Leviathan
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Guéret, Hauslehrer in einem französischen Provinznest, ist vom Leben enttäuscht. Auch die Leidenschaft zu Angèle scheint ihm aussichtslos. Als er begreift, dass die "Liebe" des Mädchens durchaus zu erlangen ist und dass zahlreiche Männer von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, gerät er ausser sich.
Leviathanvon Julien Green
LESEPROBE
Als er an der schmalen Eisenbahnüberführung angekommen war,blieb er stehen und dachte nach. Weshalb mich beeilen? fragte er sich. Ichkomme immer noch früh genug. Es ist sicher erst halb sechs. Wenn schon. Ichgehe ins Café und warte eine halbe Stunde. Und dann? Diese letzten Wortesprach er ganz laut vor sich hin und schüttelte dann verneinend den Kopf, alssei die Antwort auf die Frage, die er sich stellte, nicht eben eine, auf die mansehr begierig ist. Einen Augenblick lang stand er mit gekrümmtem Rücken undeiner Hand auf dem Eisengeländer unbeweglich da, dann stieg er ohne Eile dieStufen hinauf und lehnte sich an die Brüstung. Von der Stelle aus, wo er sichbefand, sah er den Bahnhof, einen unauffälligen kleinen Ziegelbau, in einerEntfernung von dreihundert Metern vor sich liegen und dahinter eine langePlatanenallee, die vom Bahnhof ausgehend in die Stadt hineinführte. Hier und daragte das Schieferdach einer bürgerlichen Villa aus den Tiefen eines mitRasenflächen und dichten Bosketts ausgestatteten Gartens hervor. Zwei endloseReihen von Lindenbäumen reckten sich rechts und links neben dem Schienenstrang indie Höhe, als wollten sie ihn bewachen. Er liess seine Blicke über dieverschiedenen Punkte dieser Landschaft schweifen und zog dann die Uhr, die erlange mit der gespannten Miene eines Mannes betrachtete, der die eine Sachetut, während er an die andere denkt. Er war noch jung, hatte aber etwas Welkesund Verbittertes an sich, wie man es öfter bei Menschen findet, deren ersteLebensjahre von Sorgen aufgezehrt worden sind. Sein Gesicht war füllig, aberfarblos, und das Fleisch so schlaff, dass man schon für später Hängebackenvoraussah und die tiefen Runzeln erriet, die gegen die vierziger Jahre hin umden Mund etwas wie ein lautloses Lächeln einzeichnen würden. Seine hellgrauen Augenhefteten sich fest auf das, was sie betrachteten. Die grosse fleischige Nase,die dicken Lippen deuteten auf einen Menschen von wenig Willenskraft hin, deraber auf sein Behagen undseine Gewohnheiten grössten Wert legt und eine gewisse Entschlossenheitaufzubringen vermag, wenn es sie zu verteidigen gilt. Er war sorgfältigrasiert, sehr korrekt in Dunkelgrau gekleidet, trug eine schwarze Krawatte und,einer naiven Laune folgend, in der oberen Rocktasche ein violettesSeidentüchelchen, das zur Hälfte hervorsah. Ein paar Minuten stand er soregungslos da, als wolle er die tiefe Stille ringsum nicht durchbrechen. Derkurze Herbstnachmittag neigte sich seinem Ende zu, und der Himmel fing an, sichrosig zu färben. Schliesslich richtete er sich auf, schlug mit der Miene eines Menschen,der eine Überlegung zu Ende geführt hat, auf die Eisenbrüstung, setzte sichwieder in Bewegung und stieg die Treppe hinab, die auf der anderen Seite desSchienenstranges auf die Landstrasse führte. Gross und von kräftiger Statur, saher aus, als schäme er sich seiner hohen Gestalt und seiner Kraft, denn er hieltden Kopf geneigt und ging ein wenig gebückt. In ständiger Bewegung rieb er die Händeaneinander und verfiel in einen genau abgezirkelten, eiligen Schritt, wie erzuweilen dem Ablauf eines völlig absorbierenden Gedankenganges entspricht, ganzals ob etwas von dem, was die Seele beherrscht, sich auf den Körper übertrügeund dessen Rhythmus bestimmte. Auf diese Weise gelangte er bis vor dasGittertor einer grossen, von mächtigen Bäumen eingefassten Besitzung. Eine ovaleRasenfläche breitete sich weithin zwischen gewundenen Alleen zu Füssen einesSchlösschens aus, das im Geschmack der Jahrhundertwende erbaut war.Springbrunnen, Muschelgrotten, Blumenbeete in Wappenform vollendeten denEindruck von grossem Reichtum im Dienste grosser Prätentionen. Ein kleines, amTor befestigtes Emailschild trug in schräggestellten Lettern die beiden Worte: MonIdée. Diese Behausung, wie auch immer sie war, fesselte einen Augenblickdie Aufmerksamkeit des Mannes und entlockte ihm einen Seufzer. Nur zögerndtrennte er sich von ihr, kehrte wieder um und ging erneut auf die Überführungzu. Noch einmal blickte er auf die Uhr, und nachdem er vorhin nicht gewusst hatte, wie er seineZeit hinbringen solle, begann er nun, von plötzlicher Furcht vor Verspätungerfasst, zu laufen. Nacheinander gingen die Lampen an, als er die Hauptstrasse derStadt erreichte. Er schnaufte etwas, weil er gelaufen war, und trug trotz desziemlich kühlen Windes seinen Hut in der Hand. Auf der Höhe der Kircheangekommen, bog er rechter Hand in eine kleine Strasse ein und trat in ein Café,das einen gelben Lichtschein auf die Pflastersteine des Fahrdamms warf. Er liessseinen Blick über die Wände des Gastraums gleiten und stellte mit Befriedigungfest, dass er allein war; nicht einmal der Kellner war da. Ohne eine Sekunde zuzögern, setzte er sich an einen Tisch, der halb vor einem der Fenster stand;sein Eintreten hatte sich so lautlos vollzogen, dass niemand ihn bemerkte; ermusste mit dem Finger auf die weisse Marmorplatte pochen, damit jemand erschienund sich um ihn kümmerte. Nun sass er vor einem schwarzen Kaffee, dessen Geruch undGeschmack sich neben vielen anderen kleinen Dingen mit dem tristen, banalenAbenteuer vermischten, das er jetzt Woche für Woche verfolgte, und er nähertesein Gesicht der Fensterscheibe in einer Angst, die durch Gewohnheit noch nichtabgeschwächt war. Er sah zwei Läden, die auf der anderen Strassenseite dem Cafégegenüberlagen. Der eine schien für ihn von mässigem Interesse, er warf nureinen flüchtigen Blick darauf: es war eine Bäckerei, deren Schaufenster einzigvon zwei langen Vierpfundbroten eingenommen wurde, die, an eine Messingstangegelehnt, etwa noch eintreffenden Kunden in die Augen fallen mussten, aber es sahnicht aus, als ob noch jemand erwartet würde, denn die Gaslampe, die von derDecke herunterhing, spendete nur einen schwachen, bläulichen Schein. Der andereLaden, der hellgrün angestrichen war, ergoss durch das Dunkel ein hartes, kräftigesLicht, das von der Strasse Besitz zu ergreifen schien. Eine in grossen Letterndie Eingangstür überziehende Schrift belehrte die Vorüberkommenden, dass ErnstBrods Witwe, Wäscherin [Koch- und Feinwäsche], Inhaberin die- ses Unternehmens war; undtatsächlich boten in der Auslage fünf oder sechs frisch gestärkte Herrenhemdenden Blicken ihre spiegelnden Oberflächen dar. Ein dichter Vorhang, der übereine Stange lief, umgab die Auslage mit seinen weissen Falten und verbarg aufdiese Weise das Ladeninnere, aber ein fortgesetztes Gemurmel verriet, welcherlebhafte Verkehr an dieser Stätte herrschte. Von Zeit zu Zeit erschien plötzlichein Kopf oberhalb des Vorhangs, und jemand warf einen raschen Blick auf dieStrasse. Dann fuhr der Mann zusammen, als habe ihn jemand gerufen. Einmal gingdie Tür der Wäscherei unerwartet auf, er hörte eine scharfe Stimme, die schreiendetwas äusserte, dann ein Lachen, das darauf antwortete. Dieses so jäh seineOhren treffende Geräusch erschreckte ihn; eine plötzliche Hitze trieb ihm dasBlut in die Wangen, und er presste seine Stirn mit einer solchen Gier, dasInnere des Ladens zu sehen, an die Fensterscheibe, dass alles vor seinen Augenverschwamm. Er sah nur ein Bettuch, dessen Weiss ihm grell erschien, über einerSchnur, dann einen vom Ellbogen bis zum Handgelenk nackten Frauenarm, der dieTür beinahe sofort wieder schloss. Er gab es auf, den Laden im Auge zu behalten,und senkte den Kopf. Alle Spannung in seinem Gesicht machte jetzt einer tiefenBitterkeit Platz, durch die er älter wirkte. Mit einem Seufzer der Müdigkeitklopfte er auf den Tisch, legte ein paar Münzen neben das halbleere Glas undstand auf. Die schwarze Wanduhr schlug sechs. In diesem Augenblick tauchte derKellner auf, ein blutarmer junger Mann mit unstetem Blick. Er schaute auf dieUhr und lächelte verständnisvoll beim Anblick des Kunden, der im Café hin undher wanderte.
© Carl Hanser Verlag München Wien 1986
Übersetzung: Eva Rechel-Mertens
Julien Green wurde am 6. September 1900 als Sohn amerikanischer Eltern in Paris geboren, er wuchs zweisprachig auf und wurde protestantisch erzogen. 1916 konvertierte er zum Katholizismus. 1919 bis 1922 studierte er in Charlottesville/Virginia unter anderem Geschichte und Griechisch. Ab 1922 wieder in Paris. Bereits mit seinem dritten Roman, 'Leviathan' (1929), erlangte er Weltruhm. 1940-45 Emigrant in Amerika. 1971 Mitglied der Académie française. Green starb am 13. August 1998 in Paris.
- Autor: Julien Green
- 2004, 5. Aufl., 320 Seiten, Masse: 12,1 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Rechel-Mertens, Eva
- Übersetzer: Eva Rechel-Mertens
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423123842
- ISBN-13: 9783423123846
- Erscheinungsdatum: 01.08.1997
"Schuldhafte Verstrickungen, obsessive Wünsche und todschwarze Nachtphantasien - dargeboten in einer klaren, vibrierenden Sprache." (Marko Martin in 'Die Welt')
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