Die Pyramide
Roman
Ismail Kadare erzählt in diesem "ägyptischen" Roman von der Errichtung der gewaltigen Cheops-Pyramide, die gebaut wurde, um die Herrschaft des jungen Pharao zu festigen und jene rebellischen Kräfte zu binden, die aus Überfluss und Wohlleben entstanden...
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Produktinformationen zu „Die Pyramide “
Klappentext zu „Die Pyramide “
Ismail Kadare erzählt in diesem "ägyptischen" Roman von der Errichtung der gewaltigen Cheops-Pyramide, die gebaut wurde, um die Herrschaft des jungen Pharao zu festigen und jene rebellischen Kräfte zu binden, die aus Überfluss und Wohlleben entstanden waren. Er zeichnet das hypnotische Bild einer Welt, in der die Zeit nicht in Monaten oder Jahren, sondern in abgezählten Steinen gemessen wird und in den millionenfachen, grausamen Todesfällen, die durch Transport und Bau verursacht werden. Reale wie eingebildete Verschwörungen gegen dieses monumentale Bauwerk werden unnachsichtig bestraft. Aus Kadares vielsagender politischer Parabel spricht die Erfahrung totalitärer Herrschaft im 20. Jahrhundert.
Lese-Probe zu „Die Pyramide “
Die Pyramide von Ismail Kadare 1
Wie alles begann. Die schwierige Wiedererweckung einer alten Idee
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Als der junge Pharao Cheops, der erst vor wenigen Monaten den Thron bestiegen hatte, an einem Spätherbstmorgen kundtat, er werde wahrscheinlich keine Pyramide für sich errichten lassen, verdüsterten sich bei denen, die es vernahmen, die Mienen. Es waren der Hofastrologe, die Vertrautesten unter seinen Ministern, der alte Ratgeber Userkaf und der Hohepriester Hemiunu, der zugleich Ägyptens oberster Baumeister war: Was für eine entsetzliche Botschaft!
Eine Weile lang durchforschten sie das Antlitz des Herrschers nach Anzeichen von Scherzhaftigkeit, dann versuchten sie sich, wie sie später voreinander bekannten, mit dem vom Pharao murmelnd eingeschobenen Wort »wahrscheinlich « zu trösten. Doch Cheops' Gesicht blieb undurchdringlich, und die Hoffnung, es habe sich nur um eine jener sorglosen Bemerkungen gehandelt, wie sie junge Könige während der Morgenmahlzeit nun einmal gerne von sich geben, zerstob sogleich. Hatte er nicht erst vor ein paar Wochen zwei der ehrwürdigsten Tempel Ägyptens geschlossen und gleich darauf den Ägyptern per Dekret verboten, fortan Opfer darzubringen?
Cheops betrachtete ebenfalls prüfend ihre Gesichter. In seinen Augen lag ein spöttisches Funkeln, und je tiefer das Schweigen wurde, desto deutlicher sprach sein Blick: Schau an, so viel Kummer! Als ob es nicht meine, sondern eure Pyramide wäre. Bei den Göttern, diese von Demut entstellten Gesichter! Wie werden sie erst ausschauen, wenn ich einmal alt und grausam bin?
Wortlos und ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, stand er auf und ging weg.
Als sie allein waren, schauten sie einander fassungslos an. Was für ein schrecklicher Schlag, seufzten sie. Einer der Minister suchte Halt an der Wand, denn ihm war schwindelig geworden. In den Augen des Hohepriesters standen Tränen.
Draußen erfand der vom Wind aufgewirbelte Sand endlos neue Bögen. Verzweifelt wanden sich die Schwaden vor ihren jämmerlichen Blicken in die Höhe. Keiner sagte etwas, aber in den leeren Augen lag die Frage: Und wie willst du den Himmel erklimmen, mein Herrscher? Wenn dein Tag kommt, wie gelangst du zu den Sternen, um einer von ihnen zu werden, wie es jedem Pharao gebührt? O Sohn der Sonne, wie willst du ihre glühende Gestalt erlangen?
Noch eine Weile lang redeten sie recht verrücktes Zeug, dann gingen sie auseinander. Zwei von ihnen ersuchten Khentkaus, die Mutter des Herrschers, um ein Gespräch, andere gingen, sich zu betrinken, der Rest, die Klügsten, stiegen hinab in den Keller, wo die alten Archive lagerten, um den schon halb erblindeten greisen Schreiber Ipuuri zu suchen.
Für den Rest des Herbstes wurde die Pyramide nicht mehr erwähnt, noch nicht einmal beim Empfang für die Botschafter, auf dem Cheops unter der Wirkung geistiger Getränke Dinge aussprach, die ein Pharao gewöhnlich vor Ausländern nicht in den Mund nimmt.
Die Höflinge hegten noch immer die Hoffnung, es sei nur eine Laune des Augenblicks gewesen, und manchmal glaubten sie sogar, der beste Weg, die Sache ein für allemal zu begraben, sei es, einfach nicht mehr darüber zu reden. Doch die Ahnung, daß wohl eher das Gegenteil der Fall war, plagte sie so sehr, daß sie Tag und Nacht grübelten, was unternommen werden konnte.
Manche setzten auf die Königinmutter, die bisher ebenfalls eine Antwort schuldig geblieben war, doch die meisten blieben dabei, im Archiv nachzuforschen. Je gründlicher sie es taten, desto größer wurden die Schwierigkeiten. Einige Papyri waren verschwunden, andere beschädigt, und auch bei den gut erhaltenen Archivalien waren ganze Teile ausgestrichen oder abgeschnitten worden, oft mit der Randnotiz »Auf Befehl von oben!«, ohne jede Begründung.
Auch unvollständig waren die Papyri eine wahre Schatzgrube. Man fand darin fast alles Wissenswerte über die Pyramiden: über Vorläufer, die ersten Grabbauten, Mastabas genannt, über die Geschichte der ersten Pyramide, der zweiten, der fünften, die schrittweisen Verbesserungen, die Zunahme der Grundfläche und der Höhe, streng geheime Einbalsamierungsrezepte, Plünderungsversuche und Maßnahmen zu ihrer Verhinderung, Anleitungen zum Transport der Steine und der Granitblöcke für die Türen, Dekrete zur Auszeichnung verdienter Baumeister, Bruchstücke von Berechnungen, Todesurteile, vielleicht mit Absicht unentschlüsselbare Zeichnungen und so fort.
All diese Funde waren mehr oder weniger erhellend, aber was sie am dringendsten suchten, versteckte sich zwischen den Papyri und tauchte nur gelegentlich irgendwo auf, um wie ein flinker Skorpion sogleich wieder zu verschwinden. Es ging um die Idee, die der Pyramide zugrunde lag, das Motiv für ihre Existenz, das sie einfach nicht zu fassen bekamen, weil es sich namentlich in den unlesbar gemachten Teilen der Papyri verkroch und höchstens gelegentlich hervorblitzte.
Der Schädel brummte ihnen, schließlich waren sie nie zuvor gezwungen gewesen, so gründlich nachzudenken. Immerhin entwickelten sie wenigstens eine schemenhafte Vorstellung von dem unsteten Ding.
Nachdem sie lang und breit beratschlagt hatten, wunderten sie sich am Ende weniger über ihre Entdeckung selbst als über etwas anderes: Eigentlich hatten sie um die Grundidee, das Ferment der Pyramide, ihre Bestimmung schon immer gewußt. Doch dieses Wissen befand sich in einem Bereich ihres Bewußtseins abseits der Sprache und sogar des Denkens. Die Papyri aus dem Archiv hatten es plötzlich in Worte und Gedanken gekleidet. Natürlich nur, soweit dies bei einem Schemen überhaupt möglich war.
»Es ist ganz klar«, meinte der Hohepriester, als sie sich vor der Audienz beim Pharao noch einmal besprachen, »im Kern wußten wir, um was es ging, sonst hätte die Bemerkung des Königs, die ich am liebsten vergessen möchte, keine solche Wirkung auf uns gehabt.«
Zwei Tage später traten sie mit Gesichtern, die von Schlaflosigkeit gezeichnet waren, vor Cheops. Der Pharao war in keiner besseren Verfassung. Wenn sie eben noch den Verdacht gehegt hatten, dem König sei die Sache längst entfallen und sie gössen womöglich unnötig Öl ins Feuer, so sahen sie sich schnell eines Besseren belehrt. Als der Hohepriester sagte: »Wir haben uns eingefunden, um mit Euch über die Pyramide zu sprechen«, zeigte sich Cheops nicht im mindesten überrascht oder verwundert.
Er gab ihnen nur durch ein kurzes Nicken zu verstehen, daß er bereit war, sie anzuhören, worauf sie zu reden begannen, erst der Hohepriester, dann der Reihe nach alle anderen.
Ausführlich und langatmig trugen sie vor, was sie aus dem Studium der Papyri wußten, unentwegt von der Furcht gepeinigt, weniger oder mehr zu berichten, als angebracht war. Die erste, von Pharao Djoser erbaute Pyramide war nur fünfundzwanzig Fuß hoch, und Hor Sechem-chet hatte seinen Architekten ausgepeitscht, weil er mit dem Plan für eine Pyramide angekommen war, die ihm viel zu niedrig erschien. Im Zuge der weiteren Projekte hatte der Architekt Imhotep allerlei Verbesserungen eingeführt, es gab nun Galerien und eine Königskammer, zu der geheime Gänge führten. Pharao Snofru hatte gar drei miteinander im Wettbewerb stehende Pyramiden bauen lassen, deren eine die wirklich schwindelerregende Höhe von dreihundert Fuß erreichte. Sie vergaßen auch nicht, die Scheintüren und natürlich die ungeheure Geheimniskrämerei beim Verschließen der Eingänge zu erwähnen.
Bei jedem neuen Detail rechneten sie damit, der Pharao werde sie unwirsch unterbrechen. So tief war ihre Furcht, daß der Hohepriester, als die Einwendungen ausblieben, schließlich mit brüchiger Stimme sagte: »Bestimmt fragt Ihr Euch, was das alles soll, und da habt Ihr natürlich recht ... Vermutlich hilft es Euch nicht weiter, aber es ist ja auch nur die Einleitung, die zum Kern der Sache führt.«
Verführt durch das anhaltende Schweigen des Pharaos, redeten sie über diesen »Kern« viel länger, als sie eigentlich vorgehabt hatten, und erläuterten weitschweifig die Ergebnisse ihrer Nachforschungen: daß die Pyramide wohl ein großes Grab sei, die Idee dazu aber ursprünglich gar nichts mit Tod und Bestatten zu tun gehabt habe, sondern unabhängig entstanden sei und ein viel höheres Ziel verfolge. Die Verquickung habe sich eher zufällig ergeben.
Zum ersten Mal belebte sich Cheops' Miene. Kopfschüttelnd sagte er: »Erstaunlich!« Sie vernahmen es erfreut.
»Wahrhaftig«, sprach der Hohepriester weiter. »Vieles von dem, was wir zu sagen haben, hört sich erstaunlich an.«
Er sog so viel Luft in seine alten Lungen, daß sie zu schmerzen begannen.
»Die Idee, Pyramiden zu errichten, entstand in der Krise, Hoheit.«
Der Hohepriester wußte um den Wert von Pausen. Sie betonten das Gewicht und die Anmut eines Gedankens, so wie der Lidschatten dem Blick einer Dame Unergründlichkeit verleiht.
»Es herrschten also Krisenzeiten«, fuhr er schließlich fort. Den alten Chroniken zufolge sei die Macht des Pharaos erschüttert gewesen. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Solche Unglücksmomente fanden sich in den Papyri häufig vermerkt. Neu und seltsam, sogar äußerst seltsam, war der Grund für die Krise. Tückischerweise war sie nicht durch Armut hervorgerufen worden, den verspäteten Eintritt des Nilhochwassers, die Pest, so etwas kam immer wieder vor. Nein, ganz im Gegenteil, die Ursache war im Wohlstand zu suchen gewesen.
»Im Wohlstand«, wiederholte der Baumeister. »Ich meine, es ging den Leuten zu gut.«
Der Winkel zwischen Cheops' Brauen wurde noch steiler. Zwölf Grad, dachte der Baumeister. Fünfzehn ... Gütiger Himmel, hab Erbarmen!
»Es dauerte seine Zeit, bis man es bemerkt hatte«, fuhr er fort. Die Hellsichtigsten, zahlreiche erleuchtete Geister, enge Vertraute des Pharaos, bezahlten für die furchtbare Entdeckung einen hohen Preis, sie wurden hingerichtet oder verbannt. Doch allmählich setzte sich die anfangs voll Abscheu verworfene Erkenntnis durch, daß der Wohlstand die Menschen unabhängig und freier im Denken machte, worunter unvermeidlich ihre Willfährigkeit gegenüber den Beamten und der ganzen pharaonischen Herrschaft litt. Täglich wurde deutlicher, daß es noch nie eine gefährlichere Krise gegeben hatte. Unklar war nur eines: Wie man dem Übel abhelfen sollte.
Der Astrologe und Magier, den der Pharao in die Sahara geschickt hatte, damit er in völliger Einsamkeit ungestört nachdenke, kam nach zwanzig Tagen zurück, wie die meisten, die in die Wüste gingen, um sich mit ihr auszutauschen und ihre Botschaft zu empfangen. Was er mitbrachte, war noch schrecklicher, als man befürchtet hatte: Der Wohlstand mußte vernichtet werden.
Der Pharao und mit ihm der ganze Palast versanken in tiefster Grübelei. Der Reichtum sollte zerstört werden, aber wie? Sie dachten an Überschwemmungen, Erdbeben, ein Versiegen des Nils, aber darauf hatten sie keinen Einfluß. Was konnte man also tun? Daß der Stimme der Wüste Folge zu leisten war, stand fest, sonst würde sich der Niedergang niemals aufhalten lassen.
Angeblich hatte ausgerechnet der Aufseher über den Harem einen Geistesblitz. Er schlug Maßnahmen vor, die Ägyptens Reichtum wenigstens zum Teil aufzehren mußten. Die Botschafter in den östlichen Reichen hatten von den gewaltigen Bewässerungswerken Mesopotamiens berichtet, bei denen, wie getuschelt wurde, der Aufwand den wirtschaftlichen Gewinn weit überschritt. Wenn dies stimmte, und daran bestand wenig Zweifel, dann mußte auch Ägypten etwas finden, das den Überschuß an menschlicher Energie verbrauchte. Etwas Ungewöhnliches mußte unternommen werden, etwas, das die Ägypter durch seine Großartigkeit beschränkte und geringer machte. Kurz gesagt, etwas, das Körper und Geist auslaugte und dabei völlig unnötig war. Oder genauer, so unnötig für die Untertanen, wie es für den Staat unläßlich war.
Der Pharao nahm die Vorschläge seiner Minister entgegen. Auf der Suche nach dem Tor zur Hölle sollte ein ungeheuer tiefer Schacht ausgehoben werden. Man wollte ganz Ägypten mit einer schützenden Mauer umgeben. Der Bau eines künstlichen Wasserfalls wurde angeregt. Doch so ausgeklügelt, vaterlandsliebend oder mystisch die Ideen auch sein mochten, er verwarf sie alle. Die Bauzeit für die Mauer war endlich, das Loch in der Erde machte die Leute wütend, weil es so unbeschreiblich tief und dabei gar nicht zu sehen war. Er stellte sich etwas vor, das die Leute Tag und Nacht so beschäftigte, daß sie sich selbst darüber vergaßen ... Etwas, das ein Ende hatte und doch auch wieder nicht. Kurz, es mußte wiederholbar sein. Und außerdem auffällig.
Allmählich verfestigte sich bei ihm und seinen Ministern, wie die Papyri bezeugten, die Idee eines sehr großen Grabes. Eines Übergrabes gewissermaßen.
Der Pharao war begeistert. Das bedeutendste Gebäude Ägyptens würde nicht etwa ein Tempel oder der Königspalast sein, sondern ein Grab. Nach und nach würde es eins werden mit dem Reich. Die Geometer entwarfen zahlreiche Formen und Figuren, bis sie schließlich auf die Pyramide kamen.
Sie wurde sämtlichen Forderungen gerecht. Und ihr lag ein erhabener Gedanke zugrunde: Der Pharao und sein Tod, oder genauer, sein Aufstieg zum Himmel, waren schon von weitem sichtbar, und vor allem, das Vorhaben war unendlich endlich. Jeder Pharao würde für sich eine Pyramide errichten lassen, so daß keine Menschengeneration sich von ihrer Erschöpfung und Erstarrung erholen konnte, bevor der nächste Pharao sie mit seiner Pyramide nicht schon wieder knechten würde.
»Und das geht ohne Ende so weiter, Hoheit, bis in alle Ewigkeit!«
Der Hohepriester Hemiunu legte eine ungewöhnlich lange Pause ein.
»So dient also die Pyramide, bevor sie jenem anderen Leben zugute kommt, erst einmal diesem Leben, mein Pharao «, fuhr er fort. »Anders ausgedrückt, ehe sie der Seele zur Verfügung steht, beansprucht sie den Leib.«
Er schwieg erneut und schöpfte Atem, um dann in ruhigerem Rhythmus weiterzusprechen.
»In erster Linie verkörpert sie die Macht, Hoheit. Sie steht für Zwang, Kerker, Geld, aber ebenso für die Verunsicherung der Menge, die Beschränkung des Denkens, das Schrumpfen des Willens, für Kummer und Verlust. Sie ist Euer zuverlässigster Wächter, mein Pharao. Geheimpolizei, Armee, Flotte und wohlriechender Harem. Je höher sie aufragt, desto geringer fühlt sich der Untertan in ihrem Schatten. Und je geringer der Untertan ist, desto größer seid Ihr, Hoheit.«
Hemiunus Stimme war immer leiser geworden, denn er war davon überzeugt, daß sie umso bedrohlicher klang, je schwächer sie wurde.
»Die Pyramide ist die tragende Säule des Staats. Wenn sie ins Wanken kommt, bricht alles zusammen.«
Er machte eine kaum zu deutende Handbewegung, und seine Augen waren wie Löcher, als schauten sie tatsächlich den Zerfall.
»Erwägt nicht einmal, mein Pharao, die Tradition zu ändern ... Ihr würdet stürzen, und mit Euch wir alle.«
Aus irgendeinem Grund streckte Hemiunu die Arme aus, die Handflächen nach oben gerichtet. Dann schloß er die Augen, und man begriff, daß er nichts mehr zu sagen hatte.
Die anderen redeten in seinem Sinne, im gleichen dramatischen Tonfall. Einer erwähnte noch einmal Mesopotamiens Kanäle, ohne die das akkadisch-sumerische Königreich schon längst zerfallen wäre. Ein anderer ergänzte, die Pyramide sei auch das Hauptgedächtnis des Reichs. Das Vergehen der Zeit hülle alles in Nebel, Papyri und die alltäglichen Dinge alterten, Kriege, Hunger, Epidemien, Verspätungen des Nilhochwassers, Bündnisse, Dekrete, Palastaffären gerieten in Vergessenheit. Sie aber, die hohe, durch nichts zu verdeckende, durch nichts in Frage zu stellende, durch keine Kraft, auch nicht den Zahn der Zeit, zu zerstörende Pyramide würde beständig aus der Wüste aufragen bis ans Ende der Welt.
»So war es, und so wird es immer sein, Hoheit!«
Auch die äußere Gestalt entsprang keinem Zufall. Ihre Form war göttlich, der Himmel selbst hatte sie den alten Geometern mitgeteilt.
»Ihr seid dort, Hoheit, auf der Spitze, auf den Kanten und auch in all den namenlosen Blöcken, die Euch, einer auf des andern Schultern ruhend, tragen.«
Wie stets erwähnten sie an dieser Stelle, daß alles vergänglich sei, und Cheops mußte an den Novembermorgen denken, an dem er ihre Enttäuschung wegen der Pyramide bloß für einen Ausdruck ihres untertänigen Wesens gehalten hatte. Nun aber begriff er, daß er im Irrtum gewesen war und daß ihre Niedergeschlagenheit ihren Grund gehabt hatte. Die Pyramide würde ihnen gewiß genauso wie ihm gehören, vielleicht sogar noch mehr.
Er hob die rechte Hand, um ihnen zu bedeuten, daß er genug gehört hatte.
Mit beklommenem Herzen vernahmen sie seine Entscheidung, die er in wenigen Worten, sachlich und kalt, bekanntgab: Die Pyramide wurde gebaut. Es sollte die höchste von allen werden. Und die großartigste.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Als der junge Pharao Cheops, der erst vor wenigen Monaten den Thron bestiegen hatte, an einem Spätherbstmorgen kundtat, er werde wahrscheinlich keine Pyramide für sich errichten lassen, verdüsterten sich bei denen, die es vernahmen, die Mienen. Es waren der Hofastrologe, die Vertrautesten unter seinen Ministern, der alte Ratgeber Userkaf und der Hohepriester Hemiunu, der zugleich Ägyptens oberster Baumeister war: Was für eine entsetzliche Botschaft!
Eine Weile lang durchforschten sie das Antlitz des Herrschers nach Anzeichen von Scherzhaftigkeit, dann versuchten sie sich, wie sie später voreinander bekannten, mit dem vom Pharao murmelnd eingeschobenen Wort »wahrscheinlich « zu trösten. Doch Cheops' Gesicht blieb undurchdringlich, und die Hoffnung, es habe sich nur um eine jener sorglosen Bemerkungen gehandelt, wie sie junge Könige während der Morgenmahlzeit nun einmal gerne von sich geben, zerstob sogleich. Hatte er nicht erst vor ein paar Wochen zwei der ehrwürdigsten Tempel Ägyptens geschlossen und gleich darauf den Ägyptern per Dekret verboten, fortan Opfer darzubringen?
Cheops betrachtete ebenfalls prüfend ihre Gesichter. In seinen Augen lag ein spöttisches Funkeln, und je tiefer das Schweigen wurde, desto deutlicher sprach sein Blick: Schau an, so viel Kummer! Als ob es nicht meine, sondern eure Pyramide wäre. Bei den Göttern, diese von Demut entstellten Gesichter! Wie werden sie erst ausschauen, wenn ich einmal alt und grausam bin?
Wortlos und ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, stand er auf und ging weg.
Als sie allein waren, schauten sie einander fassungslos an. Was für ein schrecklicher Schlag, seufzten sie. Einer der Minister suchte Halt an der Wand, denn ihm war schwindelig geworden. In den Augen des Hohepriesters standen Tränen.
Draußen erfand der vom Wind aufgewirbelte Sand endlos neue Bögen. Verzweifelt wanden sich die Schwaden vor ihren jämmerlichen Blicken in die Höhe. Keiner sagte etwas, aber in den leeren Augen lag die Frage: Und wie willst du den Himmel erklimmen, mein Herrscher? Wenn dein Tag kommt, wie gelangst du zu den Sternen, um einer von ihnen zu werden, wie es jedem Pharao gebührt? O Sohn der Sonne, wie willst du ihre glühende Gestalt erlangen?
Noch eine Weile lang redeten sie recht verrücktes Zeug, dann gingen sie auseinander. Zwei von ihnen ersuchten Khentkaus, die Mutter des Herrschers, um ein Gespräch, andere gingen, sich zu betrinken, der Rest, die Klügsten, stiegen hinab in den Keller, wo die alten Archive lagerten, um den schon halb erblindeten greisen Schreiber Ipuuri zu suchen.
Für den Rest des Herbstes wurde die Pyramide nicht mehr erwähnt, noch nicht einmal beim Empfang für die Botschafter, auf dem Cheops unter der Wirkung geistiger Getränke Dinge aussprach, die ein Pharao gewöhnlich vor Ausländern nicht in den Mund nimmt.
Die Höflinge hegten noch immer die Hoffnung, es sei nur eine Laune des Augenblicks gewesen, und manchmal glaubten sie sogar, der beste Weg, die Sache ein für allemal zu begraben, sei es, einfach nicht mehr darüber zu reden. Doch die Ahnung, daß wohl eher das Gegenteil der Fall war, plagte sie so sehr, daß sie Tag und Nacht grübelten, was unternommen werden konnte.
Manche setzten auf die Königinmutter, die bisher ebenfalls eine Antwort schuldig geblieben war, doch die meisten blieben dabei, im Archiv nachzuforschen. Je gründlicher sie es taten, desto größer wurden die Schwierigkeiten. Einige Papyri waren verschwunden, andere beschädigt, und auch bei den gut erhaltenen Archivalien waren ganze Teile ausgestrichen oder abgeschnitten worden, oft mit der Randnotiz »Auf Befehl von oben!«, ohne jede Begründung.
Auch unvollständig waren die Papyri eine wahre Schatzgrube. Man fand darin fast alles Wissenswerte über die Pyramiden: über Vorläufer, die ersten Grabbauten, Mastabas genannt, über die Geschichte der ersten Pyramide, der zweiten, der fünften, die schrittweisen Verbesserungen, die Zunahme der Grundfläche und der Höhe, streng geheime Einbalsamierungsrezepte, Plünderungsversuche und Maßnahmen zu ihrer Verhinderung, Anleitungen zum Transport der Steine und der Granitblöcke für die Türen, Dekrete zur Auszeichnung verdienter Baumeister, Bruchstücke von Berechnungen, Todesurteile, vielleicht mit Absicht unentschlüsselbare Zeichnungen und so fort.
All diese Funde waren mehr oder weniger erhellend, aber was sie am dringendsten suchten, versteckte sich zwischen den Papyri und tauchte nur gelegentlich irgendwo auf, um wie ein flinker Skorpion sogleich wieder zu verschwinden. Es ging um die Idee, die der Pyramide zugrunde lag, das Motiv für ihre Existenz, das sie einfach nicht zu fassen bekamen, weil es sich namentlich in den unlesbar gemachten Teilen der Papyri verkroch und höchstens gelegentlich hervorblitzte.
Der Schädel brummte ihnen, schließlich waren sie nie zuvor gezwungen gewesen, so gründlich nachzudenken. Immerhin entwickelten sie wenigstens eine schemenhafte Vorstellung von dem unsteten Ding.
Nachdem sie lang und breit beratschlagt hatten, wunderten sie sich am Ende weniger über ihre Entdeckung selbst als über etwas anderes: Eigentlich hatten sie um die Grundidee, das Ferment der Pyramide, ihre Bestimmung schon immer gewußt. Doch dieses Wissen befand sich in einem Bereich ihres Bewußtseins abseits der Sprache und sogar des Denkens. Die Papyri aus dem Archiv hatten es plötzlich in Worte und Gedanken gekleidet. Natürlich nur, soweit dies bei einem Schemen überhaupt möglich war.
»Es ist ganz klar«, meinte der Hohepriester, als sie sich vor der Audienz beim Pharao noch einmal besprachen, »im Kern wußten wir, um was es ging, sonst hätte die Bemerkung des Königs, die ich am liebsten vergessen möchte, keine solche Wirkung auf uns gehabt.«
Zwei Tage später traten sie mit Gesichtern, die von Schlaflosigkeit gezeichnet waren, vor Cheops. Der Pharao war in keiner besseren Verfassung. Wenn sie eben noch den Verdacht gehegt hatten, dem König sei die Sache längst entfallen und sie gössen womöglich unnötig Öl ins Feuer, so sahen sie sich schnell eines Besseren belehrt. Als der Hohepriester sagte: »Wir haben uns eingefunden, um mit Euch über die Pyramide zu sprechen«, zeigte sich Cheops nicht im mindesten überrascht oder verwundert.
Er gab ihnen nur durch ein kurzes Nicken zu verstehen, daß er bereit war, sie anzuhören, worauf sie zu reden begannen, erst der Hohepriester, dann der Reihe nach alle anderen.
Ausführlich und langatmig trugen sie vor, was sie aus dem Studium der Papyri wußten, unentwegt von der Furcht gepeinigt, weniger oder mehr zu berichten, als angebracht war. Die erste, von Pharao Djoser erbaute Pyramide war nur fünfundzwanzig Fuß hoch, und Hor Sechem-chet hatte seinen Architekten ausgepeitscht, weil er mit dem Plan für eine Pyramide angekommen war, die ihm viel zu niedrig erschien. Im Zuge der weiteren Projekte hatte der Architekt Imhotep allerlei Verbesserungen eingeführt, es gab nun Galerien und eine Königskammer, zu der geheime Gänge führten. Pharao Snofru hatte gar drei miteinander im Wettbewerb stehende Pyramiden bauen lassen, deren eine die wirklich schwindelerregende Höhe von dreihundert Fuß erreichte. Sie vergaßen auch nicht, die Scheintüren und natürlich die ungeheure Geheimniskrämerei beim Verschließen der Eingänge zu erwähnen.
Bei jedem neuen Detail rechneten sie damit, der Pharao werde sie unwirsch unterbrechen. So tief war ihre Furcht, daß der Hohepriester, als die Einwendungen ausblieben, schließlich mit brüchiger Stimme sagte: »Bestimmt fragt Ihr Euch, was das alles soll, und da habt Ihr natürlich recht ... Vermutlich hilft es Euch nicht weiter, aber es ist ja auch nur die Einleitung, die zum Kern der Sache führt.«
Verführt durch das anhaltende Schweigen des Pharaos, redeten sie über diesen »Kern« viel länger, als sie eigentlich vorgehabt hatten, und erläuterten weitschweifig die Ergebnisse ihrer Nachforschungen: daß die Pyramide wohl ein großes Grab sei, die Idee dazu aber ursprünglich gar nichts mit Tod und Bestatten zu tun gehabt habe, sondern unabhängig entstanden sei und ein viel höheres Ziel verfolge. Die Verquickung habe sich eher zufällig ergeben.
Zum ersten Mal belebte sich Cheops' Miene. Kopfschüttelnd sagte er: »Erstaunlich!« Sie vernahmen es erfreut.
»Wahrhaftig«, sprach der Hohepriester weiter. »Vieles von dem, was wir zu sagen haben, hört sich erstaunlich an.«
Er sog so viel Luft in seine alten Lungen, daß sie zu schmerzen begannen.
»Die Idee, Pyramiden zu errichten, entstand in der Krise, Hoheit.«
Der Hohepriester wußte um den Wert von Pausen. Sie betonten das Gewicht und die Anmut eines Gedankens, so wie der Lidschatten dem Blick einer Dame Unergründlichkeit verleiht.
»Es herrschten also Krisenzeiten«, fuhr er schließlich fort. Den alten Chroniken zufolge sei die Macht des Pharaos erschüttert gewesen. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Solche Unglücksmomente fanden sich in den Papyri häufig vermerkt. Neu und seltsam, sogar äußerst seltsam, war der Grund für die Krise. Tückischerweise war sie nicht durch Armut hervorgerufen worden, den verspäteten Eintritt des Nilhochwassers, die Pest, so etwas kam immer wieder vor. Nein, ganz im Gegenteil, die Ursache war im Wohlstand zu suchen gewesen.
»Im Wohlstand«, wiederholte der Baumeister. »Ich meine, es ging den Leuten zu gut.«
Der Winkel zwischen Cheops' Brauen wurde noch steiler. Zwölf Grad, dachte der Baumeister. Fünfzehn ... Gütiger Himmel, hab Erbarmen!
»Es dauerte seine Zeit, bis man es bemerkt hatte«, fuhr er fort. Die Hellsichtigsten, zahlreiche erleuchtete Geister, enge Vertraute des Pharaos, bezahlten für die furchtbare Entdeckung einen hohen Preis, sie wurden hingerichtet oder verbannt. Doch allmählich setzte sich die anfangs voll Abscheu verworfene Erkenntnis durch, daß der Wohlstand die Menschen unabhängig und freier im Denken machte, worunter unvermeidlich ihre Willfährigkeit gegenüber den Beamten und der ganzen pharaonischen Herrschaft litt. Täglich wurde deutlicher, daß es noch nie eine gefährlichere Krise gegeben hatte. Unklar war nur eines: Wie man dem Übel abhelfen sollte.
Der Astrologe und Magier, den der Pharao in die Sahara geschickt hatte, damit er in völliger Einsamkeit ungestört nachdenke, kam nach zwanzig Tagen zurück, wie die meisten, die in die Wüste gingen, um sich mit ihr auszutauschen und ihre Botschaft zu empfangen. Was er mitbrachte, war noch schrecklicher, als man befürchtet hatte: Der Wohlstand mußte vernichtet werden.
Der Pharao und mit ihm der ganze Palast versanken in tiefster Grübelei. Der Reichtum sollte zerstört werden, aber wie? Sie dachten an Überschwemmungen, Erdbeben, ein Versiegen des Nils, aber darauf hatten sie keinen Einfluß. Was konnte man also tun? Daß der Stimme der Wüste Folge zu leisten war, stand fest, sonst würde sich der Niedergang niemals aufhalten lassen.
Angeblich hatte ausgerechnet der Aufseher über den Harem einen Geistesblitz. Er schlug Maßnahmen vor, die Ägyptens Reichtum wenigstens zum Teil aufzehren mußten. Die Botschafter in den östlichen Reichen hatten von den gewaltigen Bewässerungswerken Mesopotamiens berichtet, bei denen, wie getuschelt wurde, der Aufwand den wirtschaftlichen Gewinn weit überschritt. Wenn dies stimmte, und daran bestand wenig Zweifel, dann mußte auch Ägypten etwas finden, das den Überschuß an menschlicher Energie verbrauchte. Etwas Ungewöhnliches mußte unternommen werden, etwas, das die Ägypter durch seine Großartigkeit beschränkte und geringer machte. Kurz gesagt, etwas, das Körper und Geist auslaugte und dabei völlig unnötig war. Oder genauer, so unnötig für die Untertanen, wie es für den Staat unläßlich war.
Der Pharao nahm die Vorschläge seiner Minister entgegen. Auf der Suche nach dem Tor zur Hölle sollte ein ungeheuer tiefer Schacht ausgehoben werden. Man wollte ganz Ägypten mit einer schützenden Mauer umgeben. Der Bau eines künstlichen Wasserfalls wurde angeregt. Doch so ausgeklügelt, vaterlandsliebend oder mystisch die Ideen auch sein mochten, er verwarf sie alle. Die Bauzeit für die Mauer war endlich, das Loch in der Erde machte die Leute wütend, weil es so unbeschreiblich tief und dabei gar nicht zu sehen war. Er stellte sich etwas vor, das die Leute Tag und Nacht so beschäftigte, daß sie sich selbst darüber vergaßen ... Etwas, das ein Ende hatte und doch auch wieder nicht. Kurz, es mußte wiederholbar sein. Und außerdem auffällig.
Allmählich verfestigte sich bei ihm und seinen Ministern, wie die Papyri bezeugten, die Idee eines sehr großen Grabes. Eines Übergrabes gewissermaßen.
Der Pharao war begeistert. Das bedeutendste Gebäude Ägyptens würde nicht etwa ein Tempel oder der Königspalast sein, sondern ein Grab. Nach und nach würde es eins werden mit dem Reich. Die Geometer entwarfen zahlreiche Formen und Figuren, bis sie schließlich auf die Pyramide kamen.
Sie wurde sämtlichen Forderungen gerecht. Und ihr lag ein erhabener Gedanke zugrunde: Der Pharao und sein Tod, oder genauer, sein Aufstieg zum Himmel, waren schon von weitem sichtbar, und vor allem, das Vorhaben war unendlich endlich. Jeder Pharao würde für sich eine Pyramide errichten lassen, so daß keine Menschengeneration sich von ihrer Erschöpfung und Erstarrung erholen konnte, bevor der nächste Pharao sie mit seiner Pyramide nicht schon wieder knechten würde.
»Und das geht ohne Ende so weiter, Hoheit, bis in alle Ewigkeit!«
Der Hohepriester Hemiunu legte eine ungewöhnlich lange Pause ein.
»So dient also die Pyramide, bevor sie jenem anderen Leben zugute kommt, erst einmal diesem Leben, mein Pharao «, fuhr er fort. »Anders ausgedrückt, ehe sie der Seele zur Verfügung steht, beansprucht sie den Leib.«
Er schwieg erneut und schöpfte Atem, um dann in ruhigerem Rhythmus weiterzusprechen.
»In erster Linie verkörpert sie die Macht, Hoheit. Sie steht für Zwang, Kerker, Geld, aber ebenso für die Verunsicherung der Menge, die Beschränkung des Denkens, das Schrumpfen des Willens, für Kummer und Verlust. Sie ist Euer zuverlässigster Wächter, mein Pharao. Geheimpolizei, Armee, Flotte und wohlriechender Harem. Je höher sie aufragt, desto geringer fühlt sich der Untertan in ihrem Schatten. Und je geringer der Untertan ist, desto größer seid Ihr, Hoheit.«
Hemiunus Stimme war immer leiser geworden, denn er war davon überzeugt, daß sie umso bedrohlicher klang, je schwächer sie wurde.
»Die Pyramide ist die tragende Säule des Staats. Wenn sie ins Wanken kommt, bricht alles zusammen.«
Er machte eine kaum zu deutende Handbewegung, und seine Augen waren wie Löcher, als schauten sie tatsächlich den Zerfall.
»Erwägt nicht einmal, mein Pharao, die Tradition zu ändern ... Ihr würdet stürzen, und mit Euch wir alle.«
Aus irgendeinem Grund streckte Hemiunu die Arme aus, die Handflächen nach oben gerichtet. Dann schloß er die Augen, und man begriff, daß er nichts mehr zu sagen hatte.
Die anderen redeten in seinem Sinne, im gleichen dramatischen Tonfall. Einer erwähnte noch einmal Mesopotamiens Kanäle, ohne die das akkadisch-sumerische Königreich schon längst zerfallen wäre. Ein anderer ergänzte, die Pyramide sei auch das Hauptgedächtnis des Reichs. Das Vergehen der Zeit hülle alles in Nebel, Papyri und die alltäglichen Dinge alterten, Kriege, Hunger, Epidemien, Verspätungen des Nilhochwassers, Bündnisse, Dekrete, Palastaffären gerieten in Vergessenheit. Sie aber, die hohe, durch nichts zu verdeckende, durch nichts in Frage zu stellende, durch keine Kraft, auch nicht den Zahn der Zeit, zu zerstörende Pyramide würde beständig aus der Wüste aufragen bis ans Ende der Welt.
»So war es, und so wird es immer sein, Hoheit!«
Auch die äußere Gestalt entsprang keinem Zufall. Ihre Form war göttlich, der Himmel selbst hatte sie den alten Geometern mitgeteilt.
»Ihr seid dort, Hoheit, auf der Spitze, auf den Kanten und auch in all den namenlosen Blöcken, die Euch, einer auf des andern Schultern ruhend, tragen.«
Wie stets erwähnten sie an dieser Stelle, daß alles vergänglich sei, und Cheops mußte an den Novembermorgen denken, an dem er ihre Enttäuschung wegen der Pyramide bloß für einen Ausdruck ihres untertänigen Wesens gehalten hatte. Nun aber begriff er, daß er im Irrtum gewesen war und daß ihre Niedergeschlagenheit ihren Grund gehabt hatte. Die Pyramide würde ihnen gewiß genauso wie ihm gehören, vielleicht sogar noch mehr.
Er hob die rechte Hand, um ihnen zu bedeuten, daß er genug gehört hatte.
Mit beklommenem Herzen vernahmen sie seine Entscheidung, die er in wenigen Worten, sachlich und kalt, bekanntgab: Die Pyramide wurde gebaut. Es sollte die höchste von allen werden. Und die großartigste.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Ismail Kadare
Ismail Kadare, geboren 1936 in der südalbanischen Stadt Gjirokastra, lebt heute abwechselnd in Tirana und Paris. Für sein Werk hat er viele internationale Preise erhalten, er ist Offizier der französischen Ehrenlegion. Seine Romane sind bis heute in mehr als dreissig Sprachen übersetzt worden. 2005 erhält er den Man Booker International Prize, 2009 wurde ihm der Prinz-von-Asturien-Preis in der Sparte Geisteswissenschaft und Literatur und 2015 der Jerusalem Prize verliehen.Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 70er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ismail Kadare
- 2014, 160 Seiten, Masse: 13 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Röhm, Joachim
- Übersetzer: Joachim Röhm
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100384105
- ISBN-13: 9783100384102
- Erscheinungsdatum: 22.05.2014
Rezension zu „Die Pyramide “
Ein literarischer Triumph. Hans-Jost Weyandt Spiegel online 20141212
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