Heideggers Testament
Der Philosoph, der SPIEGEL und die SS
Im Jahr 1966 kam es zu dem legendären SPIEGEL-Gespräch mit Martin Heidegger. Auf Wunsch des Philosophen wurde es erst 1976, nach seinem Tod, veröffentlicht. Vorbereitet hatte es SPIEGEL-Ressortleiter Georg Wolff, ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer und...
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Produktinformationen zu „Heideggers Testament “
Klappentext zu „Heideggers Testament “
Im Jahr 1966 kam es zu dem legendären SPIEGEL-Gespräch mit Martin Heidegger. Auf Wunsch des Philosophen wurde es erst 1976, nach seinem Tod, veröffentlicht. Vorbereitet hatte es SPIEGEL-Ressortleiter Georg Wolff, ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer und Geheimagent, der zusammen mit Rudolf Augstein das Gespräch führte. Die Resonanz war überwältigend, äusserte sich Heidegger doch erstmals über sein umstrittenes Verhältnis zum Nationalsozialismus. Lutz Hachmeister beleuchtet die Hintergründe des Gesprächs und enthüllt das sonderbare Zusammenspiel von Heideggers Vertuschungsstrategie und Augsteins Faszination für den nationalkonservativen Denker. Ein spannendes Kapitel deutscher Geistesgeschichte.
Der Medienforscher Lutz Hachmeister schildert erstmals Hintergründe, Vorgeschichte, Verlauf und Wirkung des legendären SPIEGEL-Gesprächs, das Rudolf Augstein und sein Ressortleiter Georg Wolff 1966 mit dem Philosophen Martin Heidegger führten. Er erhielt Zugang zum umfangreichen Briefwechsel Augsteins und Wolffs mit Heidegger und beschreibt minutiös die Vorbereitungen und die unterschiedlichen Interessen der Gesprächspartner.
Auch das Originaltonband des Interviews stand Hachmeister zur Verfügung. Er vergleicht es mit der endgültigen, stark redigierten und gekürzten Fassung, die nach langem Hin und Her zwischen Heidegger und dem SPIEGEL zustande kam und 1976, nach dem Tod des Philosophen, erschien.
Er zeigt, wie Heidegger letztlich den SPIEGEL-Herausgeber ausmanövrierte, dem es vor allem darum ging, den "Zauberer von Messkirch" als Trophäe in seinem Blatt zu haben. Das Ergebnis ist ein höchst aufschlussreiches Kapitel deutscher Geistesgeschichte und ein erhellender Blick auf die Selbstinszenierung des wirkungsmächtigen Philosophen.
Lese-Probe zu „Heideggers Testament “
Heideggers Testament von Lutz HachmeisterNachtzug nach Freiburg
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Am Abend des 22. September 1966 nimmt Am Abend des 22. September 1966 nimmt eine kleine Reisegruppe den Nachtzug von Hamburg nach Freiburg im Breisgau. Dabei sind der einflussreichste deutsche Journalist und Herausgeber des maßgebenden »Nachrichtenmagazins«, sein Ressortleiter für »Geisteswissenschaften«, eine junge Photographin und ein Stenograph. Sie wollen den bekanntesten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts für ein lange und intensiv vorbereitetes Interview treffen.
Der führende Journalist war vor 1945 Zeitungsvolontär gewesen und hatte als Leutnant in Hitlers Wehrmacht an der Ostfront gekämpft. Der Geisteswissenschaftler hatte im Rang eines SS-Hauptsturmführers im besetzten Norwegen gearbeitet, als Nachrichtenoffizier des Sicherheitsdienstes (SD). Die Halbschwester der Photographin war im NS-Staat zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Der Stenograph war ursprünglich Fremdsprachenkorrespondent in der Textilbranche und hatte als Marineartillerist vor Leningrad gestanden.
Der Philosoph hatte vor und nach 1933 für eine gewisse Zeit den »Führer« verehrt und große Hoffnungen in »die Bewegung« gesetzt - wie lange und wie intensiv, das war und ist umstritten, eine internationale cause célèbre. Politischer Irrtum und die Sache des Denkens, aber auch das Sein an sich und die Technik sollten Gegenstand des Interviews sein. Die Reisegruppe - bestehend aus der Spiegel-Crew Rudolf Augstein, Georg Wolff, Digne Meller Marcovicz und Walter Steinbrecher - kommt um acht Uhr zwanzig in Freiburg an und wird dort im Hotel Colombi von einem Sekundanten des Philosophen Martin Heidegger erwartet. Der Adlatus ist Heinrich Wiegand Petzet, Verehrer und Berater des mittlerweile sechsundsiebzigjährigen Denkers. Nach vielen Kehren und Wendungen in seiner intellektuellen und privaten Existenz hatte sich Heidegger zunächst nach Kräften gegen ein journalistisches »Interview« gesträubt. In seiner universitätspolitisch-aktivistischen Phase als Rektor der Universität Freiburg 1933/34 war er als Mischung aus Fichte und Luther aufgetreten: der deutschvölkische Reformator der Humboldt'schen Universitätsidee. Einzig in dieser Phase seines Lebens hatte er sich öffentlich sehr klar ausgedrückt, und das war ihm nicht gut bekommen. Danach befand er sich wieder im denkerisch umwölkten Zwiegespräch mit den Vorsokratikern, mit Nietzsche und Hölderlin, und wenn für ihn schon die Philosophiegeschichte seit Platon, den »Römern« und erst recht der sogenannten »Aufklärung « als Verfallsgeschichte zu deuten war, dann galt dies erst recht für das »Man«, die Denomination der lärmenden und demokratischen Öffentlichkeit. Journalisten waren für ihn das gefährliche Gezücht aus professioneller Geschwätzigkeit und den Möglichkeiten planetarischer Informationstechnik.
Aber auf eine seltsame Weise schätzt Martin Heidegger den Spiegel, vor allem dessen Herausgeber. Er liest das damals FDP-nahe, nationalliberale Wochenmagazin regelmäßig, die großbürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung ist ihm dagegen verhasst. »Von dem erwarte ich noch sehr viel«, habe Heidegger über Augstein gesagt, berichtete der getreue Vermittler Petzet, noch bevor es zu dem persönlichen Treffen in Freiburg kommt. Auch Heideggers Enkelin Gertrud erinnert sich, dass ihre Großeltern den Spiegel abonniert hatten: »Und der wanderte dann über meinen Vater und meinen Onkel. Da wurde abgezeichnet, wer ihn gelesen hatte.« Die Sympathie des Journalismusverächters Heidegger zu dem bekennenden Agnostiker Augstein hat ein Motiv in der gemeinsamen Abneigung gegen den politischen Katholizismus. Heideggers Erzfeinde sind seit der Weimarer Republik die »Schwarzen«, Zentrumsleute, Funktionäre der katholischen Kirche, später dann Adenauers Christdemokraten. Heidegger war vom katholischen Glauben abgefallen und zur »Fundamentalontologie« übergegangen, auf der Suche nach dem »Sinn des Seins«. Augstein, selbst aus der katholischen Diaspora kommend, focht so lange gegen Adenauers klerikalkonservative Kanzlerdemokratie, bis er 1962 dessen Regierung destabilisiert und als Märtyrer der Pressefreiheit einige Monate im Gefängnis verbracht hatte.
Über Heideggers politisches und geistiges Engagement im Zuge der NS-Machtübernahme wissen wir einiges, über seine realpolitische Grundeinstellung nach 1945 - und im Grunde auch vor 1933 - ist wenig geforscht worden. Am 11. November 1966 schreibt der Philosoph aus dem schweizerischen Zollikon an seine Frau Elfride (»Mein liebes Seelchen «): »Gestern abend sahen wir im deutschen Fernsehen das ganze Bonner Wahltheater; der Kiesinger höchst unangenehm; Brandt u. Mende sehr verschlossen u. verärgert; Schröder nicht minder. Hoffentlich halten SPD u. FDP zusammen, dann kommen die Schwarzen nicht von der Stelle. Das Wahlverfahren hat Strauß eingefädelt. Der trat auch auf; übel -«
So waren sich Heidegger und der Spiegel in ihrem Ansinnen nach Ablösung der CDU/CSU aus der Regierungsverantwortung ganz einig. In den Wochen vor seinem Aufenthalt in der Schweiz, wo er mit dem Psychiater Medard Boss »daseinsanalytische« Seminare gibt, hat Heidegger im heimatlichen Meßkirch zusammen mit seinem Bruder Fritz die Abschrift des Spiegel-Interviews studiert und sich »auf der Hütte« wieder einmal mit Heraklits Fragmenten beschäftigt. Er bedankt sich bei seiner Frau brieflich für die Übersendung von frischen Hemden und schreibt: »Schade war es, daß wir der Sp(iegel)-Sache wegen nicht wandern konnten.«
Das Spiegel-Interview mit Martin Heidegger aus dem Jahr 1966 ist seither stets mit den Attributen »berühmt«, »sagenumwoben « oder »legendär« versehen worden. Die FAZ nannte es ein »erregendes geistespolitisches Testament«; auch der US-Philosophieprofessor William J. Richardson, der es als Erster ins Englische übersetzte, sah darin »den Charakter eines letzten Willens und Testaments«. Der eminente Literaturwissenschaftler George Steiner wunderte sich in seinem Heidegger-Einführungsbuch 1978 zwar über »den merkwürdig trivialisierenden Ort«, den sich Heidegger für ein publizistisches Gespräch ausgesucht habe, hielt den Text aber dennoch für signifikant: »Wie wir aus dem Spiegel-Interview wissen, legte er sich zur postumen Veröffentlichung eine besonders lügnerische Apologie seiner Rolle in den 30er und 40er Jahren zurecht. Doch der Denker des Seins fand keine Worte zum Holocaust oder den Todeslagern.« Das Interview ist vor allem dadurch mystifiziert worden, dass es Heidegger erst einmal nicht zur Veröffentlichung freigab, sondern die mehrfach redigierte Fassung bis zum Zeitpunkt seines Todes »sekretierte«. Die Sekretierung, also das Geheimnisvolle, Numinose und Hinhaltende in der Publizistik des »fragenden Denkens« war eine von Heideggers Lieblingsstrategien - bis hin zu der von ihm schließlich konzipierten »Gesamtausgabe letzter Hand« seiner Schriften, Notizen und Gedichte, die auf 102 Bände angelegt ist. Der Historiker und Publizist Reinhard Mehring hat in diesem Zusammenhang schon früh von »Heideggers Überlieferungsgeschick « gesprochen, im Sinne einer Verewigung ins Überzeitliche. Es wurde auch beim Spiegel-Gespräch heftig über mögliche redaktionelle Veränderungen spekuliert, die der Philosoph in den Passagen über seinen Einsatz für die NS-Bewegung vorgenommen haben könnte.
Der chilenische Heidegger-Kritiker Víctor Farías empfand Heideggers Umgang mit den Spiegel-Befragern als »einen letzten Beweis seines dramaturgischen Talents«. Vom Spiegel selbst, so Farías 1987, seien die Unterschiede »zwischen dem Originaltext des Interviews und dem schließlich publizierten« nicht erwähnt worden; ihm selbst habe das Spiegel-Archiv Einsichtnahmen in das Originalskript verwehrt - mit Verweis auf die Rechte der Heidegger-Nachlassverwaltung. Man könne also nur auf »die Bedeutung aufmerksam machen, die ein wissenschaftlicher Vergleich der Interview-Fassungen hätte, und hoffen, dass er eines Tages möglich sein wird«.
Nun stimmte es nicht, dass der Spiegel den redaktionellen Prozess verschleiert hätte, der mit dem komplizierten Procedere des Interviews einherging, im Gegenteil. Als es dann am 31. Mai 1976 endlich erscheinen konnte, druckte das Magazin stolz eine von Heidegger redigierte Protokollseite faksimiliert in seinen »Hausmitteilungen« auf Seite 3 ab, bei der man tatsächlich den Eindruck haben konnte, der Philosoph habe das Ursprungsskript komplett umgeschrieben. So war es aber nicht, wie sich zeigen wird.
Wir beschäftigen uns in diesem Buch mit der Entstehung und dem Verlauf dieses merkwürdigsten aller Spiegel-Gespräche, mit den Recherchen und den politisch-geisteswissenschaftlichen, mitunter auch ganz persönlichen Interessen der Beteiligten. Es wird also die Biographie eines Interviews geschrieben, mit den Stationen seiner Entstehung, der Kommunikationssituation, dem redaktionellen Prozess und der Beurteilung des Gesagten. Dass hier ein ehemaliger SS-Offizier ein Gespräch mit dem einstigen nationalsozialistischen Universitätsrektor Heidegger vorbereitet und es dann - gemeinsam mit Augstein - auch führt, gibt der Sache eine besondere Note.4 Dies alles findet vor dem Hintergrund ideengeschichtlicher Strömungen der fünfziger und sechziger Jahre statt, die vom Pariser »Existentialismus« bis zum Neomarxismus reichen. Auch der Blick auf die konkrete zeithistorische Situation der alten Bonner Republik spielt eine Rolle; der Abgang des CDU-Bundeskanzlers Ludwig Erhard, der das westdeutsche »Wirtschaftswunder« auch physisch abbildet, steht ins Haus. Als das Heidegger-Gespräch im September 1966 geführt wird, beschäftigen sich die Spiegel- Titelgeschichten mit dem Phänomen der »Gammler« und der Entlassung Albert Speers aus dem Spandauer Gefängnis. Das letzte Spiegel-Heft 1966 thematisiert die Möglichkeiten der »Futurologie«. Es ist also eine Zwischenzeit mit noch sehr präsenter NS-Überlagerung und modernisierter, demokratischer Technokratie der »formierten Gesellschaft«. Nach der Bildung der Großen Koalition am 1. Dezember 1966 werden der SPD-Ökonom Karl Schiller, in seinen Heidelberger Studentenzeiten noch im NS-Studentenbund und der SA aktiv, und der wegen der Spiegel-Affäre geschasste Franz Josef Strauß gemeinsam im Regierungskabinett sitzen, Wirtschaftsminister der eine, Finanzminister der andere.
Martin Heidegger, ohnehin ins esoterische Spätwerk entrückt und nun vornehmlich mit der Selbstinterpretation seines Denkwegs beschäftigt, bereitet sich in dieser Zeit auf seinen endgültigen Abgang aus der universitären Öffentlichkeit vor. Rudolf Augsteins Interesse am Inhalt der Heidegger'schen Lehre von der »Seynsgeschichte« geht gegen null. Der Spiegel-Herausgeber, zum Zeitpunkt des Interviews vierzigjährig und mit seinem Nachrichtenmagazin ökonomisch und publizistisch auf der Höhe der Macht, will die Begegnung mit dem Philosophen als Trophäe. Er interessiert sich für das Zwielicht, das die nach 1945 Verfemten umgibt. Er strebt nach face-to-face-Begegnungen mit den Professoren und Schriftstellern, die sich 1933 für mehr oder weniger kurze Zeit mit dem völkisch-institutionellen Aufbruch des NS-Regimes identifiziert hatten: der »Kronjurist« Carl Schmitt, der Waldgänger und Stoßtruppführer Ernst Jünger, der Anthropologe Arnold Gehlen und der Dichter Gottfried Benn. Alle diese Solitäre, mag man sie als »konservative Revolutionäre« oder Vertreter des »heroischen Realismus« beschreiben, in jedem Fall scharf beobachtende Gegner der Weimarer Parteiendemokratie, mochten sich schon vor 1933 nicht besonders. Nach der deutschen Totalkapitulation 1945 kamen sie in unterschiedlichen Konstellationen allenfalls zu eher kurzzeitigen Zweckbündnissen zusammen - aber ausnahmslos standen sie auf der Wunschliste des Spiegel- Herausgebers. Politische Intellektuelle wie Carl Schmitt, den Augstein in den fünfziger Jahren animieren wird, juristischer Berater des Spiegel zu werden, oder Ernst Jünger faszinieren Augstein zweifelsohne mehr als der Esoteriker und »Fachphilosoph« Heidegger, aber der war vielleicht doch der Berühmteste von all den in die Irre Gegangenen.
Es handelt sich hier also um ein Trophäeninterview, vorher in der Fragestruktur weitgehend ausgehandelt, dann auch noch bis zum Ableben des Philosophen zehn Jahre im Archiv - im Gegensatz zu einem Bekenntnisinterview, bei dem der Interviewte von sich aus die Öffentlichkeit für eine überraschende confessio sucht, oder einem Rechercheinterview, bei dem die journalistischen Befrager ihr Gegenüber mit Zeugenaussagen oder Dokumenten überfallen, mit denen dieser nicht rechnen konnte. Gewiss, der Spiegel hat in Sachen Heidegger recherchiert - dies übernahmen die zwei Mitarbeiter Georg Wolffs aus dem Ressort »Geisteswissenschaften «. Aber befragt wurden im Vorfeld wesentlich Leute aus dem südwestdeutschen Heidegger-Umfeld - Schüler, Doktoranden und Weggefährten, aber keine Emigranten wie Herbert Marcuse, Hans Jonas, Hannah Arendt oder Karl Löwith. Vielleicht erschien dem Spiegel dafür der Aufwand zu groß. Heidegger konnte sich nicht völlig sicher sein, wie das Gespräch ablaufen würde. Aber er war über die Themen- und Fragestruktur gut informiert und wusste, was auf ihn zukam.
Gut zwanzig Jahre später, anlässlich eines avisierten Vortrags von Rudolf Augstein bei einer Konferenz zum jeweiligen hundertsten Geburtstag von Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein in Madrid, bekannte der Spiegel-Herausgeber: »Als ich mich 1966 mit Martin Heidegger zwei Tage unterhalten konnte, in seiner Freiburger Wohnung und auf seiner Hütte in Todtnauberg, war ich dem Thema keineswegs gewachsen. Wir, mein Freund Georg Wolff und ich, hatten uns ordentlich vorbereitet, wie Journalisten das zu tun pflegen. Aber wir hatten keine enzyklopädischen Studien getrieben.« Und Augstein fügte freimütig an, dass er »für das Hauptthema von ›Sein und Zeit‹ kein philosophisches Organ habe«. Ihn interessiere »die Metaphysik als die ›Lehre vom Sein des Seienden‹ nicht. Ich verstehe Heidegger nur da, wo er gegenständlich wird, sich also ›entbirgt‹, um in seiner Sprache zu bleiben. Irgendeine, und sei es auch noch so umwegige und noch so ferne Wirkung muß der Philosoph nach meinem Verständnis erbringen, wie sich das leicht an den Werken von Machiavelli, Hobbes, Hume, Locke, Spinoza, Rousseau, Descartes, Burke, Hegel etc. dartun läßt.« Dass hier vom Spiegel-Herausgeber Machiavelli als Theoretiker der politischen Machtspiele an erster Stelle genannt wird, ist sicher nicht zufällig. Augsteins Heidegger-Terminologie zeigt, dass er den Denkweg des Philosophen tatsächlich kaum verstanden hatte, aber wer hatte das schon - Heidegger verstand sich ja mitunter selbst nicht, weil ihn das Denken nur »überkam« und er lediglich das Medium der anfänglichen abendländischen Anfänge war, allerdings seiner Meinung nach so ziemlich »der Einzigste« unter den Lebenden im Abendland. Ansonsten war Augstein nun, im Abstand von zwei Jahrzehnten und im Wissen um die neuere Heidegger-Forschung, von dem Gesprächsverlauf 1966 enttäuscht, bis hin zu sarkastischen und wütenden Angriffen auf seinen damaligen Gesprächspartner. Er fühlte sich ausgetrickst und benutzt - und das war ihm nicht oft passiert. Dafür vorab nur ein Beispiel: Heidegger hatte sich im Interview darüber beklagt, dass er von der NS-Administration 1944 im fortgeschrittenen Alter noch zum »Schanzen« oder zum Volkssturm eingezogen worden war; Augstein retournierte post festum 1989: »Rühmte sich der 55jährige Heidegger nicht seiner bäuerlichen Gesundheit? Umfaßte der Volkssturm nicht Männer bis zu 60 Jahren? War es nicht besser, den Hölderlinschen Heimatboden gegen die zum Philosophieren unfähigen Alliierten, womöglich Franzosen, mit der Schippe oder der Flinte in der Hand zu verteidigen, als zweideutige Vorlesungen über Nietzsche zu halten?«
Während Augstein als Jäger und Sammler geistespolitischer Größen für seinen Spiegel auftritt, ist sein Ressortchef Georg Wolff (1914-1996) zwar auch kein Heidegger-Spezialist, aber als ehemaliger SS-Offizier an einem »Moralgebäude« und biographischer Erlösung durch Philosophie interessiert. Wolff gehörte zu den prägenden Persönlichkeiten des Spiegel in den fünfziger und sechziger Jahren. Er wäre nach dem Willen Rudolf Augsteins 1959/60 beinahe Chefredakteur des Magazins geworden. Das scheiterte auch an seiner Vergangenheit als Norwegen-Spezialist des SD und SS-Hauptsturmführer. Wolff nutzt schließlich sein neues Ressort »Geisteswissenschaften« dafür, die Kontakte des Spiegel zu Horkheimer, Adorno und Marcuse und damit auch zur studentischen Linken zu intensivieren. Sein Traum, ein spektakuläres Spiegel-Gespräch des SS-Mannes Wolff mit dem jüdisch-neomarxistischen Sozialphilosophen und Remigranten Horkheimer, zerschlägt sich. Ende der achtziger Jahre arbeitet er an einer Autobiographie, deren unveröffentlichtes Manuskript eine wesentliche Quelle für die in diesem Buch behandelte Geschichte des Spiegel in der Adenauer- Ära ist. Dem Geschichtslehrer Ekkehard Zimmermann aus Goslar, der ihm bei der Abfassung des autobiographischen Textes geholfen hatte, schreibt Wolff resigniert am 25. September 1989 aus Reinbek: »In der Tat ist dieser selbstbiographische Versuch ja fast in Gänze misslungen. Mir schwebte vor, den Menschen in seiner Zeit, in seiner Landschaft, unter seinen Mitmenschen darzustellen - seine Unschuld, seine Schuld. Es ist nicht gelungen. Konnte wohl auch nicht. Jetzt ist es zu spät.«
Digne Meller Marcovicz, die Photographin und Filmemacherin, erinnert sich im Gespräch mit dem Autor daran, dass ihr Georg Wolff bei der nächtlichen Zugfahrt nach Freiburg erzählt habe, dass er in der SS gewesen sei. Dies habe sie »ziemlich schockiert«, weil sie es vorher nicht wusste:
Wir sprachen über grundsätzliche Dinge, die das Dritte Reich betrafen, und er sagt mir in etwa: »Ach wissen Sie, das ist doch alles Quatsch, was heute darüber erzählt wird. Die SS war doch eine ganz ordentliche militärische Organisation, so etwas gibt es doch in jedem Land.« Ich bin ja ziemlich empfindlich, was dieses Thema betrifft. Früher war ich noch viel ungehaltener und regte mich furchtbar auf. Ich dachte: »Mein Gott, was ist das für ein gruseliger Typ, wo kommt der denn her?« Ich konnte kaum schlafen, weil er diese Meinung vertrat und gar nicht davon abzubringen war. Deswegen habe ich auch später, beim Zusammenstellen meines Heidegger-Buchs, nur ein einziges Photo von Wolff ausgewählt - von hinten. Das ist natürlich albern, und ich würde es heute auch nicht mehr machen.
Für die Photographin des Heidegger-Gesprächs und einzige Frau im Raum machten die schwarzweißen Lichtbilder des Jahres 1966 einen gewichtigen Teil ihres späteren Ruhms aus, obwohl sie auch zahlreiche Künstler wie Rainer Werner Fassbinder, Oskar Werner oder Klaus Kinski porträtiert hat. Meller Marcovicz zählt neben Barbara Klemm, Will McBride, Robert Lebeck oder Jupp Darchinger zu den Photokünstlern, die das politische und kulturelle Bild der Bonner Republik definiert haben. Ihrer Arbeit wurden »zeitloser Charme und freundliche Distanz« (Claudia Lenssen) attestiert. Zum Zeitpunkt des Heidegger-Gesprächs war sie 33 Jahre alt, und sie hatte das Gefühl, dass sie seinerzeit als Frau und Photographin inmitten der politisierenden und philosophierenden Spiegel-Männertruppe nicht besonders ernst genommen wurde: »Wolff war mir gegenüber ziemlich unverschämt. Als ich mich beschwerte, dass meine Bilder verwendet wurden, ohne mich namentlich zu nennen, sagte er nur: ›Wo kommen wir denn hin, wenn wir die Chauffeure, die Stenographen und die Photographen hier mit Namen nennen!‹ Und heute bin ich die Einzige, die noch am Leben ist und über das Gespräch berichten kann ...«
© 2014 Propyläen Verlag
Am Abend des 22. September 1966 nimmt Am Abend des 22. September 1966 nimmt eine kleine Reisegruppe den Nachtzug von Hamburg nach Freiburg im Breisgau. Dabei sind der einflussreichste deutsche Journalist und Herausgeber des maßgebenden »Nachrichtenmagazins«, sein Ressortleiter für »Geisteswissenschaften«, eine junge Photographin und ein Stenograph. Sie wollen den bekanntesten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts für ein lange und intensiv vorbereitetes Interview treffen.
Der führende Journalist war vor 1945 Zeitungsvolontär gewesen und hatte als Leutnant in Hitlers Wehrmacht an der Ostfront gekämpft. Der Geisteswissenschaftler hatte im Rang eines SS-Hauptsturmführers im besetzten Norwegen gearbeitet, als Nachrichtenoffizier des Sicherheitsdienstes (SD). Die Halbschwester der Photographin war im NS-Staat zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Der Stenograph war ursprünglich Fremdsprachenkorrespondent in der Textilbranche und hatte als Marineartillerist vor Leningrad gestanden.
Der Philosoph hatte vor und nach 1933 für eine gewisse Zeit den »Führer« verehrt und große Hoffnungen in »die Bewegung« gesetzt - wie lange und wie intensiv, das war und ist umstritten, eine internationale cause célèbre. Politischer Irrtum und die Sache des Denkens, aber auch das Sein an sich und die Technik sollten Gegenstand des Interviews sein. Die Reisegruppe - bestehend aus der Spiegel-Crew Rudolf Augstein, Georg Wolff, Digne Meller Marcovicz und Walter Steinbrecher - kommt um acht Uhr zwanzig in Freiburg an und wird dort im Hotel Colombi von einem Sekundanten des Philosophen Martin Heidegger erwartet. Der Adlatus ist Heinrich Wiegand Petzet, Verehrer und Berater des mittlerweile sechsundsiebzigjährigen Denkers. Nach vielen Kehren und Wendungen in seiner intellektuellen und privaten Existenz hatte sich Heidegger zunächst nach Kräften gegen ein journalistisches »Interview« gesträubt. In seiner universitätspolitisch-aktivistischen Phase als Rektor der Universität Freiburg 1933/34 war er als Mischung aus Fichte und Luther aufgetreten: der deutschvölkische Reformator der Humboldt'schen Universitätsidee. Einzig in dieser Phase seines Lebens hatte er sich öffentlich sehr klar ausgedrückt, und das war ihm nicht gut bekommen. Danach befand er sich wieder im denkerisch umwölkten Zwiegespräch mit den Vorsokratikern, mit Nietzsche und Hölderlin, und wenn für ihn schon die Philosophiegeschichte seit Platon, den »Römern« und erst recht der sogenannten »Aufklärung « als Verfallsgeschichte zu deuten war, dann galt dies erst recht für das »Man«, die Denomination der lärmenden und demokratischen Öffentlichkeit. Journalisten waren für ihn das gefährliche Gezücht aus professioneller Geschwätzigkeit und den Möglichkeiten planetarischer Informationstechnik.
Aber auf eine seltsame Weise schätzt Martin Heidegger den Spiegel, vor allem dessen Herausgeber. Er liest das damals FDP-nahe, nationalliberale Wochenmagazin regelmäßig, die großbürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung ist ihm dagegen verhasst. »Von dem erwarte ich noch sehr viel«, habe Heidegger über Augstein gesagt, berichtete der getreue Vermittler Petzet, noch bevor es zu dem persönlichen Treffen in Freiburg kommt. Auch Heideggers Enkelin Gertrud erinnert sich, dass ihre Großeltern den Spiegel abonniert hatten: »Und der wanderte dann über meinen Vater und meinen Onkel. Da wurde abgezeichnet, wer ihn gelesen hatte.« Die Sympathie des Journalismusverächters Heidegger zu dem bekennenden Agnostiker Augstein hat ein Motiv in der gemeinsamen Abneigung gegen den politischen Katholizismus. Heideggers Erzfeinde sind seit der Weimarer Republik die »Schwarzen«, Zentrumsleute, Funktionäre der katholischen Kirche, später dann Adenauers Christdemokraten. Heidegger war vom katholischen Glauben abgefallen und zur »Fundamentalontologie« übergegangen, auf der Suche nach dem »Sinn des Seins«. Augstein, selbst aus der katholischen Diaspora kommend, focht so lange gegen Adenauers klerikalkonservative Kanzlerdemokratie, bis er 1962 dessen Regierung destabilisiert und als Märtyrer der Pressefreiheit einige Monate im Gefängnis verbracht hatte.
Über Heideggers politisches und geistiges Engagement im Zuge der NS-Machtübernahme wissen wir einiges, über seine realpolitische Grundeinstellung nach 1945 - und im Grunde auch vor 1933 - ist wenig geforscht worden. Am 11. November 1966 schreibt der Philosoph aus dem schweizerischen Zollikon an seine Frau Elfride (»Mein liebes Seelchen «): »Gestern abend sahen wir im deutschen Fernsehen das ganze Bonner Wahltheater; der Kiesinger höchst unangenehm; Brandt u. Mende sehr verschlossen u. verärgert; Schröder nicht minder. Hoffentlich halten SPD u. FDP zusammen, dann kommen die Schwarzen nicht von der Stelle. Das Wahlverfahren hat Strauß eingefädelt. Der trat auch auf; übel -«
So waren sich Heidegger und der Spiegel in ihrem Ansinnen nach Ablösung der CDU/CSU aus der Regierungsverantwortung ganz einig. In den Wochen vor seinem Aufenthalt in der Schweiz, wo er mit dem Psychiater Medard Boss »daseinsanalytische« Seminare gibt, hat Heidegger im heimatlichen Meßkirch zusammen mit seinem Bruder Fritz die Abschrift des Spiegel-Interviews studiert und sich »auf der Hütte« wieder einmal mit Heraklits Fragmenten beschäftigt. Er bedankt sich bei seiner Frau brieflich für die Übersendung von frischen Hemden und schreibt: »Schade war es, daß wir der Sp(iegel)-Sache wegen nicht wandern konnten.«
Das Spiegel-Interview mit Martin Heidegger aus dem Jahr 1966 ist seither stets mit den Attributen »berühmt«, »sagenumwoben « oder »legendär« versehen worden. Die FAZ nannte es ein »erregendes geistespolitisches Testament«; auch der US-Philosophieprofessor William J. Richardson, der es als Erster ins Englische übersetzte, sah darin »den Charakter eines letzten Willens und Testaments«. Der eminente Literaturwissenschaftler George Steiner wunderte sich in seinem Heidegger-Einführungsbuch 1978 zwar über »den merkwürdig trivialisierenden Ort«, den sich Heidegger für ein publizistisches Gespräch ausgesucht habe, hielt den Text aber dennoch für signifikant: »Wie wir aus dem Spiegel-Interview wissen, legte er sich zur postumen Veröffentlichung eine besonders lügnerische Apologie seiner Rolle in den 30er und 40er Jahren zurecht. Doch der Denker des Seins fand keine Worte zum Holocaust oder den Todeslagern.« Das Interview ist vor allem dadurch mystifiziert worden, dass es Heidegger erst einmal nicht zur Veröffentlichung freigab, sondern die mehrfach redigierte Fassung bis zum Zeitpunkt seines Todes »sekretierte«. Die Sekretierung, also das Geheimnisvolle, Numinose und Hinhaltende in der Publizistik des »fragenden Denkens« war eine von Heideggers Lieblingsstrategien - bis hin zu der von ihm schließlich konzipierten »Gesamtausgabe letzter Hand« seiner Schriften, Notizen und Gedichte, die auf 102 Bände angelegt ist. Der Historiker und Publizist Reinhard Mehring hat in diesem Zusammenhang schon früh von »Heideggers Überlieferungsgeschick « gesprochen, im Sinne einer Verewigung ins Überzeitliche. Es wurde auch beim Spiegel-Gespräch heftig über mögliche redaktionelle Veränderungen spekuliert, die der Philosoph in den Passagen über seinen Einsatz für die NS-Bewegung vorgenommen haben könnte.
Der chilenische Heidegger-Kritiker Víctor Farías empfand Heideggers Umgang mit den Spiegel-Befragern als »einen letzten Beweis seines dramaturgischen Talents«. Vom Spiegel selbst, so Farías 1987, seien die Unterschiede »zwischen dem Originaltext des Interviews und dem schließlich publizierten« nicht erwähnt worden; ihm selbst habe das Spiegel-Archiv Einsichtnahmen in das Originalskript verwehrt - mit Verweis auf die Rechte der Heidegger-Nachlassverwaltung. Man könne also nur auf »die Bedeutung aufmerksam machen, die ein wissenschaftlicher Vergleich der Interview-Fassungen hätte, und hoffen, dass er eines Tages möglich sein wird«.
Nun stimmte es nicht, dass der Spiegel den redaktionellen Prozess verschleiert hätte, der mit dem komplizierten Procedere des Interviews einherging, im Gegenteil. Als es dann am 31. Mai 1976 endlich erscheinen konnte, druckte das Magazin stolz eine von Heidegger redigierte Protokollseite faksimiliert in seinen »Hausmitteilungen« auf Seite 3 ab, bei der man tatsächlich den Eindruck haben konnte, der Philosoph habe das Ursprungsskript komplett umgeschrieben. So war es aber nicht, wie sich zeigen wird.
Wir beschäftigen uns in diesem Buch mit der Entstehung und dem Verlauf dieses merkwürdigsten aller Spiegel-Gespräche, mit den Recherchen und den politisch-geisteswissenschaftlichen, mitunter auch ganz persönlichen Interessen der Beteiligten. Es wird also die Biographie eines Interviews geschrieben, mit den Stationen seiner Entstehung, der Kommunikationssituation, dem redaktionellen Prozess und der Beurteilung des Gesagten. Dass hier ein ehemaliger SS-Offizier ein Gespräch mit dem einstigen nationalsozialistischen Universitätsrektor Heidegger vorbereitet und es dann - gemeinsam mit Augstein - auch führt, gibt der Sache eine besondere Note.4 Dies alles findet vor dem Hintergrund ideengeschichtlicher Strömungen der fünfziger und sechziger Jahre statt, die vom Pariser »Existentialismus« bis zum Neomarxismus reichen. Auch der Blick auf die konkrete zeithistorische Situation der alten Bonner Republik spielt eine Rolle; der Abgang des CDU-Bundeskanzlers Ludwig Erhard, der das westdeutsche »Wirtschaftswunder« auch physisch abbildet, steht ins Haus. Als das Heidegger-Gespräch im September 1966 geführt wird, beschäftigen sich die Spiegel- Titelgeschichten mit dem Phänomen der »Gammler« und der Entlassung Albert Speers aus dem Spandauer Gefängnis. Das letzte Spiegel-Heft 1966 thematisiert die Möglichkeiten der »Futurologie«. Es ist also eine Zwischenzeit mit noch sehr präsenter NS-Überlagerung und modernisierter, demokratischer Technokratie der »formierten Gesellschaft«. Nach der Bildung der Großen Koalition am 1. Dezember 1966 werden der SPD-Ökonom Karl Schiller, in seinen Heidelberger Studentenzeiten noch im NS-Studentenbund und der SA aktiv, und der wegen der Spiegel-Affäre geschasste Franz Josef Strauß gemeinsam im Regierungskabinett sitzen, Wirtschaftsminister der eine, Finanzminister der andere.
Martin Heidegger, ohnehin ins esoterische Spätwerk entrückt und nun vornehmlich mit der Selbstinterpretation seines Denkwegs beschäftigt, bereitet sich in dieser Zeit auf seinen endgültigen Abgang aus der universitären Öffentlichkeit vor. Rudolf Augsteins Interesse am Inhalt der Heidegger'schen Lehre von der »Seynsgeschichte« geht gegen null. Der Spiegel-Herausgeber, zum Zeitpunkt des Interviews vierzigjährig und mit seinem Nachrichtenmagazin ökonomisch und publizistisch auf der Höhe der Macht, will die Begegnung mit dem Philosophen als Trophäe. Er interessiert sich für das Zwielicht, das die nach 1945 Verfemten umgibt. Er strebt nach face-to-face-Begegnungen mit den Professoren und Schriftstellern, die sich 1933 für mehr oder weniger kurze Zeit mit dem völkisch-institutionellen Aufbruch des NS-Regimes identifiziert hatten: der »Kronjurist« Carl Schmitt, der Waldgänger und Stoßtruppführer Ernst Jünger, der Anthropologe Arnold Gehlen und der Dichter Gottfried Benn. Alle diese Solitäre, mag man sie als »konservative Revolutionäre« oder Vertreter des »heroischen Realismus« beschreiben, in jedem Fall scharf beobachtende Gegner der Weimarer Parteiendemokratie, mochten sich schon vor 1933 nicht besonders. Nach der deutschen Totalkapitulation 1945 kamen sie in unterschiedlichen Konstellationen allenfalls zu eher kurzzeitigen Zweckbündnissen zusammen - aber ausnahmslos standen sie auf der Wunschliste des Spiegel- Herausgebers. Politische Intellektuelle wie Carl Schmitt, den Augstein in den fünfziger Jahren animieren wird, juristischer Berater des Spiegel zu werden, oder Ernst Jünger faszinieren Augstein zweifelsohne mehr als der Esoteriker und »Fachphilosoph« Heidegger, aber der war vielleicht doch der Berühmteste von all den in die Irre Gegangenen.
Es handelt sich hier also um ein Trophäeninterview, vorher in der Fragestruktur weitgehend ausgehandelt, dann auch noch bis zum Ableben des Philosophen zehn Jahre im Archiv - im Gegensatz zu einem Bekenntnisinterview, bei dem der Interviewte von sich aus die Öffentlichkeit für eine überraschende confessio sucht, oder einem Rechercheinterview, bei dem die journalistischen Befrager ihr Gegenüber mit Zeugenaussagen oder Dokumenten überfallen, mit denen dieser nicht rechnen konnte. Gewiss, der Spiegel hat in Sachen Heidegger recherchiert - dies übernahmen die zwei Mitarbeiter Georg Wolffs aus dem Ressort »Geisteswissenschaften «. Aber befragt wurden im Vorfeld wesentlich Leute aus dem südwestdeutschen Heidegger-Umfeld - Schüler, Doktoranden und Weggefährten, aber keine Emigranten wie Herbert Marcuse, Hans Jonas, Hannah Arendt oder Karl Löwith. Vielleicht erschien dem Spiegel dafür der Aufwand zu groß. Heidegger konnte sich nicht völlig sicher sein, wie das Gespräch ablaufen würde. Aber er war über die Themen- und Fragestruktur gut informiert und wusste, was auf ihn zukam.
Gut zwanzig Jahre später, anlässlich eines avisierten Vortrags von Rudolf Augstein bei einer Konferenz zum jeweiligen hundertsten Geburtstag von Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein in Madrid, bekannte der Spiegel-Herausgeber: »Als ich mich 1966 mit Martin Heidegger zwei Tage unterhalten konnte, in seiner Freiburger Wohnung und auf seiner Hütte in Todtnauberg, war ich dem Thema keineswegs gewachsen. Wir, mein Freund Georg Wolff und ich, hatten uns ordentlich vorbereitet, wie Journalisten das zu tun pflegen. Aber wir hatten keine enzyklopädischen Studien getrieben.« Und Augstein fügte freimütig an, dass er »für das Hauptthema von ›Sein und Zeit‹ kein philosophisches Organ habe«. Ihn interessiere »die Metaphysik als die ›Lehre vom Sein des Seienden‹ nicht. Ich verstehe Heidegger nur da, wo er gegenständlich wird, sich also ›entbirgt‹, um in seiner Sprache zu bleiben. Irgendeine, und sei es auch noch so umwegige und noch so ferne Wirkung muß der Philosoph nach meinem Verständnis erbringen, wie sich das leicht an den Werken von Machiavelli, Hobbes, Hume, Locke, Spinoza, Rousseau, Descartes, Burke, Hegel etc. dartun läßt.« Dass hier vom Spiegel-Herausgeber Machiavelli als Theoretiker der politischen Machtspiele an erster Stelle genannt wird, ist sicher nicht zufällig. Augsteins Heidegger-Terminologie zeigt, dass er den Denkweg des Philosophen tatsächlich kaum verstanden hatte, aber wer hatte das schon - Heidegger verstand sich ja mitunter selbst nicht, weil ihn das Denken nur »überkam« und er lediglich das Medium der anfänglichen abendländischen Anfänge war, allerdings seiner Meinung nach so ziemlich »der Einzigste« unter den Lebenden im Abendland. Ansonsten war Augstein nun, im Abstand von zwei Jahrzehnten und im Wissen um die neuere Heidegger-Forschung, von dem Gesprächsverlauf 1966 enttäuscht, bis hin zu sarkastischen und wütenden Angriffen auf seinen damaligen Gesprächspartner. Er fühlte sich ausgetrickst und benutzt - und das war ihm nicht oft passiert. Dafür vorab nur ein Beispiel: Heidegger hatte sich im Interview darüber beklagt, dass er von der NS-Administration 1944 im fortgeschrittenen Alter noch zum »Schanzen« oder zum Volkssturm eingezogen worden war; Augstein retournierte post festum 1989: »Rühmte sich der 55jährige Heidegger nicht seiner bäuerlichen Gesundheit? Umfaßte der Volkssturm nicht Männer bis zu 60 Jahren? War es nicht besser, den Hölderlinschen Heimatboden gegen die zum Philosophieren unfähigen Alliierten, womöglich Franzosen, mit der Schippe oder der Flinte in der Hand zu verteidigen, als zweideutige Vorlesungen über Nietzsche zu halten?«
Während Augstein als Jäger und Sammler geistespolitischer Größen für seinen Spiegel auftritt, ist sein Ressortchef Georg Wolff (1914-1996) zwar auch kein Heidegger-Spezialist, aber als ehemaliger SS-Offizier an einem »Moralgebäude« und biographischer Erlösung durch Philosophie interessiert. Wolff gehörte zu den prägenden Persönlichkeiten des Spiegel in den fünfziger und sechziger Jahren. Er wäre nach dem Willen Rudolf Augsteins 1959/60 beinahe Chefredakteur des Magazins geworden. Das scheiterte auch an seiner Vergangenheit als Norwegen-Spezialist des SD und SS-Hauptsturmführer. Wolff nutzt schließlich sein neues Ressort »Geisteswissenschaften« dafür, die Kontakte des Spiegel zu Horkheimer, Adorno und Marcuse und damit auch zur studentischen Linken zu intensivieren. Sein Traum, ein spektakuläres Spiegel-Gespräch des SS-Mannes Wolff mit dem jüdisch-neomarxistischen Sozialphilosophen und Remigranten Horkheimer, zerschlägt sich. Ende der achtziger Jahre arbeitet er an einer Autobiographie, deren unveröffentlichtes Manuskript eine wesentliche Quelle für die in diesem Buch behandelte Geschichte des Spiegel in der Adenauer- Ära ist. Dem Geschichtslehrer Ekkehard Zimmermann aus Goslar, der ihm bei der Abfassung des autobiographischen Textes geholfen hatte, schreibt Wolff resigniert am 25. September 1989 aus Reinbek: »In der Tat ist dieser selbstbiographische Versuch ja fast in Gänze misslungen. Mir schwebte vor, den Menschen in seiner Zeit, in seiner Landschaft, unter seinen Mitmenschen darzustellen - seine Unschuld, seine Schuld. Es ist nicht gelungen. Konnte wohl auch nicht. Jetzt ist es zu spät.«
Digne Meller Marcovicz, die Photographin und Filmemacherin, erinnert sich im Gespräch mit dem Autor daran, dass ihr Georg Wolff bei der nächtlichen Zugfahrt nach Freiburg erzählt habe, dass er in der SS gewesen sei. Dies habe sie »ziemlich schockiert«, weil sie es vorher nicht wusste:
Wir sprachen über grundsätzliche Dinge, die das Dritte Reich betrafen, und er sagt mir in etwa: »Ach wissen Sie, das ist doch alles Quatsch, was heute darüber erzählt wird. Die SS war doch eine ganz ordentliche militärische Organisation, so etwas gibt es doch in jedem Land.« Ich bin ja ziemlich empfindlich, was dieses Thema betrifft. Früher war ich noch viel ungehaltener und regte mich furchtbar auf. Ich dachte: »Mein Gott, was ist das für ein gruseliger Typ, wo kommt der denn her?« Ich konnte kaum schlafen, weil er diese Meinung vertrat und gar nicht davon abzubringen war. Deswegen habe ich auch später, beim Zusammenstellen meines Heidegger-Buchs, nur ein einziges Photo von Wolff ausgewählt - von hinten. Das ist natürlich albern, und ich würde es heute auch nicht mehr machen.
Für die Photographin des Heidegger-Gesprächs und einzige Frau im Raum machten die schwarzweißen Lichtbilder des Jahres 1966 einen gewichtigen Teil ihres späteren Ruhms aus, obwohl sie auch zahlreiche Künstler wie Rainer Werner Fassbinder, Oskar Werner oder Klaus Kinski porträtiert hat. Meller Marcovicz zählt neben Barbara Klemm, Will McBride, Robert Lebeck oder Jupp Darchinger zu den Photokünstlern, die das politische und kulturelle Bild der Bonner Republik definiert haben. Ihrer Arbeit wurden »zeitloser Charme und freundliche Distanz« (Claudia Lenssen) attestiert. Zum Zeitpunkt des Heidegger-Gesprächs war sie 33 Jahre alt, und sie hatte das Gefühl, dass sie seinerzeit als Frau und Photographin inmitten der politisierenden und philosophierenden Spiegel-Männertruppe nicht besonders ernst genommen wurde: »Wolff war mir gegenüber ziemlich unverschämt. Als ich mich beschwerte, dass meine Bilder verwendet wurden, ohne mich namentlich zu nennen, sagte er nur: ›Wo kommen wir denn hin, wenn wir die Chauffeure, die Stenographen und die Photographen hier mit Namen nennen!‹ Und heute bin ich die Einzige, die noch am Leben ist und über das Gespräch berichten kann ...«
© 2014 Propyläen Verlag
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Autoren-Porträt von Lutz Hachmeister
Lutz Hachmeister arbeitet als Medienforscher, Regisseur und Produzent in Köln. Er war Direktor des Adolf-Grimme-Instituts und Leiter des Kölner Fernseh- und Filmfests.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lutz Hachmeister
- 2014, 368 Seiten, 12 Schwarz-Weiss-Abbildungen, Masse: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Propyläen
- ISBN-10: 3549074476
- ISBN-13: 9783549074473
- Erscheinungsdatum: 10.03.2014
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