Die Kraft und die Herrlichkeit
Roman
Der Roman, mit dem der Autor 1940 Weltruhm erlangte, als Remake in Vorbereitung auf seinen 100. Geburtstag am 2.10.2004.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Kraft und die Herrlichkeit “
Der Roman, mit dem der Autor 1940 Weltruhm erlangte, als Remake in Vorbereitung auf seinen 100. Geburtstag am 2.10.2004.
Klappentext zu „Die Kraft und die Herrlichkeit “
Der Roman, mit dem der Autor 1940 Weltruhm erlangte.Lateinamerika: Im Konflikt mit einer ausbeuterischen totalitären Staatsmacht findet ein schwacher und sündiger Priester, der im Rausch ein Kind gezeugt hat, die Kraft, seine Mission zu erfüllen. Eine gnadenlose Jagd treibt ihn aus einem Versteck ins nächste, aber er gibt nicht auf, sondern versucht auch unter diesen Bedingungen noch sein Priesteramt auszuüben.
Mit diesem Roman, in dem er zwei Formen der Sinngebung in einer sinnleeren Welt kontrastiert, erlangte Graham Greene Weltruhm. Sein Konzept einer revolutionären, mutigen, weltnahen Kirche von unten hat seine Glaubwürdigkeit bis heute bewahrt.
Lese-Probe zu „Die Kraft und die Herrlichkeit “
Die Kraft und die Herrlichkeit von Graham GreeneAus dem Englischen von Veza Magd und Käthe Springer
ERSTER TEIL
Der Hafen
Mr. Tench ging aus, um seinen Ätherzylinder zu holen, hinaus in die glühende mexikanische Sonne und den heißen Staub. Ein paar Geier blickten vom Dach herab mit schäbiger Gleichgültigkeit: Er war noch kein Aas. Ein leises Gefühl der Auflehnung regte sich in seinem Herzen, er kratzte mit brechenden Fingernägeln eine Handvoll Erde zusammen und warf sie matt nach ihnen. Einer flatterte auf und schwang sich über die Stadt hin, über die winzige Plaza, über die Büste eines Expräsidenten, Exgenerals, Exmenschen, flog über die beiden Mineralwasserbuden, über den Fluß und zum Meer. Er würde da drüben nichts finden; die Haifische kümmerten sich um das Aas auf jener Seite. Mr. Tench ging über die Plaza.
... mehr
Er sagte »Buenos dias« zu einem Mann mit Gewehr, der in dem schmalen Schatten an die Wand gelehnt saß. Aber es war nicht wie in England. Der Mann entgegnete gar nichts, er starrte nur böswillig zu Mr. Tench hoch, als hätte er mit dem Ausländer nie etwas gehabt, als wäre Mr. Tench nicht verantwortlich für seine zwei goldenen vorderen Backenzähne. Schwitzend ging Mr. Tench weiter, vorüber am Finanzamt, das früher eine Kirche war, auf den Kai zu. Auf halbem Weg vergaß er plötzlich, wozu er ausgegangen war. Ein Glas Mineralwasser vielleicht? Das war alles, was es in diesem Staat zu trinken gab seit der Prohibition - ausgenommen Bier, aber das stand unter Regierungsmonopol und war, falls es keinen besonderen Anlaß gab, zu teuer. Eine quälende Übelkeit breitete sich in Mr. Tenchs Magen aus - nein, Mineralwasser war es wohl nicht gewesen, was er wollte. Natürlich, Ätherzylinder ... das Schiff war angekommen. Er hatte den jauchzenden Pfiff von seinem Bett aus gehört, als er sich nach dem Lunch etwas hingelegt hatte. Er ging am Friseur vorbei, an einer Zahnarztordination und vorbei an einem Lagerhaus und dem Zollamt und kam an das Flußufer.
Der Fluß strömte träge dem Meer zu, umsäumt von Bananenplantagen. Die »General Obregon« war am Ufer vertäut, Bier wurde abgeladen - hundert Kisten lagen bereits aufgestapelt am Kai. Mr. Tench stand im Schatten des Zollhauses und dachte: Weshalb bin ich hier? Das Gedächtnis zerfloß ihm in der Hitze. Er räusperte sich und spuckte verloren in die Sonne. Dann setzte er sich auf eine Kiste und wartete. Er hatte nichts zu tun. Vor fünf Uhr kam kein Patient.
Die »General Obregon« war etwa dreißig Meter lang. Einige Fuß Reling waren beschädigt, es hatte ein einziges Rettungsboot, der Zug an der Glocke war verwittert, am Bug hing eine Petroleumlampe; das Schiff sah aus, als könnte es noch zwei, drei Jahre dem Ozean standhalten - falls es im Golf nicht in einen Nordsturm geriet. Das wäre natürlich sein Ende. Es machte weiter nichts; denn jeder war automatisch versichert, der sich ein Billett kaufte. Einige Passagiere lehnten über die Reling, mitten unter den Truthähnen mit den zusammengebundenen Beinen, und starrten auf den Hafen: auf das Lagerhaus, die leere, heiß gebackene Straße mit den beiden Zahnarztpraxen und dem Friseur.
Mr. Tench hörte in seinem Rücken das Knacken eines Pistolenhalfters und drehte sich um. Ein Zollbeamter sah ihn böse an. Er sagte etwas, das Mr. Tench nicht verstand. »Wie bitte?« fragte Mr. Tench.
»Meine Zähne«, murmelte der Zollbeamte undeutlich.
»Oh«, sagte Mr. Tench, »natürlich, Ihre Zähne.« Der Mann hatte keine, deshalb konnte er auch nicht klar spre chen. Mr. Tench hatte sie ihm alle gezogen. Wieder wurde ihm übel - etwas war nicht in Ordnung mit ihm - Würmer, Dysenterie ... Er sagte: »Das Gebiß ist fast fertig. Heute abend«, versprach er hastig. Nun war das ganz unmöglich; aber so lebte man eben, man schob alles hinaus. Der Mann war beruhigt; vielleicht vergaß er es, und schließlich, was konnte er machen? Er hatte im voraus bezahlt. Das war für Mr. Tench der ganze Inhalt seines Lebens: Hitze und Vergessen, auf morgen verschieben, womöglich Barzahlung - und wofür? Er blickte hinaus über den behäbigen Fluß; an der Mündung bewegte sich wie ein Periskop die Finne eines Haifischs. Im Laufe der Jahre waren mehrere Schiffe gestrandet, sie halfen jetzt, das Ufer abzustützen. Die Schornsteine, schräg wie Kanonen, zielten irgendwohin in die Ferne, über Bananenbäume und Sümpfe.
Mr. Tench dachte: Ätherzylinder - fast hätte ich es vergessen. Der Mund blieb ihm offen, und mürrisch begann er die Flaschen zu zählen. Cerveza Montezuma. Hundertvierzig Kisten. - Zwölfmal hundertvierzig. Dikker Schleim sammelte sich in seinem Mund: Viermal zwölf ist achtundvierzig. Laut sagte er auf englisch: »Mein Gott, die ist hübsch. Zwölfhundert, sechzehnhundertachtzig. « Er spuckte aus und starrte mit vagem Interesse ein Mädchen an, das am Bug der »General Obregon« stand - eine schöne, schlanke Gestalt, hier waren alle so dick, mit braunen Augen natürlich, und dem unvermeidlich blitzenden Goldzahn, aber eine, die frisch und jung war ... Sechzehnhundertachtzig Flaschen zu einem Peso die Flasche.
Jemand flüsterte auf englisch: »Was haben Sie gesagt?«
Mr. Tench schnellte herum. »Sie sind Engländer?« rief er erstaunt, aber beim Anblick des runden, hohlen Gesichts voller Bartstoppeln änderte er seine Frage:
»Sie sprechen Englisch?«
Ja, der Mann sprach Englisch. Er stand steif im Schatten, ein kleiner Mann in einem schäbigen dunklen Anzug, er trug eine kleine Aktentasche. Er hatte ein Buch unter dem Arm; eine Liebesszene leuchtete in grellen Farben vom Einband. Er sagte: »Entschuldigen Sie, ich dachte nur vorhin, Sie sagten etwas zu mir.« Er hatte vorquellende Augen und machte den Eindruck unsicherer Heiterkeit, als hätte er einen Geburtstag gefeiert ... aber allein. Mr. Tench räusperte sich. »Was habe ich denn gesagt?« Er konnte sich an nichts erinnern.
»Sie sagten, >Mein Gott, die ist hübsch>.»
»Was kann ich nur damit gemeint haben?«
Er starrte in den gnadenlosen Himmel. Ein Geier stand oben wie auf der Lauer.
»Wie? Oh, richtig, das Mädchen, nehme ich an. Man sieht nicht oft was Hübsches hier. Zwei im Jahr höchstens, die der Mühe wert sind.«
»Sie ist sehr jung.«
»Oh, ich hab' keine Absichten. « Mr. Tench sagte es müde. »Man schaut ja nur. Ich lebe seit fünfzehn Jahren allein.«
»Hier?«
»Hier in der Nähe. «
Sie verstummten. Die Zeit verging, der Schatten des Zollhauses bewegte sich ein wenig dem Fluß zu. Der Geier bewegte sich etwas, wie der schwarze Zeiger einer Uhr.
»Sind Sie mit dem Schiff gekommen?« fragte Mr. Tench.
»Nein.«
»Gehen Sie an Bord?«
Der kleine Mann schien der Frage auszuweichen, doch
dann, als wäre er eine Erklärung schuldig, sagte er: »Ich hab' nur geschaut. Fährt sicher bald ab.» »Nach Vera Cruz«, sagte Mr. Tench. »In ein paar Stunden. «
»Ohne zwischendurch anzulegen?«
»Wo denn?« Er fragte: »Wie sind Sie hergekommen?«
Der Fremde sagte unbestimmt: »Mit einem Kanu.«
»Sie sind Pflanzer, was?«
»Nein. «
»Es tut gut, Englisch zu hören«, sagte Mr. Tench. »Sie haben Ihres wohl in den Staaten gelernt?«
Der Mann nickte. Er war nicht sehr redselig.
»Was gäbe ich darum«, meinte Mr. Tench, »jetzt dort zu sein.« Er senkte ängstlich die Stimme: »Haben Sie da am Ende gar etwas zu trinken in Ihrer Tasche? Manche von euch dort drüben.. . ich hab' ein oder zwei gekannt.. . ein wenig für medizinische Zwecke.«
»Nur Medizin«, sagte der Mann.
»Sie sind Arzt?«
Die blutunterlaufenen Augen blickten listig aus den Winkeln auf Mr. Tench. »Sie würden mich vielleicht einen - Quacksalber nennen?« »Medikamentenmuster? Leben und leben lassen«, sagte Mr. Tench.
»Fahren Sie denn weg?«
»Nein, ich bin hier wegen - wegen ... ach was, ist ja egal.« Er legte die Hand auf den Magen und sagte: »Sie haben keine Medizin für mich, wie? Teufel noch mal! Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Dieses verdammte Land! Von dem können Sie mich nicht heilen. Niemand kann das.«
»Sie möchten gern nach Hause zurück?«
»Nach Hause?« sagte Mr. Tench. »Mein Zuhause ist hier. Wissen Sie, wie der Peso in Mexiko-City steht? Vier auf den Dollar. Vier. 0 Gott! Ora pro nobis!«
»Sind Sie Katholik?«
»Nein, nein, das ist nur so eine Redewendung. Ich glaube an gar nichts.« Und unvermittelt fügte er hinzu: »Es ist wirklich zu heiß.«
»Ich glaube, ich muß mich ein bißchen ausruhen.«
»Kommen Sie zu mir«, meinte Mr. Tench. »Ich habe eine zweite Hängematte. Das Schiff geht noch lange nicht ab - falls Sie sehen wollen, wie es wegfährt.«
Der Fremde sagte: »Ich soll hier jemanden aufsuchen. Lopez heißt er. «
»Oh, den haben sie schon vor Wochen erschossen.><
»Tot?«
»Sie wissen ja, wie es hier zugeht. Ein Freund von Ihnen? « »Nein, nein«, wandte der Mann hastig ein. »Nur der Freund eines Freundes.«
»Ja, so ist es«, sagte Mr. Tench. Er räusperte sich und spuckte in den harten Sonnenschein. »Er soll ... nun, unerwünschten Elementen ... also, zur Flucht verholfen haben. Sein Mädchen lebt jetzt mit dem Polizeichef.«
»Sein Mädchen? Meinen Sie seine Tochter?«
»Er war nicht verheiratet. Ich meine das Mädchen, mit dem er gelebt hat.» Mr. Tench war einen Augenblick überrascht über die Veränderung im Gesicht des Fremden. Er wiederholte: »Ja, so ist es.« Er schaute hinüber zur »General Obregon«. »Sie ist ein netter Käfer. In zwei Jahren wird sie natürlich wie alle sein. Fett und blöd. 0 Gott, wenn es nur etwas zu trinken gäbe! Ora pro nobis. «
»Ich habe etwas Schnaps«, sagte der Fremde.
Mr. Tench musterte ihn scharf. »Wo?«
Der abgezehrte Mann legte die Hand an die Hüfte - als weise er auf die Quelle seiner sonderbar überreizten Heiterkeit. Mr. Tench packte ihn am Handgelenk. »Achtung «, sagte er. »Nicht hier.« Er blickte auf einen schattigen Fleck am Boden. Ein Wachtposten saß schlafend auf einer leeren Kiste, das Gewehr neben sich. »Gehen wir zu mir«, sagte Mr. Tench.
»Ich hätte gern gesehen, wie sie abfährt«, meinte der kleine Mann zögernd.
»Das dauert noch Stunden«, versicherte ihm Mr. Tench.
»Stunden? Wissen Sie das bestimmt? Es ist sehr heiß in der Sonne.«
»Sie gehen besser mit mir heim.«
Heimgehen: Es war eine Phrase, damit meinte man vier Wände, hinter denen man schlief. Ein Heim hatte es hier nie gegeben. Sie bewegten sich über die kleine, ausgedörrte Plaza, wo der tote General sich in der Feuchtigkeit grün überzog und unter den Palmen die Mineralwasserbuden standen. Ein Heim, das war wie eine Ansichtskarte unter einem Haufen anderer Postkarten. Man mischte das Paket und hatte Nottingham, ein Geburtshaus drüben, ein Intermezzo in Southend. Mr. Tenchs Vater war auch Zahnarzt gewesen - seine erste Kindheitserinnerung war ein ausrangierter Guß, den er in einem Papierkorb gefunden hatte - das grobe, zahnlose, klaffende Maul aus Lehm, wie eine Ausgrabung in Dorset - ein Neandertaler oder Pithecanthropus. Es war sein liebstes Spielzeug gewesen. Sie versuchten ihn durch Meccano abzulenken, aber sein Schicksal war entschieden. Es ist immer nur ein Augenblick in der Kindheit, in dem sich die Tore öffnen und die Zukunft einlassen. Der heiße, feuchte Hafen am Fluß und die Geier lagen im Papierkorb, und er griff sie heraus. Wir sollten dankbar sein, daß wir die Schrecken und Erniedrigungen nicht sehen können, die unsere Kindheit umgaben, in Geschirrschränken und auf Bücherborden, überall.
Pflaster gibt es nicht; während der Regenzeit versank das Dorf (es war wirklich nicht mehr als ein Dorf) im Sumpf. Jetzt freilich war der Boden hart wie Stein unter den Füßen. Die beiden Männer gingen schweigend vorüber an Friseur und Zahnarzt; die Geier auf den Dächern wirkten zufrieden wie Hausgeflügel, sie suchten in weiten, staubigen Flügeln nach Ungeziefer. Mr. Tench sagte: »Hier, bitte« und hielt vor einem kleinen Holzhaus, einstöckig, mit einer Veranda, auf der eine Hängematte schaukelte. Die Hütte war etwas größer als die anderen in der engen Straße, die sich in einiger Entfernung im Sumpf verlief. Er sagte unruhig: »Möchten Sie sich umsehen? Ich will nicht prahlen, aber ich bin der beste Zahnarzt hier. Es ist kein schlechter Ort. Nicht schlechter als andere. « Stolz zitterte seine Stimme wie eine Pflanze mit zu flachen Wurzeln.
Er sperrte die Tür hinter sich ab und führte den Gast durch ein Eßzimmer, wo zwei Schaukelstühle zu beiden Seiten eines blanken Tisches standen: Es gab hier eine Petroleumlampe, ein Büffet, alte amerikanische Zeitungen. Er sagte: »Ich bringe gleich die Gläser, aber erst will ich es Ihnen zeigen - Sie verstehen etwas davon ...« Das Ordinationszimmer ging auf einen Hof, in dem etliche Truthähne in schäbiger, unruhiger Pracht stolzierten; man sah eine Bohrmaschine, die durch ein Pedal betätigt wurde, einen Zahnarztstuhl mit schwerem, grellrotem Plüsch überzogen, eine Vitrine, in der die Instrumente etwas verstaubt durcheinanderlagen. Eine Zange stand in einer Schale, eine zerbrochene Spirituslampe war in die Ecke geschoben, und Wattebäusche lagen auf sämtlichen Regalen.
»Sehr schön«, bemerkte der Fremde.
»Nicht schlecht, was?« sagte Mr. Tench. »Für diese Stadt. Von den Schwierigkeiten machen Sie sich keinen Begriff. Dieser Bohrer«, fuhr er bitter fort, »ist aus Japan. Ich hab' ihn erst seit einem Monat, und er ist schon abgenutzt. Ich kann mir aber die amerikanischen nicht leisten. «
»Das Fenster«, sagte der Fremde, »ist sehr schön.« Eine bemalte Fensterscheibe war eingelassen. Eine Madonna blickte durchs Moskitonetz auf die Truthähne im Hof. »Ich bekam sie, als sie die Kirche plünderten«, erklärte Mr. Tench. »In das Behandlungszimmer eines Zahnarztes gehören bemalte Fensterscheiben. Sonst sieht es nicht zivilisiert aus. Daheim, in England meine ich, hat man gewöhnlich den lachenden Kavalier, ich weiß wirklich nicht, warum - oder eine Tudor-Rose. Nun, man darf nicht zu pingelig sein.«
Er öffnete eine zweite Tür und sagte: »Mein Arbeitsraum. « Zuallererst sah man ein Bett unter einem Moskitonetz. Mr. Tench erklärte: »Sie müssen verstehen - Raummangel.« Eine Kanne mit Becken stand an einem Ende einer Werkbank, daneben eine Seifenschüssel; auf der anderen Seite war ein Lötrohr, ein Tablett mit Sand, eine Zange, ein kleiner Schmelzofen. »Ich gieße mit Sand«, sagte Mr. Tench. »Was bleibt mir sonst übrig hier?« Er hob den Abguß eines Unterkiefers auf. »Man kriegt sie nicht immer genau hin, und sie beschweren sich natürlich.« Er legte ihn nieder und deutete auf einen anderen Gegenstand auf der Bank - etwas Faseriges und Klebriges, sah wie Eingeweide aus, mit zwei kleinen Blasen aus Gummi. »Eine kongenitale Spaltung«, sagte er. »Ich versuche es zum erstenmal. Der Kingsley-Abguß. Ich weiß nicht, ob er gelingen wird. Aber der Mensch muß auf dem laufenden bleiben.« Der Mund blieb ihm offen; sein Blick wurde wieder leer; die Hitze in dem kleinen Raum war unerträglich. Er stand dort wie ein Mann, der sich in einer Höhle verirrt hat, inmitten von Fossilien und Instrumenten einer Zeit, von der er fast nichts wußte. Der Fremde sagte: »Wollen wir uns nicht setzen?«
Mr. Tench starrte ihn verständnislos an.
»Wir könnten den Schnaps aufmachen.«
»Ja, richtig, den Schnaps.«
Mr. Tench holte zwei Gläser aus einem Regal unter der Bank und wischte die Spuren von Sand ab. Dann gingen sie ins Speisezimmer und setzten sich in die Schaukelstühle. Mr. Tench goß ein.
»Wasser?« fragte der Fremde.
»Das Wasser ist schlecht«, sagte Mr. Tench. »Ich spüre es hier.« Er legte die Hand an den Magen und nahm einen langen Schluck. »Sie sehen aber auch nicht sehr gut aus«, sagte er. Er sah genauer hin. »Ihre Zähne.« Ein Eckzahn fehlte, und die Vorderzähne waren gelb von Zahnstein und kariös. Er sagte: »Man muß seine Zähne pflegen.«
»Wozu?« sagte der Fremde. Behutsam hielt er sein bißchen Schnaps im Glas - wie ein Tier, dem er Obdach gab, aber nicht vertraute. Eingefallen und vernachlässigt wie er war, wirkte der Mann irgendwie geschlagen, mit Rastlosigkeit oder mangelnder Gesundheit. Er saß auf dem äußersten Rand des Schaukelstuhls, seine kleine Aktentasche auf den Knien, den Schnaps von sich gestreckt mit schuldbewußter Zärtlichkeit.
»Trinken Sie aus«, forderte Mr. Tench ihn auf (es war nicht sein Schnaps). »Es wird Ihnen guttun.« Der schwarze Anzug und die hängenden Schultern des Mannes erinnerten ihn unangenehm an einen Sarg, Tod lauerte in dem dunklen, kariösen Mund. Mr. Tench goß sich noch ein Glas ein. Er sagte: »Man fühlt sich mit: der Zeit einsam hier. Es tut wohl, Englisch zu sprechen, selbst zu einem Fremden. Wollen Sie ein Bild von meinen Kindern sehen?« Er zog einen vergilbten Schnappschuß aus seiner Brieftasche und reichte ihn hinüber. Zwei kleine Kinder plagten sich mit dem Henkel einer Gießkanne in einem Hintergarten. »Das war selbstverständlich vor sechzehn Jahren«, sagte er.
»Jetzt sind es junge Männer.«
»Der eine ist gestorben.«
»Nun«, meinte der andere sanft, »immerhin in einem christlichen Land. « Er nahm einen Schluck und lächelte Mr. Tench etwas einfältig an.
»Ich glaube schon.« Mr. Tench war überrascht. Er räusperte sich und sagte: »Mir ist dieser Punkt übrigens ziemlich gleichgültig.« Er schwieg, seine Gedanken schweiften fort; sein Mund stand wieder offen, er sah grau und abwesend aus, bis seine Magenschmerzen ihn zurückriefen und er zum Schnaps griff. »Warten Sie, worüber haben wir denn gesprochen? Ah, ja, die Kinder ... richtig, die Kinder. Komisch, an was man sich erinnert. Zum Beispiel weiß ich mehr über die Gießkanne als über die Kinder. Sie hat drei Shilling elf Pence drei Farthings gekostet, sie war grün. Ich könnte Ihnen noch heute das Geschäft zeigen, wo ich sie gekauft habe. Aber die Kinder«, er sann über sein Glas gebeugt nach, »ich kann mich nicht an viel mehr erinnern, als daß sie immer geweint haben.«
»Bekommen Sie Nachrichten?«
»Ich habe ihnen schon nicht mehr geschrieben, bevor ich noch herkam. Wozu auch? Ich konnte ihnen kein Geld schicken. Es würde mich nicht überraschen, wenn meine Frau wieder geheiratet hätte. Ihrer Mutter wäre es nur recht - das bissige alte Weibsbild. Sie hat mich nie leiden können.«
Der Fremde sagte leise: »Es ist schrecklich.«
Wieder war Mr. Tench überrascht. Der Mann vor ihm saß da wie ein schwarzes Fragezeichen, bereit zu gehen, bereit zu bleiben, auf seinem Sessel schwebend. Er machte einen schlechten Eindruck mit seinen grauen, drei Tage alten Bartstoppeln, einen schwächlichen, wie einer, der sich herumbefehlen ließ. Er sagte: »Ich meine die Welt. Wie es zugeht. «
»Trinken Sie Ihren Schnaps aus!«
Er nippte daran, als beginge er eine Sünde. Er sagte: »Können Sie sich an diesen Ort erinnern, bevor - bevor die Rothemden gekommen sind?«
»Ich glaube schon.«
»Schön war es damals.«
»Wirklich? Ist mir nicht aufgefallen.«
»Sie hatten jedenfalls - Gott.«
»Bei den Zähnen macht das keinen Unterschied«, meinte Mr. Tench. Er goß sich noch mehr vom Schnaps des Fremden ein. »Es war hier immer schrecklich. So einsam. Mein Gott. Die Leute daheim glauben, es ist romantisch. Ich dachte, ich bleibe fünf Jahre und dann gehe ich. Es gab reichlich zu tun, lauter Goldzähne. Aber dann ist der Peso gefallen. Und jetzt kann ich nicht fort. Doch der Tag wird kommen«, sagte er. »Ich werde mich zur Ruhe setzen. Heimfahren. Und so leben, wie ein Gentleman leben sollte. Dies« - er zeigte auf das kahle, ebenerdige Zimmer -, »dies alles will ich vergessen. Oh, lange wird's nicht mehr dauern. Ich bin ein Optimist«, sagte Mr. Tench.
»Wie lange braucht sie denn nach Veracruz?« fragte unvermittelt der Fremde.
»Wer?«
»Die >General Obregon<.«
Mr. Tench entgegnete mürrisch: »In vierzig Stunden könnten wir dort sein. Die Diligencia! Ein gutes Hotel! Tanzlokale gibt es auch. Eine fidele Stadt!«
»Es kommt einem gar nicht weit vor«, sagte der Fremde. »Was würde denn eine Fahrkarte kosten?« »Das müssen Sie Lopez fragen«, meinte Mr. Tench. »Er ist der Beamte.«
»Aber Lopez ... «
»Richtig, das habe ich ganz vergessen. Den haben sie erschossen.«
Es klopfte an die Tür. Der Fremde schob rasch die Aktentasche unter seinen Stuhl, und Mr. Tench ging vorsichtig zum Fenster. »Man kann nicht genug aufpassen«, sagte er. »Jeder Zahnarzt, der diese Bezeichnung wert ist, hat Feinde.«
Eine leise Stimme beschwor sie: »Ein Freund.« Mr. Tench öffnete. Sofort schoß die Sonne herein wie eine glühende Stange.
Ein Junge stand am Toreingang und fragte nach einem Doktor. Er trug einen breiten Hut und hatte stumpfsinnige braune Augen. Hinter ihm stampften zwei Maultiere und schnaubten auf der heißen Straße. Mr. Tench erklärte, er sei kein Doktor, er sei Zahnarzt. Er drehte sich um und sah, wie der Fremde sich im Schaukelstuhl krümmte und ihn flehend wie ein Betender ansah ... Der Junge erklärte, es sei ein neuer Doktor in der Stadt. Der alte hatte Fieber und stand nicht auf. Die Mutter war krank.
Dunkel erinnerte sich Mr. Tench an etwas. Lauernd sagte er: »Sie sind doch Arzt, nicht?«
»Nein, nein, ich muß aufs Schiff.«
»Ich dachte, Sie wollen ...«
»Ich hab's mir überlegt.«
»Aber es dauert noch Stunden, bis das Schiff ablegt«, sagte Mr. Tench. »Sie sind nie pünktlich.« Er fragte das Kind, wie weit es sei. Sechs Meilen, war die Antwort. »Das ist zu weit«, meinte Mr. Tench. »Geh und such dir jemand anderen.« Zu dem Fremden sagte er: »Wie sich alles herumspricht. Jeder weiß schon, daß Sie in der Stadt sind. «
»Ich könnte gar nichts ausrichten«, entgegnete der Fremde ängstlich, er schien Mr. Tench demütig um Rat zu fragen.
»Geh weg«, befahl Mr. Tench. Der Junge rührte sich nicht. Er stand im harten Sonnenlicht und blickte mit unendlicher Geduld vor sich hin. Seine Mutter läge im Sterben, sagte er. Die braunen Augen zeigten keinen Schmerz; es war eine Tatsache. Man kam zur Welt, die Eltern starben, man wurde alt und starb selbst.
»Wenn sie im Sterben liegt«, sagte Mr. Tench, »kann ein Arzt auch nicht mehr helfen.«
Aber der Fremde war aufgestanden, als ob er gegen seinen Willen eine Gelegenheit wahrzunehmen hätte, die er nicht versäumen durfte. Traurig sagte er: »So geht es mir immer. Genau so.«
»Sie müssen sich dranhalten, wenn Sie das Schiff nicht versäumen wollen.«
»Ich werde es versäumen«, sagte er. »Es ist mir bestimmt, daß ich es versäume.« Ein kaum merklicher Zorn ließ ihn zittern. »Geben Sie mir meinen Schnaps.« Er nahm einen langen Schluck, während er auf das geduldige Kind blickte, auf die ausgedörrte Straße, die Geier, die sich am Himmel wie Pickel ausnahmen.
»Aber wenn sie ohnehin im Sterben liegt ... «, meinte Mr. Tench. »Ich kenne die Leute. Sie liegt so wenig im Sterben wie ich. «
»Sie können nicht helfen.«
Der Junge stand da, als ginge ihn das alles nichts an. Der Wortwechsel in der fremden Sprache da drinnen war wie etwas Wesenloses; es betraf nicht ihn. Er stand hier bloß und wartete auf den Arzt.
»Was wissen Sie schon«, sagte der Fremde heftig. »Das sagt jeder überall und immer - man kann nicht helfen.« Der Schnaps stieg ihm zu Kopf. Er rief mit ungeheurer Verbitterung: »Ich höre sie das auf der ganzen Welt sagen. «
»Nun«, meinte Mr. Tench, »es gibt noch andere Schiffe. In zwei Wochen oder drei. Sie haben es gut, Sie können weg. Sie haben Ihr Kapital nicht hier.« Er dachte an sein Kapital: den japanischen Bohrer, den Behandlungsstuhl, die Spirituslampe, die Zangen und den kleinen Schmelzofen für die Goldfüllungen; eine Investition in das Land.
» Vamos«, sagte der Mann zu dem Kind. Er wandte sich um zu Mr. Tench und bedankte sich für die Erholung im Schatten. Er hatte jene Zwergenwürde, die Mr. Tench gut kannte - die Würde von Leuten, die sich vor ein bißchen Schmerzen fürchteten und sich dennoch mit einiger Haltung auf seinen Stuhl setzten. Vielleicht ritt er nicht gern auf dem Maultier. »Ich werde für Sie beten «, sagte er; es wirkte verstaubt.
»Hat mich gefreut«, entgegnete Mr. Tench. Der Mann stieg auf das Maultier, und der Junge führte ihn an, sehr langsam bewegten sie sich im grellen Glast auf den Sumpf zu, ins Innere des Landes. Eben von dort: war der Mann heute gekommen, um sich die »Obregon« anzusehen. jetzt ritt er wieder zurück. Er schwankte leicht im Sattel, es war die Wirkung des Alkohols. Bald war er nur mehr eine winzige, enttäuschte Gestalt am Ende der Straße.
Copyright © 3. Auflage Februar 2006 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de
Er sagte »Buenos dias« zu einem Mann mit Gewehr, der in dem schmalen Schatten an die Wand gelehnt saß. Aber es war nicht wie in England. Der Mann entgegnete gar nichts, er starrte nur böswillig zu Mr. Tench hoch, als hätte er mit dem Ausländer nie etwas gehabt, als wäre Mr. Tench nicht verantwortlich für seine zwei goldenen vorderen Backenzähne. Schwitzend ging Mr. Tench weiter, vorüber am Finanzamt, das früher eine Kirche war, auf den Kai zu. Auf halbem Weg vergaß er plötzlich, wozu er ausgegangen war. Ein Glas Mineralwasser vielleicht? Das war alles, was es in diesem Staat zu trinken gab seit der Prohibition - ausgenommen Bier, aber das stand unter Regierungsmonopol und war, falls es keinen besonderen Anlaß gab, zu teuer. Eine quälende Übelkeit breitete sich in Mr. Tenchs Magen aus - nein, Mineralwasser war es wohl nicht gewesen, was er wollte. Natürlich, Ätherzylinder ... das Schiff war angekommen. Er hatte den jauchzenden Pfiff von seinem Bett aus gehört, als er sich nach dem Lunch etwas hingelegt hatte. Er ging am Friseur vorbei, an einer Zahnarztordination und vorbei an einem Lagerhaus und dem Zollamt und kam an das Flußufer.
Der Fluß strömte träge dem Meer zu, umsäumt von Bananenplantagen. Die »General Obregon« war am Ufer vertäut, Bier wurde abgeladen - hundert Kisten lagen bereits aufgestapelt am Kai. Mr. Tench stand im Schatten des Zollhauses und dachte: Weshalb bin ich hier? Das Gedächtnis zerfloß ihm in der Hitze. Er räusperte sich und spuckte verloren in die Sonne. Dann setzte er sich auf eine Kiste und wartete. Er hatte nichts zu tun. Vor fünf Uhr kam kein Patient.
Die »General Obregon« war etwa dreißig Meter lang. Einige Fuß Reling waren beschädigt, es hatte ein einziges Rettungsboot, der Zug an der Glocke war verwittert, am Bug hing eine Petroleumlampe; das Schiff sah aus, als könnte es noch zwei, drei Jahre dem Ozean standhalten - falls es im Golf nicht in einen Nordsturm geriet. Das wäre natürlich sein Ende. Es machte weiter nichts; denn jeder war automatisch versichert, der sich ein Billett kaufte. Einige Passagiere lehnten über die Reling, mitten unter den Truthähnen mit den zusammengebundenen Beinen, und starrten auf den Hafen: auf das Lagerhaus, die leere, heiß gebackene Straße mit den beiden Zahnarztpraxen und dem Friseur.
Mr. Tench hörte in seinem Rücken das Knacken eines Pistolenhalfters und drehte sich um. Ein Zollbeamter sah ihn böse an. Er sagte etwas, das Mr. Tench nicht verstand. »Wie bitte?« fragte Mr. Tench.
»Meine Zähne«, murmelte der Zollbeamte undeutlich.
»Oh«, sagte Mr. Tench, »natürlich, Ihre Zähne.« Der Mann hatte keine, deshalb konnte er auch nicht klar spre chen. Mr. Tench hatte sie ihm alle gezogen. Wieder wurde ihm übel - etwas war nicht in Ordnung mit ihm - Würmer, Dysenterie ... Er sagte: »Das Gebiß ist fast fertig. Heute abend«, versprach er hastig. Nun war das ganz unmöglich; aber so lebte man eben, man schob alles hinaus. Der Mann war beruhigt; vielleicht vergaß er es, und schließlich, was konnte er machen? Er hatte im voraus bezahlt. Das war für Mr. Tench der ganze Inhalt seines Lebens: Hitze und Vergessen, auf morgen verschieben, womöglich Barzahlung - und wofür? Er blickte hinaus über den behäbigen Fluß; an der Mündung bewegte sich wie ein Periskop die Finne eines Haifischs. Im Laufe der Jahre waren mehrere Schiffe gestrandet, sie halfen jetzt, das Ufer abzustützen. Die Schornsteine, schräg wie Kanonen, zielten irgendwohin in die Ferne, über Bananenbäume und Sümpfe.
Mr. Tench dachte: Ätherzylinder - fast hätte ich es vergessen. Der Mund blieb ihm offen, und mürrisch begann er die Flaschen zu zählen. Cerveza Montezuma. Hundertvierzig Kisten. - Zwölfmal hundertvierzig. Dikker Schleim sammelte sich in seinem Mund: Viermal zwölf ist achtundvierzig. Laut sagte er auf englisch: »Mein Gott, die ist hübsch. Zwölfhundert, sechzehnhundertachtzig. « Er spuckte aus und starrte mit vagem Interesse ein Mädchen an, das am Bug der »General Obregon« stand - eine schöne, schlanke Gestalt, hier waren alle so dick, mit braunen Augen natürlich, und dem unvermeidlich blitzenden Goldzahn, aber eine, die frisch und jung war ... Sechzehnhundertachtzig Flaschen zu einem Peso die Flasche.
Jemand flüsterte auf englisch: »Was haben Sie gesagt?«
Mr. Tench schnellte herum. »Sie sind Engländer?« rief er erstaunt, aber beim Anblick des runden, hohlen Gesichts voller Bartstoppeln änderte er seine Frage:
»Sie sprechen Englisch?«
Ja, der Mann sprach Englisch. Er stand steif im Schatten, ein kleiner Mann in einem schäbigen dunklen Anzug, er trug eine kleine Aktentasche. Er hatte ein Buch unter dem Arm; eine Liebesszene leuchtete in grellen Farben vom Einband. Er sagte: »Entschuldigen Sie, ich dachte nur vorhin, Sie sagten etwas zu mir.« Er hatte vorquellende Augen und machte den Eindruck unsicherer Heiterkeit, als hätte er einen Geburtstag gefeiert ... aber allein. Mr. Tench räusperte sich. »Was habe ich denn gesagt?« Er konnte sich an nichts erinnern.
»Sie sagten, >Mein Gott, die ist hübsch>.»
»Was kann ich nur damit gemeint haben?«
Er starrte in den gnadenlosen Himmel. Ein Geier stand oben wie auf der Lauer.
»Wie? Oh, richtig, das Mädchen, nehme ich an. Man sieht nicht oft was Hübsches hier. Zwei im Jahr höchstens, die der Mühe wert sind.«
»Sie ist sehr jung.«
»Oh, ich hab' keine Absichten. « Mr. Tench sagte es müde. »Man schaut ja nur. Ich lebe seit fünfzehn Jahren allein.«
»Hier?«
»Hier in der Nähe. «
Sie verstummten. Die Zeit verging, der Schatten des Zollhauses bewegte sich ein wenig dem Fluß zu. Der Geier bewegte sich etwas, wie der schwarze Zeiger einer Uhr.
»Sind Sie mit dem Schiff gekommen?« fragte Mr. Tench.
»Nein.«
»Gehen Sie an Bord?«
Der kleine Mann schien der Frage auszuweichen, doch
dann, als wäre er eine Erklärung schuldig, sagte er: »Ich hab' nur geschaut. Fährt sicher bald ab.» »Nach Vera Cruz«, sagte Mr. Tench. »In ein paar Stunden. «
»Ohne zwischendurch anzulegen?«
»Wo denn?« Er fragte: »Wie sind Sie hergekommen?«
Der Fremde sagte unbestimmt: »Mit einem Kanu.«
»Sie sind Pflanzer, was?«
»Nein. «
»Es tut gut, Englisch zu hören«, sagte Mr. Tench. »Sie haben Ihres wohl in den Staaten gelernt?«
Der Mann nickte. Er war nicht sehr redselig.
»Was gäbe ich darum«, meinte Mr. Tench, »jetzt dort zu sein.« Er senkte ängstlich die Stimme: »Haben Sie da am Ende gar etwas zu trinken in Ihrer Tasche? Manche von euch dort drüben.. . ich hab' ein oder zwei gekannt.. . ein wenig für medizinische Zwecke.«
»Nur Medizin«, sagte der Mann.
»Sie sind Arzt?«
Die blutunterlaufenen Augen blickten listig aus den Winkeln auf Mr. Tench. »Sie würden mich vielleicht einen - Quacksalber nennen?« »Medikamentenmuster? Leben und leben lassen«, sagte Mr. Tench.
»Fahren Sie denn weg?«
»Nein, ich bin hier wegen - wegen ... ach was, ist ja egal.« Er legte die Hand auf den Magen und sagte: »Sie haben keine Medizin für mich, wie? Teufel noch mal! Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Dieses verdammte Land! Von dem können Sie mich nicht heilen. Niemand kann das.«
»Sie möchten gern nach Hause zurück?«
»Nach Hause?« sagte Mr. Tench. »Mein Zuhause ist hier. Wissen Sie, wie der Peso in Mexiko-City steht? Vier auf den Dollar. Vier. 0 Gott! Ora pro nobis!«
»Sind Sie Katholik?«
»Nein, nein, das ist nur so eine Redewendung. Ich glaube an gar nichts.« Und unvermittelt fügte er hinzu: »Es ist wirklich zu heiß.«
»Ich glaube, ich muß mich ein bißchen ausruhen.«
»Kommen Sie zu mir«, meinte Mr. Tench. »Ich habe eine zweite Hängematte. Das Schiff geht noch lange nicht ab - falls Sie sehen wollen, wie es wegfährt.«
Der Fremde sagte: »Ich soll hier jemanden aufsuchen. Lopez heißt er. «
»Oh, den haben sie schon vor Wochen erschossen.><
»Tot?«
»Sie wissen ja, wie es hier zugeht. Ein Freund von Ihnen? « »Nein, nein«, wandte der Mann hastig ein. »Nur der Freund eines Freundes.«
»Ja, so ist es«, sagte Mr. Tench. Er räusperte sich und spuckte in den harten Sonnenschein. »Er soll ... nun, unerwünschten Elementen ... also, zur Flucht verholfen haben. Sein Mädchen lebt jetzt mit dem Polizeichef.«
»Sein Mädchen? Meinen Sie seine Tochter?«
»Er war nicht verheiratet. Ich meine das Mädchen, mit dem er gelebt hat.» Mr. Tench war einen Augenblick überrascht über die Veränderung im Gesicht des Fremden. Er wiederholte: »Ja, so ist es.« Er schaute hinüber zur »General Obregon«. »Sie ist ein netter Käfer. In zwei Jahren wird sie natürlich wie alle sein. Fett und blöd. 0 Gott, wenn es nur etwas zu trinken gäbe! Ora pro nobis. «
»Ich habe etwas Schnaps«, sagte der Fremde.
Mr. Tench musterte ihn scharf. »Wo?«
Der abgezehrte Mann legte die Hand an die Hüfte - als weise er auf die Quelle seiner sonderbar überreizten Heiterkeit. Mr. Tench packte ihn am Handgelenk. »Achtung «, sagte er. »Nicht hier.« Er blickte auf einen schattigen Fleck am Boden. Ein Wachtposten saß schlafend auf einer leeren Kiste, das Gewehr neben sich. »Gehen wir zu mir«, sagte Mr. Tench.
»Ich hätte gern gesehen, wie sie abfährt«, meinte der kleine Mann zögernd.
»Das dauert noch Stunden«, versicherte ihm Mr. Tench.
»Stunden? Wissen Sie das bestimmt? Es ist sehr heiß in der Sonne.«
»Sie gehen besser mit mir heim.«
Heimgehen: Es war eine Phrase, damit meinte man vier Wände, hinter denen man schlief. Ein Heim hatte es hier nie gegeben. Sie bewegten sich über die kleine, ausgedörrte Plaza, wo der tote General sich in der Feuchtigkeit grün überzog und unter den Palmen die Mineralwasserbuden standen. Ein Heim, das war wie eine Ansichtskarte unter einem Haufen anderer Postkarten. Man mischte das Paket und hatte Nottingham, ein Geburtshaus drüben, ein Intermezzo in Southend. Mr. Tenchs Vater war auch Zahnarzt gewesen - seine erste Kindheitserinnerung war ein ausrangierter Guß, den er in einem Papierkorb gefunden hatte - das grobe, zahnlose, klaffende Maul aus Lehm, wie eine Ausgrabung in Dorset - ein Neandertaler oder Pithecanthropus. Es war sein liebstes Spielzeug gewesen. Sie versuchten ihn durch Meccano abzulenken, aber sein Schicksal war entschieden. Es ist immer nur ein Augenblick in der Kindheit, in dem sich die Tore öffnen und die Zukunft einlassen. Der heiße, feuchte Hafen am Fluß und die Geier lagen im Papierkorb, und er griff sie heraus. Wir sollten dankbar sein, daß wir die Schrecken und Erniedrigungen nicht sehen können, die unsere Kindheit umgaben, in Geschirrschränken und auf Bücherborden, überall.
Pflaster gibt es nicht; während der Regenzeit versank das Dorf (es war wirklich nicht mehr als ein Dorf) im Sumpf. Jetzt freilich war der Boden hart wie Stein unter den Füßen. Die beiden Männer gingen schweigend vorüber an Friseur und Zahnarzt; die Geier auf den Dächern wirkten zufrieden wie Hausgeflügel, sie suchten in weiten, staubigen Flügeln nach Ungeziefer. Mr. Tench sagte: »Hier, bitte« und hielt vor einem kleinen Holzhaus, einstöckig, mit einer Veranda, auf der eine Hängematte schaukelte. Die Hütte war etwas größer als die anderen in der engen Straße, die sich in einiger Entfernung im Sumpf verlief. Er sagte unruhig: »Möchten Sie sich umsehen? Ich will nicht prahlen, aber ich bin der beste Zahnarzt hier. Es ist kein schlechter Ort. Nicht schlechter als andere. « Stolz zitterte seine Stimme wie eine Pflanze mit zu flachen Wurzeln.
Er sperrte die Tür hinter sich ab und führte den Gast durch ein Eßzimmer, wo zwei Schaukelstühle zu beiden Seiten eines blanken Tisches standen: Es gab hier eine Petroleumlampe, ein Büffet, alte amerikanische Zeitungen. Er sagte: »Ich bringe gleich die Gläser, aber erst will ich es Ihnen zeigen - Sie verstehen etwas davon ...« Das Ordinationszimmer ging auf einen Hof, in dem etliche Truthähne in schäbiger, unruhiger Pracht stolzierten; man sah eine Bohrmaschine, die durch ein Pedal betätigt wurde, einen Zahnarztstuhl mit schwerem, grellrotem Plüsch überzogen, eine Vitrine, in der die Instrumente etwas verstaubt durcheinanderlagen. Eine Zange stand in einer Schale, eine zerbrochene Spirituslampe war in die Ecke geschoben, und Wattebäusche lagen auf sämtlichen Regalen.
»Sehr schön«, bemerkte der Fremde.
»Nicht schlecht, was?« sagte Mr. Tench. »Für diese Stadt. Von den Schwierigkeiten machen Sie sich keinen Begriff. Dieser Bohrer«, fuhr er bitter fort, »ist aus Japan. Ich hab' ihn erst seit einem Monat, und er ist schon abgenutzt. Ich kann mir aber die amerikanischen nicht leisten. «
»Das Fenster«, sagte der Fremde, »ist sehr schön.« Eine bemalte Fensterscheibe war eingelassen. Eine Madonna blickte durchs Moskitonetz auf die Truthähne im Hof. »Ich bekam sie, als sie die Kirche plünderten«, erklärte Mr. Tench. »In das Behandlungszimmer eines Zahnarztes gehören bemalte Fensterscheiben. Sonst sieht es nicht zivilisiert aus. Daheim, in England meine ich, hat man gewöhnlich den lachenden Kavalier, ich weiß wirklich nicht, warum - oder eine Tudor-Rose. Nun, man darf nicht zu pingelig sein.«
Er öffnete eine zweite Tür und sagte: »Mein Arbeitsraum. « Zuallererst sah man ein Bett unter einem Moskitonetz. Mr. Tench erklärte: »Sie müssen verstehen - Raummangel.« Eine Kanne mit Becken stand an einem Ende einer Werkbank, daneben eine Seifenschüssel; auf der anderen Seite war ein Lötrohr, ein Tablett mit Sand, eine Zange, ein kleiner Schmelzofen. »Ich gieße mit Sand«, sagte Mr. Tench. »Was bleibt mir sonst übrig hier?« Er hob den Abguß eines Unterkiefers auf. »Man kriegt sie nicht immer genau hin, und sie beschweren sich natürlich.« Er legte ihn nieder und deutete auf einen anderen Gegenstand auf der Bank - etwas Faseriges und Klebriges, sah wie Eingeweide aus, mit zwei kleinen Blasen aus Gummi. »Eine kongenitale Spaltung«, sagte er. »Ich versuche es zum erstenmal. Der Kingsley-Abguß. Ich weiß nicht, ob er gelingen wird. Aber der Mensch muß auf dem laufenden bleiben.« Der Mund blieb ihm offen; sein Blick wurde wieder leer; die Hitze in dem kleinen Raum war unerträglich. Er stand dort wie ein Mann, der sich in einer Höhle verirrt hat, inmitten von Fossilien und Instrumenten einer Zeit, von der er fast nichts wußte. Der Fremde sagte: »Wollen wir uns nicht setzen?«
Mr. Tench starrte ihn verständnislos an.
»Wir könnten den Schnaps aufmachen.«
»Ja, richtig, den Schnaps.«
Mr. Tench holte zwei Gläser aus einem Regal unter der Bank und wischte die Spuren von Sand ab. Dann gingen sie ins Speisezimmer und setzten sich in die Schaukelstühle. Mr. Tench goß ein.
»Wasser?« fragte der Fremde.
»Das Wasser ist schlecht«, sagte Mr. Tench. »Ich spüre es hier.« Er legte die Hand an den Magen und nahm einen langen Schluck. »Sie sehen aber auch nicht sehr gut aus«, sagte er. Er sah genauer hin. »Ihre Zähne.« Ein Eckzahn fehlte, und die Vorderzähne waren gelb von Zahnstein und kariös. Er sagte: »Man muß seine Zähne pflegen.«
»Wozu?« sagte der Fremde. Behutsam hielt er sein bißchen Schnaps im Glas - wie ein Tier, dem er Obdach gab, aber nicht vertraute. Eingefallen und vernachlässigt wie er war, wirkte der Mann irgendwie geschlagen, mit Rastlosigkeit oder mangelnder Gesundheit. Er saß auf dem äußersten Rand des Schaukelstuhls, seine kleine Aktentasche auf den Knien, den Schnaps von sich gestreckt mit schuldbewußter Zärtlichkeit.
»Trinken Sie aus«, forderte Mr. Tench ihn auf (es war nicht sein Schnaps). »Es wird Ihnen guttun.« Der schwarze Anzug und die hängenden Schultern des Mannes erinnerten ihn unangenehm an einen Sarg, Tod lauerte in dem dunklen, kariösen Mund. Mr. Tench goß sich noch ein Glas ein. Er sagte: »Man fühlt sich mit: der Zeit einsam hier. Es tut wohl, Englisch zu sprechen, selbst zu einem Fremden. Wollen Sie ein Bild von meinen Kindern sehen?« Er zog einen vergilbten Schnappschuß aus seiner Brieftasche und reichte ihn hinüber. Zwei kleine Kinder plagten sich mit dem Henkel einer Gießkanne in einem Hintergarten. »Das war selbstverständlich vor sechzehn Jahren«, sagte er.
»Jetzt sind es junge Männer.«
»Der eine ist gestorben.«
»Nun«, meinte der andere sanft, »immerhin in einem christlichen Land. « Er nahm einen Schluck und lächelte Mr. Tench etwas einfältig an.
»Ich glaube schon.« Mr. Tench war überrascht. Er räusperte sich und sagte: »Mir ist dieser Punkt übrigens ziemlich gleichgültig.« Er schwieg, seine Gedanken schweiften fort; sein Mund stand wieder offen, er sah grau und abwesend aus, bis seine Magenschmerzen ihn zurückriefen und er zum Schnaps griff. »Warten Sie, worüber haben wir denn gesprochen? Ah, ja, die Kinder ... richtig, die Kinder. Komisch, an was man sich erinnert. Zum Beispiel weiß ich mehr über die Gießkanne als über die Kinder. Sie hat drei Shilling elf Pence drei Farthings gekostet, sie war grün. Ich könnte Ihnen noch heute das Geschäft zeigen, wo ich sie gekauft habe. Aber die Kinder«, er sann über sein Glas gebeugt nach, »ich kann mich nicht an viel mehr erinnern, als daß sie immer geweint haben.«
»Bekommen Sie Nachrichten?«
»Ich habe ihnen schon nicht mehr geschrieben, bevor ich noch herkam. Wozu auch? Ich konnte ihnen kein Geld schicken. Es würde mich nicht überraschen, wenn meine Frau wieder geheiratet hätte. Ihrer Mutter wäre es nur recht - das bissige alte Weibsbild. Sie hat mich nie leiden können.«
Der Fremde sagte leise: »Es ist schrecklich.«
Wieder war Mr. Tench überrascht. Der Mann vor ihm saß da wie ein schwarzes Fragezeichen, bereit zu gehen, bereit zu bleiben, auf seinem Sessel schwebend. Er machte einen schlechten Eindruck mit seinen grauen, drei Tage alten Bartstoppeln, einen schwächlichen, wie einer, der sich herumbefehlen ließ. Er sagte: »Ich meine die Welt. Wie es zugeht. «
»Trinken Sie Ihren Schnaps aus!«
Er nippte daran, als beginge er eine Sünde. Er sagte: »Können Sie sich an diesen Ort erinnern, bevor - bevor die Rothemden gekommen sind?«
»Ich glaube schon.«
»Schön war es damals.«
»Wirklich? Ist mir nicht aufgefallen.«
»Sie hatten jedenfalls - Gott.«
»Bei den Zähnen macht das keinen Unterschied«, meinte Mr. Tench. Er goß sich noch mehr vom Schnaps des Fremden ein. »Es war hier immer schrecklich. So einsam. Mein Gott. Die Leute daheim glauben, es ist romantisch. Ich dachte, ich bleibe fünf Jahre und dann gehe ich. Es gab reichlich zu tun, lauter Goldzähne. Aber dann ist der Peso gefallen. Und jetzt kann ich nicht fort. Doch der Tag wird kommen«, sagte er. »Ich werde mich zur Ruhe setzen. Heimfahren. Und so leben, wie ein Gentleman leben sollte. Dies« - er zeigte auf das kahle, ebenerdige Zimmer -, »dies alles will ich vergessen. Oh, lange wird's nicht mehr dauern. Ich bin ein Optimist«, sagte Mr. Tench.
»Wie lange braucht sie denn nach Veracruz?« fragte unvermittelt der Fremde.
»Wer?«
»Die >General Obregon<.«
Mr. Tench entgegnete mürrisch: »In vierzig Stunden könnten wir dort sein. Die Diligencia! Ein gutes Hotel! Tanzlokale gibt es auch. Eine fidele Stadt!«
»Es kommt einem gar nicht weit vor«, sagte der Fremde. »Was würde denn eine Fahrkarte kosten?« »Das müssen Sie Lopez fragen«, meinte Mr. Tench. »Er ist der Beamte.«
»Aber Lopez ... «
»Richtig, das habe ich ganz vergessen. Den haben sie erschossen.«
Es klopfte an die Tür. Der Fremde schob rasch die Aktentasche unter seinen Stuhl, und Mr. Tench ging vorsichtig zum Fenster. »Man kann nicht genug aufpassen«, sagte er. »Jeder Zahnarzt, der diese Bezeichnung wert ist, hat Feinde.«
Eine leise Stimme beschwor sie: »Ein Freund.« Mr. Tench öffnete. Sofort schoß die Sonne herein wie eine glühende Stange.
Ein Junge stand am Toreingang und fragte nach einem Doktor. Er trug einen breiten Hut und hatte stumpfsinnige braune Augen. Hinter ihm stampften zwei Maultiere und schnaubten auf der heißen Straße. Mr. Tench erklärte, er sei kein Doktor, er sei Zahnarzt. Er drehte sich um und sah, wie der Fremde sich im Schaukelstuhl krümmte und ihn flehend wie ein Betender ansah ... Der Junge erklärte, es sei ein neuer Doktor in der Stadt. Der alte hatte Fieber und stand nicht auf. Die Mutter war krank.
Dunkel erinnerte sich Mr. Tench an etwas. Lauernd sagte er: »Sie sind doch Arzt, nicht?«
»Nein, nein, ich muß aufs Schiff.«
»Ich dachte, Sie wollen ...«
»Ich hab's mir überlegt.«
»Aber es dauert noch Stunden, bis das Schiff ablegt«, sagte Mr. Tench. »Sie sind nie pünktlich.« Er fragte das Kind, wie weit es sei. Sechs Meilen, war die Antwort. »Das ist zu weit«, meinte Mr. Tench. »Geh und such dir jemand anderen.« Zu dem Fremden sagte er: »Wie sich alles herumspricht. Jeder weiß schon, daß Sie in der Stadt sind. «
»Ich könnte gar nichts ausrichten«, entgegnete der Fremde ängstlich, er schien Mr. Tench demütig um Rat zu fragen.
»Geh weg«, befahl Mr. Tench. Der Junge rührte sich nicht. Er stand im harten Sonnenlicht und blickte mit unendlicher Geduld vor sich hin. Seine Mutter läge im Sterben, sagte er. Die braunen Augen zeigten keinen Schmerz; es war eine Tatsache. Man kam zur Welt, die Eltern starben, man wurde alt und starb selbst.
»Wenn sie im Sterben liegt«, sagte Mr. Tench, »kann ein Arzt auch nicht mehr helfen.«
Aber der Fremde war aufgestanden, als ob er gegen seinen Willen eine Gelegenheit wahrzunehmen hätte, die er nicht versäumen durfte. Traurig sagte er: »So geht es mir immer. Genau so.«
»Sie müssen sich dranhalten, wenn Sie das Schiff nicht versäumen wollen.«
»Ich werde es versäumen«, sagte er. »Es ist mir bestimmt, daß ich es versäume.« Ein kaum merklicher Zorn ließ ihn zittern. »Geben Sie mir meinen Schnaps.« Er nahm einen langen Schluck, während er auf das geduldige Kind blickte, auf die ausgedörrte Straße, die Geier, die sich am Himmel wie Pickel ausnahmen.
»Aber wenn sie ohnehin im Sterben liegt ... «, meinte Mr. Tench. »Ich kenne die Leute. Sie liegt so wenig im Sterben wie ich. «
»Sie können nicht helfen.«
Der Junge stand da, als ginge ihn das alles nichts an. Der Wortwechsel in der fremden Sprache da drinnen war wie etwas Wesenloses; es betraf nicht ihn. Er stand hier bloß und wartete auf den Arzt.
»Was wissen Sie schon«, sagte der Fremde heftig. »Das sagt jeder überall und immer - man kann nicht helfen.« Der Schnaps stieg ihm zu Kopf. Er rief mit ungeheurer Verbitterung: »Ich höre sie das auf der ganzen Welt sagen. «
»Nun«, meinte Mr. Tench, »es gibt noch andere Schiffe. In zwei Wochen oder drei. Sie haben es gut, Sie können weg. Sie haben Ihr Kapital nicht hier.« Er dachte an sein Kapital: den japanischen Bohrer, den Behandlungsstuhl, die Spirituslampe, die Zangen und den kleinen Schmelzofen für die Goldfüllungen; eine Investition in das Land.
» Vamos«, sagte der Mann zu dem Kind. Er wandte sich um zu Mr. Tench und bedankte sich für die Erholung im Schatten. Er hatte jene Zwergenwürde, die Mr. Tench gut kannte - die Würde von Leuten, die sich vor ein bißchen Schmerzen fürchteten und sich dennoch mit einiger Haltung auf seinen Stuhl setzten. Vielleicht ritt er nicht gern auf dem Maultier. »Ich werde für Sie beten «, sagte er; es wirkte verstaubt.
»Hat mich gefreut«, entgegnete Mr. Tench. Der Mann stieg auf das Maultier, und der Junge führte ihn an, sehr langsam bewegten sie sich im grellen Glast auf den Sumpf zu, ins Innere des Landes. Eben von dort: war der Mann heute gekommen, um sich die »Obregon« anzusehen. jetzt ritt er wieder zurück. Er schwankte leicht im Sattel, es war die Wirkung des Alkohols. Bald war er nur mehr eine winzige, enttäuschte Gestalt am Ende der Straße.
Copyright © 3. Auflage Februar 2006 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de
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Autoren-Porträt von Graham Greene
Greene, GrahamGraham Greene wurde am 2. Oktober 1904 in Berkhampstead, Hertfordshire, geboren. Sein Grossonkel war der Autor der 'Schatzinsel', Robert Louis Stevenson. Da Greene der Sohn des örtlichen Schuldirektors war, behandelten seine Mitschüler ihn als Aussenseiter. Er entwickelte einen Hang zum Einzelgängertum, gegen den auch seine beiden Brüder nichts tun konnten. Nach Beendigung der Schule ging Greene nach Oxford und studierte am Balliol College Neuere Geschichte. Seine erste Anstellung war ein Redakteursposten bei der Times in London, danach fand er eine Stelle als Filmkritiker beim Spectator. Die grossen Reisen, die er unternahm - u.a. nach Westafrika und Asien - wurden auch zum Fundus für seine schriftstellerische Tätigkeit. Ein entscheidender Schritt war 1934 sein Übertritt zum Katholizismus. Sein erster Roman, 'The Man Within' (1929, dt. 'Zwiespalt der Seele'), beschreibt bereits den Konflikt zwischen Gut und Böse, der im Zentrum von Graham Greenes Werk steht. Manfindet ihn in den Kriminalgeschichten wie in den psychologisch ausgerichteten Romanen. Als 1940 'The Power and the Glory' (dt. 'Die Kraft und die Herrlichkeit') erschien, erhielt Greene dafür den Hawthorne-Preis. Viele halten es für sein vielleicht bestes Werk. Zweimal leitete er Verlage, Mitte der vierziger Jahre Eyre & Spottiswoode und Anfang der sechziger Jahre Bodley Head. Am 3. April 1991 starb Graham Greene in Genf. Er wurde mehrmals als heisser Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gehandelt und zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts.
Bibliographische Angaben
- Autor: Graham Greene
- 2003, 2. Aufl., 274 Seiten, Masse: 12,1 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Springer, Käthe; Magd, Veza
- Übersetzer: Veza Magd, Käthe Springer
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423131543
- ISBN-13: 9783423131544
- Erscheinungsdatum: 01.12.2003
Rezension zu „Die Kraft und die Herrlichkeit “
»Mühelos macht Greene auch Nichtgläubige zu mitfiebernden Lesern.«getabstract.com September 2012
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