Teuflisches Spiel / Kate Burkholder Bd.5
Thriller | Kate Burkholder ermittelt bei den Amischen: Band 5 der SPIEGEL-Bestseller-Reihe
Eine teuflische Idee - ein göttlicher Plan - eine ewige Schuld -
Kate Burkholders fünfter Fall bei den Amischen
Als das gleissende Scheinwerferlicht des entgegenkommenden Fahrzeugs sie blendet, bleibt ihnen nicht einmal mehr die Zeit, um zu schreien....
Kate Burkholders fünfter Fall bei den Amischen
Als das gleissende Scheinwerferlicht des entgegenkommenden Fahrzeugs sie blendet, bleibt ihnen nicht einmal mehr die Zeit, um zu schreien....
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Produktinformationen zu „Teuflisches Spiel / Kate Burkholder Bd.5 “
Klappentext zu „Teuflisches Spiel / Kate Burkholder Bd.5 “
Eine teuflische Idee - ein göttlicher Plan - eine ewige Schuld - Kate Burkholders fünfter Fall bei den Amischen
Als das gleissende Scheinwerferlicht des entgegenkommenden Fahrzeugs sie blendet, bleibt ihnen nicht einmal mehr die Zeit, um zu schreien. Auf der regennassen Strasse im ländlichen Ohio sterben in dieser Nacht drei Menschen. Ein amischer Vater und zwei seiner Kinder. Als Polizeichefin Kate Burkholder die Unfallstelle genauer untersucht, kommen ihr erste Zweifel: War das wirklich ein Unfall, oder steckt noch etwas anderes dahinter?
"Überzeugende Charaktere, exzellenter Plot und ein haarsträubendes Finale." USA TODAY
Lese-Probe zu „Teuflisches Spiel / Kate Burkholder Bd.5 “
Teuflisches Spiel von Linda CastilloPROLOG
... mehr
Das Klappern der Hufeisen auf Asphalt hallte in den Baumkronen wider. Paul Borntrager hatte den vierjährigen Amerikanischen Traber vor sechs Monaten auf einer Auktion in Millersburg gekauft, und zwar wider besseres Wissen. Der große und starke Wallach - von seiner Tochter Norah sogleich Sampson getauft, nach dem größten Pferd der Welt - war tatsächlich eine Herausforderung gewesen, denn frisch von der Rennbahn, fiel er aus dem Trab und scheute vor Autos und freilaufenden Hunden. Aber nach sechs Monaten Training und zahllosen Fahrten hatte Sampson sich doch als gute Investition erwiesen, und Paul war froh, das Risiko eingegangen zu sein. Heute gehörte das Pferd zu den schnellsten Trabern, die er jemals besessen hatte, und ihn zu fahren war ein Vergnügen.
Die ledernen Zügel lagen fest, aber weich in seiner Hand. Das Klirren des Geschirrs und das rhythmische Knarren des Buggys versetzten Paul in eine schläfrige, kontemplative Stimmung. Die Kinder waren den ganzen Nachmittag brav gewesen, obwohl sie bei dem Termin in der Klinik über eine Stunde hatten warten müssen. Jetzt waren sie still, aber das lag sicher an der Eiscreme, die er ihnen im Dairy Dream gekauft hatte. Sobald sie aufgegessen war, würde das Geschnatter weitergehen. Bei der Vorstellung musste er lächeln. Es war ein guter Tag gewesen.
Die Dämmerung nahm rasch zu, und aus einzelnen tiefhängenden Wolken nieselte es. Paul hoffte auf Regen, denn der extrem trockene Sommer hatte dem Getreide auf den Feldern sehr zugesetzt. Schnalzend und mit einem Schnicken der Zügel trieb er Sampson in einen starken Trab. Zwar hatte er hinten am Buggy batteriebetriebene Lichter und ein reflektierendes »Langsam-fahrendes-Vehikel«-Schild angebracht, doch im Dunkeln war Paul nicht gern auf der Straße. Die Englischen hatten es immer eilig und fuhren viel zu schnell. Und seit es Mobiltelefone und SMS gab, achteten sie noch weniger auf den Verkehr als zuvor.
»Guck mal, Datt! Die sunn is am unnergehn!«
Beim Klang der Stimme seines vier Jahre alten Sohnes musste Paul lächeln. Er blickte nach rechts zum Wegesrand, wo über dem blutroten Blattwerk von Ulmen, Ahorn- und Walnussbäumen die untergehende Sonne mit leuchtend rosa Fingern die Wolkendecke durchstach.
»Der Herr hat uns mit einem weiteren schönen Tag gesegnet.«
»Datt, David will nicht mit mir Klatschen spielen«, beschwerte sich die sechs Jahre alte Norah hinten im Buggy.
Das Spiel hatte ihre Mamm ihr vor kurzem beigebracht, und seither nervte sie ihren älteren Bruder damit.
»Er will bestimmt erst mal sein Eis essen«, meinte Paul.
»Aber er ist schon fertig.«
David, sein achtjähriger und somit ältester Sohn, schob den Kopf aus dem Inneren des Buggys und sah zu ihm hoch. »Klatschen ist was für Mädchen, Datt. Verlang nicht, dass ich so was mit ihr spiele.«
Über die Schulter hinweg blickte Paul seine Tochter an. »Da hat er nicht ganz unrecht, Norah.«
Das Mädchen beugte sich zu ihrem Bruder vor und legte ihm die Hand auf den Arm, die Finger voll Schokoladeneiscreme.
»Ich verrat's ja auch keinem«, sagte sie todernst.
Jetzt musste Paul lachen, und die Liebe zu seinen Kindern durchströmte ihn so heftig, dass seine Brust schmerzte. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag dankte er Gott für all die Segnungen, die ihm zuteilgeworden waren.
»Wir sind fast zu Hause. Sing doch stattdessen eins von den Klatschliedern«, sagte er, in Gedanken schon bei der unübersichtlichen Kreuzung vor ihnen. Falls Sampson dort scheute, wollte er vorbereitet sein.
Paul zog die Zügel straffer und reckte den Kopf vor, um nach herannahenden Fahrzeugen Ausschau zu halten. Die Bäume standen hier dicht zusammen und behinderten die Sicht, doch es waren keine verräterischen Scheinwerfer zu sehen, und auch Motorengeräusche oder das Zischen von Autorädern auf dem Asphalt hörte er nicht. Er konnte seine Fahrt ungefährdet fortsetzen.
Hinten im Buggy begann Norah Bei Müllers hat's gebranntbrannt-brannt zu singen:
Bei Müllers hat's gebrannt-brannt-brannt, da bin ich hingerannt-rannt-rannt. Da war ein Apfelbaum-baum-baum, da wollt' ich Äpfel klau'n-klau'n-klau'n.
Dann hörte Paul das Klatschen und wusste, dass Norah ihren älteren Bruder rumgekriegt hatte. Sie war eine geschickte kleine Verhandlungsführerin und besaß große Willensstärke. Wie ihre Mutter, dachte er schmunzelnd.
Sie hatten die Kreuzung schon fast erreicht und die Straße ganz für sich allein. Schnalzend trieb er Sampson zur Eile an und stimmte in das Lied der Kinder mit ein:
Da kam ein Polizist-zist-zist, der schrieb mich auf die List'-List'-List'.
Wie aus dem Nichts heulte plötzlich ein Motor auf, als ob ein Düsenjäger vom Himmel fallen würde. Paul erhaschte einen Blick auf das kreischende schwarze Ungeheuer zu seiner linken Seite. Wie ein scharfes Messer schnitt die Angst durch seinen Bauch, und Adrenalin durchflutete seinen Körper. Zu spät zog er an den Zügeln und schrie: »Brrr!«
Das Pferd rutschte mit den Hufen über den Asphalt.
Der Aufprall war fürchterlich. Er hörte, wie Holz und Fiberglas splitterten. Dann explodierte der Buggy in tausend Teile. Pauls Seite brannte, er flog durch die Luft, glaubte den Schrei eines Kindes zu hören, schoss auf den Erdboden zu, knallte auf.
Als er zu sich kam, lag er mit dem Gesicht in matschiger Erde. Dürres Gras stach in seine Wangen, er schmeckte Blut. Langsam drang der Gedanke zu ihm durch, dass er schwer verletzt war. Doch was war mit den Kindern? Wo waren sie? Warum waren sie so still? Er musste zu ihnen und sich vergewissern, dass es ihnen gutging.
Bitte, lieber Gott, behüte meine Kinder.
Er versuchte, sich zu bewegen, und stöhnte vor Anstrengung, doch sein Körper versagte ihm den Dienst. Er horchte nach Kinderstimmen, nach Weinen, nach irgendeinem Lebenszeichen. Doch außer dem nieselnden Regen auf dem Asphalt und dem Flüstern des Windes in den Bäumen blieb alles still.
1. KAPITEL
Mit dem Regen kommt die Flut. In meiner Kindheit war das einer der Lieblingssprüche meiner Mamm. Damals verstand ich den tieferen Sinn ihrer Worte nicht, denn wann immer etwas »Mehr« wurde, bedeutete das für ein amisches Mädchen wie mich meistens etwas Gutes. Die Welt um mich herum glich einem dahinrauschenden Fluss mit Stromschnellen und Untiefen voller Geheimnisse, die ich mir kaum ausmalen konnte. Ich war begierig, den Fluss zu befahren, wollte in alle dunklen Felsspalten tauchen und ihre streng gehüteten Geheimnisse lüften. Erst in meinen Zwanzigern wurde mir bewusst, dass der Fluss auch über seine Ufer treten und zu einer tödlichen Gefahr werden konnte.
Meine Mamm ist inzwischen tot, und ich bin seit fünfzehn Jahren keine Amische mehr, doch den alten Spruch zitiere ich immer noch gern, besonders wenn es um meine Arbeit bei der Polizei und um mein eigenes Leben geht.
Seit drei Uhr heute Nachmittag fahre ich nun schon Streife, und für einen Freitag ist der Polizeifunk gespenstisch still, nicht nur in Painters Mill selbst, sondern in ganz Holmes County. Bis jetzt habe ich bloß einen Strafzettel wegen Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit ausgestellt, und das hauptsächlich deshalb, weil der achtzehnjährige Fahrer ein Wiederholungstäter ist und irgendwann jemanden totfährt, wenn er so weitermacht. Seit etwa einer Stunde patrouilliere ich in den Seitenstraßen und gebe mir alle Mühe, nicht über ernstere Dinge nachzudenken, wie zum Beispiel über meine Beziehung mit State Law Agent John Tomasetti, die wesentlich komplizierter geworden ist, als wir beide das gedacht hätten.
Wir haben uns vor fast zwei Jahren während der Untersuchungen zu den Schlächter-Morden kennengelernt. Ein grauenhafter Fall, bei dem ein brutaler Serienmörder in Painters Mill wütete. Tomasetti, damals Agent beim Ohio Bureau of Identification and Investigation, war zur Unterstützung geschickt worden, und meine persönliche Verwicklung in den Fall hatte die ganze Situation ziemlich haarig gemacht. Also denkbar schlechte Umstände, besonders für den Beginn einer Beziehung, beruflich wie privat. Doch irgendwie war aus dem, was eine Katastrophe biblischen Ausmaßes hätte werden können, etwas Neues und vollkommen Unerwartetes geworden. Wir versuchen immer noch herauszufinden, was diese Bindung für uns bedeutet, und ich denke, er ist besser darin als ich.
Denn wie bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen kann man sich noch so sehr bemühen, die Dinge einfach zu halten, irgendwann wird es dann doch wieder kompliziert. Tomasetti und ich sind an einem Scheideweg angelangt, Veränderung liegt in der Luft. Das muss nicht zwangsläufig negativ sein, doch leicht sind Veränderungen fast nie. Unentschlossenheit kann zermürbend sein, besonders wenn man an einer Gabelung steht und sich nicht entscheiden kann, in welche Richtung man gehen soll. Wobei jeder Weg auch noch in eine komplett andere Welt führt.
Momentan gelingt es mir nicht besonders gut, meine Probleme beiseitezuschieben, weshalb ich mir - wie zu meiner Zeit als Streifenpolizistin - ein bisschen Chaos wünsche. Zum Beispiel eine Kneipenschlägerei. Oder eine häusliche Auseinandersetzung, natürlich ohne dass jemand ernsthaft verletzt wird. Was das wohl über mich aussagt, dass ich mich lieber mit ein paar stinkenden Trinkern beschäftige als mit den Entscheidungen, die in meinem Leben anstehen?
Als ich auf den Parkplatz von LaDonna's Diner einbiege, um mir ein Schinkensandwich mit Tomate und Salat und einen Kaffee zum Mitnehmen zu holen, erwacht mein Funkgerät knisternd zum Leben. »Sechs zwei drei.« Es ist Jodie Metzger, die abends in der Telefonzentrale arbeitet.
Ich nehme das Mikro. »Was gibt es, Jodie?«
»Chief, gerade kam ein Notruf von Andy Welbaum rein. Schwerer Unfall auf der Delisle Road, Kreuzung County Road 14.«
»Jemand verletzt?« Ich blicke in den Rückspiegel und mache auf dem Parkplatz eine Kehrtwende. Das Abendessen kann warten.
»Ein Buggy ist beteiligt. Welbaum sagt, es sieht schlimm aus.«
»Schicken Sie einen Krankenwagen hin, und benachrichtigen Sie Holmes County.« Fluchend biege ich nach links auf die Main Street, mache Blaulicht und Sirene an und jage den Motor auf achtzig Stundenkilometer hoch. »Bin auf dem Weg.«
Sobald das Industriegebiet von Painters Mill hinter mir liegt, trete ich richtig aufs Gas, und der Tacho zeigt einhundert an. Nur Sekunden später knistert erneut das Funkgerät mit der Meldung ans Sheriffbüro in Holmes County. Ich biege nach links auf die Delisle Road ab, eine kurvige Asphaltstraße durch dichte Wälder, tagsüber landschaftlich reizvoll, doch nachts hochgefährlich, vor allem wegen des vielen Wilds in dieser Gegend.
Noch etwa eine Meile bis zur Kreuzung Delisle und County Road 14. Mit heulendem Motor beschleunige ich auf einhundertzwanzig, Briefkästen und schwarze Baumstämme fliegen seitlich an meinem Explorer vorüber. Vom nächsten Hügel aus sehe ich die Scheinwerfer eines einzigen Fahrzeugs. Krankenund Streifenwagen sind noch nicht eingetroffen, ich bin die Erste am Unfallort.
Etwa zwanzig Meter vor der Kreuzung erkenne ich Andy Welbaums Pick-up. Welbaum wohnt nicht weit von hier und ist wahrscheinlich auf dem Heimweg von der Fabrik in Millersburg. Der Wagen steht halb auf dem Seitenstreifen, wie hastig abgestellt, die Scheinwerfer sind auf die Überreste eines zerstörten vierrädrigen Buggys gerichtet. Ein Pferd sehe ich nicht, es ist entweder nach Hause gelaufen oder tot. Nach dem Zustand des Buggys zu urteilen vermutlich Letzteres.
»Verdammt.« Ich steige voll auf die Bremse, komme schlitternd auf dem Schotterbankett zum Stehen, mache Warnblinklichter und Fernlicht an und schiebe den Schalthebel auf Parken. Mit ein paar Warnfackeln vom Rücksitz und der MagLite springe ich aus dem Wagen, reiße die Schutzkappen von den Fackeln und verteile die Leuchten auf der Straße. Dann mache ich mich auf zum Buggy.
Alle meine Sinne sind in Alarmbereitschaft, und mehrere Dinge fallen mir gleichzeitig auf: In der südwestlichen Ecke der Kreuzung liegt reglos ein Rotfuchs mit Geschirr. Etwa zehn Meter davon entfernt ist der seitlich umgekippte amische Buggy in zwei Teile gerissen. Gesplittertes Holz, zwei fehlende Räder, und Trümmer im Umkreis von zehn Metern - Holzstücke und Fiberglasbrocken. Doch ich registriere noch mehr: den Schuh eines Kindes, einen flachkrempigen Hut inmitten von braunem Gras und trockenem Laub.
Und mir wird klar, dass es schlimm ist. Schlimmer als schlimm. Es wäre ein Wunder, wenn das jemand überlebt hat.
Auf halbem Weg zum Buggy sehe ich das erste Opfer. Ein Kind. Wie in Zeitlupe kommt alles um mich herum zum Stillstand, als hätte jemand in meinem Kopf einen Schalter umgelegt.
»Scheiße. Scheiße.« Ich renne hin, falle auf die Knie. Es ist ein kleines Mädchen mit blauem Kleid, sechs oder sieben Jahre alt. Ihre schiefhängende Kapp ist blutgetränkt von einer Kopfverletzung.
»Schätzchen«, flüstere ich mit erstickter Stimme.
Das Kind liegt auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgestreckt, die pummeligen Hände offen. Ihr Gesichtsausdruck ist so entspannt, dass sie auch schlafen könnte. Aber ihre Haut ist grau und der Mund geöffnet, zwischen den blauen Lippen schimmern kleine weiße Milchzähne. Die Augen sind schon glasig, blicklos, und die Füße nackt. Der Zusammenstoß muss so gewaltig gewesen sein, dass ihre Schuhe weggeflogen sind.
Wie ferngesteuert drücke ich aufs Ansteckmikro am Revers und melde einen Verkehrsunfall. Mit Toten. Als ich aufstehe, zittern mir die Beine, mir ist schlecht, und ich schlucke etwas, das wie Galle schmeckt. Die Nacht um mich herum ist so still, dass ich den abkühlenden Motor des Pick-ups in einiger Entfernung ticken höre. Selbst die Grillen und Nachtvögel sind verstummt, wie aus Andacht angesichts des Unglücks, das sich vor wenigen Minuten hier ereignet hat.
Im Licht der Autoscheinwerfer schwirren Insekten. Ich nehme ganz schwach ein Weinen wahr, leuchte mit der Taschenlampe in die Richtung und sehe Andy Welbaum schluchzend neben seinem Wagen am Boden sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben.
»Sind Sie verletzt?«, rufe ich ihm zu.
Er sieht mich an, als wundere er sich über diese Frage. »Nein.«
»Wie viele waren im Buggy? Haben Sie nachgesehen?« Ich laufe umher und blicke mich um, entdecke ein weiteres Opfer.
Welbaums Antwort höre ich nicht mehr, bin schon unterwegs zu dem amischen Mann auf dem grasbewachsenen Seitenstreifen. Er liegt auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, im schwarzen Mantel und dunklen Hosen. Die große Blutlache, die um ihn herum das Gras tränkt, und das verdrehte linke Bein mit dem Fuß, der in die falsche Richtung zeigt, versuche ich auszublenden. Er ist bei Bewusstsein und sieht mit einem Auge in meine Richtung.
Ich knie mich neben ihn.
»Es wird alles gut«, sage ich, »Sie hatten einen Unfall, ich bin hier, um zu helfen.«
Er öffnet den Mund. An seinem Vollbart erkenne ich, dass er verheiratet ist, und frage mich, ob auch seine Frau hier irgendwo liegt.
Ich lege die Hand auf seine, die ganz kalt ist. »Wie viele weitere Personen waren im Buggy?«
»Drei ... Kinder.«
Mein Herz setzt für eine Sekunde aus. Ich will nicht noch mehr tote Kinder finden. Ich streichele seine Hand.
»Gleich ist Hilfe da.«
Unsere Blicke treffen sich. »Katie ...«
Meinen Namen aus dem blutigen Mund zu hören erschüttert mich. Die Stimme kenne ich, auch das Gesicht, und dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Es ist Jahre her, aber manche Menschen vergisst man nie. Paul Borntrager ist einer davon. »Paul.« Noch während ich den Namen ausspreche, wappne ich mich gegen das starke Gefühl, das er bei mir auslöst.
Er will etwas sagen, doch aus seinem Mund fließt nur Blut. Auch die Zähne sind blutig, doch seine Augen setzen mir am meisten zu. Eins ist ganz verschwunden, in dem anderen Auge sehe ich eine große Pein, weil Paul sich der Situation vollkommen bewusst ist. Ich kenne den Menschen, der in diesem kaputten Körper gefangen ist. Ich kenne seine Frau. Ich weiß, dass mindestens eines seiner Kinder tot ist, und befürchte, dass er mir die schlimme Wahrheit ansieht.
»Nicht sprechen«, sage ich. »Ich sehe nach den Kindern.«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Das Klappern der Hufeisen auf Asphalt hallte in den Baumkronen wider. Paul Borntrager hatte den vierjährigen Amerikanischen Traber vor sechs Monaten auf einer Auktion in Millersburg gekauft, und zwar wider besseres Wissen. Der große und starke Wallach - von seiner Tochter Norah sogleich Sampson getauft, nach dem größten Pferd der Welt - war tatsächlich eine Herausforderung gewesen, denn frisch von der Rennbahn, fiel er aus dem Trab und scheute vor Autos und freilaufenden Hunden. Aber nach sechs Monaten Training und zahllosen Fahrten hatte Sampson sich doch als gute Investition erwiesen, und Paul war froh, das Risiko eingegangen zu sein. Heute gehörte das Pferd zu den schnellsten Trabern, die er jemals besessen hatte, und ihn zu fahren war ein Vergnügen.
Die ledernen Zügel lagen fest, aber weich in seiner Hand. Das Klirren des Geschirrs und das rhythmische Knarren des Buggys versetzten Paul in eine schläfrige, kontemplative Stimmung. Die Kinder waren den ganzen Nachmittag brav gewesen, obwohl sie bei dem Termin in der Klinik über eine Stunde hatten warten müssen. Jetzt waren sie still, aber das lag sicher an der Eiscreme, die er ihnen im Dairy Dream gekauft hatte. Sobald sie aufgegessen war, würde das Geschnatter weitergehen. Bei der Vorstellung musste er lächeln. Es war ein guter Tag gewesen.
Die Dämmerung nahm rasch zu, und aus einzelnen tiefhängenden Wolken nieselte es. Paul hoffte auf Regen, denn der extrem trockene Sommer hatte dem Getreide auf den Feldern sehr zugesetzt. Schnalzend und mit einem Schnicken der Zügel trieb er Sampson in einen starken Trab. Zwar hatte er hinten am Buggy batteriebetriebene Lichter und ein reflektierendes »Langsam-fahrendes-Vehikel«-Schild angebracht, doch im Dunkeln war Paul nicht gern auf der Straße. Die Englischen hatten es immer eilig und fuhren viel zu schnell. Und seit es Mobiltelefone und SMS gab, achteten sie noch weniger auf den Verkehr als zuvor.
»Guck mal, Datt! Die sunn is am unnergehn!«
Beim Klang der Stimme seines vier Jahre alten Sohnes musste Paul lächeln. Er blickte nach rechts zum Wegesrand, wo über dem blutroten Blattwerk von Ulmen, Ahorn- und Walnussbäumen die untergehende Sonne mit leuchtend rosa Fingern die Wolkendecke durchstach.
»Der Herr hat uns mit einem weiteren schönen Tag gesegnet.«
»Datt, David will nicht mit mir Klatschen spielen«, beschwerte sich die sechs Jahre alte Norah hinten im Buggy.
Das Spiel hatte ihre Mamm ihr vor kurzem beigebracht, und seither nervte sie ihren älteren Bruder damit.
»Er will bestimmt erst mal sein Eis essen«, meinte Paul.
»Aber er ist schon fertig.«
David, sein achtjähriger und somit ältester Sohn, schob den Kopf aus dem Inneren des Buggys und sah zu ihm hoch. »Klatschen ist was für Mädchen, Datt. Verlang nicht, dass ich so was mit ihr spiele.«
Über die Schulter hinweg blickte Paul seine Tochter an. »Da hat er nicht ganz unrecht, Norah.«
Das Mädchen beugte sich zu ihrem Bruder vor und legte ihm die Hand auf den Arm, die Finger voll Schokoladeneiscreme.
»Ich verrat's ja auch keinem«, sagte sie todernst.
Jetzt musste Paul lachen, und die Liebe zu seinen Kindern durchströmte ihn so heftig, dass seine Brust schmerzte. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag dankte er Gott für all die Segnungen, die ihm zuteilgeworden waren.
»Wir sind fast zu Hause. Sing doch stattdessen eins von den Klatschliedern«, sagte er, in Gedanken schon bei der unübersichtlichen Kreuzung vor ihnen. Falls Sampson dort scheute, wollte er vorbereitet sein.
Paul zog die Zügel straffer und reckte den Kopf vor, um nach herannahenden Fahrzeugen Ausschau zu halten. Die Bäume standen hier dicht zusammen und behinderten die Sicht, doch es waren keine verräterischen Scheinwerfer zu sehen, und auch Motorengeräusche oder das Zischen von Autorädern auf dem Asphalt hörte er nicht. Er konnte seine Fahrt ungefährdet fortsetzen.
Hinten im Buggy begann Norah Bei Müllers hat's gebranntbrannt-brannt zu singen:
Bei Müllers hat's gebrannt-brannt-brannt, da bin ich hingerannt-rannt-rannt. Da war ein Apfelbaum-baum-baum, da wollt' ich Äpfel klau'n-klau'n-klau'n.
Dann hörte Paul das Klatschen und wusste, dass Norah ihren älteren Bruder rumgekriegt hatte. Sie war eine geschickte kleine Verhandlungsführerin und besaß große Willensstärke. Wie ihre Mutter, dachte er schmunzelnd.
Sie hatten die Kreuzung schon fast erreicht und die Straße ganz für sich allein. Schnalzend trieb er Sampson zur Eile an und stimmte in das Lied der Kinder mit ein:
Da kam ein Polizist-zist-zist, der schrieb mich auf die List'-List'-List'.
Wie aus dem Nichts heulte plötzlich ein Motor auf, als ob ein Düsenjäger vom Himmel fallen würde. Paul erhaschte einen Blick auf das kreischende schwarze Ungeheuer zu seiner linken Seite. Wie ein scharfes Messer schnitt die Angst durch seinen Bauch, und Adrenalin durchflutete seinen Körper. Zu spät zog er an den Zügeln und schrie: »Brrr!«
Das Pferd rutschte mit den Hufen über den Asphalt.
Der Aufprall war fürchterlich. Er hörte, wie Holz und Fiberglas splitterten. Dann explodierte der Buggy in tausend Teile. Pauls Seite brannte, er flog durch die Luft, glaubte den Schrei eines Kindes zu hören, schoss auf den Erdboden zu, knallte auf.
Als er zu sich kam, lag er mit dem Gesicht in matschiger Erde. Dürres Gras stach in seine Wangen, er schmeckte Blut. Langsam drang der Gedanke zu ihm durch, dass er schwer verletzt war. Doch was war mit den Kindern? Wo waren sie? Warum waren sie so still? Er musste zu ihnen und sich vergewissern, dass es ihnen gutging.
Bitte, lieber Gott, behüte meine Kinder.
Er versuchte, sich zu bewegen, und stöhnte vor Anstrengung, doch sein Körper versagte ihm den Dienst. Er horchte nach Kinderstimmen, nach Weinen, nach irgendeinem Lebenszeichen. Doch außer dem nieselnden Regen auf dem Asphalt und dem Flüstern des Windes in den Bäumen blieb alles still.
1. KAPITEL
Mit dem Regen kommt die Flut. In meiner Kindheit war das einer der Lieblingssprüche meiner Mamm. Damals verstand ich den tieferen Sinn ihrer Worte nicht, denn wann immer etwas »Mehr« wurde, bedeutete das für ein amisches Mädchen wie mich meistens etwas Gutes. Die Welt um mich herum glich einem dahinrauschenden Fluss mit Stromschnellen und Untiefen voller Geheimnisse, die ich mir kaum ausmalen konnte. Ich war begierig, den Fluss zu befahren, wollte in alle dunklen Felsspalten tauchen und ihre streng gehüteten Geheimnisse lüften. Erst in meinen Zwanzigern wurde mir bewusst, dass der Fluss auch über seine Ufer treten und zu einer tödlichen Gefahr werden konnte.
Meine Mamm ist inzwischen tot, und ich bin seit fünfzehn Jahren keine Amische mehr, doch den alten Spruch zitiere ich immer noch gern, besonders wenn es um meine Arbeit bei der Polizei und um mein eigenes Leben geht.
Seit drei Uhr heute Nachmittag fahre ich nun schon Streife, und für einen Freitag ist der Polizeifunk gespenstisch still, nicht nur in Painters Mill selbst, sondern in ganz Holmes County. Bis jetzt habe ich bloß einen Strafzettel wegen Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit ausgestellt, und das hauptsächlich deshalb, weil der achtzehnjährige Fahrer ein Wiederholungstäter ist und irgendwann jemanden totfährt, wenn er so weitermacht. Seit etwa einer Stunde patrouilliere ich in den Seitenstraßen und gebe mir alle Mühe, nicht über ernstere Dinge nachzudenken, wie zum Beispiel über meine Beziehung mit State Law Agent John Tomasetti, die wesentlich komplizierter geworden ist, als wir beide das gedacht hätten.
Wir haben uns vor fast zwei Jahren während der Untersuchungen zu den Schlächter-Morden kennengelernt. Ein grauenhafter Fall, bei dem ein brutaler Serienmörder in Painters Mill wütete. Tomasetti, damals Agent beim Ohio Bureau of Identification and Investigation, war zur Unterstützung geschickt worden, und meine persönliche Verwicklung in den Fall hatte die ganze Situation ziemlich haarig gemacht. Also denkbar schlechte Umstände, besonders für den Beginn einer Beziehung, beruflich wie privat. Doch irgendwie war aus dem, was eine Katastrophe biblischen Ausmaßes hätte werden können, etwas Neues und vollkommen Unerwartetes geworden. Wir versuchen immer noch herauszufinden, was diese Bindung für uns bedeutet, und ich denke, er ist besser darin als ich.
Denn wie bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen kann man sich noch so sehr bemühen, die Dinge einfach zu halten, irgendwann wird es dann doch wieder kompliziert. Tomasetti und ich sind an einem Scheideweg angelangt, Veränderung liegt in der Luft. Das muss nicht zwangsläufig negativ sein, doch leicht sind Veränderungen fast nie. Unentschlossenheit kann zermürbend sein, besonders wenn man an einer Gabelung steht und sich nicht entscheiden kann, in welche Richtung man gehen soll. Wobei jeder Weg auch noch in eine komplett andere Welt führt.
Momentan gelingt es mir nicht besonders gut, meine Probleme beiseitezuschieben, weshalb ich mir - wie zu meiner Zeit als Streifenpolizistin - ein bisschen Chaos wünsche. Zum Beispiel eine Kneipenschlägerei. Oder eine häusliche Auseinandersetzung, natürlich ohne dass jemand ernsthaft verletzt wird. Was das wohl über mich aussagt, dass ich mich lieber mit ein paar stinkenden Trinkern beschäftige als mit den Entscheidungen, die in meinem Leben anstehen?
Als ich auf den Parkplatz von LaDonna's Diner einbiege, um mir ein Schinkensandwich mit Tomate und Salat und einen Kaffee zum Mitnehmen zu holen, erwacht mein Funkgerät knisternd zum Leben. »Sechs zwei drei.« Es ist Jodie Metzger, die abends in der Telefonzentrale arbeitet.
Ich nehme das Mikro. »Was gibt es, Jodie?«
»Chief, gerade kam ein Notruf von Andy Welbaum rein. Schwerer Unfall auf der Delisle Road, Kreuzung County Road 14.«
»Jemand verletzt?« Ich blicke in den Rückspiegel und mache auf dem Parkplatz eine Kehrtwende. Das Abendessen kann warten.
»Ein Buggy ist beteiligt. Welbaum sagt, es sieht schlimm aus.«
»Schicken Sie einen Krankenwagen hin, und benachrichtigen Sie Holmes County.« Fluchend biege ich nach links auf die Main Street, mache Blaulicht und Sirene an und jage den Motor auf achtzig Stundenkilometer hoch. »Bin auf dem Weg.«
Sobald das Industriegebiet von Painters Mill hinter mir liegt, trete ich richtig aufs Gas, und der Tacho zeigt einhundert an. Nur Sekunden später knistert erneut das Funkgerät mit der Meldung ans Sheriffbüro in Holmes County. Ich biege nach links auf die Delisle Road ab, eine kurvige Asphaltstraße durch dichte Wälder, tagsüber landschaftlich reizvoll, doch nachts hochgefährlich, vor allem wegen des vielen Wilds in dieser Gegend.
Noch etwa eine Meile bis zur Kreuzung Delisle und County Road 14. Mit heulendem Motor beschleunige ich auf einhundertzwanzig, Briefkästen und schwarze Baumstämme fliegen seitlich an meinem Explorer vorüber. Vom nächsten Hügel aus sehe ich die Scheinwerfer eines einzigen Fahrzeugs. Krankenund Streifenwagen sind noch nicht eingetroffen, ich bin die Erste am Unfallort.
Etwa zwanzig Meter vor der Kreuzung erkenne ich Andy Welbaums Pick-up. Welbaum wohnt nicht weit von hier und ist wahrscheinlich auf dem Heimweg von der Fabrik in Millersburg. Der Wagen steht halb auf dem Seitenstreifen, wie hastig abgestellt, die Scheinwerfer sind auf die Überreste eines zerstörten vierrädrigen Buggys gerichtet. Ein Pferd sehe ich nicht, es ist entweder nach Hause gelaufen oder tot. Nach dem Zustand des Buggys zu urteilen vermutlich Letzteres.
»Verdammt.« Ich steige voll auf die Bremse, komme schlitternd auf dem Schotterbankett zum Stehen, mache Warnblinklichter und Fernlicht an und schiebe den Schalthebel auf Parken. Mit ein paar Warnfackeln vom Rücksitz und der MagLite springe ich aus dem Wagen, reiße die Schutzkappen von den Fackeln und verteile die Leuchten auf der Straße. Dann mache ich mich auf zum Buggy.
Alle meine Sinne sind in Alarmbereitschaft, und mehrere Dinge fallen mir gleichzeitig auf: In der südwestlichen Ecke der Kreuzung liegt reglos ein Rotfuchs mit Geschirr. Etwa zehn Meter davon entfernt ist der seitlich umgekippte amische Buggy in zwei Teile gerissen. Gesplittertes Holz, zwei fehlende Räder, und Trümmer im Umkreis von zehn Metern - Holzstücke und Fiberglasbrocken. Doch ich registriere noch mehr: den Schuh eines Kindes, einen flachkrempigen Hut inmitten von braunem Gras und trockenem Laub.
Und mir wird klar, dass es schlimm ist. Schlimmer als schlimm. Es wäre ein Wunder, wenn das jemand überlebt hat.
Auf halbem Weg zum Buggy sehe ich das erste Opfer. Ein Kind. Wie in Zeitlupe kommt alles um mich herum zum Stillstand, als hätte jemand in meinem Kopf einen Schalter umgelegt.
»Scheiße. Scheiße.« Ich renne hin, falle auf die Knie. Es ist ein kleines Mädchen mit blauem Kleid, sechs oder sieben Jahre alt. Ihre schiefhängende Kapp ist blutgetränkt von einer Kopfverletzung.
»Schätzchen«, flüstere ich mit erstickter Stimme.
Das Kind liegt auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgestreckt, die pummeligen Hände offen. Ihr Gesichtsausdruck ist so entspannt, dass sie auch schlafen könnte. Aber ihre Haut ist grau und der Mund geöffnet, zwischen den blauen Lippen schimmern kleine weiße Milchzähne. Die Augen sind schon glasig, blicklos, und die Füße nackt. Der Zusammenstoß muss so gewaltig gewesen sein, dass ihre Schuhe weggeflogen sind.
Wie ferngesteuert drücke ich aufs Ansteckmikro am Revers und melde einen Verkehrsunfall. Mit Toten. Als ich aufstehe, zittern mir die Beine, mir ist schlecht, und ich schlucke etwas, das wie Galle schmeckt. Die Nacht um mich herum ist so still, dass ich den abkühlenden Motor des Pick-ups in einiger Entfernung ticken höre. Selbst die Grillen und Nachtvögel sind verstummt, wie aus Andacht angesichts des Unglücks, das sich vor wenigen Minuten hier ereignet hat.
Im Licht der Autoscheinwerfer schwirren Insekten. Ich nehme ganz schwach ein Weinen wahr, leuchte mit der Taschenlampe in die Richtung und sehe Andy Welbaum schluchzend neben seinem Wagen am Boden sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben.
»Sind Sie verletzt?«, rufe ich ihm zu.
Er sieht mich an, als wundere er sich über diese Frage. »Nein.«
»Wie viele waren im Buggy? Haben Sie nachgesehen?« Ich laufe umher und blicke mich um, entdecke ein weiteres Opfer.
Welbaums Antwort höre ich nicht mehr, bin schon unterwegs zu dem amischen Mann auf dem grasbewachsenen Seitenstreifen. Er liegt auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, im schwarzen Mantel und dunklen Hosen. Die große Blutlache, die um ihn herum das Gras tränkt, und das verdrehte linke Bein mit dem Fuß, der in die falsche Richtung zeigt, versuche ich auszublenden. Er ist bei Bewusstsein und sieht mit einem Auge in meine Richtung.
Ich knie mich neben ihn.
»Es wird alles gut«, sage ich, »Sie hatten einen Unfall, ich bin hier, um zu helfen.«
Er öffnet den Mund. An seinem Vollbart erkenne ich, dass er verheiratet ist, und frage mich, ob auch seine Frau hier irgendwo liegt.
Ich lege die Hand auf seine, die ganz kalt ist. »Wie viele weitere Personen waren im Buggy?«
»Drei ... Kinder.«
Mein Herz setzt für eine Sekunde aus. Ich will nicht noch mehr tote Kinder finden. Ich streichele seine Hand.
»Gleich ist Hilfe da.«
Unsere Blicke treffen sich. »Katie ...«
Meinen Namen aus dem blutigen Mund zu hören erschüttert mich. Die Stimme kenne ich, auch das Gesicht, und dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Es ist Jahre her, aber manche Menschen vergisst man nie. Paul Borntrager ist einer davon. »Paul.« Noch während ich den Namen ausspreche, wappne ich mich gegen das starke Gefühl, das er bei mir auslöst.
Er will etwas sagen, doch aus seinem Mund fließt nur Blut. Auch die Zähne sind blutig, doch seine Augen setzen mir am meisten zu. Eins ist ganz verschwunden, in dem anderen Auge sehe ich eine große Pein, weil Paul sich der Situation vollkommen bewusst ist. Ich kenne den Menschen, der in diesem kaputten Körper gefangen ist. Ich kenne seine Frau. Ich weiß, dass mindestens eines seiner Kinder tot ist, und befürchte, dass er mir die schlimme Wahrheit ansieht.
»Nicht sprechen«, sage ich. »Ich sehe nach den Kindern.«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Linda Castillo
Linda Castillo wuchs in Dayton im US-Bundesstaat Ohio auf, schrieb bereits in ihrer Jugend ihren ersten Roman und arbeitete viele Jahre als Finanzmanagerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit »Die Zahlen der Toten« (2010), dem ersten Kriminalroman mit Polizeichefin Kate Burkholder. Linda Castillo kennt die Welt der Amischen seit ihrer Kindheit und ist regelmässig zu Gast bei amischen Gemeinden. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und zwei Pferden auf einer Ranch in Texas. Helga Augustin hat in Frankfurt am Main Neue Philologie studiert. Von 1986 - 1991 studierte sie an der City University of New York und schloss ihr Studium mit einem Magister in Liberal Studies mit dem Schwerpunkt 'Translations' ab. Die Übersetzerin lebt in Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Linda Castillo
- 2014, 4. Aufl., 352 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Helga Augustin
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596196132
- ISBN-13: 9783596196135
- Erscheinungsdatum: 24.06.2014
Rezension zu „Teuflisches Spiel / Kate Burkholder Bd.5 “
Eigentlich mit ihrem Privatleben beschäftigt, muss die Polizeichefin erkennen, dass sich auch nahestehende Menschen verändern - eine traurige Erkenntnis verpackt als spannender Krimi. Westdeutsche Zeitung 20140815
Pressezitat
Eigentlich mit ihrem Privatleben beschäftigt, muss die Polizeichefin erkennen, dass sich auch nahestehende Menschen verändern - eine traurige Erkenntnis verpackt als spannender Krimi. Westdeutsche Zeitung 20140815
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