Fluch / Die Phoenix-Chroniken Bd.4
Roman
Nachdem Elizabeth Phoenix ihren Geliebten, den Magier Sawyer, töten musste, sucht dieser sie in ihren Träumen heim. Zugleich sind sämtliche Dämonen der Hölle Liz auf den Fersen. Sie muss deshalb ihren Ex-Geliebten Jimmy Sanducci um Hilfe bitten.
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Produktinformationen zu „Fluch / Die Phoenix-Chroniken Bd.4 “
Klappentext zu „Fluch / Die Phoenix-Chroniken Bd.4 “
Nachdem Elizabeth Phoenix ihren Geliebten, den Magier Sawyer, töten musste, sucht dieser sie in ihren Träumen heim. Zugleich sind sämtliche Dämonen der Hölle Liz auf den Fersen. Sie muss deshalb ihren Ex-Geliebten Jimmy Sanducci um Hilfe bitten.
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Fluch von Lori Handeland... mehr
Die Anführerin der übernatürlichen Mächte des Guten zu sein ist längst nicht so cool, wie es klingen mag. Zum Beispiel hat die Welt immer oberste Priorität, alles andere kommt an zweiter, dritter und vierhundertneunundfünfzigster Stelle. Und ich spreche von so wichtigen Dingen wie Liebe, Freundschaft und Familie. Letztlich hat das dazu geführt, dass ich den Mann getötet habe, den ich liebte. Schon wieder.
Oh nein, ich habe ihn nicht zweimal umgebracht. Ich meinte vielmehr: Ich habe zwei Männer getötet. Der eine ist nicht tot geblieben, und der andere ... bei dem bin ich mir nicht so sicher.
Ja, ich liebe zwei Männer. Das war mir auch neu. Dazu kommt noch der Anfang vom Ende der Welt - und schon ist das Chaos komplett. Als jemand, der sich damit auskennt, kann ich nur sagen: Chaos kann einem wirklich auf die Nerven gehen!
Seit der Nacht, in der meine Pflegemutter in meinen Armen starb und mir die Verantwortung für die Apokalypse hinterließ, war das Chaos für mich der Normalzustand.
Einige Wochen, nachdem ich Sawyer getötet hatte, tauchte er in meinen Träumen wieder auf. Er war ein Navajo-Fellläufer gewesen - Hexer und Gestaltwandler in einem, also ein Zauberer mit einer unvorstellbaren Macht. Leider hatten diese Kräfte seinen eigenen Tod nicht verhindern können. Ich glaube allerdings kaum, dass überhaupt irgendetwas das vermocht hätte, denn er hatte ja sterben wollen. Ich fühlte mich trotzdem schuldig. Was daran liegen könnte, dass ich ihm mit bloßen Händen das Herz herausgerissen hatte.
Es war ein erotischer Traum, wie meist, wenn Sawyer darin vorkam. Er war eine Art Katalysator-Telepath: Er brachte die übernatürlichen Fähigkeiten anderer durch Sex zum Vorschein. Es hatte etwas damit zu tun, sich zu öffnen, und zwar sich selbst gegenüber, dem Universum und den magischen Möglichkeiten darin - laberlaber, blablabla.
Ich habe nie ganz kapiert, was er da getan hat oder wie er es getan hat. Aber es funktionierte. Nach einer Nacht mit Sawyer hatte ich so viele Kräfte, dass ich kaum noch wusste, wohin damit.
Im Traum befand ich mich in meinem Apartment in Frieden-berg, einer Vorstadt im Norden von Milwaukee, im Bett. Sawyer lag in der Löffelchenstellung hinter mir. Seine Hand ruhte auf meiner Hüfte. Da wir etwa gleich groß waren, spürte ich seinen Atem in meinem Nacken, sein Haar ergoss sich lang, schwarz und seidig über meine Haut. Ich legte meine Hand auf seine und wollte mich umdrehen.
Dabei kamen sich unsere Beine in die Quere. Er machte seine ganz steif und hielt mich an der Hüfte fest. »Nicht«, sagte er mit einer unendlich tiefen und befehlenden Stimme.
»Aber ...«
Er knabberte sanft an meiner Halsbeuge, und ich schnappte nach Luft - sowohl vor Überraschung als auch vor Erregung. Ich wusste zwar, dass es ein Traum war, aber mein Körper reagierte, als wäre es keiner.
Alles fühlte sich so lebendig an - seine geschmeidigen, festen Muskeln spielten tatsächlich unter der glatten, heißen Haut. Sawyer war ausnehmend gut gebaut. In den Jahrhunderten, die er schon auf dieser Erde weilte, hatte er mehr als genug Zeit gehabt, jede einzelne Muskelgruppe mehrere Jahrzehnte lang zu trainieren und jeden Zentimeter so perfekt zu formen, dass Frauen bei seinem Anblick geradezu anfingen zu sabbern. Er wäre mir sogar ganz vollkommen erschienen, wären da nicht diese Tattoos gewesen, die seinen gesamten Körper bedeckten.
Fellläufer benutzen für ihre Verwandlung einen Umhang, auf dem ihr Tierwesen abgebildet ist. Sawyer brauchte keinen solchen Umhang, stattdessen waren auf seiner Haut die Abbilder vieler Raubtiere verewigt. Im Feuerschein schienen sie manchmal zu tanzen.
»Warum bist du hier?«, fragte ich.
»Was glaubst du?« Er schob die Hüfte vor und drückte seine Erektion gegen mich. Ich konnte nicht anders, als mich an ihn zu schmiegen. Okay, es war erst ein paar Wochen her, aber ich vermisste ihn trotzdem schon. Ich würde ihn für den Rest meines Lebens vermissen.
Ohne Sawyer steckten die Mächte des Guten - auch die Föderation genannt - ziemlich tief in der Scheiße. Natürlich war ich auch einigermaßen mächtig und sogar gerade dabei, noch mächtiger zu werden. Aber ich war auch recht unvorbereitet in diese Situation geraten. Ich kam mir wie ein magischer Elefant in einem ziemlich vollen Porzellanladen vor: stapfte durch die Gegend und machte Dinge und Menschen kaputt. Bis jetzt hatte ich gerade noch verhindern können, dass meine Leute ausgelöscht wurden, allerdings auch nur, weil ich dabei Hilfe gehabt hatte.
Von Sawyer.
»Ist ein ganz schön weiter Weg aus der Hölle, nur für ein Schäferstündchen«, murmelte ich.
Seine Zunge kitzelte meinen Hals genau an der Stelle, an der er eben geknabbert hatte. »Ich bin nicht in der Hölle.«
»Wo bist du dann?«
Er ließ seine Hand von meiner Hüfte zu meiner Brust wandern. »Wonach fühlt es sich denn an?« Er strich mit dem Daumen über meine Brustwarze. Das Gefühl jagte mir ein Kribbeln durch den ganzen Körper.
»Ich weiß, dass du nicht hier bist«, sagte ich. »Du wirst nie wieder hier sein.«
Meine Stimme drohte zu brechen, aber ich ließ es nicht zu. Das machte mich stolz. Ich konnte keine Schwäche zeigen, nicht einmal vor ihm.
Sawyer sagte nichts, er strich nur weiter mit seinem Daumen hin und her, hin und her. Dann seufzte er und hörte auf. Ich biss mir auf die Lippen, um ihn nicht anflehen zu müssen, weiterzumachen.
Seine geschmeidigen, äußerst geschickten Finger strichen über die Kette an meinem Hals und griffen nach dem Türkis, der daran hing. »Du trägst sie wieder?«
Sawyer hatte mir diese Kette vor Jahren geschenkt, und erst vor kurzer Zeit hatte ich sie ablegen müssen. Seit seinem Tod trug ich den Türkis nun aber wieder, denn er war alles, was mir von Sawyer geblieben war. Das hoffte ich jedenfalls.
»Ich ... « Ich verstummte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich wollte einfach nicht, dass er wusste, wie sehr er mir fehlte, so sehr nämlich, dass ich mindestens ein Dutzend Mal am Tag über den glatten Stein strich und an ihn dachte.
»Ich bin ja froh darüber«, sagte er sanft. »Er hat mich zu dir geführt.«
Anfangs hatte ich noch geglaubt, die Kette wäre nichts weiter als ein Schmuckstück. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass sie magische Kräfte besaß, mich als Sawyers Eigentum auswies und mir sogar schon einmal das Leben gerettet hatte. Außerdem wusste er dadurch jederzeit, wo ich war.
Er ließ den Türkis wieder zwischen meine Brüste fallen. »Weißt du noch, was das Letzte war, das ich zu dir gesagt habe?«
Ich verspannte mich so abrupt, dass ich mit dem Hinterkopf gegen seine Nase stieß. Der Zusammenprall und das Zischen, das Sawyer dabei ausstieß, klangen ziemlich real, ebenso wie das dumpfe Pochen, das nun in meinem Kopf einsetzte.
»Phoenix«, sagte Sawyer eindringlich. »Erinnerst du dich ...?« »Beschütze diese Gabe des Glaubens«, wiederholte ich sofort.
Er fuhr mit der Handfläche über meine Schulter. »Ja, richtig.« »Was bedeutet das?«
»Das wirst du schon sehen.«
Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Unmittelbar vor diesem Satz hatte Sawyer noch etwas anderes gesagt. Worte, die mich ebenso um den Schlaf gebracht hatten wie sein Tod:
Ich beschließe, ein Kind zu hinterlassen.
Die Erinnerung an das, was kurz vor und nach diesen Äußerungen geschehen war, blendete ich aus. Er war in mein Zimmer geschlichen, wo ich als Gefangene meiner eigenen, längst totgeglaubten Mutter ans Bett gekettet war. Sie war ein echter Hauptgewinn. Schon nach fünf Minuten in ihrer Gesellschaft bedauerte ich nicht mehr, als Waise aufgewachsen zu sein.
Die Situation war zwar abscheulich gewesen, aber Sawyer hatte mich trotz allem verführt. Ich hatte nicht mehr darüber nachgedacht - bis er verschwunden war. Nun legte ich die Hand auf meinen noch immer flachen Bauch. Hatte er tatsächlich ein Kind gezeugt? »Sawyer«, begann ich. Ich hatte so viele Fragen. Aber ich kam gar nicht dazu, auch nur eine von ihnen zu stellen.
»Du musst jetzt aufwachen.«
»Warte, ich ... «
»Phoenix«, sagte er, und dann sanfter: »Elizabeth.«
Die meisten nannten mich Liz, aber Sawyer hatte das nie getan.
»Jemand ist hier.«
Im nächsten Augenblick fiel ich in die Realität zurück, und der Klang seiner Stimme, das Gewicht seiner Hand und die Wärme seines Körpers schwanden dahin.
»Jemand oder etwas?«, fragte ich.
»Beides«, antwortete er noch, und dann war er verschwunden. Ich schlug die Augen auf und griff schon nach dem silbernen Messer unter meinem Kissen.
Die Welt war nicht das, wonach sie aussah. In vielen Menschen verbargen sich Halbdämonen, die nur darauf aus waren, uns zu vernichten. Sie hießen Nephilim und mussten als die Nachkommen von gefallenen Engeln und Menschentöchtern gelten.
Es gab sie bereits seit dem Anbeginn der Zeit, in früheren Zeiten wurden sie häufiger gesichtet, damals, als Wolfsmenschen und Frauen aus Rauch noch ganz alltäglich waren. Auf ihnen basierten die Legenden, die man heute fast ausschließlich auf den Kinoleinwänden zu sehen bekam. Es sei denn, man war ich. Dann kamen sie zu einem in die Wohnung.
Die Finger fest um den Griff des Messers geschlossen, wartete ich regungslos auf das leichte Summen, das dem Auftauchen einer bösartigen, unheimlichen Kreatur vorausging. Doch es kam nicht.
Ich saß mit zusammengekniffenen Augen und gespitzten Ohren auf dem Rand der Matratze, dann atmete ich tief ein und ein Kribbeln lief mir über die Haut. Das Bett roch nach Sawyer - nach Schnee in den Bergen, nach Blättern im Wind, nach Feuer, Rauch und Hitze.
»Von wegen Traum«, murmelte ich.
Unten vor dem Haus hörte ich ein dumpfes Geräusch, dann ein Kratzen von etwas Festem auf dem Gehweg. War das ein Schuh? Ein Fuß? Eine Klaue?
Als ich das Zimmer durchquerte, hätte ich schwören können, dass etwas Pelziges mein Bein streifte. Ich blickte nach unten, sah aber nur den Stoff meiner weiten Baumwollshorts, die ich zusammen mit dem abgetragenen und verwaschenen Milwaukee Brewers-T-Shirt als Schlafanzug trug.
Ich hörte ein merkwürdiges Heulen und ging zum Fenster, wo ich mich so hinstellte, dass man mich von außen nicht sehen konnte. Es war Neumond und der Himmel dunkel. Hier, in der Nähe der Stadt, spendeten auch die Sterne nur wenig Licht. Die einzige Straßenlaterne in Friedenberg beleuchtete nichts als leere Bürgersteige und dunkle Schaufenster. Das hatte gar nichts zu bedeuten. Nephilim benutzten nur selten die Vordertür. Das hatten sie gar nicht nötig.
Mit einem mulmigen Gefühl sah ich nach oben, aber auch auf den Dächern waren nur Schatten zu erkennen. Diese Schatten konnten jedoch alles Mögliche bedeuten.
»Psst. Junge.«
Ich trat gegen das Kinderbett, das in einer Ecke an die Wand gedrängt stand. Meine Wohnung war ein kleines Apartment direkt über einem Nippesladen. Das Haus gehörte mir, ich hatte das Erdgeschoss vermietet und auch schon mit dem Gedanken gespielt, den ersten Stock ebenfalls zu vermieten. Zurzeit war ich nämlich kaum in der Stadt. Und auch jetzt war ich nur hier, weil ich meiner besten Freundin versprochen hatte, zum neunten Geburtstag ihrer Tochter zu kommen. Ich schuldete Megan so viel, da war es das Mindeste, wenigstens ein Mal da zu sein, wenn sie mich darum bat.
»Luther!« Wieder stieß ich gegen das Kinderbett. Ich wollte ihn nicht berühren, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
Meine übersinnlichen Kräfte hatte ich schon von Geburt an, so vermute ich. Jedenfalls kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht anhand einer einzigen Berührung hatte sehen können, wo Menschen gewesen waren und was sie getan hatten. Bei Nephilim konnte ich erkennen, was sie in Wirklichkeit waren. Oder jedenfalls hatte ich das bis vor kurzer Zeit noch gekonnt. Jetzt hatte ich dafür ja Luther.
»Wa ... ? Häh?« Luther rieb sich seine glatte braune Gesichtshaut. Das wirre goldbraune Haar stand ihm noch wilder vom Kopf ab als sonst.
»Empfängst du eigentlich irgendwelche Bösewichter-Schwingungen?«, fragte ich.
Der Junge war sofort hellwach. Respekt. »Nein«, sagte er langsam, mit schiefgelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen.
»Du hast ja einen ziemlich tiefen Schlaf.« Das hatten alle Kinder, soweit ich wusste - auch wenn Luther darauf bestand, dass er kein Kind mehr war, sondern ein Mann.
Er behauptete, achtzehn Jahre alt zu sein, aber ich hatte da so meine Zweifel. Er war groß und schlaksig, seine Hände und Füße wirkten riesig. Viele Nephilim hatten sich von seiner ungelenken Erscheinung täuschen lassen und ihn für langsam und tollpatschig gehalten. Dabei bewegte sich Luther so schnell und geschmeidig wie der Löwe, in den er sich verwandeln konnte.
Der Junge war nämlich eine Kreuzung - Nachkomme eines Nephilim und eines Menschen. Weil er zum Teil Dämon war, hatte er übernatürliche Kräfte. Da er aber zum größeren Teil Mensch war, hatte er sich dafür entscheiden können, auf der Seite des Guten zu kämpfen. Viele Kreuzungen taten das.
»Ich würde es hören, wenn Ruthie versucht, mir etwas zu sagen. Egal ob ich schlafe oder nicht.«
Ruthie Kane, meine Pflegemutter, war früher mal die Anführerin des Lichts gewesen. Jetzt war ich das. Anfangs hatte sie im Wind, in meinen Träumen oder Visionen zu mir gesprochen, um mir mitzuteilen, welche Spielart des Bösen sich hinter dem menschlichen Gesicht eines Nephilim verbarg. Jetzt aber sprach sie durch Luther. Ich hatte nämlich ein Dämonenproblem.
»Da draußen ist etwas«, sagte ich.
Luther zog sein Silbermesser genauso schnell, wie ich vorhin meins gezogen hatte. Die meisten Gestaltwandler kann man mit Silber töten, und selbst wenn nicht, so hält es sie zumindest auf.
»Spricht Ruthie wieder mit dir?« Luther war schon auf dem Weg zur Tür, die zur Hintertreppe führte.
»Nein.« Ich blieb stehen, um Luthers und mein Gewehr vom Nachttisch zu nehmen - wenn ein Silbermesser wirkte, war eine Silberkugel noch besser-, dann eilte ich ihm nach.
Wir warfen unsere Messer auf den Küchentisch. Der Junge griff nach der Türklinke, doch ich schob mich vor ihn. Luther war ein Neuling. Nicht, dass ich selbst ein alter Hase gewesen wäre. Ich machte diesen Job noch keine vier Monate. Aber ich war die Anführerin, und das bedeutete eben, dass ich als Erste durch die Tür musste.
Früher hatte ein Seher - jemand mit der übersinnlichen Fähigkeit, Nephilim in ihrer menschlichen Gestalt zu erkennen - mit mehreren Dämonenjägern zusammengearbeitet. Diese Regelung war aber beim Teufel, seit die Nephilim die Föderation infiltriert und drei Viertel der Gruppe ausgelöscht hatten. Die verbleibenden Mitglieder taten nun alles, was in ihrer Macht stand. Seher wurden zu Dämonenjägern, Dämonenjäger zu Sehern, und jeder tötete einfach alles, was ihm in die Quere kam.
»Wenn Ruthie noch immer nicht zu dir spricht, woher weißt du dann, dass da draußen etwas ist?«, fragte Luther verständlicherweise.
Ich hatte nicht vor, ihm zu erzählen, dass ich im Traum Besuch von den Toten gehabt hatte. Nicht, dass ihn diese Nachricht schockiert hätte. Luther bekam schließlich jeden verdammten Tag Besuch von den Toten. Aber ich wollte jetzt nicht darüber sprechen. Jetzt wollte ich nur wissen, was sich da draußen befand. Und dann wollte ich es töten.
Auf bloßen Füßen schlich ich fast lautlos die Treppe hinunter. Luther war sogar noch leiser. Er war zur Hälfte Löwe, da konnte er gar nicht anders.
Eine Tür führte auf den Parkplatz hinter dem Haus. Ich öffnete sie, ging jedoch nicht hinaus. Stattdessen lauschte ich. Luther schnupperte, dann trafen sich unsere Blicke. Nichts zu erkennen.
»Erschieß niemanden, dessen Leiche ich nachher wegschaffen muss«, ermahnte ich ihn. Eine Variation von Schieß erst, wenn du das Weiße im Auge sehen kannst, oder im Föderationsjargon: Bring nicht versehentlich einen Menschen um.
Nephilim zerfielen zu Asche, wenn man sie auf die richtige Weise tötete. So kamen keine Fragen auf, die wir nicht beantworten konnten, und wir mussten uns auch nicht um die nervige Beseitigung blutverschmierter Leichen kümmern. Bei Menschen war das etwas anderes.
Luthers einzige Reaktion auf meine Warnung war das typische Teenagergrinsen, gepaart mit einem genervten Augenrollen. Ich musste ihn nicht berühren, um seine Gedanken zu kennen.
Ich bin doch nicht blöd!
Wir gingen nach draußen. Niemand schoss auf uns - nicht, dass eine Kugel viel angerichtet hätte. Übernatürliche Wesen - selbst solche wie Luther und ich, die mehr Mensch als irgendwas anderes waren - konnten fast alle Verletzungen heilen. Bis auf eine ganz bestimmte, die für jede Spezies einzigartig war. Der Angreifer musste also die einzig richtige Methode kennen.
Ich bedeutete Luther mit dem Kinn, dass er links um das Haus herumgehen solle, während ich zur rechten Seite ging. Wir würden uns wieder hier hinten treffen, um dann gemeinsam die dunkle Böschung am anderen Ende des Parkplatzes zu untersuchen, wo der Milwaukee River fröhlich vorbeiplätscherte.
An dieser Stelle blieb mein Blick hängen. Dort hätte sich etwas - oder mehrere Etwasse - verstecken können. Aber ohne Ruthies Warnungen ging ich erst einmal davon aus, dass alle Geräusche, die ich hörte, von Menschen stammten. Natürlich konnten uns auch Menschen das Leben schwer machen. Das taten sie meistens. Und ganz besonders solche, die sich hier im Dunkeln herumtrieben.
Als ich mich mit dem Rücken zur Wand am Haus entlangschob, hörte ich in der Nähe des Flusses ein Geräusch und fuhr herum, das Gewehr schussbereit. Für einen Augenblick hätte ich schwören können, in Bodennähe etwas Schwarzes, Vierbeiniges entlangschleichen zu sehen.
Ich blinzelte, und der Schatten war nur noch ein Schatten, vielleicht ein Baumstamm mit vier Ästen oder die Spiegelung einer weit entfernten Straßenlaterne auf dem Fluss. Es gab in Friedenberg auch Füchse, ein paar Kojoten und jede Menge Hunde. Aber das hier hatte wie ein Wolf ausgesehen.
»Sawyer«, flüsterte ich. Die einzige Antwort war das Heulen einer Windböe.
Ich hielt mein Gesicht in die Nacht hinein, um meine Haut von der Brise kühlen zu lassen. Stattdessen umgab mich schwülwarme Luft ohne die leiseste Bewegung. Kein Wind also, aber definitiv ein Heulen.
Scheiße. Luther.
Ich rannte zur Frontseite des Hauses. Obwohl mir all meine Instinkte befahlen, wild um mich schießend um die Ecke zu stürmen, blieb ich stehen und überprüfte zuerst die Straße. Blindlings auf offenes Gelände zu rennen, das war höchstens eine effektive Methode, sich den Kopf wegblasen zu lassen. Wahrscheinlich hätte mich zwar nicht einmal das töten können, aber die Heilung würde doch ziemlich lange dauern. Bis dahin konnte Luther tot sein.
Außerdem waren da noch die zusätzlichen Bedenken wegen meiner möglichen Schwangerschaft. Ich wollte nicht schwanger sein, konnte mir kaum etwas vorstellen, das ich weniger hätte gebrauchen können - außer vielleicht einen langsamen, qualvollen Tod durch einen Nephilim. Aber ich konnte nun mal nichts daran ändern. Wenn ich Sawyers Kind in mir trug, war er, sie oder es alles, was von seiner Magie übrig geblieben war - neben dem, was er an mich weitergegeben hatte. Ich musste diese Gabe beschützen. Das hatte ich versprochen.
Es war vier Uhr früh an einem Freitagmorgen und die Hauptstraße menschenleer. Friedenberg brüstete sich mit seinen zahlreichen Kneipen - es war immerhin Wisconsin. Aber sie hatten pünktlich geschlossen, und inzwischen waren alle längst schon wieder zu Hause.
Keine Spur von Luther. Verdammt.
»Junge?« Ich wollte nicht laut rufen, aber bald würde mir nichts anderes übrig bleiben.
Ich eilte an der Vorderseite des Nippesladens vorbei, so konzentriert auf die nächste Ecke, dass ich fast übersehen hätte, was da eingehüllt im Hauseingang lag. Ich war schon daran vorbeigelaufen, als mir klar wurde, was ich gesehen hatte. Also bremste ich ab und ging ein paar Schritte zurück.
Auf der obersten Treppenstufe stand, in eine Decke gewickelt, ein Korb. Obwohl es in der Türnische dunkel und die Decke nicht gerade farbenfroh war - entweder schwarz oder dunkelblau -, konnte ich unter der Decke eine Bewegung ausmachen.
Ich spürte ein Kribbeln im Nacken und kämpfte gegen den Drang an, dort eine imaginäre Stechmücke zu erschlagen. Ich wagte nicht, diese Stelle zu berühren, wenn ich es nicht wirklich wollte. Sawyer war nicht der Einzige, der Tattoos hatte - und sie benutzen konnte.
Hatte mir jemand einen Korb mit giftigen Schlangen, Taranteln oder Gila-Krustenechsen vor die Tür gestellt? Vielleicht eine neue Züchtung, wie einen Landhai, eine Trockenqualle oder einen winzigen Minivampir? Oh, ich habe auch schon weit merkwürdigere Dinge gesehen.
Das Heulen, das ich vorhin gehört hatte, erklang erneut - es kam aus dem Körbchen. Ich beugte mich vor und hob die Decke an einem Ende mit dem Lauf meiner Glock ein wenig an. Was ich darunter entdeckte, ließ mein Herz schneller schlagen, als es jeder Vampir vermocht hätte. Ich ließ die Decke wieder fallen und stolperte fast über meine eigenen Füße, so eilig wich ich zurück.
»Schöne Scheiße«, murmelte ich.
Jemand hatte mir ein Baby vermacht.
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Die Anführerin der übernatürlichen Mächte des Guten zu sein ist längst nicht so cool, wie es klingen mag. Zum Beispiel hat die Welt immer oberste Priorität, alles andere kommt an zweiter, dritter und vierhundertneunundfünfzigster Stelle. Und ich spreche von so wichtigen Dingen wie Liebe, Freundschaft und Familie. Letztlich hat das dazu geführt, dass ich den Mann getötet habe, den ich liebte. Schon wieder.
Oh nein, ich habe ihn nicht zweimal umgebracht. Ich meinte vielmehr: Ich habe zwei Männer getötet. Der eine ist nicht tot geblieben, und der andere ... bei dem bin ich mir nicht so sicher.
Ja, ich liebe zwei Männer. Das war mir auch neu. Dazu kommt noch der Anfang vom Ende der Welt - und schon ist das Chaos komplett. Als jemand, der sich damit auskennt, kann ich nur sagen: Chaos kann einem wirklich auf die Nerven gehen!
Seit der Nacht, in der meine Pflegemutter in meinen Armen starb und mir die Verantwortung für die Apokalypse hinterließ, war das Chaos für mich der Normalzustand.
Einige Wochen, nachdem ich Sawyer getötet hatte, tauchte er in meinen Träumen wieder auf. Er war ein Navajo-Fellläufer gewesen - Hexer und Gestaltwandler in einem, also ein Zauberer mit einer unvorstellbaren Macht. Leider hatten diese Kräfte seinen eigenen Tod nicht verhindern können. Ich glaube allerdings kaum, dass überhaupt irgendetwas das vermocht hätte, denn er hatte ja sterben wollen. Ich fühlte mich trotzdem schuldig. Was daran liegen könnte, dass ich ihm mit bloßen Händen das Herz herausgerissen hatte.
Es war ein erotischer Traum, wie meist, wenn Sawyer darin vorkam. Er war eine Art Katalysator-Telepath: Er brachte die übernatürlichen Fähigkeiten anderer durch Sex zum Vorschein. Es hatte etwas damit zu tun, sich zu öffnen, und zwar sich selbst gegenüber, dem Universum und den magischen Möglichkeiten darin - laberlaber, blablabla.
Ich habe nie ganz kapiert, was er da getan hat oder wie er es getan hat. Aber es funktionierte. Nach einer Nacht mit Sawyer hatte ich so viele Kräfte, dass ich kaum noch wusste, wohin damit.
Im Traum befand ich mich in meinem Apartment in Frieden-berg, einer Vorstadt im Norden von Milwaukee, im Bett. Sawyer lag in der Löffelchenstellung hinter mir. Seine Hand ruhte auf meiner Hüfte. Da wir etwa gleich groß waren, spürte ich seinen Atem in meinem Nacken, sein Haar ergoss sich lang, schwarz und seidig über meine Haut. Ich legte meine Hand auf seine und wollte mich umdrehen.
Dabei kamen sich unsere Beine in die Quere. Er machte seine ganz steif und hielt mich an der Hüfte fest. »Nicht«, sagte er mit einer unendlich tiefen und befehlenden Stimme.
»Aber ...«
Er knabberte sanft an meiner Halsbeuge, und ich schnappte nach Luft - sowohl vor Überraschung als auch vor Erregung. Ich wusste zwar, dass es ein Traum war, aber mein Körper reagierte, als wäre es keiner.
Alles fühlte sich so lebendig an - seine geschmeidigen, festen Muskeln spielten tatsächlich unter der glatten, heißen Haut. Sawyer war ausnehmend gut gebaut. In den Jahrhunderten, die er schon auf dieser Erde weilte, hatte er mehr als genug Zeit gehabt, jede einzelne Muskelgruppe mehrere Jahrzehnte lang zu trainieren und jeden Zentimeter so perfekt zu formen, dass Frauen bei seinem Anblick geradezu anfingen zu sabbern. Er wäre mir sogar ganz vollkommen erschienen, wären da nicht diese Tattoos gewesen, die seinen gesamten Körper bedeckten.
Fellläufer benutzen für ihre Verwandlung einen Umhang, auf dem ihr Tierwesen abgebildet ist. Sawyer brauchte keinen solchen Umhang, stattdessen waren auf seiner Haut die Abbilder vieler Raubtiere verewigt. Im Feuerschein schienen sie manchmal zu tanzen.
»Warum bist du hier?«, fragte ich.
»Was glaubst du?« Er schob die Hüfte vor und drückte seine Erektion gegen mich. Ich konnte nicht anders, als mich an ihn zu schmiegen. Okay, es war erst ein paar Wochen her, aber ich vermisste ihn trotzdem schon. Ich würde ihn für den Rest meines Lebens vermissen.
Ohne Sawyer steckten die Mächte des Guten - auch die Föderation genannt - ziemlich tief in der Scheiße. Natürlich war ich auch einigermaßen mächtig und sogar gerade dabei, noch mächtiger zu werden. Aber ich war auch recht unvorbereitet in diese Situation geraten. Ich kam mir wie ein magischer Elefant in einem ziemlich vollen Porzellanladen vor: stapfte durch die Gegend und machte Dinge und Menschen kaputt. Bis jetzt hatte ich gerade noch verhindern können, dass meine Leute ausgelöscht wurden, allerdings auch nur, weil ich dabei Hilfe gehabt hatte.
Von Sawyer.
»Ist ein ganz schön weiter Weg aus der Hölle, nur für ein Schäferstündchen«, murmelte ich.
Seine Zunge kitzelte meinen Hals genau an der Stelle, an der er eben geknabbert hatte. »Ich bin nicht in der Hölle.«
»Wo bist du dann?«
Er ließ seine Hand von meiner Hüfte zu meiner Brust wandern. »Wonach fühlt es sich denn an?« Er strich mit dem Daumen über meine Brustwarze. Das Gefühl jagte mir ein Kribbeln durch den ganzen Körper.
»Ich weiß, dass du nicht hier bist«, sagte ich. »Du wirst nie wieder hier sein.«
Meine Stimme drohte zu brechen, aber ich ließ es nicht zu. Das machte mich stolz. Ich konnte keine Schwäche zeigen, nicht einmal vor ihm.
Sawyer sagte nichts, er strich nur weiter mit seinem Daumen hin und her, hin und her. Dann seufzte er und hörte auf. Ich biss mir auf die Lippen, um ihn nicht anflehen zu müssen, weiterzumachen.
Seine geschmeidigen, äußerst geschickten Finger strichen über die Kette an meinem Hals und griffen nach dem Türkis, der daran hing. »Du trägst sie wieder?«
Sawyer hatte mir diese Kette vor Jahren geschenkt, und erst vor kurzer Zeit hatte ich sie ablegen müssen. Seit seinem Tod trug ich den Türkis nun aber wieder, denn er war alles, was mir von Sawyer geblieben war. Das hoffte ich jedenfalls.
»Ich ... « Ich verstummte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich wollte einfach nicht, dass er wusste, wie sehr er mir fehlte, so sehr nämlich, dass ich mindestens ein Dutzend Mal am Tag über den glatten Stein strich und an ihn dachte.
»Ich bin ja froh darüber«, sagte er sanft. »Er hat mich zu dir geführt.«
Anfangs hatte ich noch geglaubt, die Kette wäre nichts weiter als ein Schmuckstück. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass sie magische Kräfte besaß, mich als Sawyers Eigentum auswies und mir sogar schon einmal das Leben gerettet hatte. Außerdem wusste er dadurch jederzeit, wo ich war.
Er ließ den Türkis wieder zwischen meine Brüste fallen. »Weißt du noch, was das Letzte war, das ich zu dir gesagt habe?«
Ich verspannte mich so abrupt, dass ich mit dem Hinterkopf gegen seine Nase stieß. Der Zusammenprall und das Zischen, das Sawyer dabei ausstieß, klangen ziemlich real, ebenso wie das dumpfe Pochen, das nun in meinem Kopf einsetzte.
»Phoenix«, sagte Sawyer eindringlich. »Erinnerst du dich ...?« »Beschütze diese Gabe des Glaubens«, wiederholte ich sofort.
Er fuhr mit der Handfläche über meine Schulter. »Ja, richtig.« »Was bedeutet das?«
»Das wirst du schon sehen.«
Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Unmittelbar vor diesem Satz hatte Sawyer noch etwas anderes gesagt. Worte, die mich ebenso um den Schlaf gebracht hatten wie sein Tod:
Ich beschließe, ein Kind zu hinterlassen.
Die Erinnerung an das, was kurz vor und nach diesen Äußerungen geschehen war, blendete ich aus. Er war in mein Zimmer geschlichen, wo ich als Gefangene meiner eigenen, längst totgeglaubten Mutter ans Bett gekettet war. Sie war ein echter Hauptgewinn. Schon nach fünf Minuten in ihrer Gesellschaft bedauerte ich nicht mehr, als Waise aufgewachsen zu sein.
Die Situation war zwar abscheulich gewesen, aber Sawyer hatte mich trotz allem verführt. Ich hatte nicht mehr darüber nachgedacht - bis er verschwunden war. Nun legte ich die Hand auf meinen noch immer flachen Bauch. Hatte er tatsächlich ein Kind gezeugt? »Sawyer«, begann ich. Ich hatte so viele Fragen. Aber ich kam gar nicht dazu, auch nur eine von ihnen zu stellen.
»Du musst jetzt aufwachen.«
»Warte, ich ... «
»Phoenix«, sagte er, und dann sanfter: »Elizabeth.«
Die meisten nannten mich Liz, aber Sawyer hatte das nie getan.
»Jemand ist hier.«
Im nächsten Augenblick fiel ich in die Realität zurück, und der Klang seiner Stimme, das Gewicht seiner Hand und die Wärme seines Körpers schwanden dahin.
»Jemand oder etwas?«, fragte ich.
»Beides«, antwortete er noch, und dann war er verschwunden. Ich schlug die Augen auf und griff schon nach dem silbernen Messer unter meinem Kissen.
Die Welt war nicht das, wonach sie aussah. In vielen Menschen verbargen sich Halbdämonen, die nur darauf aus waren, uns zu vernichten. Sie hießen Nephilim und mussten als die Nachkommen von gefallenen Engeln und Menschentöchtern gelten.
Es gab sie bereits seit dem Anbeginn der Zeit, in früheren Zeiten wurden sie häufiger gesichtet, damals, als Wolfsmenschen und Frauen aus Rauch noch ganz alltäglich waren. Auf ihnen basierten die Legenden, die man heute fast ausschließlich auf den Kinoleinwänden zu sehen bekam. Es sei denn, man war ich. Dann kamen sie zu einem in die Wohnung.
Die Finger fest um den Griff des Messers geschlossen, wartete ich regungslos auf das leichte Summen, das dem Auftauchen einer bösartigen, unheimlichen Kreatur vorausging. Doch es kam nicht.
Ich saß mit zusammengekniffenen Augen und gespitzten Ohren auf dem Rand der Matratze, dann atmete ich tief ein und ein Kribbeln lief mir über die Haut. Das Bett roch nach Sawyer - nach Schnee in den Bergen, nach Blättern im Wind, nach Feuer, Rauch und Hitze.
»Von wegen Traum«, murmelte ich.
Unten vor dem Haus hörte ich ein dumpfes Geräusch, dann ein Kratzen von etwas Festem auf dem Gehweg. War das ein Schuh? Ein Fuß? Eine Klaue?
Als ich das Zimmer durchquerte, hätte ich schwören können, dass etwas Pelziges mein Bein streifte. Ich blickte nach unten, sah aber nur den Stoff meiner weiten Baumwollshorts, die ich zusammen mit dem abgetragenen und verwaschenen Milwaukee Brewers-T-Shirt als Schlafanzug trug.
Ich hörte ein merkwürdiges Heulen und ging zum Fenster, wo ich mich so hinstellte, dass man mich von außen nicht sehen konnte. Es war Neumond und der Himmel dunkel. Hier, in der Nähe der Stadt, spendeten auch die Sterne nur wenig Licht. Die einzige Straßenlaterne in Friedenberg beleuchtete nichts als leere Bürgersteige und dunkle Schaufenster. Das hatte gar nichts zu bedeuten. Nephilim benutzten nur selten die Vordertür. Das hatten sie gar nicht nötig.
Mit einem mulmigen Gefühl sah ich nach oben, aber auch auf den Dächern waren nur Schatten zu erkennen. Diese Schatten konnten jedoch alles Mögliche bedeuten.
»Psst. Junge.«
Ich trat gegen das Kinderbett, das in einer Ecke an die Wand gedrängt stand. Meine Wohnung war ein kleines Apartment direkt über einem Nippesladen. Das Haus gehörte mir, ich hatte das Erdgeschoss vermietet und auch schon mit dem Gedanken gespielt, den ersten Stock ebenfalls zu vermieten. Zurzeit war ich nämlich kaum in der Stadt. Und auch jetzt war ich nur hier, weil ich meiner besten Freundin versprochen hatte, zum neunten Geburtstag ihrer Tochter zu kommen. Ich schuldete Megan so viel, da war es das Mindeste, wenigstens ein Mal da zu sein, wenn sie mich darum bat.
»Luther!« Wieder stieß ich gegen das Kinderbett. Ich wollte ihn nicht berühren, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
Meine übersinnlichen Kräfte hatte ich schon von Geburt an, so vermute ich. Jedenfalls kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht anhand einer einzigen Berührung hatte sehen können, wo Menschen gewesen waren und was sie getan hatten. Bei Nephilim konnte ich erkennen, was sie in Wirklichkeit waren. Oder jedenfalls hatte ich das bis vor kurzer Zeit noch gekonnt. Jetzt hatte ich dafür ja Luther.
»Wa ... ? Häh?« Luther rieb sich seine glatte braune Gesichtshaut. Das wirre goldbraune Haar stand ihm noch wilder vom Kopf ab als sonst.
»Empfängst du eigentlich irgendwelche Bösewichter-Schwingungen?«, fragte ich.
Der Junge war sofort hellwach. Respekt. »Nein«, sagte er langsam, mit schiefgelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen.
»Du hast ja einen ziemlich tiefen Schlaf.« Das hatten alle Kinder, soweit ich wusste - auch wenn Luther darauf bestand, dass er kein Kind mehr war, sondern ein Mann.
Er behauptete, achtzehn Jahre alt zu sein, aber ich hatte da so meine Zweifel. Er war groß und schlaksig, seine Hände und Füße wirkten riesig. Viele Nephilim hatten sich von seiner ungelenken Erscheinung täuschen lassen und ihn für langsam und tollpatschig gehalten. Dabei bewegte sich Luther so schnell und geschmeidig wie der Löwe, in den er sich verwandeln konnte.
Der Junge war nämlich eine Kreuzung - Nachkomme eines Nephilim und eines Menschen. Weil er zum Teil Dämon war, hatte er übernatürliche Kräfte. Da er aber zum größeren Teil Mensch war, hatte er sich dafür entscheiden können, auf der Seite des Guten zu kämpfen. Viele Kreuzungen taten das.
»Ich würde es hören, wenn Ruthie versucht, mir etwas zu sagen. Egal ob ich schlafe oder nicht.«
Ruthie Kane, meine Pflegemutter, war früher mal die Anführerin des Lichts gewesen. Jetzt war ich das. Anfangs hatte sie im Wind, in meinen Träumen oder Visionen zu mir gesprochen, um mir mitzuteilen, welche Spielart des Bösen sich hinter dem menschlichen Gesicht eines Nephilim verbarg. Jetzt aber sprach sie durch Luther. Ich hatte nämlich ein Dämonenproblem.
»Da draußen ist etwas«, sagte ich.
Luther zog sein Silbermesser genauso schnell, wie ich vorhin meins gezogen hatte. Die meisten Gestaltwandler kann man mit Silber töten, und selbst wenn nicht, so hält es sie zumindest auf.
»Spricht Ruthie wieder mit dir?« Luther war schon auf dem Weg zur Tür, die zur Hintertreppe führte.
»Nein.« Ich blieb stehen, um Luthers und mein Gewehr vom Nachttisch zu nehmen - wenn ein Silbermesser wirkte, war eine Silberkugel noch besser-, dann eilte ich ihm nach.
Wir warfen unsere Messer auf den Küchentisch. Der Junge griff nach der Türklinke, doch ich schob mich vor ihn. Luther war ein Neuling. Nicht, dass ich selbst ein alter Hase gewesen wäre. Ich machte diesen Job noch keine vier Monate. Aber ich war die Anführerin, und das bedeutete eben, dass ich als Erste durch die Tür musste.
Früher hatte ein Seher - jemand mit der übersinnlichen Fähigkeit, Nephilim in ihrer menschlichen Gestalt zu erkennen - mit mehreren Dämonenjägern zusammengearbeitet. Diese Regelung war aber beim Teufel, seit die Nephilim die Föderation infiltriert und drei Viertel der Gruppe ausgelöscht hatten. Die verbleibenden Mitglieder taten nun alles, was in ihrer Macht stand. Seher wurden zu Dämonenjägern, Dämonenjäger zu Sehern, und jeder tötete einfach alles, was ihm in die Quere kam.
»Wenn Ruthie noch immer nicht zu dir spricht, woher weißt du dann, dass da draußen etwas ist?«, fragte Luther verständlicherweise.
Ich hatte nicht vor, ihm zu erzählen, dass ich im Traum Besuch von den Toten gehabt hatte. Nicht, dass ihn diese Nachricht schockiert hätte. Luther bekam schließlich jeden verdammten Tag Besuch von den Toten. Aber ich wollte jetzt nicht darüber sprechen. Jetzt wollte ich nur wissen, was sich da draußen befand. Und dann wollte ich es töten.
Auf bloßen Füßen schlich ich fast lautlos die Treppe hinunter. Luther war sogar noch leiser. Er war zur Hälfte Löwe, da konnte er gar nicht anders.
Eine Tür führte auf den Parkplatz hinter dem Haus. Ich öffnete sie, ging jedoch nicht hinaus. Stattdessen lauschte ich. Luther schnupperte, dann trafen sich unsere Blicke. Nichts zu erkennen.
»Erschieß niemanden, dessen Leiche ich nachher wegschaffen muss«, ermahnte ich ihn. Eine Variation von Schieß erst, wenn du das Weiße im Auge sehen kannst, oder im Föderationsjargon: Bring nicht versehentlich einen Menschen um.
Nephilim zerfielen zu Asche, wenn man sie auf die richtige Weise tötete. So kamen keine Fragen auf, die wir nicht beantworten konnten, und wir mussten uns auch nicht um die nervige Beseitigung blutverschmierter Leichen kümmern. Bei Menschen war das etwas anderes.
Luthers einzige Reaktion auf meine Warnung war das typische Teenagergrinsen, gepaart mit einem genervten Augenrollen. Ich musste ihn nicht berühren, um seine Gedanken zu kennen.
Ich bin doch nicht blöd!
Wir gingen nach draußen. Niemand schoss auf uns - nicht, dass eine Kugel viel angerichtet hätte. Übernatürliche Wesen - selbst solche wie Luther und ich, die mehr Mensch als irgendwas anderes waren - konnten fast alle Verletzungen heilen. Bis auf eine ganz bestimmte, die für jede Spezies einzigartig war. Der Angreifer musste also die einzig richtige Methode kennen.
Ich bedeutete Luther mit dem Kinn, dass er links um das Haus herumgehen solle, während ich zur rechten Seite ging. Wir würden uns wieder hier hinten treffen, um dann gemeinsam die dunkle Böschung am anderen Ende des Parkplatzes zu untersuchen, wo der Milwaukee River fröhlich vorbeiplätscherte.
An dieser Stelle blieb mein Blick hängen. Dort hätte sich etwas - oder mehrere Etwasse - verstecken können. Aber ohne Ruthies Warnungen ging ich erst einmal davon aus, dass alle Geräusche, die ich hörte, von Menschen stammten. Natürlich konnten uns auch Menschen das Leben schwer machen. Das taten sie meistens. Und ganz besonders solche, die sich hier im Dunkeln herumtrieben.
Als ich mich mit dem Rücken zur Wand am Haus entlangschob, hörte ich in der Nähe des Flusses ein Geräusch und fuhr herum, das Gewehr schussbereit. Für einen Augenblick hätte ich schwören können, in Bodennähe etwas Schwarzes, Vierbeiniges entlangschleichen zu sehen.
Ich blinzelte, und der Schatten war nur noch ein Schatten, vielleicht ein Baumstamm mit vier Ästen oder die Spiegelung einer weit entfernten Straßenlaterne auf dem Fluss. Es gab in Friedenberg auch Füchse, ein paar Kojoten und jede Menge Hunde. Aber das hier hatte wie ein Wolf ausgesehen.
»Sawyer«, flüsterte ich. Die einzige Antwort war das Heulen einer Windböe.
Ich hielt mein Gesicht in die Nacht hinein, um meine Haut von der Brise kühlen zu lassen. Stattdessen umgab mich schwülwarme Luft ohne die leiseste Bewegung. Kein Wind also, aber definitiv ein Heulen.
Scheiße. Luther.
Ich rannte zur Frontseite des Hauses. Obwohl mir all meine Instinkte befahlen, wild um mich schießend um die Ecke zu stürmen, blieb ich stehen und überprüfte zuerst die Straße. Blindlings auf offenes Gelände zu rennen, das war höchstens eine effektive Methode, sich den Kopf wegblasen zu lassen. Wahrscheinlich hätte mich zwar nicht einmal das töten können, aber die Heilung würde doch ziemlich lange dauern. Bis dahin konnte Luther tot sein.
Außerdem waren da noch die zusätzlichen Bedenken wegen meiner möglichen Schwangerschaft. Ich wollte nicht schwanger sein, konnte mir kaum etwas vorstellen, das ich weniger hätte gebrauchen können - außer vielleicht einen langsamen, qualvollen Tod durch einen Nephilim. Aber ich konnte nun mal nichts daran ändern. Wenn ich Sawyers Kind in mir trug, war er, sie oder es alles, was von seiner Magie übrig geblieben war - neben dem, was er an mich weitergegeben hatte. Ich musste diese Gabe beschützen. Das hatte ich versprochen.
Es war vier Uhr früh an einem Freitagmorgen und die Hauptstraße menschenleer. Friedenberg brüstete sich mit seinen zahlreichen Kneipen - es war immerhin Wisconsin. Aber sie hatten pünktlich geschlossen, und inzwischen waren alle längst schon wieder zu Hause.
Keine Spur von Luther. Verdammt.
»Junge?« Ich wollte nicht laut rufen, aber bald würde mir nichts anderes übrig bleiben.
Ich eilte an der Vorderseite des Nippesladens vorbei, so konzentriert auf die nächste Ecke, dass ich fast übersehen hätte, was da eingehüllt im Hauseingang lag. Ich war schon daran vorbeigelaufen, als mir klar wurde, was ich gesehen hatte. Also bremste ich ab und ging ein paar Schritte zurück.
Auf der obersten Treppenstufe stand, in eine Decke gewickelt, ein Korb. Obwohl es in der Türnische dunkel und die Decke nicht gerade farbenfroh war - entweder schwarz oder dunkelblau -, konnte ich unter der Decke eine Bewegung ausmachen.
Ich spürte ein Kribbeln im Nacken und kämpfte gegen den Drang an, dort eine imaginäre Stechmücke zu erschlagen. Ich wagte nicht, diese Stelle zu berühren, wenn ich es nicht wirklich wollte. Sawyer war nicht der Einzige, der Tattoos hatte - und sie benutzen konnte.
Hatte mir jemand einen Korb mit giftigen Schlangen, Taranteln oder Gila-Krustenechsen vor die Tür gestellt? Vielleicht eine neue Züchtung, wie einen Landhai, eine Trockenqualle oder einen winzigen Minivampir? Oh, ich habe auch schon weit merkwürdigere Dinge gesehen.
Das Heulen, das ich vorhin gehört hatte, erklang erneut - es kam aus dem Körbchen. Ich beugte mich vor und hob die Decke an einem Ende mit dem Lauf meiner Glock ein wenig an. Was ich darunter entdeckte, ließ mein Herz schneller schlagen, als es jeder Vampir vermocht hätte. Ich ließ die Decke wieder fallen und stolperte fast über meine eigenen Füße, so eilig wich ich zurück.
»Schöne Scheiße«, murmelte ich.
Jemand hatte mir ein Baby vermacht.
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Lori Handeland
Lori Handeland schreibt mit grossem Erfolg historische und zeitgenössische Liebesromane. Ihre Gestaltwandlerserie (Wolfskuss) wurde mit Begeisterung aufgenommen und mit dem RITA Award ausgezeichnet. Die Phoenix-Chroniken sind ihr erster Ausflug in die Urban Fantasy. Lori Handeland lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Southern Wisconsin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lori Handeland
- 2012, 1. Aufl., 368 Seiten, Masse: 12,6 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Cornelia Röser
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802588924
- ISBN-13: 9783802588921
- Erscheinungsdatum: 22.10.2012
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