Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Jg.2006 Neue Judenfeindschaft?
Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus
Jahrbuch 2006 des Fritz Bauer Instituts
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Jahrbuch 2006 des Fritz Bauer Instituts
Klappentext zu „Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Jg.2006 Neue Judenfeindschaft? “
Viele Jahre wurde Antisemitismus als eine historische Erscheinung behandelt, die mit der »Bewältigung der NS-Vergangenheit« überwunden zu sein schien. Heute bilden Auseinandersetzungen um Globalisierung und Kontroversen zum Nahostkonflikt den Hintergrund antisemitischer Äusserungen. Dabei werden althergebrachte antisemitische Muster aufgegriffen und mit neuen Varianten ausgestattet. Das Jahrbuch analysiert die aktuellen Formen des Antisemitismus und schildert Erfahrungen aus pädagogischen Projekten.Mit Beiträgen von D. Akhanli, W. Bergmann, J. Bürgin, G. Chernyak, A. Demirel, S. Diederich, M. Eckmann, R. Fava, B. Fechler, T. vonFranzecki, E. Gryglewski, S. Harms, C. Kaletsch, G. Kössler, U. Kux, A. Messerschmidt, H. Oppenhäuser, M. Perels, H. Radvan, I. Rosensaft, B. Schäuble, A. Scherr, N. Tietze und N. Wagenknecht
Lese-Probe zu „Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Jg.2006 Neue Judenfeindschaft? “
Diskussionen über Antisemitismus haben etwas von Ebbe und Flut. Entweder sie sind weit weg oder ganz nah. Kommen sie nah, redet alle Welt für ein paar Wochen oder Monate von fast nichts anderem. Nach unzähligen Appellen, unverzüglich zu handeln, aus der Geschichte zu lernen, nicht wegzusehen, bleibt Überdruss angesichts einer so hochtourigen emotionalen Debatte. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches im Sommer 2006 haben wir wieder Ebbe. Das Thema Antisemitismus ist nach einer intensiven Diskussion in den Jahren 2003 bis 2005 von den öffentlichen Auseinandersetzungen um "Islamophobie" und um "die mangelnde Integrationsbereitschaft von Migranten" abgelöst worden. Im allgemeinen Bewusstsein ist von der Themenkonjunktur der Debatten über Antisemitismus nicht viel geblieben. Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch, einen Zwischenstand der Diskussionen und konzeptionellen Entwicklungen unter engagierten Pädagogen zu dokumentieren.Die Debatte unter der Fragestellung "Gibt es einen 'neuen' Antisemitismus?" wurde zuletzt vor allem unter zwei Gesichtspunkten geführt. Zum einen, inwieweit sich eine Form des Antisemitismus mit besonderem Bezug auf Israel gebildet habe, und zum anderen, ob diese im Wesentlichen von jungen, auf einen muslimischen Kontext bezogenen Migranten ausgehe.
Während bis zur Jahrtausendwende die pädagogische - genau wie die öffentliche - Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus im vereinten Deutschland unter einer dominant herkunftsdeutschen Perspektive stattfand und Funktionen des "Nation Building" erfüllte - wobei Migranten und ihre Geschichts- und Gegenwartsbezüge kaum eine Rolle spielten -, tendierte die jüngste Debatte eher dazu, auf Migranten als "Troublemaker" zu fokussieren und in der deutschen Gesellschaft vorhandene erinnerungspolitische Kontinuitäten und familiäre Bindungen an die NS-Volksgemeinschaft auszublenden. Die Emotionalität der Debatte, in der diskursive Frontenbildungen, gegenseitige
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Verdächtigungen und Diffamierungen des jeweiligen Kontrahenten nicht selten waren, und die Beobachtung, dass auch die pädagogische Diskussion nicht frei von den ideologischen Grabenkämpfen der politischen Bühne ist, verweisen auf ein moralisch und identitär hoch aufgeladenes Diskursfeld. Zugleich ist die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Formen von Antisemitismus in der Breite pädagogischer Theorie- und Konzeptionsbildung bisher kaum angekommen. Nach wie vor besteht die Ansicht, dass die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus hinreiche, um auch auf gegenwärtige Formen von Antisemitismus zu reagieren, und es herrscht die Vorstellung, man habe den nationalsozialistischen Antisemitismus im Bildungswesen angemessen aufgearbeitet. Die wiederholt geäusserte Erwartung, von Gedenkstätten möge eine volkspädagogische Wirkung ausgehen, gehört zu diesem Phänomen.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit globalisiertem Antisemitismus präsentieren Ausgangspunkte und Ansätze pädagogischen Handelns gegen Antisemitismus aus unterschiedlichen Theorie- und Praxisfeldern. Mit dem programmatischen Anspruch, zu einer pädagogischen Auseinandersetzung mit globalisiertem Antisemitismus beizutragen, bemühen wir uns um dreierlei: Erstens soll eine pädagogisch orientierte Theorie-Praxis-Reflexion erreicht werden. Zweitens wird die Heterogenität der Standpunkte und Lebenslagen von Jugendlichen und Erwachsenen in einem Land in den Blick genommen, das in der Täternachfolge des Holocaust steht und das zu einem Einwanderungsland geworden ist. Drittens geht es um die Analyse sowohl der problematischen Haltungen der Adressaten pädagogischer Arbeit als auch der pädagogisch Handelnden selbst - und zwar als Teil einer deutschen Gesamtproblematik.
Die aktuellen Formen von Antisemitismus sind aus der Sicht der Herausgeber als "globalisierte" zu beschreiben. Damit soll ebenso auf die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Formen von Antisemitismus aufmerksam gemacht werden wie auf die Unterschiede in der Artikulation und Motivation antisemitischer Äusserungen, die teilweise an verschiedene Diskurs- und Erinnerungsgemeinschaften gebunden sind. Gerade weil antisemitische Argumentationen situative Bündnisse zwischen unterschiedlich motivierten Sprechern ermöglichen, ist es für eine pädagogisch angemessene Auseinandersetzung mit Antisemitismus unerlässlich, die Nuancierungen dieser Motivationen zu erkennen, sie einzuordnen und anzusprechen. Der Spagat für die pädagogisch Handelnden besteht dabei darin, dass einerseits - um mit den Lernenden im Gespräch zu bleiben - der Antisemitismus nicht in Form einer Beschuldigung angesprochen werden darf, andererseits antisemitische Argumente als antisemitisch und deshalb inakzeptabel benannt werden müssen. Diese Haltung markiert den doppelten Anspruch an die Bildungsarbeit, Position gegen Antisemitismus zu beziehen und dabei die Lernenden nicht aus dem Lernprozess auszuschliessen.
Heterogene, aus Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund zusammengesetzte Gruppen sind in der schulischen und ausserschulischen Bildungsarbeit Normalität. An die Stelle der über lange Jahre auch in erziehungswissenschaftlichen Diskursen vorherrschenden Normalisierungsperspektive ist in den vergangenen Jahren eine kritische Reflexion der Ausgrenzungsprozesse innerhalb einer auf Integration zielenden Pädagogik getreten. Statt Alterität unter dem Gesichtspunkt der Abweichung und des problematischen Andersseins zu betrachten und "Wissen über Andere" als ein Wissen herauszubilden, das von sich selbst absieht und zugleich eigene Vorstellungen auf Andere projiziert, werden nun die Wirkungen machtvoller Prozesse der Identifizierung und kulturalistischer Zuschreibungen analysiert. (vgl. Höhne 2001) Es bildet sich eine Perspektive heraus, in der "kulturelle Differenzen" "nicht als unabhängige Ursache, sondern als Bestandteil und Effekt von Prozessen der Segregation, Benachteiligung und Diskriminierung" (Hormel/Scherr 2004b, S. 35) in einer Konstellation von Mehr- und Minderheiten, Etablierten und Aussenseitern, Machtlosen und Machtvolleren gesehen werden. Im Unterschied zu einer nach wie vor im Mainstream öffentlicher Bildungsdebatten gängigen Problematisierung derjenigen, die als "anders" gelten, wird hier ein Diskurs entwickelt, der auf die Analyse der Bedingungen von Zugehörigkeit und Partizipation ausgerichtet ist.
Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus in heterogenen Lerngruppen bedarf es einer Aufmerksamkeit dafür, dass mit antisemitischen Topoi Zugehörigkeit und Erfahrungen der Nichtzugehörigkeit verhandelt werden. Die Äusserung von Antisemitismus eignet sich dabei sowohl zur Provokation und zur Differenzmarkierung als auch zum Erzeugen von Zustimmung. Antisemitische Projektionen werden auf einem Terrain artikuliert, auf dem die Zugehörigkeiten umkämpft sind und auf dem an verschiedene Geschichtspolitiken und Erinnerungsdiskurse angeknüpft wird. Zweifellos zählt zu den derzeit aktualisierten Traditionsbezügen auch der Rückgriff auf die Idee, als Moslem müsse man Juden ablehnen. Diese Vorstellung hat ihre Wurzeln nicht direkt in den in der arabisch-muslimischen Welt ausgeprägten Formen des Antisemitismus, sondern vielmehr in einer gesellschaftlichen Situation, die alltagspraktische Adaptionen eines arabisch-nationalistischen oder islamistisch grundierten antisemitischen Diskurses mit sich bringt. Der Umgang mit Minderheiten in einer Einwanderungsgesellschaft, die lange Zeit keine sein wollte und die Frage der verweigerten Zugehörigkeiten lange verdrängt hat, trägt zum Anknüpfen an Denkmuster bei, mit denen projektive Verursacher für die eigene Misere angeboten werden. Aufgegriffen werden dabei sowohl Bilder der europäisch-christlichen Traditionen als auch aktuell populäre Auffassungen in islamisch geprägten Gesellschaften. Gerade weil der islamistische Antisemitismus auf den Fundus des christlichen Antijudaismus sowie des Antisemitismus europäischer Prägung zurückgreift, ist er so leicht anschlussfähig.
Nach wie vor bestimmen in der deutschen Mehrheitsbevölkerung vor allem die gesellschaftliche und familiäre Kontinuität zur NS-Gesellschaft und die gegen die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung gewendeten Reflexe antisemitische Ressentiments. Die Abwehr der Erinnerung an die Massenverbrechen des Nationalsozialismus sowie die Relativierung und Leugnung des Holocaust sind ebenso bedeutende Kennzeichen des Antisemitismus nach Auschwitz wie die Projektion der historischen Schuld der eigenen Gruppe auf Juden als imaginiertes Kollektiv. Damit werden Juden verantwortlich gemacht für das, was ihnen angetan wurde. Sie werden beschuldigt, die Nachkommen der Täter und Zuschauer mit der Erinnerung an Auschwitz zu belästigen. In dieser "Umkehrung des Verhältnisses von Täter und Opfer besteht der Kern des Antisemitismus nach Auschwitz" (Holz 2005a, S. 12). Gegenwärtig kann Antisemitismus auftreten als ein "vom Stalinismus gereinigter antisemitischer Antizionismus, der die Shoah relativiert" (ebd.). So manifestiert sich beispielsweise in der Bezeichnung von Juden als "Täter" oder "Nazis von heute" gegenüber den Palästinensern sowohl eine ethnisierende und parteiisch-polarisierende Lesart des Nahostkonflikts als auch eine Relativierung des Holocaust.
Die dominante Funktion des Antisemitismus ist eine "identitätsstiftende Weltdeutung" (ebd., S. 10), schlussfolgert Holz. Er versteht unter Antisemitismus eine "spezifische Semantik, in der ein nationales, rassisches und/oder religiöses Selbstbild mit einem abwertenden Judenbild einhergeht" (ebd.). Dies erklärt, warum antisemitische Anspielungen auf vielfältige Weise im pädagogischen Alltag auftauchen, ohne dass sie in jedem Fall bewusst eingesetzt oder strategisch platziert worden wären. So sind Lerngruppen und die pädagogisch Verantwortlichen unvermittelt mit einer Vielzahl gesellschaftlich präsenter Auffassungen konfrontiert, denen sie oft spontan wenig entgegenzusetzen haben. Wir halten es für problematisch, einzelne gesellschaftliche Gruppen für "den Antisemitismus" verantwortlich zu machen und damit einen pädagogischen Verdacht zu etablieren. Stattdessen ist uns an einer Reflexion pädagogischer Problemstellungen und ihrer gesellschaftlichen Bedingungen gelegen.
Wir sehen in der soziokulturellen Entwicklung der Bundesrepublik und dem Umgang mit der Verantwortung gegenüber der Geschichte des Nationalsozialismus seit 1990 einen wesentlichen Faktor, der sich auf die Auseinandersetzung mit Antisemitismus auswirkt. In jüngster Zeit sind bedeutende öffentliche Kontroversen, zum Beispiel infolge der antisemitischen Äusserungen von Martin Walser und Jürgen Möllemann, zu Austragungsorten für einen Streit um die Gegenwärtigkeit des Antisemitismus im vereinten Deutschland geworden. Scheinbar unabhängig davon zielt die Debatte um den "neuen" Antisemitismus auf eine Problematisierung junger Männer "mit muslimisch-arabischem Migrationshintergrund". Zeitlich parallel findet eine Diskussion über die Verfasstheit der europäischen Staaten als Einwanderungsgesellschaften statt. Vor dem Hintergrund ihres fast ungebrochenen Selbstverständnisses als homogene Gemeinschaften verengt sich diese europäische Debatte über das Verhältnis von Zivilgesellschaft und religiöser bzw. kultureller Pluralität fast ausschliesslich auf eine Auseinandersetzung über die wachsende politische Radikalisierung innerhalb bestimmter Varianten des Islam, während Fragestellungen der Partizipation und Diskriminierung nur am Rande berührt werden. Gerade weil all diese Debatten sich durch immense Diskursverwirrungen auszeichnen, besteht grosser Klärungs- und Forschungsbedarf. Die für dieses Buch verfassten Beiträge verfolgen die Absicht, eine Rekontextualisierung pädagogischer Problemfälle und die Verknüpfung von Beobachtungen und Interventionsstrategien mit wissenschaftlichen Theorien zu ermöglichen und so zur Analyse und Kritik pädagogischer Reaktionen auf Antisemitismus beizutragen.rund". Zeitlich parallel findet eine Diskussion über die Verfasstheit der europäischen Staaten als Einwanderungsgesell
Die Beiträge des vorliegenden Bandes Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit globalisiertem Antisemitismus präsentieren Ausgangspunkte und Ansätze pädagogischen Handelns gegen Antisemitismus aus unterschiedlichen Theorie- und Praxisfeldern. Mit dem programmatischen Anspruch, zu einer pädagogischen Auseinandersetzung mit globalisiertem Antisemitismus beizutragen, bemühen wir uns um dreierlei: Erstens soll eine pädagogisch orientierte Theorie-Praxis-Reflexion erreicht werden. Zweitens wird die Heterogenität der Standpunkte und Lebenslagen von Jugendlichen und Erwachsenen in einem Land in den Blick genommen, das in der Täternachfolge des Holocaust steht und das zu einem Einwanderungsland geworden ist. Drittens geht es um die Analyse sowohl der problematischen Haltungen der Adressaten pädagogischer Arbeit als auch der pädagogisch Handelnden selbst - und zwar als Teil einer deutschen Gesamtproblematik.
Die aktuellen Formen von Antisemitismus sind aus der Sicht der Herausgeber als "globalisierte" zu beschreiben. Damit soll ebenso auf die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Formen von Antisemitismus aufmerksam gemacht werden wie auf die Unterschiede in der Artikulation und Motivation antisemitischer Äusserungen, die teilweise an verschiedene Diskurs- und Erinnerungsgemeinschaften gebunden sind. Gerade weil antisemitische Argumentationen situative Bündnisse zwischen unterschiedlich motivierten Sprechern ermöglichen, ist es für eine pädagogisch angemessene Auseinandersetzung mit Antisemitismus unerlässlich, die Nuancierungen dieser Motivationen zu erkennen, sie einzuordnen und anzusprechen. Der Spagat für die pädagogisch Handelnden besteht dabei darin, dass einerseits - um mit den Lernenden im Gespräch zu bleiben - der Antisemitismus nicht in Form einer Beschuldigung angesprochen werden darf, andererseits antisemitische Argumente als antisemitisch und deshalb inakzeptabel benannt werden müssen. Diese Haltung markiert den doppelten Anspruch an die Bildungsarbeit, Position gegen Antisemitismus zu beziehen und dabei die Lernenden nicht aus dem Lernprozess auszuschliessen.
Heterogene, aus Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund zusammengesetzte Gruppen sind in der schulischen und ausserschulischen Bildungsarbeit Normalität. An die Stelle der über lange Jahre auch in erziehungswissenschaftlichen Diskursen vorherrschenden Normalisierungsperspektive ist in den vergangenen Jahren eine kritische Reflexion der Ausgrenzungsprozesse innerhalb einer auf Integration zielenden Pädagogik getreten. Statt Alterität unter dem Gesichtspunkt der Abweichung und des problematischen Andersseins zu betrachten und "Wissen über Andere" als ein Wissen herauszubilden, das von sich selbst absieht und zugleich eigene Vorstellungen auf Andere projiziert, werden nun die Wirkungen machtvoller Prozesse der Identifizierung und kulturalistischer Zuschreibungen analysiert. (vgl. Höhne 2001) Es bildet sich eine Perspektive heraus, in der "kulturelle Differenzen" "nicht als unabhängige Ursache, sondern als Bestandteil und Effekt von Prozessen der Segregation, Benachteiligung und Diskriminierung" (Hormel/Scherr 2004b, S. 35) in einer Konstellation von Mehr- und Minderheiten, Etablierten und Aussenseitern, Machtlosen und Machtvolleren gesehen werden. Im Unterschied zu einer nach wie vor im Mainstream öffentlicher Bildungsdebatten gängigen Problematisierung derjenigen, die als "anders" gelten, wird hier ein Diskurs entwickelt, der auf die Analyse der Bedingungen von Zugehörigkeit und Partizipation ausgerichtet ist.
Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus in heterogenen Lerngruppen bedarf es einer Aufmerksamkeit dafür, dass mit antisemitischen Topoi Zugehörigkeit und Erfahrungen der Nichtzugehörigkeit verhandelt werden. Die Äusserung von Antisemitismus eignet sich dabei sowohl zur Provokation und zur Differenzmarkierung als auch zum Erzeugen von Zustimmung. Antisemitische Projektionen werden auf einem Terrain artikuliert, auf dem die Zugehörigkeiten umkämpft sind und auf dem an verschiedene Geschichtspolitiken und Erinnerungsdiskurse angeknüpft wird. Zweifellos zählt zu den derzeit aktualisierten Traditionsbezügen auch der Rückgriff auf die Idee, als Moslem müsse man Juden ablehnen. Diese Vorstellung hat ihre Wurzeln nicht direkt in den in der arabisch-muslimischen Welt ausgeprägten Formen des Antisemitismus, sondern vielmehr in einer gesellschaftlichen Situation, die alltagspraktische Adaptionen eines arabisch-nationalistischen oder islamistisch grundierten antisemitischen Diskurses mit sich bringt. Der Umgang mit Minderheiten in einer Einwanderungsgesellschaft, die lange Zeit keine sein wollte und die Frage der verweigerten Zugehörigkeiten lange verdrängt hat, trägt zum Anknüpfen an Denkmuster bei, mit denen projektive Verursacher für die eigene Misere angeboten werden. Aufgegriffen werden dabei sowohl Bilder der europäisch-christlichen Traditionen als auch aktuell populäre Auffassungen in islamisch geprägten Gesellschaften. Gerade weil der islamistische Antisemitismus auf den Fundus des christlichen Antijudaismus sowie des Antisemitismus europäischer Prägung zurückgreift, ist er so leicht anschlussfähig.
Nach wie vor bestimmen in der deutschen Mehrheitsbevölkerung vor allem die gesellschaftliche und familiäre Kontinuität zur NS-Gesellschaft und die gegen die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung gewendeten Reflexe antisemitische Ressentiments. Die Abwehr der Erinnerung an die Massenverbrechen des Nationalsozialismus sowie die Relativierung und Leugnung des Holocaust sind ebenso bedeutende Kennzeichen des Antisemitismus nach Auschwitz wie die Projektion der historischen Schuld der eigenen Gruppe auf Juden als imaginiertes Kollektiv. Damit werden Juden verantwortlich gemacht für das, was ihnen angetan wurde. Sie werden beschuldigt, die Nachkommen der Täter und Zuschauer mit der Erinnerung an Auschwitz zu belästigen. In dieser "Umkehrung des Verhältnisses von Täter und Opfer besteht der Kern des Antisemitismus nach Auschwitz" (Holz 2005a, S. 12). Gegenwärtig kann Antisemitismus auftreten als ein "vom Stalinismus gereinigter antisemitischer Antizionismus, der die Shoah relativiert" (ebd.). So manifestiert sich beispielsweise in der Bezeichnung von Juden als "Täter" oder "Nazis von heute" gegenüber den Palästinensern sowohl eine ethnisierende und parteiisch-polarisierende Lesart des Nahostkonflikts als auch eine Relativierung des Holocaust.
Die dominante Funktion des Antisemitismus ist eine "identitätsstiftende Weltdeutung" (ebd., S. 10), schlussfolgert Holz. Er versteht unter Antisemitismus eine "spezifische Semantik, in der ein nationales, rassisches und/oder religiöses Selbstbild mit einem abwertenden Judenbild einhergeht" (ebd.). Dies erklärt, warum antisemitische Anspielungen auf vielfältige Weise im pädagogischen Alltag auftauchen, ohne dass sie in jedem Fall bewusst eingesetzt oder strategisch platziert worden wären. So sind Lerngruppen und die pädagogisch Verantwortlichen unvermittelt mit einer Vielzahl gesellschaftlich präsenter Auffassungen konfrontiert, denen sie oft spontan wenig entgegenzusetzen haben. Wir halten es für problematisch, einzelne gesellschaftliche Gruppen für "den Antisemitismus" verantwortlich zu machen und damit einen pädagogischen Verdacht zu etablieren. Stattdessen ist uns an einer Reflexion pädagogischer Problemstellungen und ihrer gesellschaftlichen Bedingungen gelegen.
Wir sehen in der soziokulturellen Entwicklung der Bundesrepublik und dem Umgang mit der Verantwortung gegenüber der Geschichte des Nationalsozialismus seit 1990 einen wesentlichen Faktor, der sich auf die Auseinandersetzung mit Antisemitismus auswirkt. In jüngster Zeit sind bedeutende öffentliche Kontroversen, zum Beispiel infolge der antisemitischen Äusserungen von Martin Walser und Jürgen Möllemann, zu Austragungsorten für einen Streit um die Gegenwärtigkeit des Antisemitismus im vereinten Deutschland geworden. Scheinbar unabhängig davon zielt die Debatte um den "neuen" Antisemitismus auf eine Problematisierung junger Männer "mit muslimisch-arabischem Migrationshintergrund". Zeitlich parallel findet eine Diskussion über die Verfasstheit der europäischen Staaten als Einwanderungsgesellschaften statt. Vor dem Hintergrund ihres fast ungebrochenen Selbstverständnisses als homogene Gemeinschaften verengt sich diese europäische Debatte über das Verhältnis von Zivilgesellschaft und religiöser bzw. kultureller Pluralität fast ausschliesslich auf eine Auseinandersetzung über die wachsende politische Radikalisierung innerhalb bestimmter Varianten des Islam, während Fragestellungen der Partizipation und Diskriminierung nur am Rande berührt werden. Gerade weil all diese Debatten sich durch immense Diskursverwirrungen auszeichnen, besteht grosser Klärungs- und Forschungsbedarf. Die für dieses Buch verfassten Beiträge verfolgen die Absicht, eine Rekontextualisierung pädagogischer Problemfälle und die Verknüpfung von Beobachtungen und Interventionsstrategien mit wissenschaftlichen Theorien zu ermöglichen und so zur Analyse und Kritik pädagogischer Reaktionen auf Antisemitismus beizutragen.rund". Zeitlich parallel findet eine Diskussion über die Verfasstheit der europäischen Staaten als Einwanderungsgesell
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Inhaltsverzeichnis zu „Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Jg.2006 Neue Judenfeindschaft? “
InhaltVorbemerkung9Einleitung11HINTERGRUNDBEITRÄGEWerner BergmannErscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland heute33Barbara Schäuble, Albert Scherr"Ich habe nichts gegen Juden, aber..."Widersprüchliche und fragmentarische Formen von Antisemitismus in heterogenen Jugendszenen51Nikola TietzeGemeinschaftsnarrationen in der EinwanderungsgesellschaftEine Fallstudie über Palästinenser in Berlin80Holger OppenhäuserArbeiter gegen Globalisten - Normale Deutsche gegen SchmarotzerKoppelungen von Ökonomie und nationalem Antisemitismus im Diskurs der extremen Rechten103"Eine Initiative, in der Migranten nicht nur die Hinterbänkler sind"Interview mit Aycan Demirel über die Arbeit der "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus"128Astrid MesserschmidtVerstrickungenPostkoloniale Perspektiven in der Bildungsarbeit zum Antisemitismus150Gottfried KösslerAntisemitismus als Thema im schulischen Kontext172Bernd FechlerAntisemitismus im globalisierten KlassenzimmerIdentitätspolitik, Opferkonkurrenzen und das Dilemma pädagogischer Intervention187Monique EckmannRassismus und Antisemitismus als pädagogische Handlungsfelder210Barbara Schäuble, Hanne ThomaErgebnisse des Europäischen Workshops "Antisemitismus - eine Herausforderung für die (politische) Bildungsarbeit" Eine Dokumentation233PRAXISBERICHTE UND REFLEXIONENRosa FavaAntisemitismus ohne HerkunftBetrachtungen zu einem "proto-antisemitischen" Vorfall in einer Hamburger Schulklasse245Sabine Diederich, Christa Kaletsch"Das ist nicht so gemeint"Arbeiten mit Skalen zur Sensibilisierung für die Funktionsweisen von Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus262Peter WagenknechtDer Nahostkonflikt ermöglicht einen politischen DiskursErfahrungen aus dem Projekt "BildungsBausteine gegen Antisemitismus"273Irina Rosensaft, Georg ChernyakISQ - Wissen reflektieren - in Begegnungen lernen286Elke GryglewskiNeue Konzepte der GedenkstättenpädagogikGruppenführungen mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus
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der Wannsee-Konferenz299Do?an AkhanliMeine Geschichte - "Unsere" GeschichteTürkischsprachige Führungen im NS-Dokumentationszentrum Köln (EL-DE-Haus)310Ulla KuxProduktive IrritationenMultiperspektivische Bildungsprojekte zur Beziehungsgeschichte hiesiger Mehr- und Minderheiten318Julika Bürgin, Tanja von FranseckyAntisemitismus entgegentreten - Gewerkschaftliche Bildung mit dem "Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit"Erscheinungsformen von Antisemitismus im Kontext von Gewerkschaften329Heike RadvanWas kann die Zivilgesellschaft gegen Antisemitismus tun?Erfahrungen aus der Arbeit der Amadeu Antonio Stiftung in den neuen Bundesländern339Literatur355Autorinnen und Autoren371
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Autoren-Porträt
Mit Beiträgen von - D. Akhanli
- W. Bergmann
- J. Bürgin
- G. Chernyak
- A. Demirel
- S. Diederich
- M. Eckmann
- R. Fava
- B. Fechler
- T. von Franzecki
- E. Gryglewski
- C. Kaletsch
- G. Kössler
- U. Kux
- A. Messerschmidt
- H. Oppenhäuser
- H. Radvan
- I. Rosensaft
- B. Schäuble
- A. Scherr
- N. Tietze und P. Wagenknecht
Bibliographische Angaben
- 2006, 378 Seiten, 2 Abbildungen, Masse: 14,1 x 21,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Herausgegeben von Fritz Bauer Institut; Jugendbegegnungsstätte Anne Frank; Mitarbeit: Akhanli, Dogan; Bergmann, Werner; Bürgin, Julika; Chernyak, Georg; Demirel, Aycan; Diederich, Sabine
- Herausgegeben: Bernd Fechler, Gottfried Kössler, Astrid Messerschmidt, Barbara Schäuble
- Verlag: CAMPUS VERLAG
- ISBN-10: 3593381834
- ISBN-13: 9783593381831
Rezension zu „Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Jg.2006 Neue Judenfeindschaft? “
18.05.2007, Analyse + KritikAntisemitismus begreifen, um ihn zu bekämpfen"Der Sammelband beeindruckt nicht nur durch seinen Praxisbezug sondern auch durch die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema."
Kommentar zu "Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Jg.2006 Neue Judenfeindschaft?"
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