Die dunklen Wasser des Todes
Roman
Konstantinopel 1273: In der Zisterne wird ein Adliger ermordet. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Doch dessen Schwester Anne glaubt fest an seine Unschuld. Als Eunuch verkleidet sucht Anne nach der Wahrheit.
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Produktinformationen zu „Die dunklen Wasser des Todes “
Konstantinopel 1273: In der Zisterne wird ein Adliger ermordet. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Doch dessen Schwester Anne glaubt fest an seine Unschuld. Als Eunuch verkleidet sucht Anne nach der Wahrheit.
Klappentext zu „Die dunklen Wasser des Todes “
Ein geheimnisvoller Mord - eine mutige Heilerin - eine untergehende WeltKonstantinopel 1273: Ein hoher Adeliger wird in der städtischen Zisterne ermordet. Schnell ist ein Verdächtiger gefunden. Doch dessen Schwester Anna kann nicht an seine Schuld glauben. Als Eunuch verkleidet versucht sie die Wahrheit zu ergründen. Schon bald ist sie in ein Intrigengespinst verwoben, das das ganze Weltreich zu Fall bringen soll.
Lese-Probe zu „Die dunklen Wasser des Todes “
Die Dunklen Wasser des Todes von Anne PerryAus dem Englischen von K. Schatzhauser
Prolog
Der junge Mann verharrte auf den Stufen, bis sich seine Augen an die dunklen Schatten gewöhnt hatten. Im Licht der Fackeln, das auf dem Wasser tanzte, wirkten die Gänge der großen Zisterne wie eine versunkene Kathedrale. Nur die oberen Enden der Säulen, auf denen das Deckengewölbe ruhte, waren sichtbar. Außer dem Echo von Tropfen, die irgendwo in der Ferne fielen, hörte man keinen Laut.
Einige Fuß unter ihm stand Bessarion auf der steinernen Plattform dicht am Wasser. Im flackernden Licht der Fackeln war zu erkennen, dass er gut aussah und schwarzes gewelltes Haar hatte. Er schien von der nahezu überirdischen Gelassenheit einer Ikone zu sein und keinerlei Angst zu haben. War sein Glaube wirklich so unerschütterlich?
Der junge Mann fror. Sein Herz schlug heftig, seine Hände waren steif vor Kälte. Gab es denn nicht doch noch eine Möglichkeit, von dem Vorhaben abzulassen? Obwohl er sämtliche Argumente mehrfach durchdacht hatte, war er nach wie vor nicht bereit und würde es auch nie sein. Doch es blieb keine Zeit mehr. Schon am nächsten Vormittag wäre es zu spät.
Er tat einen weiteren Schritt nach unten. Bessarion wandte sich um. Einen flüchtigen Augenblick lang legte sich der Aus druck banger Besorgnis auf seine Züge, doch als er den Näherkommen den erkannte, gewann er sogleich seine Fassung zurück. »Was gibt es?«, fragte er mit leichter Schärfe in der Stimme.
... mehr
»Ich muss mit dir sprechen.« Er stieg die Stufen bis zum Rand des Wassers hinunter und blieb wenige Schritte von Bessarion entfernt stehen. Er zitterte. Seine Hände waren kalt und feucht. Er hätte allen Besitz darum gegeben, nicht tun zu müssen, was es hier zu tun galt.
»Worüber?«, fragte Bessarion ungehalten. »Alles ist, wie es sein soll. Was gibt es da noch zu besprechen?«
»Wir können es nicht tun«, sagte er schlicht.
»Hast du etwa Angst?« Bessarions Gesichtsausdruck ließ sich im flackernden Licht nicht deuten, doch die Festigkeit in seiner Stimme schien absolut. Waren seine Selbstsicherheit und sein Glaube so unerschütterlich, dass er nie schwankte?
»Das hat mit Angst nichts zu tun«, gab der junge Mann zurück. »Angst lässt sich mit heißem Blut besiegen. Aber sofern unser Vorhaben falsch ist, gibt es keine Rechtfertigung dafür.«
»Von falsch kann keine Rede sein«, erklärte Bessarion mit Nachdruck. »Wir verhindern mit einer entschlossenen, raschen Tat das langsame Versinken in geistige Barbarei und den Verfall unseres Glaubens. Darüber haben wir doch schon geredet.«
»Ich spreche nicht von der moralischen Seite. Mir ist durchaus klar, dass es mitunter nötig sein kann, einen zu opfern, um viele zu retten.« Er setzte zu einem Lachen an, brach dann aber ab. Ob Bessarion ahnte, welche Ironie in diesen Worten lag? »Ich gebe zu bedenken, dass wir die Dinge möglicherweise falsch einschätzen.« Er sagte das ungern. »Michael ist der richtige Mann - du bist es nicht. Wenn wir überleben wollen, sind wir auf seine Fähigkeiten angewiesen, auf seine Gerissenheit und seine Begabung, günstige Abkommen zu treffen, sich anderer zu bedienen, um unsere Feinde gegeneinander aufzuhetzen.«
Bessarion war wie vor den Kopf geschlagen. Das ließ sich sogar in den tanzenden Schatten auf seinen Zügen und an der Art erkennen, wie er den Kopf hielt.
»Verräter!«, stieß er ungläubig hervor. »Und was ist mit der Kirche? Würdest du auch Gott verraten?«
Die Dinge standen so schlimm, wie der junge Mann befürchtet hatte. Warum hatte er das nicht schon früher erkannt? Sei ne Zuversicht hatte ihn für diese Möglichkeit blind gemacht, und jetzt blieb ihm keine Wahl. Er selbst eignete sich nicht zur Führerschaft.
Seine Stimme zitterte. »Wir werden die Kirche nicht retten, wenn die Stadt fällt, aber genau dazu würde es kommen, wenn wir morgen unseren Plan ausführten.«
»Judas!«, stieß Bessarion voll Bitterkeit hervor. Er holte wütend aus und strauchelte, als er keinen Widerstand fand.
Es war entsetzlich. Es war, als wenn er sich selbst tötete - doch die Alternative war unvorstellbar schlimmer. Dem jungen Mann blieb keine Zeit nachzudenken. Während ihm die Übelkeit aus dem Magen in die Kehle stieg, stürmte er mit aller Kraft gegen Bessarion an, so dass dieser mit einem überraschten Auf schrei ins Wasser fiel. Der junge Mann sprang ihm nach, nutz te Bessarions Benommenheit und drückte dessen Kopf mit beiden Händen so kräftig er konnte in das kalte, klare Wasser.
Bessarion wehrte sich, versuchte nach oben zu kommen, konnte aber ohne Boden unter den Füßen nichts gegen den Sehnigeren und Stärkeren ausrichten, zumal dieser fest entschlossen war, für das, woran er glaubte, alles zu opfern.
Allmählich erstarben die Geräusche des Wassers, und die Stille der Schatten jenseits der Gänge gewann die Oberhand.
Der junge Mann hockte sich auf die Steine. Er fror, ihm war übel. Aber noch war seine Aufgabe nicht beendet. Er zwang sich aufzustehen. Mit Gliedern, die so sehr schmerzten, als habe man ihn durchgeprügelt, stieg er über die Stufen nach oben. Tränen liefen ihm über das Gesicht.
Kapitel 1
In Gedanken verloren stand Anna Zarides an der steinernen Mo le und sah über das dunkle Wasser des Bosporus zum Leuchtturm von Konstantinopel hinüber. Sein Licht erhellte den Himmel mit einem Strahlenbündel, das sich scharf vor den allmählich blasser werdenden Sternen abzeichnete. Es war ein großartiger Anblick. Sie wartete darauf, dass in der Morgendämmerung die Dächer der Stadt sowie deren herrliche Kirchen, Türme und Paläste sichtbar wurden.
Kalt wehte der Wind vom Wasser landeinwärts. Sie hörte das Zischen und Gurgeln der Wellen, deren Kämme kaum sichtbar waren. In der Ferne trafen auf einer Land- spitze die ersten Strahlen des Tageslichts auf eine hundert, wenn nicht gar zweihundert Fuß hoch aufragende riesige Kuppel. Sie leuchtete in stumpfem Rot, als brenne ein Feuer in ihrem Inneren. Das musste die Hagia Sophia sein - nicht nur die schönste Kirche der Welt, sondern auch die größte, und zugleich Herz und Seele des christlichen Glaubens.
Unverwandt hielt Anna den Blick darauf gerichtet, während das Licht des Tagesgestirns zunahm. Links von der Hagia Sophia erkannte sie vier hohe schlanke Säulen, die wie Nadeln vor dem Horizont emporwuchsen. Das, wusste sie, waren Denkmäler für einige der bedeutendsten Herrscher der Vergangenheit. Dort musste außer dem Kaiserpalast auch die als Hippodrom bekannte Pferderennbahn liegen, doch alles, was sie sehen konnte, waren Schatten. Hier und da erspähte sie weiß schimmern den Marmor, Bäume und die endlose Abfolge von Dächern einer Stadt, die größer war als Rom, Alexandria, Jerusalem oder Athen.
Inzwischen ließ sich der schmale Wasserstreifen des Bosporus, auf dem bereits Schiffe verkehrten, deutlich ausmachen. Wenn sie sehr genau hinsah, konnte sie die Zinnen der mächtigen See mau er wie auch einen Teil des darunter liegenden Hafens mit seinem Gewirr von Schiffsrümpfen und Masten erkennen, die alle in der Sicherheit der Wellenbrecher geborgen waren.
Langsam stieg die Sonne an dem blass leuchtenden Himmel auf wie ein Feuerball. Im Norden leuchtete das Goldene Horn glänzend wie Bronze zwischen den Ufern - es war ein wunderbarer Märzmorgen.
Das erste Fährboot des Tages näherte sich. Mit der bangen Überlegung, welchen Eindruck sie auf ihr unbekannte Menschen machen würde, trat sie zum Anleger und blickte auf das nur wenig bewegte Wasser hinab. Es warf ihr Gesicht zurück: graue Augen, kräftige, doch zugleich verletzlich wirkende Züge, ho he Wangenknochen und ein weicher Mund. Ihr kastanienbraunes Haar war wie das eines Pagen geschnitten, ohne jeden Schmuck und nicht von einem Schleier bedeckt, den zu tragen für eine Frau ein Gebot des Anstands war.
Jetzt war die Fähre kaum noch zweihundert Ellen entfernt, ein leichtes Boot, das ein halbes Dutzend Fahrgäste aufnehmen konnte. Der Fährmann ruderte gegen die steife Brise und die Strömungen an, die dort, wo Europa und Asien aufeinandertrafen, besonders tückisch waren. Während sie tief einatmete, spürte sie den Druck der straff um ihre Brust und um die Auspolsterung an ihrer Taille gewickelten Bandagen, die ihre weibliche Gestalt verbergen sollten. Trotz aller Erfahrung im Umgang damit fühlte sie sich nach wie vor unbehaglich. Fröstelnd wickelte sie sich fester in ihren Umhang.
»Nein«, sagte Leo hinter ihr.
»Was ist?« Sie wandte sich zu ihm um. Die Stirn des hochgewachsenen, rundgesichtigen Mannes, auf dessen Wangen kein Bart wuchs zu erkennen war, legte sich in Sorgenfalten.
»Ihr dürft nicht zeigen, dass Euch kalt ist«, gab der Eunuch freundlich zur Antwort. »Das tun nur Frauen.«
Sie löste ihre Arme, ärgerlich über ihren törichten Fehler. Damit konnte sie das ganze Unternehmen gefährden.
»Seid Ihr immer noch entschlossen?«, fragte Simonis mit leicht schrill klingender Stimme. »Noch ist es nicht zu spät ... Ihr könnt es Euch noch anders überlegen.«
»Ich bleibe bei meiner Entscheidung«, sagte Anna entschlossen.
»Ihr dürft Euch keinen Fehler erlauben, Anastasios.« Mit voller Absicht benutzte Leo den Namen, den Anna für dieses Vorhaben gewählt hatte. »Wie Ihr wisst, stehen schwere Strafen dar auf, wenn sich eine Frau als Mann oder auch nur als Eunuch ausgibt.«
»Dann muss ich eben dafür sorgen, dass es niemand merkt«, sagte sie schlicht.
Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass die Sache nicht leicht sein würde. Aber mindestens einer Frau war es bereits gelungen, sich als Eunuch verkleidet in ein Mönchskloster ein zu schleichen. Sie hieß Marina, und die Täuschung war erst nach ihrem Tod bekannt geworden.
Fast hätte sie Leo gefragt, ob er umkehren wolle, aber eine solche Kränkung verdiente er nicht. Außerdem war sie darauf angewiesen, ihm bei jeder Bewegung aufmerksam zuzusehen und al les, was er tat, genau nachzuahmen.
Inzwischen hatte das Boot den Anlegesteg erreicht, und der gut aussehende junge Fährmann erhob sich von der Ruderbank. Mit den sicheren und selbstverständlichen Bewegungen eines Menschen, der auf dem Wasser lebt, warf er ein Tauende um einen Haltepflock und sprang dann lächelnd auf die Planken des Anlegers.
Fast hätte Anna sein Lächeln erwidert, doch fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass das falsch gewesen wäre. Sie ließ ihren Umhang los, so dass der kalte Wind sie peitschte, und der Fährmann ging an ihr vorüber, um Simonis, die nicht nur älter und fülliger als Anna war, sondern ganz offenkundig als Frau zu erkennen, die Hand zu reichen und ihr ins Boot zu helfen. Anna folgte und setzte sich auf eins der Querbretter. Als Letzter kam Leo mit den Kisten, die ihre kostbaren Kräuter, Instrumente und Medikamente enthielten. Der Fährmann setzte sich wieder auf die Ruderbank, und es ging hinaus in die Strömung.
Anna sah sich nicht um. Gewiss, sie hatte alles Vertraute hinter sich gelassen, ohne zu ahnen, wann sie etwas davon wiedersehen würde, doch jetzt kam es nur noch auf das an, was sie sich vorgenommen hatte.
Die Strömung hatte das Boot schon ein ganzes Stück mit sich getragen. Wie eine steile Klippe ragten die Reste der Seemauer senkrecht über ihnen empor. Siebzig Jahre zuvor hatten die Lateiner sie beim vierten Kreuzzug erstürmt und dann die Stadt geplündert, niedergebrannt und ihre Bewohner vertrieben. Als Annas Blick daran emporwanderte, erschien sie ihr eher wie ein Werk der Natur denn wie etwas von Menschenhand Erbautes, und sie fragte sich, wie es überhaupt möglich gewesen war, einen Sturm darauf zu wagen - und dass er gelungen war, erschien ihr in diesem Augenblick vollends unmöglich.
Sie hielt sich am Bootsrand fest und wandte den Kopf nach links und rechts, um die Ausdehnung der Stadt in sich aufzunehmen. Sie war so groß, dass sie sich überallhin zu erstrecken schien, auf jede Felsfläche, in jeden Küsten- einschnitt und über jeden Hügel. So dicht lagen die Dächer der Häuser beieinander, dass es ihr vorkam, als könne man von einem zum anderen hinüberlaufen.
Der Fährmann lächelte über ihr kindliches Staunen. Sie merkte, dass sie errötete, und wandte sich ab.
Jetzt waren sie Konstantinopel so nahe gekommen, dass sie die Reste der zerstörten Mauern und die dunklen Brand- spuren darauf ebenso erkennen konnte wie das Unkraut, das aus den Ritzen wuchs. Es erstaunte sie zu sehen, wie unberührt alles aussah, hatte doch Kaiser Michael Palaiologos bereits vor vollen zwölf Jahren das Volk von Konstantinopel im Jahre 1262 aus den Provinzen, in die man es einst vertrieben hatte, in die Stadt zurück geführt.
Jetzt war auch Anna hier, zum ersten Mal und aus lauter falschen Gründen.
Der Fährmann kämpfte mit aller Kraft gegen das Kielwasser einer Trireme an, die in Richtung auf das offene Meer vorüberzog. Das Wasser lief von den Blättern der in drei Reihen übereinander angeordneten Ruder, bevor sie wieder eingetaucht wurden. Hinter dem Dreiruderer sah Anna, wie Männer in zwei beinahe kreisrunden Booten die Segel herabließen und sich dann bemühten, ihren Anker genau an der richtigen Stelle zu werfen. Ob sie wohl vom Schwarzen Meer gekommen waren? Welche Art von Waren mochten sie gebracht haben?
Inzwischen war das Fährboot schon fast in Reichweite des steinernen Anlegers, wo das Wasser im Schutz der mächtigen Wellenbrecher eine glatte Fläche bildete. Von irgendwoher übertönte schrilles Lachen den Wellenschlag und das Geschrei der Möwen.
Der Fährmann ruderte sein Boot so dicht an den Anleger, dass es leicht dagegenstieß. Sie entlohnte ihn mit vier Kupfermünzen, sah ihn flüchtig an, stand auf und setzte den Fuß an Land, worauf hin er Simonis beim Aussteigen half.
Als Nächstes mussten sie jemanden für den Transport ihres Gepäcks finden und ein Gasthaus suchen, wo sie essen und unterkommen konnten, bis sie eine Möglichkeit hatte, ein Haus zu mieten und dort ihre Praxis einzurichten. In dieser Stadt würde ihr der gute Name des Vaters nicht weiterhelfen und sie anderen empfehlen wie in ihrer Heimatstadt Nikaia, der nur einen Tages ritt entfernt südöstlich auf der anderen Seite des Bosporus liegenden herrlichen alten Hauptstadt Bithyniens. Hier war sie auf sich allein gestellt, hatte zu ihrer Unterstützung lediglich ihre beiden Dienstboten Leo und Simonis, auf deren Treue sie sich allerdings in jeder Hinsicht verlassen konnte. Obwohl ihnen die lebenspraktischen Konsequenzen ihres verwegenen Plans bekannt waren, hatten sie sie freiwillig begleitet.
Auf den abgetretenen Steinplatten des Anlegers bahnte sie sich ihren Weg zwischen Töpferwaren, Marmortafeln, exotischen Hölzern, Ballen, die Wolle, Rohseide oder Teppiche enthielten, sowie Stapeln von kleinen Säcken, denen die Aromen fremdländischer Gewürze entströmten. Sie vermischten sich mit dem scharfen Geruch von Fisch, Fellen, menschlichem Schweiß und Dung.
Zweimal sah sie sich nach Leo und Simonis um. Sie war im Bewusstsein dessen aufgewachsen, dass Konstantinopel der Dreh- und Angelpunkt der Welt war, der Ort, an dem sich alle Wege zwischen Europa und Asien kreuzten, und sie war stolz darauf gewesen. Jetzt fühlte sie sich von dem Gewirr fremder Sprachen überwältigt, die außer dem Griechisch der Byzantiner an ihr Ohr drangen.
Ein Mann mit einem schweren Sack auf den Schultern stieß sie an, murmelte etwas und ging weiter. Schweiß lief ihm über den nackten Rücken. Ein mit Töpfen und Küchengerät aller Art behängter Kesselflicker lachte laut und spie auf den Boden. Ein Moslem, der in einen schwarzen Seidenkaftan gekleidet war und einen Turban auf dem Kopf trug, schritt stumm vorüber.
Anna ging auf die andere Straßenseite, von Leo und Simonis dicht gefolgt. Dort ragten die Häuser teils vier, teils fünf Stockwerke hoch empor, und die Gassen zwischen ihnen waren schmaler, als sie angenommen hatte. Unangenehm stieg ihr der strenge Geruch nach Salz und abgestandenem Wein in die Nase. Der dort herrschende Lärm erschwerte es, sich verständlich zu machen. Sie schritt einen kleinen Hügel hinauf, fort vom Anleger.
Zu beiden Seiten lagen Läden und darüber Wohnungen, wie an der aus den Fenstern hängenden Wäsche deutlich zu erkennen war. Schon hundert Schritte weiter war es ruhiger. Der Duft von frischem Brot aus einer Bäckerei, an der sie vorüberkamen, ließ sie mit einem Mal an ihr Zuhause denken.
Es ging weiter nach oben. Der Kasten mit ihren medizinischen Gerätschaften war schwer, ihre Arme schmerzten. Für Leo musste es noch schlimmer sein, denn er schleppte die schweren Kisten, während Simonis einen Sack mit Kleidungsstücken trug.
Sie blieb stehen und setzte ihre Last einen Augenblick ab. »Wir müssen für heute Nacht eine Unterkunft finden oder zumindest einen Ort, an dem wir unsere Habe unterstellen können. Außerdem brauchen wir etwas zu essen. Seit dem Frühstück sind über fünf Stunden vergangen. «
»Sechs«, sagte Simonis. »Ich hab im Leben noch nicht so viele Menschen gesehen.«
»Soll ich dir das abnehmen?«, fragte Leo. Sein Gesicht zeigte, dass er müde war. Seine Last wog deutlich mehr als das, was Simonis oder Anna zu tragen hatten.
Ohne darauf einzugehen, nahm Simonis ihren Sack wieder auf und begann erneut auszuschreiten.
Ein Stück weiter stießen sie auf ein Gasthaus, in dem sie nicht nur zu essen bekamen, sondern auch ein Nachtlager. Frische Leintücher bedeckten die mit Gänsedaunen gefüllten Matratzen. Jeder Raum verfügte über ein großes Waschbecken und ei ne Latrine mit einem gemauerten Ablauf. Pro Person und Nacht verlangte der Wirt acht Kupfermünzen; die Mahlzeiten waren zusätzlich zu bezahlen. Zwar war das viel Geld, doch bezweifelte Anna, dass sie woanders etwas deutlich Billigeres finden würde.
Sie wagte sich nicht recht auf die Straße, weil sie fürchtete, wieder etwas falsch zu machen, sich wie eine Frau zu verhalten oder auszudrücken oder falsch zu reagieren. Dann würde man auf sie aufmerksam werden und möglicherweise den Unterschied zwischen ihr und einem wirklichen Eunuchen erkennen.
Zu Mittag aßen sie in einer Schenke frisch gefangene Meeräsche und Weißbrot. Bei dieser Gelegenheit erkundigte sich Anna nach einer billigeren Unterkunft.
»Geht ein Stück weiter westwärts«, riet ihnen ein Tischgenosse, ein grauhaariger Mann in einem abgetragenen Kittel, der ihm gerade bis zu den Knien reichte. Seine Beine hatte er zum Schutz gegen die Kälte so mit Stoffstreifen umwickelt, dass sie ihn bei der Arbeit nicht behinderten. »Je weiter draußen, desto billiger. Ihr seid hier fremd?«
Es gab keinen Grund, das zu bestreiten. »Aus Nikaia«, teilte ihm Anna mit.
»Ich komme aus Sestos«, sagte er mit einem Lächeln, bei dem eine Zahnlücke sichtbar wurde. »Aber früher oder später landen alle hier.«
Anna dankte ihm für die Auskunft, und am nächsten Tag mieteten sie einen Esel, der ihr Gepäck zu einem weniger teuren Gasthof am westlichen Rand der Stadt nahe der Mauer brachte, unweit des St. Charisios-Tores.
In jener Nacht lag sie auf ihrem Lager und lauschte auf die unvertrauten Geräusche der Stadt Konstantinopel um sie herum. Von klein auf hatten ihr Eltern und Großeltern Geschichten über das Herz des byzantinischen Reiches erzählt, doch jetzt, da sie dort war, kam ihr alles so sonderbar vor, dass es sich kaum erfassen ließ.
Natürlich würde sie nichts erreichen, wenn sie in ihrer Unterkunft blieb, und so würde sie sich, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, gleich am nächsten Morgen aufmachen müssen, um ein Haus zu suchen, in dem sie ihre Praxis einrichten konnte.
Trotz ihrer Müdigkeit wollte der Schlaf nicht kommen, und sie fürchtete, in ihren von fremden Gesichtern erfüllten Träumen unterzugehen.
Aus den Berichten des Vaters wusste sie, dass die Stadt an drei Seiten von Wasser umgeben war. Die Hauptstraße mit Namen Mese, hatte er ihr erklärt, führte ostwärts ans Meer, gabelte sich nach Westen hin und lief auf zwei Stadttore zu. An ihr lagen alle bedeutenden Bauwerke: die Hagia Sophia, das Konstantins-Forum, das Hippodrom, den alten Palast der byzantinischen Kaiser und außerdem selbstverständlich eine Unzahl von Geschäften mit ihrem verlockenden Angebot an herrlichen Handwerkserzeugnissen, Seidenstoffen, Gewürzen und Edelsteinen.
In der Kühle des frühen Morgens brachen sie auf und schritten in dem Gassengewirr, das die ganze Stadt vom ruhigen Wasser des Goldenen Horns im Norden bis zum Marmarameer im Süden durchzog, rasch aus. An buchstäblich jeder Straßenecke drängten sich Menschen vor den Bäckereien. Mehrere Male mussten sie stehen bleiben und beiseitetreten, um hoch mit Obst und Gemüse beladene Eselskarren vorbeizulassen, die zum Markt strebten.
Gerade als sie die ungeheuer belebte breite Hauptstraße Mese erreichten, schwankte ein Kamel vorüber. Ihm folgte ein Mann, den das Gewicht eines Baumwollballens fast zu Boden drückte. Außer den einheimischen griechischen Byzantinern sah man Moslems mit Turbanen, Bulgaren mit kurzgeschorenem Haar, dunkelhäutige Ägypter, blauäugige Nordländer und Mongolen mit hohen Wangenknochen. Die Größe der Stadt, das pralle Leben, die grellen Farben von Kleidungsstücken und Sonnensegeln vor den Geschäften, Lila und Scharlachrot, Blau und Gold, Aquamarin, Weinrot und Rosa, erfüllten Anna mit ängstlicher Scheu. Ob sich all diese Menschen hier ebenso fremd vorkamen wie sie?
Sie wusste nicht recht, was sie zuerst tun sollte. Auf jeden Fall musste sie Erkundigungen einziehen und möglichst viel über die Wohnbezirke in Erfahrung bringen, die für die Suche nach einem Haus infrage kamen.
»Die Stadt ist so groß, dass man ohne Plan überhaupt nicht weiß, wo man ist«, sagte Leo mit gerunzelter Stirn.
»Wir müssen unbedingt ein gutes Wohnviertel finden«, fügte Simonis hinzu. Auch wenn sie wahrscheinlich voll Sehnsucht an das Haus dachte, das sie in Nikaia verlassen hatten, war ihr Wunsch herzukommen beinahe ebenso stark gewesen wie der Annas. Deren Zwillingsbruder Ioustinianos, den Anna hier suchen wollte, war schon immer ihr Augenstern gewesen, und als er Nikaia verlassen hatte, um nach Konstantinopel zu gehen, hatte das Simonis tief bekümmert. Als sein letzter verzweifelter Brief gekommen war, in dem er der Schwester über seine Verbannung berichtete, hatte Simonis sogleich darauf bestanden, dass man ihren Liebling unbedingt und um jeden Preis retten müsse. Leo hinge gen hatte seinen kühlen Kopf bewahrt und nicht nur darauf bestanden, dass man zuerst überlegen müsse, was sich überhaupt tun ließ, sondern sich auch sogleich Gedanken um Annas Sicherheit gemacht.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ein Geschäft fanden, das mit Handschriften handelte. Als sich Anna dort nach einem Plan erkundigte, öffnete der schmächtige weißhaarige Inhaber mit bereitwilligem Lächeln eine Schublade, zog mehrere Schrift rollen heraus, entrollte eine von ihnen und zeigte ihr die mit schwarzer Tusche gezeichnete annähernd dreieckige Anlage der Stadt.
»Seht Ihr? Vierzehn Bezirke. Hier habt Ihr die Mese«, er deutete auf die Zeichnung, »da ist die Konstantins-Mauer und westlich von ihr die Mau er des Theodosius. Der Plan zeigt alles bis auf Galata, den drei zehnten Bezirk im Norden, auf der anderen Seite des Goldenen Horns.
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Ich muss mit dir sprechen.« Er stieg die Stufen bis zum Rand des Wassers hinunter und blieb wenige Schritte von Bessarion entfernt stehen. Er zitterte. Seine Hände waren kalt und feucht. Er hätte allen Besitz darum gegeben, nicht tun zu müssen, was es hier zu tun galt.
»Worüber?«, fragte Bessarion ungehalten. »Alles ist, wie es sein soll. Was gibt es da noch zu besprechen?«
»Wir können es nicht tun«, sagte er schlicht.
»Hast du etwa Angst?« Bessarions Gesichtsausdruck ließ sich im flackernden Licht nicht deuten, doch die Festigkeit in seiner Stimme schien absolut. Waren seine Selbstsicherheit und sein Glaube so unerschütterlich, dass er nie schwankte?
»Das hat mit Angst nichts zu tun«, gab der junge Mann zurück. »Angst lässt sich mit heißem Blut besiegen. Aber sofern unser Vorhaben falsch ist, gibt es keine Rechtfertigung dafür.«
»Von falsch kann keine Rede sein«, erklärte Bessarion mit Nachdruck. »Wir verhindern mit einer entschlossenen, raschen Tat das langsame Versinken in geistige Barbarei und den Verfall unseres Glaubens. Darüber haben wir doch schon geredet.«
»Ich spreche nicht von der moralischen Seite. Mir ist durchaus klar, dass es mitunter nötig sein kann, einen zu opfern, um viele zu retten.« Er setzte zu einem Lachen an, brach dann aber ab. Ob Bessarion ahnte, welche Ironie in diesen Worten lag? »Ich gebe zu bedenken, dass wir die Dinge möglicherweise falsch einschätzen.« Er sagte das ungern. »Michael ist der richtige Mann - du bist es nicht. Wenn wir überleben wollen, sind wir auf seine Fähigkeiten angewiesen, auf seine Gerissenheit und seine Begabung, günstige Abkommen zu treffen, sich anderer zu bedienen, um unsere Feinde gegeneinander aufzuhetzen.«
Bessarion war wie vor den Kopf geschlagen. Das ließ sich sogar in den tanzenden Schatten auf seinen Zügen und an der Art erkennen, wie er den Kopf hielt.
»Verräter!«, stieß er ungläubig hervor. »Und was ist mit der Kirche? Würdest du auch Gott verraten?«
Die Dinge standen so schlimm, wie der junge Mann befürchtet hatte. Warum hatte er das nicht schon früher erkannt? Sei ne Zuversicht hatte ihn für diese Möglichkeit blind gemacht, und jetzt blieb ihm keine Wahl. Er selbst eignete sich nicht zur Führerschaft.
Seine Stimme zitterte. »Wir werden die Kirche nicht retten, wenn die Stadt fällt, aber genau dazu würde es kommen, wenn wir morgen unseren Plan ausführten.«
»Judas!«, stieß Bessarion voll Bitterkeit hervor. Er holte wütend aus und strauchelte, als er keinen Widerstand fand.
Es war entsetzlich. Es war, als wenn er sich selbst tötete - doch die Alternative war unvorstellbar schlimmer. Dem jungen Mann blieb keine Zeit nachzudenken. Während ihm die Übelkeit aus dem Magen in die Kehle stieg, stürmte er mit aller Kraft gegen Bessarion an, so dass dieser mit einem überraschten Auf schrei ins Wasser fiel. Der junge Mann sprang ihm nach, nutz te Bessarions Benommenheit und drückte dessen Kopf mit beiden Händen so kräftig er konnte in das kalte, klare Wasser.
Bessarion wehrte sich, versuchte nach oben zu kommen, konnte aber ohne Boden unter den Füßen nichts gegen den Sehnigeren und Stärkeren ausrichten, zumal dieser fest entschlossen war, für das, woran er glaubte, alles zu opfern.
Allmählich erstarben die Geräusche des Wassers, und die Stille der Schatten jenseits der Gänge gewann die Oberhand.
Der junge Mann hockte sich auf die Steine. Er fror, ihm war übel. Aber noch war seine Aufgabe nicht beendet. Er zwang sich aufzustehen. Mit Gliedern, die so sehr schmerzten, als habe man ihn durchgeprügelt, stieg er über die Stufen nach oben. Tränen liefen ihm über das Gesicht.
Kapitel 1
In Gedanken verloren stand Anna Zarides an der steinernen Mo le und sah über das dunkle Wasser des Bosporus zum Leuchtturm von Konstantinopel hinüber. Sein Licht erhellte den Himmel mit einem Strahlenbündel, das sich scharf vor den allmählich blasser werdenden Sternen abzeichnete. Es war ein großartiger Anblick. Sie wartete darauf, dass in der Morgendämmerung die Dächer der Stadt sowie deren herrliche Kirchen, Türme und Paläste sichtbar wurden.
Kalt wehte der Wind vom Wasser landeinwärts. Sie hörte das Zischen und Gurgeln der Wellen, deren Kämme kaum sichtbar waren. In der Ferne trafen auf einer Land- spitze die ersten Strahlen des Tageslichts auf eine hundert, wenn nicht gar zweihundert Fuß hoch aufragende riesige Kuppel. Sie leuchtete in stumpfem Rot, als brenne ein Feuer in ihrem Inneren. Das musste die Hagia Sophia sein - nicht nur die schönste Kirche der Welt, sondern auch die größte, und zugleich Herz und Seele des christlichen Glaubens.
Unverwandt hielt Anna den Blick darauf gerichtet, während das Licht des Tagesgestirns zunahm. Links von der Hagia Sophia erkannte sie vier hohe schlanke Säulen, die wie Nadeln vor dem Horizont emporwuchsen. Das, wusste sie, waren Denkmäler für einige der bedeutendsten Herrscher der Vergangenheit. Dort musste außer dem Kaiserpalast auch die als Hippodrom bekannte Pferderennbahn liegen, doch alles, was sie sehen konnte, waren Schatten. Hier und da erspähte sie weiß schimmern den Marmor, Bäume und die endlose Abfolge von Dächern einer Stadt, die größer war als Rom, Alexandria, Jerusalem oder Athen.
Inzwischen ließ sich der schmale Wasserstreifen des Bosporus, auf dem bereits Schiffe verkehrten, deutlich ausmachen. Wenn sie sehr genau hinsah, konnte sie die Zinnen der mächtigen See mau er wie auch einen Teil des darunter liegenden Hafens mit seinem Gewirr von Schiffsrümpfen und Masten erkennen, die alle in der Sicherheit der Wellenbrecher geborgen waren.
Langsam stieg die Sonne an dem blass leuchtenden Himmel auf wie ein Feuerball. Im Norden leuchtete das Goldene Horn glänzend wie Bronze zwischen den Ufern - es war ein wunderbarer Märzmorgen.
Das erste Fährboot des Tages näherte sich. Mit der bangen Überlegung, welchen Eindruck sie auf ihr unbekannte Menschen machen würde, trat sie zum Anleger und blickte auf das nur wenig bewegte Wasser hinab. Es warf ihr Gesicht zurück: graue Augen, kräftige, doch zugleich verletzlich wirkende Züge, ho he Wangenknochen und ein weicher Mund. Ihr kastanienbraunes Haar war wie das eines Pagen geschnitten, ohne jeden Schmuck und nicht von einem Schleier bedeckt, den zu tragen für eine Frau ein Gebot des Anstands war.
Jetzt war die Fähre kaum noch zweihundert Ellen entfernt, ein leichtes Boot, das ein halbes Dutzend Fahrgäste aufnehmen konnte. Der Fährmann ruderte gegen die steife Brise und die Strömungen an, die dort, wo Europa und Asien aufeinandertrafen, besonders tückisch waren. Während sie tief einatmete, spürte sie den Druck der straff um ihre Brust und um die Auspolsterung an ihrer Taille gewickelten Bandagen, die ihre weibliche Gestalt verbergen sollten. Trotz aller Erfahrung im Umgang damit fühlte sie sich nach wie vor unbehaglich. Fröstelnd wickelte sie sich fester in ihren Umhang.
»Nein«, sagte Leo hinter ihr.
»Was ist?« Sie wandte sich zu ihm um. Die Stirn des hochgewachsenen, rundgesichtigen Mannes, auf dessen Wangen kein Bart wuchs zu erkennen war, legte sich in Sorgenfalten.
»Ihr dürft nicht zeigen, dass Euch kalt ist«, gab der Eunuch freundlich zur Antwort. »Das tun nur Frauen.«
Sie löste ihre Arme, ärgerlich über ihren törichten Fehler. Damit konnte sie das ganze Unternehmen gefährden.
»Seid Ihr immer noch entschlossen?«, fragte Simonis mit leicht schrill klingender Stimme. »Noch ist es nicht zu spät ... Ihr könnt es Euch noch anders überlegen.«
»Ich bleibe bei meiner Entscheidung«, sagte Anna entschlossen.
»Ihr dürft Euch keinen Fehler erlauben, Anastasios.« Mit voller Absicht benutzte Leo den Namen, den Anna für dieses Vorhaben gewählt hatte. »Wie Ihr wisst, stehen schwere Strafen dar auf, wenn sich eine Frau als Mann oder auch nur als Eunuch ausgibt.«
»Dann muss ich eben dafür sorgen, dass es niemand merkt«, sagte sie schlicht.
Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass die Sache nicht leicht sein würde. Aber mindestens einer Frau war es bereits gelungen, sich als Eunuch verkleidet in ein Mönchskloster ein zu schleichen. Sie hieß Marina, und die Täuschung war erst nach ihrem Tod bekannt geworden.
Fast hätte sie Leo gefragt, ob er umkehren wolle, aber eine solche Kränkung verdiente er nicht. Außerdem war sie darauf angewiesen, ihm bei jeder Bewegung aufmerksam zuzusehen und al les, was er tat, genau nachzuahmen.
Inzwischen hatte das Boot den Anlegesteg erreicht, und der gut aussehende junge Fährmann erhob sich von der Ruderbank. Mit den sicheren und selbstverständlichen Bewegungen eines Menschen, der auf dem Wasser lebt, warf er ein Tauende um einen Haltepflock und sprang dann lächelnd auf die Planken des Anlegers.
Fast hätte Anna sein Lächeln erwidert, doch fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass das falsch gewesen wäre. Sie ließ ihren Umhang los, so dass der kalte Wind sie peitschte, und der Fährmann ging an ihr vorüber, um Simonis, die nicht nur älter und fülliger als Anna war, sondern ganz offenkundig als Frau zu erkennen, die Hand zu reichen und ihr ins Boot zu helfen. Anna folgte und setzte sich auf eins der Querbretter. Als Letzter kam Leo mit den Kisten, die ihre kostbaren Kräuter, Instrumente und Medikamente enthielten. Der Fährmann setzte sich wieder auf die Ruderbank, und es ging hinaus in die Strömung.
Anna sah sich nicht um. Gewiss, sie hatte alles Vertraute hinter sich gelassen, ohne zu ahnen, wann sie etwas davon wiedersehen würde, doch jetzt kam es nur noch auf das an, was sie sich vorgenommen hatte.
Die Strömung hatte das Boot schon ein ganzes Stück mit sich getragen. Wie eine steile Klippe ragten die Reste der Seemauer senkrecht über ihnen empor. Siebzig Jahre zuvor hatten die Lateiner sie beim vierten Kreuzzug erstürmt und dann die Stadt geplündert, niedergebrannt und ihre Bewohner vertrieben. Als Annas Blick daran emporwanderte, erschien sie ihr eher wie ein Werk der Natur denn wie etwas von Menschenhand Erbautes, und sie fragte sich, wie es überhaupt möglich gewesen war, einen Sturm darauf zu wagen - und dass er gelungen war, erschien ihr in diesem Augenblick vollends unmöglich.
Sie hielt sich am Bootsrand fest und wandte den Kopf nach links und rechts, um die Ausdehnung der Stadt in sich aufzunehmen. Sie war so groß, dass sie sich überallhin zu erstrecken schien, auf jede Felsfläche, in jeden Küsten- einschnitt und über jeden Hügel. So dicht lagen die Dächer der Häuser beieinander, dass es ihr vorkam, als könne man von einem zum anderen hinüberlaufen.
Der Fährmann lächelte über ihr kindliches Staunen. Sie merkte, dass sie errötete, und wandte sich ab.
Jetzt waren sie Konstantinopel so nahe gekommen, dass sie die Reste der zerstörten Mauern und die dunklen Brand- spuren darauf ebenso erkennen konnte wie das Unkraut, das aus den Ritzen wuchs. Es erstaunte sie zu sehen, wie unberührt alles aussah, hatte doch Kaiser Michael Palaiologos bereits vor vollen zwölf Jahren das Volk von Konstantinopel im Jahre 1262 aus den Provinzen, in die man es einst vertrieben hatte, in die Stadt zurück geführt.
Jetzt war auch Anna hier, zum ersten Mal und aus lauter falschen Gründen.
Der Fährmann kämpfte mit aller Kraft gegen das Kielwasser einer Trireme an, die in Richtung auf das offene Meer vorüberzog. Das Wasser lief von den Blättern der in drei Reihen übereinander angeordneten Ruder, bevor sie wieder eingetaucht wurden. Hinter dem Dreiruderer sah Anna, wie Männer in zwei beinahe kreisrunden Booten die Segel herabließen und sich dann bemühten, ihren Anker genau an der richtigen Stelle zu werfen. Ob sie wohl vom Schwarzen Meer gekommen waren? Welche Art von Waren mochten sie gebracht haben?
Inzwischen war das Fährboot schon fast in Reichweite des steinernen Anlegers, wo das Wasser im Schutz der mächtigen Wellenbrecher eine glatte Fläche bildete. Von irgendwoher übertönte schrilles Lachen den Wellenschlag und das Geschrei der Möwen.
Der Fährmann ruderte sein Boot so dicht an den Anleger, dass es leicht dagegenstieß. Sie entlohnte ihn mit vier Kupfermünzen, sah ihn flüchtig an, stand auf und setzte den Fuß an Land, worauf hin er Simonis beim Aussteigen half.
Als Nächstes mussten sie jemanden für den Transport ihres Gepäcks finden und ein Gasthaus suchen, wo sie essen und unterkommen konnten, bis sie eine Möglichkeit hatte, ein Haus zu mieten und dort ihre Praxis einzurichten. In dieser Stadt würde ihr der gute Name des Vaters nicht weiterhelfen und sie anderen empfehlen wie in ihrer Heimatstadt Nikaia, der nur einen Tages ritt entfernt südöstlich auf der anderen Seite des Bosporus liegenden herrlichen alten Hauptstadt Bithyniens. Hier war sie auf sich allein gestellt, hatte zu ihrer Unterstützung lediglich ihre beiden Dienstboten Leo und Simonis, auf deren Treue sie sich allerdings in jeder Hinsicht verlassen konnte. Obwohl ihnen die lebenspraktischen Konsequenzen ihres verwegenen Plans bekannt waren, hatten sie sie freiwillig begleitet.
Auf den abgetretenen Steinplatten des Anlegers bahnte sie sich ihren Weg zwischen Töpferwaren, Marmortafeln, exotischen Hölzern, Ballen, die Wolle, Rohseide oder Teppiche enthielten, sowie Stapeln von kleinen Säcken, denen die Aromen fremdländischer Gewürze entströmten. Sie vermischten sich mit dem scharfen Geruch von Fisch, Fellen, menschlichem Schweiß und Dung.
Zweimal sah sie sich nach Leo und Simonis um. Sie war im Bewusstsein dessen aufgewachsen, dass Konstantinopel der Dreh- und Angelpunkt der Welt war, der Ort, an dem sich alle Wege zwischen Europa und Asien kreuzten, und sie war stolz darauf gewesen. Jetzt fühlte sie sich von dem Gewirr fremder Sprachen überwältigt, die außer dem Griechisch der Byzantiner an ihr Ohr drangen.
Ein Mann mit einem schweren Sack auf den Schultern stieß sie an, murmelte etwas und ging weiter. Schweiß lief ihm über den nackten Rücken. Ein mit Töpfen und Küchengerät aller Art behängter Kesselflicker lachte laut und spie auf den Boden. Ein Moslem, der in einen schwarzen Seidenkaftan gekleidet war und einen Turban auf dem Kopf trug, schritt stumm vorüber.
Anna ging auf die andere Straßenseite, von Leo und Simonis dicht gefolgt. Dort ragten die Häuser teils vier, teils fünf Stockwerke hoch empor, und die Gassen zwischen ihnen waren schmaler, als sie angenommen hatte. Unangenehm stieg ihr der strenge Geruch nach Salz und abgestandenem Wein in die Nase. Der dort herrschende Lärm erschwerte es, sich verständlich zu machen. Sie schritt einen kleinen Hügel hinauf, fort vom Anleger.
Zu beiden Seiten lagen Läden und darüber Wohnungen, wie an der aus den Fenstern hängenden Wäsche deutlich zu erkennen war. Schon hundert Schritte weiter war es ruhiger. Der Duft von frischem Brot aus einer Bäckerei, an der sie vorüberkamen, ließ sie mit einem Mal an ihr Zuhause denken.
Es ging weiter nach oben. Der Kasten mit ihren medizinischen Gerätschaften war schwer, ihre Arme schmerzten. Für Leo musste es noch schlimmer sein, denn er schleppte die schweren Kisten, während Simonis einen Sack mit Kleidungsstücken trug.
Sie blieb stehen und setzte ihre Last einen Augenblick ab. »Wir müssen für heute Nacht eine Unterkunft finden oder zumindest einen Ort, an dem wir unsere Habe unterstellen können. Außerdem brauchen wir etwas zu essen. Seit dem Frühstück sind über fünf Stunden vergangen. «
»Sechs«, sagte Simonis. »Ich hab im Leben noch nicht so viele Menschen gesehen.«
»Soll ich dir das abnehmen?«, fragte Leo. Sein Gesicht zeigte, dass er müde war. Seine Last wog deutlich mehr als das, was Simonis oder Anna zu tragen hatten.
Ohne darauf einzugehen, nahm Simonis ihren Sack wieder auf und begann erneut auszuschreiten.
Ein Stück weiter stießen sie auf ein Gasthaus, in dem sie nicht nur zu essen bekamen, sondern auch ein Nachtlager. Frische Leintücher bedeckten die mit Gänsedaunen gefüllten Matratzen. Jeder Raum verfügte über ein großes Waschbecken und ei ne Latrine mit einem gemauerten Ablauf. Pro Person und Nacht verlangte der Wirt acht Kupfermünzen; die Mahlzeiten waren zusätzlich zu bezahlen. Zwar war das viel Geld, doch bezweifelte Anna, dass sie woanders etwas deutlich Billigeres finden würde.
Sie wagte sich nicht recht auf die Straße, weil sie fürchtete, wieder etwas falsch zu machen, sich wie eine Frau zu verhalten oder auszudrücken oder falsch zu reagieren. Dann würde man auf sie aufmerksam werden und möglicherweise den Unterschied zwischen ihr und einem wirklichen Eunuchen erkennen.
Zu Mittag aßen sie in einer Schenke frisch gefangene Meeräsche und Weißbrot. Bei dieser Gelegenheit erkundigte sich Anna nach einer billigeren Unterkunft.
»Geht ein Stück weiter westwärts«, riet ihnen ein Tischgenosse, ein grauhaariger Mann in einem abgetragenen Kittel, der ihm gerade bis zu den Knien reichte. Seine Beine hatte er zum Schutz gegen die Kälte so mit Stoffstreifen umwickelt, dass sie ihn bei der Arbeit nicht behinderten. »Je weiter draußen, desto billiger. Ihr seid hier fremd?«
Es gab keinen Grund, das zu bestreiten. »Aus Nikaia«, teilte ihm Anna mit.
»Ich komme aus Sestos«, sagte er mit einem Lächeln, bei dem eine Zahnlücke sichtbar wurde. »Aber früher oder später landen alle hier.«
Anna dankte ihm für die Auskunft, und am nächsten Tag mieteten sie einen Esel, der ihr Gepäck zu einem weniger teuren Gasthof am westlichen Rand der Stadt nahe der Mauer brachte, unweit des St. Charisios-Tores.
In jener Nacht lag sie auf ihrem Lager und lauschte auf die unvertrauten Geräusche der Stadt Konstantinopel um sie herum. Von klein auf hatten ihr Eltern und Großeltern Geschichten über das Herz des byzantinischen Reiches erzählt, doch jetzt, da sie dort war, kam ihr alles so sonderbar vor, dass es sich kaum erfassen ließ.
Natürlich würde sie nichts erreichen, wenn sie in ihrer Unterkunft blieb, und so würde sie sich, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, gleich am nächsten Morgen aufmachen müssen, um ein Haus zu suchen, in dem sie ihre Praxis einrichten konnte.
Trotz ihrer Müdigkeit wollte der Schlaf nicht kommen, und sie fürchtete, in ihren von fremden Gesichtern erfüllten Träumen unterzugehen.
Aus den Berichten des Vaters wusste sie, dass die Stadt an drei Seiten von Wasser umgeben war. Die Hauptstraße mit Namen Mese, hatte er ihr erklärt, führte ostwärts ans Meer, gabelte sich nach Westen hin und lief auf zwei Stadttore zu. An ihr lagen alle bedeutenden Bauwerke: die Hagia Sophia, das Konstantins-Forum, das Hippodrom, den alten Palast der byzantinischen Kaiser und außerdem selbstverständlich eine Unzahl von Geschäften mit ihrem verlockenden Angebot an herrlichen Handwerkserzeugnissen, Seidenstoffen, Gewürzen und Edelsteinen.
In der Kühle des frühen Morgens brachen sie auf und schritten in dem Gassengewirr, das die ganze Stadt vom ruhigen Wasser des Goldenen Horns im Norden bis zum Marmarameer im Süden durchzog, rasch aus. An buchstäblich jeder Straßenecke drängten sich Menschen vor den Bäckereien. Mehrere Male mussten sie stehen bleiben und beiseitetreten, um hoch mit Obst und Gemüse beladene Eselskarren vorbeizulassen, die zum Markt strebten.
Gerade als sie die ungeheuer belebte breite Hauptstraße Mese erreichten, schwankte ein Kamel vorüber. Ihm folgte ein Mann, den das Gewicht eines Baumwollballens fast zu Boden drückte. Außer den einheimischen griechischen Byzantinern sah man Moslems mit Turbanen, Bulgaren mit kurzgeschorenem Haar, dunkelhäutige Ägypter, blauäugige Nordländer und Mongolen mit hohen Wangenknochen. Die Größe der Stadt, das pralle Leben, die grellen Farben von Kleidungsstücken und Sonnensegeln vor den Geschäften, Lila und Scharlachrot, Blau und Gold, Aquamarin, Weinrot und Rosa, erfüllten Anna mit ängstlicher Scheu. Ob sich all diese Menschen hier ebenso fremd vorkamen wie sie?
Sie wusste nicht recht, was sie zuerst tun sollte. Auf jeden Fall musste sie Erkundigungen einziehen und möglichst viel über die Wohnbezirke in Erfahrung bringen, die für die Suche nach einem Haus infrage kamen.
»Die Stadt ist so groß, dass man ohne Plan überhaupt nicht weiß, wo man ist«, sagte Leo mit gerunzelter Stirn.
»Wir müssen unbedingt ein gutes Wohnviertel finden«, fügte Simonis hinzu. Auch wenn sie wahrscheinlich voll Sehnsucht an das Haus dachte, das sie in Nikaia verlassen hatten, war ihr Wunsch herzukommen beinahe ebenso stark gewesen wie der Annas. Deren Zwillingsbruder Ioustinianos, den Anna hier suchen wollte, war schon immer ihr Augenstern gewesen, und als er Nikaia verlassen hatte, um nach Konstantinopel zu gehen, hatte das Simonis tief bekümmert. Als sein letzter verzweifelter Brief gekommen war, in dem er der Schwester über seine Verbannung berichtete, hatte Simonis sogleich darauf bestanden, dass man ihren Liebling unbedingt und um jeden Preis retten müsse. Leo hinge gen hatte seinen kühlen Kopf bewahrt und nicht nur darauf bestanden, dass man zuerst überlegen müsse, was sich überhaupt tun ließ, sondern sich auch sogleich Gedanken um Annas Sicherheit gemacht.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ein Geschäft fanden, das mit Handschriften handelte. Als sich Anna dort nach einem Plan erkundigte, öffnete der schmächtige weißhaarige Inhaber mit bereitwilligem Lächeln eine Schublade, zog mehrere Schrift rollen heraus, entrollte eine von ihnen und zeigte ihr die mit schwarzer Tusche gezeichnete annähernd dreieckige Anlage der Stadt.
»Seht Ihr? Vierzehn Bezirke. Hier habt Ihr die Mese«, er deutete auf die Zeichnung, »da ist die Konstantins-Mauer und westlich von ihr die Mau er des Theodosius. Der Plan zeigt alles bis auf Galata, den drei zehnten Bezirk im Norden, auf der anderen Seite des Goldenen Horns.
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Anne Perry
Perry, AnneDie Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Ihre historischen Kriminalromane begeistern ein Millionenpublikum und gelangten international auf die Bestsellerlisten. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Perry
- 2012, 703 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Schatzhauser, K.
- Übersetzer: K. Schatzhauser
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453406060
- ISBN-13: 9783453406063
- Erscheinungsdatum: 08.06.2012
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