeit im Leben, welche Bondy weder mit Zentnerschwere belastet noch leichtfertig abtut, sondern beobachtend relativiert..."
Barbara Villiger Heilig, NZZ, 18.10.2005
"Bondy inszeniert alle diese Traumspiele des vorbeifliehenden Lebens leicht, leise, intim, nahe am Ohr des Lesers, munter-elegisch, aber niemals klagend oder anklagend. Er sucht nicht nach Gründen, nach Schuldigen. Das Psychologisieren überlässt er den Ahnungslosen. Er schwadroniert nicht, verkündet nichts, hält sich nie im Allgemeinen und Sentenziösen auf."
Gabriele Killert, DIE ZEIT, Oktober 2005
"Ein schönes, warmes kleines Buch."
Sabine E. Dengscherz, Die Furche, 22.12.05
Kommentar zu "Meine Dibbuks"
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