Die Alchemisten
Die geheime Welt der Zentralbanker
Hinter verschlossenen Türen
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Produktinformationen zu „Die Alchemisten “
Hinter verschlossenen Türen
Klappentext zu „Die Alchemisten “
Ihre Aufgabe ist sensibel, ihre Macht ist gross. Ein unbedachtes Wort kann weltweit Krisen auslösen und politische Erdbeben verursachen. Jedes Jahr im August treffen sich in Jackson Hole, Wyoming - fernab der Weltöffentlichkeit -, die vierzig wichtigsten Zentralbanker der Welt. Sie stehen in dauernden Interessenkonflikten zwischen nationalen Interessen und internationalem Druck.Neil Irwin erklärt spannend und anschaulich, was Zentralbanker tun und wie es zu massiven Fehlentscheidungen kommen kann. Er beschreibt, welche grossen Auswirkungen kleine Unstimmigkeiten zwischen Jens Weidmann, Mario Draghi und Ben Bernanke haben können. Und er zeigt, wie die zukünftigen Herausforderungen, Allianzen und Strategien der Zentralbanker aussehen könnten.
Lese-Probe zu „Die Alchemisten “
Die Alchemisten von Neil Irwin Die geheime Welt der Zentralbanker
Einleitung
Der Geldhahn wird aufgedreht
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Am 9. August 2007 wachte Jean-Claude Trichet im Haus seiner Familie in dem Küstenort Saint-Malo in der Bretagne auf. Nach einem aufreibenden Arbeitsjahr an der Spitze der Europäischen Zentralbank brauchte er einen Sommerurlaub. Er wollte einen Ausflug in seinem Motorboot unternehmen und ein wenig Zeit mit seinen Enkeln verbringen. Auch Mervyn King, der Gouverneur der Bank of England, wollte sich an diesem Donnerstag erholen: Er würde von seiner Wohnung in Notting Hill zum Kennington Oval im Süden Londons fahren, um sich einen Cricket-Länderkampf zwischen England und Indien anzusehen. Ben Bernanke, der Vorsitzende der Federal Reserve, hatte als Einziger der drei Männer, die bald versuchen mussten, die Welt durch eine fünfjährige Zeit der finanziellen und wirtschaftlichen Wirren zu steuern, an diesem Tag berufliche Verpflichtungen. Er war im Finanzministerium zu einem Arbeitsfrühstück mit dem Ressortchef Henry Paulson verabredet. Bernanke würde Haferbrei essen.
Aber für keinen der drei Männer sollte der Tag so verlaufen wie geplant.
Gegen halb acht Uhr morgens klingelte Trichets Telefon. Der Anrufer war Francesco Papadia, der Leiter der Finanzmarktabteilung in der EZB-Zentrale in Frankfurt. »Wir haben ein Problem«, sagte er.
Die französische Großbank BNP Paribas hatte bekannt gegeben, dass sie drei Investmentfonds einfrieren würde. Die Fonds hatten auf dem amerikanischen Markt hohe Summen in hypothekarisch gesicherte Wertpapiere investiert, die praktisch nicht mehr zu bewerten waren. Daher würde die Bank das Geld ihrer Kunden einfrieren, bis sie Klarheit über den genauen Wert der Investments hatte. An und für sich war das kein weltbewegender Schritt: Die drei eher unbekannten Fonds verwalteten zusammen Vermögenswerte von gerade einmal 1,6 Milliarden Euro.
Aber die Ankündigung von BNP Paribas bestätigte die schlimmsten Befürchtungen der europäischen Bankiers. Sie machten sich seit Wochen Sorgen über die möglichen Verluste mit amerikanischen Hypothekenkrediten. Ende Juli war der Markt für diese angeblich extrem sicheren Papiere, die bis Mitte des Jahres frei gehandelt worden waren, praktisch zusammengebrochen. Mehr und mehr Amerikaner, die sich verschuldet hatten, um ein Haus in Tampa, Cleveland oder Phoenix zu kaufen, konnten ihre Kreditraten nicht mehr zahlen, und plötzlich wurden Zweifel laut: Was, wenn all diese Wertpapiere mit der Bonitätseinstufung AAA in Wahrheit gar nicht so sicher waren? Hatten die Banken möglicherweise Unsummen in Schuldtitel gesteckt, die gar nicht so viel wert waren, wie man geglaubt hatte? Und wenn BNP Paribas nicht wusste, wie viel ihre Fonds wert waren, wie konnten dann andere Banken wissen, wie groß die Risiken ihrer hypothekarisch gesicherten Wertpapiere waren?
Nicht umsonst stammt das Wort »Kredit« vom lateinischen »credere«, das »glauben« oder »vertrauen« bedeutet. Die Banken verwenden als sicher eingestufte Wertpapiere fast so, als handelte es sich um Bargeld: Wann immer sie sich Geld leihen, hinterlegen sie solche Schuldverschreibungen bei der anderen Bank als Sicherheitsgegenstand. Das ist einer der grundlegenden Mechanismen, die gewährleisten, dass die Banken stets genau jene Menge an Geld zur Verfügung haben, die sie brauchen, um ihre Verpflichtungen erfüllen zu können. Aber als Anfang August 2007 das Problem mit den hypothekarisch gesicherten Wertpapieren auftrat, wurde es plötzlich kompliziert. Das Problem war nicht nur, dass diese Wertpapiere weniger wert waren als zuvor - die Banken können mit Verlusten umgehen. Das Problem war, dass niemand wusste, wie viel sie tatsächlich an Wert verloren hatten: Wenn eine Bank einer anderen Geld lieh und hypothekarisch gesicherte Wertpapiere als Sicherheit akzeptierte, konnte sie nicht mehr sicher sein, dass sie ihr Geld je zurückbekommen würde.
Papadia und seine Mitarbeiter sprachen regelmäßig mit Fachleuten in 20 europäischen Großbanken, die der »Geldmarktkontaktgruppe « der EZB angehörten, und die Mitglieder der Gruppe warnten seit mehreren Tagen vor einem unmittelbar bevorstehenden »Infarkt«, wie es ein EZB-Vertreter ausdrückte. Am Donnerstagmorgen war es soweit: Nach der Ankündigung von BNP Paribas versiegte innerhalb kürzester Zeit der übliche Kapitalstrom. Alle Banken versuchten, sich selbst in Sicherheit zu bringen. »Heute wurde das Vertrauen erschüttert«, sagte Thomas Mayer, der europäische Chefvolkswirt der Deutschen Bank, im Gespräch mit der New York Times.1 Ein Spitzenmanager einer großen globalen Bank sagte später: »Keiner von uns hatte so etwas je erlebt. Es war, als käme eines Tages aus dem Wasserhahn, aus dem man sein Leben lang getrunken hat, kein Wasser mehr.«
Die Metapher war treffender, als man meinen sollte, denn tatsächlich versiegte an jenem Tag die Liquidität des Bankensystems. Plötzlich kam man an Euro, Dollar und Pfund nicht mehr heran, indem man einfach den Hahn aufdrehte. Die Geschichte lehrt uns wieder und wieder: Wenn die Banken dichtmachen und ihr Geld horten, kommt auch die Wirtschaft zum Stillstand, da sie von den Banken nicht mehr mit Geld versorgt wird. Eine Bank, die anderen Banken keinen Kredit mehr geben will, wird mit einiger Sicherheit auch nicht mehr bereit sein, Unternehmen und Privathaushalten Kredit zu gewähren, die Geld brauchen, um ihren Betrieb zu finanzieren oder ein Haus zu kaufen.
Sollte es nicht gelingen, die Bankenkrise in Europa unter Kontrolle zu bringen, so konnte die Weltwirtschaft ungeheuren Schaden erleiden. Plötzlich erwies sich die Gewohnheit der Europäer, im Sommer für längere Zeit in den Urlaub zu fahren, als sehr ungünstig.
Trichet wies Papadia an, das Direktorium einzuberufen. Dieses sechsköpfige Gremium führt die Geschäfte der EZB - unter anderem kann es aus dünner Luft Euro fabrizieren. Die EZB- Mitarbeiter in Frankfurt begannen, die Verantwortlichen in ihren Feriendomizilen in Spanien, Italien und Griechenland aufzuspüren, um eine Telefonkonferenz zu organisieren. Trichet zog sich im Urlaub normalerweise hinter die Stadtmauern von Saint-Malo zurück, um ungestört Gedichte und philosophische Abhandlungen zu lesen. Aber in diesem August verwandelte sich die malerische kleine Hafenstadt für kurze Zeit in das Nervenzentrum der Finanzwelt. Von dort aus leitete Trichet die erste Phase der europäischen Offensive gegen die erste große Finanzkrise des 21. Jahrhunderts.
Um zehn Uhr morgens waren alle Mitglieder des Direktoriums zugeschaltet. Trichet drängte sie: »Wir können nur eins tun. Wir müssen den Markt mit Liquidität versorgen.« Die EZB müsse das Bankensystem mit Geld fluten. Die Zentralbank solle ihre Funktion als »Kreditgeber der letzten Instanz« erfüllen und dort in die Bresche springen, wo sich die Privatbanken zurückzogen. Die EZB sollte dabei auf das übliche Verfahren verzichten, eine bestimmte Summe in das Bankensystem zu pumpen, und stattdessen allen Banken, die Geld brauchten, unbeschränkten Kredit anbieten. Die technische Bezeichnung für das, was Trichet und das EZB-Direktorium an diesem Tag um 12:30 Uhr taten, lautet »Festzinstender mit voller Zuteilung «.
Übersetzung: Kommt und nehmt euch, was ihr braucht. Wir werden euch so viel Geld wie benötigt zum Zinssatz von 4 Prozent zuteilen.
49 Banken liehen sich 95 Milliarden Euro.
Die Federal Reserve Bank von New York hat eine Finanzmarktabteilung, die ständig beobachtet, was auf den globalen Finanzmärkten vor sich geht, aber in den frühen Morgenstunden jenes Donnerstags (Ostküstenzeit) hatte nur eine Handvoll junger Mitarbeiter Dienst, die die nächtlichen Marktaktivitäten verfolgten. Es sollte noch einige Stunden dauern, bis der New Yorker Fed-Präsident Timothy Geithner, der gerade in Cape Cod Urlaub machte, und Fed-Chef Ben Bernanke, der sich gerade in seinem Haus am Capitol Hill auf das Frühstück mit Finanzminister Paulson vorbereitete, die Neuigkeiten aus Europa erfuhren.
Um 6:49 Uhr morgens erhielt Bernanke eine E-Mail von Brian Madigan, dem Leiter der geldpolitischen Abteilung der Fed, der ihm mitteilte, dass »die Märkte, wie Sie vermutlich schon gesehen haben, über Nacht starke Kursverluste erlitten haben«. Madigan informierte seinen Chef über die Geschehnisse auf den europäischen Anleihen- und Aktienmärkten. Aber er wusste noch nichts von der Intervention der EZB. Es verging noch fast eine halbe Stunde, bis Bernanke auf dem Weg zu seinem Treffen mit Paulson erfuhr, dass die EZB etwas sehr Ungewöhnliches getan hatte. Er saß in seinem Dienstwagen, einem schwarzen Cadillac, der von einem Sicherheitsmann der Zentralbank über die Independence Avenue gesteuert wurde, als er um 7:16 Uhr eine E-Mail von David Skidmore erhielt, einem Mitarbeiter des Pressebüros der Fed: »Anscheinend hat die Deutsche Bank zwei Geldmarktfonds eingefroren, und die EZB stellt in einem Tender in Dollar denominierte Assets bereit. Ich habe mit Glenn Somerville von Reuters gesprochen. Er ist auf dem Weg zur Pressestelle des Finanzministeriums.«
Die Details waren falsch: Es handelte sich nicht um die Deutsche Bank, sondern um BNP Paribas, es waren nicht zwei, sondern drei Fonds, und die Refinanzierungskredite wurden nicht in Dollar, sondern in Euro angeboten. Aber die Kernaussage stimmte: Die EZB hatte in bisher ungekannter Art und Weise auf den Märkten interveniert. Und der mächtigste Mann in der amerikanischen Zentralbank erfuhr davon aus einer Meldung eines Reuters-Journalisten, die bei der Weitergabe durcheinander gewürfelt worden war. Als er sich um 7:30 Uhr mit Paulson zu Tisch setzte, um sein Cereal zu essen, war klar, dass etwas Wichtiges geschehen war - nur wusste niemand genau, was das war.
Erst um 8:52 Uhr erhielt Bernanke genauere Informationen. Kevin Warsh, ein Fed-Gouverneur, der schon oft als Emissär des Vorsitzenden mit Akteuren auf den Finanzmärkten und Vertretern anderer Zentralbanken gesprochen hatte, schickte eine E-Mail. »Mit dieser Maßnahme sendet die EZB zwei Signale an die Märkte«, schrieb Warsh, der den ganzen Morgen herumtelefoniert hatte. »Erstens ist sie bereit, für die nötige Liquidität zu sorgen, um die reibungslose Arbeit der europäischen Geldmärkte zu garantieren. Zweitens stellt sie die Liquidität zu ihrem aktuellen Zinssatz zur Verfügung, was bedeutet, dass sie in dem Liquiditätsengpass bisher keinen Grund für eine Änderung ihrer Geldpolitik sieht.« Die Amerikaner begriffen sofort, dass Trichet versuchte, einen deutlichen Trennstrich zwischen der einmaligen EZB-Intervention zugunsten des Finanzsystems und den Maßnahmen zur allgemeinen Unterstützung der schwachen europäischen Wirtschaft zu ziehen.
Nach dem Frühstück begab sich Bernanke in sein Büro im Eccles Building, einem weißen Marmorgebäude im Stadtteil Foggy Bottom. Um 11 Uhr vormittags traf er sich mit einem Mann namens Lewis Ranieri, der ihm etwas über die hypothekarisch gesicherten Wertpapiere erzählen sollte. Ranieri hatte in den achtziger Jahren als Anleihenhändler bei der Investmentbank Salomon Brothers wesentlich zur Entwicklung dieser Anlageklasse beigetragen. Er hatte den Markt, der jetzt implodierte, sozusagen erfunden. Um zwei Uhr nachmittags traf sich Bernanke mit Raymond Dalio und anderen Finanzmännern. Dalio war der Leiter von Bridgewater Associates, dem größten Hedgefonds der Welt, der ein Vermögen von 120 Milliarden Dollar verwaltete. Er hatte ein komplexes Modell zu den Kreditprozessen in der Volkswirtschaft entwickelt. Bernanke erhoffte sich von dem Gespräch nützliche Erkenntnisse, die der Fed helfen würden, die Ursachen der finanziellen und wirtschaftlichen Wirren besser zu verstehen.
Später an diesem Nachmittag versammelten sich Bernankes engste Berater, darunter Warsh und Madigan, im gediegenen Büro des Fed-Vorsitzenden an der National Mall, wo sie sich auf Sesseln und einer Ledercouch niederließen. Geithner wurde von Cape Cod aus zugeschaltet, wo er sein Mobiltelefon ans Ohr presste, während er im Ferienhaus seiner Familie und im Garten umherlief. Der stellvertretende Fed-Vorsitzende Don Kohn war auf dem Weg zu einer Hochzeit in New Hampshire und rief aus dem Auto an. In New York, wo die Fed-Niederlassung am Morgen 24 Milliarden in die Märkte gepumpt hatte, um die kurzfristigen Zinsen auf dem von der Fed angepeilten Niveau zu halten, saßen Marktexperten vor den Freisprechgeräten. Die amerikanischen Banken hatten keine so gravierenden Liquiditätsprobleme wie die europäischen, weshalb eine Intervention wie jene der EZB nicht notwendig schien. Aber es war ein schwieriger Tag an den amerikanischen Börsen: Der Dow Jones gab um 387 Punkte oder fast 3 Prozent nach.
Bernanke wollte der Welt zeigen, dass die Fed der EZB zur Seite stehen und bei Bedarf einspringen würde, um das Finanzsystem zu stabilisieren. Vielleicht sollte die amerikanische Zentralbank eine entsprechende Erklärung abgeben. Geithner, der in Krisen zumeist ein aggressives Vorgehen befürwortete, um das Vertrauen der Märkte zu stärken, wollte über eine Zinssenkung sprechen, um der Verknappung des Kredits zu begegnen. Man einigte sich jedoch darauf, dass ein solcher Schritt zumindest zu diesem Zeitpunkt verfrüht wäre. Eine Erklärung würde genügen.
Bernanke und seine Berater feilten an der Formulierung, und Michelle Smith, seine Assistentin für Öffentlichkeitsarbeit, brachte die Erklärung in ihrem Büro zu Papier. Um 17:37 Uhr schickte sie Bernanke einen Entwurf dessen, was die Fed der Welt am nächsten Morgen um 8 Uhr mitzuteilen hatte. In der gerade einmal 78 Worte langen Erklärung hieß es, dass »die einlagennehmenden Institute in der gegenwärtigen Situation aufgrund der Verwerfungen auf den Geld- und Kreditmärkten außer gewöhnliche Finanzierungsbedürfnisse haben können« und dass »die Federal Reserve Liquidität bereitstellt, um zu geordneten Abläufen auf den Finanzmärkten beizutragen.«
Mit anderen Worten: Bernanke und die Fed waren ebenfalls bereit, den Geldhahn aufzudrehen.
Das englische Cricketteam erlebte an diesem Donnerstag im Kennington Oval ein Auf und Ab mit schlechtem Ende. Indien schaffte am ersten Tag des fünftägigen Länderkampfs 316 Runs und verlor nur vier Wickets. Zentralbankchef Mervyn King hatte seine Mitarbeiter angewiesen, ihn nur im Notfall zu stören. Nun befanden sich die Mitarbeiter der Marktabteilung der Bank of England in ihrer festungsartigen Zentrale in der Londoner Threadneedle Street in einem interessanten Dilemma: Handelte es sich bei der Situation, die die überraschende Liquiditätsspritze der EZB erforderlich gemacht hatte, um eine Notlage?
Schließlich gelangten Kings Untergebene zu der Überzeugung, dass es sich tatsächlich um einen Notfall handelte, und riefen ihren Chef an. Dieser machte sich weniger Gedanken darüber, ob die Bank of England ebenfalls handeln sollte; er fragte sich eher, ob die EZB durch ihre Intervention nicht die Panik schürte und sich vielleicht besser herausgehalten hätte. Noch am Vortag hatte er in einer Pressekonferenz die Kreditknappheit als »willkommene Entwicklung« bezeichnet, die in seinen Augen auf eine »realistischere Einschätzung der Risiken « hindeutete.2 Hinter verschlossenen Türen ließ er keinen Zweifel daran, dass er Trichets Vorgehen für einen Fehler hielt. Er sagte zu seinen Vertrauten, sein alter Freund Jean-Claude habe überreagiert. Die Intervention der EZB könne eine notwendige und längst überfällige Marktkorrektur verhindern. Das Bankensystem müsse sich einfach von den Jahren der Exzesse erholen, und Großbritannien werde die Turbulenzen problemlos überstehen.
Anders als die Verantwortlichen bei der Fed und der EZB zweifelte Mervyn King, einer der renommiertesten britischen Ökonomen seiner Generation, ein Jahr lang am Ernst der Krise. Er glaubte an die Marktkräfte und sträubte sich sogar dann noch gegen Eingriffe, als die Märkte offenbar völlig verrückt spielten. »The King of Threadneedle Street«, wie man ihn nannte, war vollkommen von seinem eigenen Urteil überzeugt und attackierte ohne zu zögern jeden, der anderer Meinung war als er - auch wenn diese Person der mächtigste Zentralbanker auf dem europäischen Kontinent war. King, der in einem Land, in dem die Klassenzugehörigkeit sehr wichtig ist, als Sohn einer Arbeiterfamilie aufgewachsen war, hatte sich dank seines scharfen Intellekts und seines ausgeprägten Konkurrenzdenkens einen Platz in der britischen Machtelite erkämpft. Er war Anfang der neunziger Jahre als Chefvolkswirt zur Bank of England gekommen, zu einer Zeit, als die Bank viel von ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte, und hatte die angeschlagene Institution nach seinen Vorstellungen umgestaltet: gründlich in der Analyse, theoretisch beschlagen, unbarmherzig gegenüber Mitarbeitern oder Abteilungen, die abweichende Meinungen vertraten oder seinen hohen Ansprüchen nicht genügten.
Für die Bankenregulierung hatte King in den vorangegangenen Jahren kaum Interesse gezeigt. Im Gegensatz zur Geldpolitik mit ihrer eleganten wissenschaftlichen Theorie war die Bankenaufsicht in seinen Augen eine unerfreuliche Aufgabe. Er schien sogar eine persönliche Abneigung gegen die Bankiers zu hegen und äußerte sich privat geringschätzig über ihre Ansichten. »Die Stabilität des Finanzsektors spielte in der Zentralbank eine untergeordnete Rolle«, erklärt Kate Barker, die von 2001 bis 2010 dem Geldpolitischen Ausschuss der Bank of England angehörte. Kings Vorgänger Eddie George habe es bedauert, dass die Zentralbank die Funktion des Stabilitätshüters verloren hatte, »aber ich glaube, Mervyn hatte anfangs kein allzu großes Interesse daran«.
Tatsächlich überließ es King an jenem chaotischen Donnerstag seiner Stellvertreterin Rachel Lomax, die Bank of England in den Telefonkonferenzen mit seinen Amtskollegen in aller Welt zu vertreten. Später würde King genauso wie die anderen Zentralbanker im Kampf gegen die Panik an vorderster Front stehen. Aber an jenem ersten Tag hielt er es nicht für nötig, sich mit der Finanzkrise zu beschäftigen.
Die Leiter der drei großen westlichen Zentralbanken lebten in verschiedenen Welten: Sie waren nicht nur räumlich weit voneinander entfernt, sondern schätzten das Problem, mit dem die Weltwirtschaft konfrontiert war, und die erforderlichen Antworten sehr unterschiedlich ein. Für Trichet war die Panik im Bankensektor das Problem, er sah einen plötzlich verunsicherten Finanzmarkt. In Kings Augen war dies nur eine notwendige Korrektur nach einer langen Zeit der Exzesse. Bernanke sah verschiedene, miteinander verflochtene Risiken für das Bankensystem und die Gesamtwirtschaft. Das lag teilweise daran, dass die Vereinigten Staaten das Epizentrum der Krise auf dem Immobilienmarkt und Urheber der faulen Hypothekenkredite waren, die nun die Schwierigkeiten in Europa auslösten. Aber es hatte auch mit seiner wissenschaftlichen Ausbildung zu tun. Bernanke war einer der besten Kenner der Weltwirtschaftskrise der zwanziger und dreißiger Jahre und hatte aus seiner Forschungsarbeit die Lehre gezogen, dass die wirtschaftlichen Wirren jener Zeit von einem »Finanzakzelerator « ausgelöst worden waren: Infolge einer Bankenkrise war die Wirtschaft nicht mehr mit Kapital versorgt worden, und die Schwäche der Wirtschaft hatte zum Zusammenbruch weiterer Banken geführt, was wiederum die Wirtschaft zusätzlich geschwächt hatte. Sollte es nötig werden, so war Bernanke entschlossen, sämtliche Mittel der Federal Reserve einzusetzen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Es war reines Glück, dass die amerikanische Zentralbank
Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer
© econ
Am 9. August 2007 wachte Jean-Claude Trichet im Haus seiner Familie in dem Küstenort Saint-Malo in der Bretagne auf. Nach einem aufreibenden Arbeitsjahr an der Spitze der Europäischen Zentralbank brauchte er einen Sommerurlaub. Er wollte einen Ausflug in seinem Motorboot unternehmen und ein wenig Zeit mit seinen Enkeln verbringen. Auch Mervyn King, der Gouverneur der Bank of England, wollte sich an diesem Donnerstag erholen: Er würde von seiner Wohnung in Notting Hill zum Kennington Oval im Süden Londons fahren, um sich einen Cricket-Länderkampf zwischen England und Indien anzusehen. Ben Bernanke, der Vorsitzende der Federal Reserve, hatte als Einziger der drei Männer, die bald versuchen mussten, die Welt durch eine fünfjährige Zeit der finanziellen und wirtschaftlichen Wirren zu steuern, an diesem Tag berufliche Verpflichtungen. Er war im Finanzministerium zu einem Arbeitsfrühstück mit dem Ressortchef Henry Paulson verabredet. Bernanke würde Haferbrei essen.
Aber für keinen der drei Männer sollte der Tag so verlaufen wie geplant.
Gegen halb acht Uhr morgens klingelte Trichets Telefon. Der Anrufer war Francesco Papadia, der Leiter der Finanzmarktabteilung in der EZB-Zentrale in Frankfurt. »Wir haben ein Problem«, sagte er.
Die französische Großbank BNP Paribas hatte bekannt gegeben, dass sie drei Investmentfonds einfrieren würde. Die Fonds hatten auf dem amerikanischen Markt hohe Summen in hypothekarisch gesicherte Wertpapiere investiert, die praktisch nicht mehr zu bewerten waren. Daher würde die Bank das Geld ihrer Kunden einfrieren, bis sie Klarheit über den genauen Wert der Investments hatte. An und für sich war das kein weltbewegender Schritt: Die drei eher unbekannten Fonds verwalteten zusammen Vermögenswerte von gerade einmal 1,6 Milliarden Euro.
Aber die Ankündigung von BNP Paribas bestätigte die schlimmsten Befürchtungen der europäischen Bankiers. Sie machten sich seit Wochen Sorgen über die möglichen Verluste mit amerikanischen Hypothekenkrediten. Ende Juli war der Markt für diese angeblich extrem sicheren Papiere, die bis Mitte des Jahres frei gehandelt worden waren, praktisch zusammengebrochen. Mehr und mehr Amerikaner, die sich verschuldet hatten, um ein Haus in Tampa, Cleveland oder Phoenix zu kaufen, konnten ihre Kreditraten nicht mehr zahlen, und plötzlich wurden Zweifel laut: Was, wenn all diese Wertpapiere mit der Bonitätseinstufung AAA in Wahrheit gar nicht so sicher waren? Hatten die Banken möglicherweise Unsummen in Schuldtitel gesteckt, die gar nicht so viel wert waren, wie man geglaubt hatte? Und wenn BNP Paribas nicht wusste, wie viel ihre Fonds wert waren, wie konnten dann andere Banken wissen, wie groß die Risiken ihrer hypothekarisch gesicherten Wertpapiere waren?
Nicht umsonst stammt das Wort »Kredit« vom lateinischen »credere«, das »glauben« oder »vertrauen« bedeutet. Die Banken verwenden als sicher eingestufte Wertpapiere fast so, als handelte es sich um Bargeld: Wann immer sie sich Geld leihen, hinterlegen sie solche Schuldverschreibungen bei der anderen Bank als Sicherheitsgegenstand. Das ist einer der grundlegenden Mechanismen, die gewährleisten, dass die Banken stets genau jene Menge an Geld zur Verfügung haben, die sie brauchen, um ihre Verpflichtungen erfüllen zu können. Aber als Anfang August 2007 das Problem mit den hypothekarisch gesicherten Wertpapieren auftrat, wurde es plötzlich kompliziert. Das Problem war nicht nur, dass diese Wertpapiere weniger wert waren als zuvor - die Banken können mit Verlusten umgehen. Das Problem war, dass niemand wusste, wie viel sie tatsächlich an Wert verloren hatten: Wenn eine Bank einer anderen Geld lieh und hypothekarisch gesicherte Wertpapiere als Sicherheit akzeptierte, konnte sie nicht mehr sicher sein, dass sie ihr Geld je zurückbekommen würde.
Papadia und seine Mitarbeiter sprachen regelmäßig mit Fachleuten in 20 europäischen Großbanken, die der »Geldmarktkontaktgruppe « der EZB angehörten, und die Mitglieder der Gruppe warnten seit mehreren Tagen vor einem unmittelbar bevorstehenden »Infarkt«, wie es ein EZB-Vertreter ausdrückte. Am Donnerstagmorgen war es soweit: Nach der Ankündigung von BNP Paribas versiegte innerhalb kürzester Zeit der übliche Kapitalstrom. Alle Banken versuchten, sich selbst in Sicherheit zu bringen. »Heute wurde das Vertrauen erschüttert«, sagte Thomas Mayer, der europäische Chefvolkswirt der Deutschen Bank, im Gespräch mit der New York Times.1 Ein Spitzenmanager einer großen globalen Bank sagte später: »Keiner von uns hatte so etwas je erlebt. Es war, als käme eines Tages aus dem Wasserhahn, aus dem man sein Leben lang getrunken hat, kein Wasser mehr.«
Die Metapher war treffender, als man meinen sollte, denn tatsächlich versiegte an jenem Tag die Liquidität des Bankensystems. Plötzlich kam man an Euro, Dollar und Pfund nicht mehr heran, indem man einfach den Hahn aufdrehte. Die Geschichte lehrt uns wieder und wieder: Wenn die Banken dichtmachen und ihr Geld horten, kommt auch die Wirtschaft zum Stillstand, da sie von den Banken nicht mehr mit Geld versorgt wird. Eine Bank, die anderen Banken keinen Kredit mehr geben will, wird mit einiger Sicherheit auch nicht mehr bereit sein, Unternehmen und Privathaushalten Kredit zu gewähren, die Geld brauchen, um ihren Betrieb zu finanzieren oder ein Haus zu kaufen.
Sollte es nicht gelingen, die Bankenkrise in Europa unter Kontrolle zu bringen, so konnte die Weltwirtschaft ungeheuren Schaden erleiden. Plötzlich erwies sich die Gewohnheit der Europäer, im Sommer für längere Zeit in den Urlaub zu fahren, als sehr ungünstig.
Trichet wies Papadia an, das Direktorium einzuberufen. Dieses sechsköpfige Gremium führt die Geschäfte der EZB - unter anderem kann es aus dünner Luft Euro fabrizieren. Die EZB- Mitarbeiter in Frankfurt begannen, die Verantwortlichen in ihren Feriendomizilen in Spanien, Italien und Griechenland aufzuspüren, um eine Telefonkonferenz zu organisieren. Trichet zog sich im Urlaub normalerweise hinter die Stadtmauern von Saint-Malo zurück, um ungestört Gedichte und philosophische Abhandlungen zu lesen. Aber in diesem August verwandelte sich die malerische kleine Hafenstadt für kurze Zeit in das Nervenzentrum der Finanzwelt. Von dort aus leitete Trichet die erste Phase der europäischen Offensive gegen die erste große Finanzkrise des 21. Jahrhunderts.
Um zehn Uhr morgens waren alle Mitglieder des Direktoriums zugeschaltet. Trichet drängte sie: »Wir können nur eins tun. Wir müssen den Markt mit Liquidität versorgen.« Die EZB müsse das Bankensystem mit Geld fluten. Die Zentralbank solle ihre Funktion als »Kreditgeber der letzten Instanz« erfüllen und dort in die Bresche springen, wo sich die Privatbanken zurückzogen. Die EZB sollte dabei auf das übliche Verfahren verzichten, eine bestimmte Summe in das Bankensystem zu pumpen, und stattdessen allen Banken, die Geld brauchten, unbeschränkten Kredit anbieten. Die technische Bezeichnung für das, was Trichet und das EZB-Direktorium an diesem Tag um 12:30 Uhr taten, lautet »Festzinstender mit voller Zuteilung «.
Übersetzung: Kommt und nehmt euch, was ihr braucht. Wir werden euch so viel Geld wie benötigt zum Zinssatz von 4 Prozent zuteilen.
49 Banken liehen sich 95 Milliarden Euro.
Die Federal Reserve Bank von New York hat eine Finanzmarktabteilung, die ständig beobachtet, was auf den globalen Finanzmärkten vor sich geht, aber in den frühen Morgenstunden jenes Donnerstags (Ostküstenzeit) hatte nur eine Handvoll junger Mitarbeiter Dienst, die die nächtlichen Marktaktivitäten verfolgten. Es sollte noch einige Stunden dauern, bis der New Yorker Fed-Präsident Timothy Geithner, der gerade in Cape Cod Urlaub machte, und Fed-Chef Ben Bernanke, der sich gerade in seinem Haus am Capitol Hill auf das Frühstück mit Finanzminister Paulson vorbereitete, die Neuigkeiten aus Europa erfuhren.
Um 6:49 Uhr morgens erhielt Bernanke eine E-Mail von Brian Madigan, dem Leiter der geldpolitischen Abteilung der Fed, der ihm mitteilte, dass »die Märkte, wie Sie vermutlich schon gesehen haben, über Nacht starke Kursverluste erlitten haben«. Madigan informierte seinen Chef über die Geschehnisse auf den europäischen Anleihen- und Aktienmärkten. Aber er wusste noch nichts von der Intervention der EZB. Es verging noch fast eine halbe Stunde, bis Bernanke auf dem Weg zu seinem Treffen mit Paulson erfuhr, dass die EZB etwas sehr Ungewöhnliches getan hatte. Er saß in seinem Dienstwagen, einem schwarzen Cadillac, der von einem Sicherheitsmann der Zentralbank über die Independence Avenue gesteuert wurde, als er um 7:16 Uhr eine E-Mail von David Skidmore erhielt, einem Mitarbeiter des Pressebüros der Fed: »Anscheinend hat die Deutsche Bank zwei Geldmarktfonds eingefroren, und die EZB stellt in einem Tender in Dollar denominierte Assets bereit. Ich habe mit Glenn Somerville von Reuters gesprochen. Er ist auf dem Weg zur Pressestelle des Finanzministeriums.«
Die Details waren falsch: Es handelte sich nicht um die Deutsche Bank, sondern um BNP Paribas, es waren nicht zwei, sondern drei Fonds, und die Refinanzierungskredite wurden nicht in Dollar, sondern in Euro angeboten. Aber die Kernaussage stimmte: Die EZB hatte in bisher ungekannter Art und Weise auf den Märkten interveniert. Und der mächtigste Mann in der amerikanischen Zentralbank erfuhr davon aus einer Meldung eines Reuters-Journalisten, die bei der Weitergabe durcheinander gewürfelt worden war. Als er sich um 7:30 Uhr mit Paulson zu Tisch setzte, um sein Cereal zu essen, war klar, dass etwas Wichtiges geschehen war - nur wusste niemand genau, was das war.
Erst um 8:52 Uhr erhielt Bernanke genauere Informationen. Kevin Warsh, ein Fed-Gouverneur, der schon oft als Emissär des Vorsitzenden mit Akteuren auf den Finanzmärkten und Vertretern anderer Zentralbanken gesprochen hatte, schickte eine E-Mail. »Mit dieser Maßnahme sendet die EZB zwei Signale an die Märkte«, schrieb Warsh, der den ganzen Morgen herumtelefoniert hatte. »Erstens ist sie bereit, für die nötige Liquidität zu sorgen, um die reibungslose Arbeit der europäischen Geldmärkte zu garantieren. Zweitens stellt sie die Liquidität zu ihrem aktuellen Zinssatz zur Verfügung, was bedeutet, dass sie in dem Liquiditätsengpass bisher keinen Grund für eine Änderung ihrer Geldpolitik sieht.« Die Amerikaner begriffen sofort, dass Trichet versuchte, einen deutlichen Trennstrich zwischen der einmaligen EZB-Intervention zugunsten des Finanzsystems und den Maßnahmen zur allgemeinen Unterstützung der schwachen europäischen Wirtschaft zu ziehen.
Nach dem Frühstück begab sich Bernanke in sein Büro im Eccles Building, einem weißen Marmorgebäude im Stadtteil Foggy Bottom. Um 11 Uhr vormittags traf er sich mit einem Mann namens Lewis Ranieri, der ihm etwas über die hypothekarisch gesicherten Wertpapiere erzählen sollte. Ranieri hatte in den achtziger Jahren als Anleihenhändler bei der Investmentbank Salomon Brothers wesentlich zur Entwicklung dieser Anlageklasse beigetragen. Er hatte den Markt, der jetzt implodierte, sozusagen erfunden. Um zwei Uhr nachmittags traf sich Bernanke mit Raymond Dalio und anderen Finanzmännern. Dalio war der Leiter von Bridgewater Associates, dem größten Hedgefonds der Welt, der ein Vermögen von 120 Milliarden Dollar verwaltete. Er hatte ein komplexes Modell zu den Kreditprozessen in der Volkswirtschaft entwickelt. Bernanke erhoffte sich von dem Gespräch nützliche Erkenntnisse, die der Fed helfen würden, die Ursachen der finanziellen und wirtschaftlichen Wirren besser zu verstehen.
Später an diesem Nachmittag versammelten sich Bernankes engste Berater, darunter Warsh und Madigan, im gediegenen Büro des Fed-Vorsitzenden an der National Mall, wo sie sich auf Sesseln und einer Ledercouch niederließen. Geithner wurde von Cape Cod aus zugeschaltet, wo er sein Mobiltelefon ans Ohr presste, während er im Ferienhaus seiner Familie und im Garten umherlief. Der stellvertretende Fed-Vorsitzende Don Kohn war auf dem Weg zu einer Hochzeit in New Hampshire und rief aus dem Auto an. In New York, wo die Fed-Niederlassung am Morgen 24 Milliarden in die Märkte gepumpt hatte, um die kurzfristigen Zinsen auf dem von der Fed angepeilten Niveau zu halten, saßen Marktexperten vor den Freisprechgeräten. Die amerikanischen Banken hatten keine so gravierenden Liquiditätsprobleme wie die europäischen, weshalb eine Intervention wie jene der EZB nicht notwendig schien. Aber es war ein schwieriger Tag an den amerikanischen Börsen: Der Dow Jones gab um 387 Punkte oder fast 3 Prozent nach.
Bernanke wollte der Welt zeigen, dass die Fed der EZB zur Seite stehen und bei Bedarf einspringen würde, um das Finanzsystem zu stabilisieren. Vielleicht sollte die amerikanische Zentralbank eine entsprechende Erklärung abgeben. Geithner, der in Krisen zumeist ein aggressives Vorgehen befürwortete, um das Vertrauen der Märkte zu stärken, wollte über eine Zinssenkung sprechen, um der Verknappung des Kredits zu begegnen. Man einigte sich jedoch darauf, dass ein solcher Schritt zumindest zu diesem Zeitpunkt verfrüht wäre. Eine Erklärung würde genügen.
Bernanke und seine Berater feilten an der Formulierung, und Michelle Smith, seine Assistentin für Öffentlichkeitsarbeit, brachte die Erklärung in ihrem Büro zu Papier. Um 17:37 Uhr schickte sie Bernanke einen Entwurf dessen, was die Fed der Welt am nächsten Morgen um 8 Uhr mitzuteilen hatte. In der gerade einmal 78 Worte langen Erklärung hieß es, dass »die einlagennehmenden Institute in der gegenwärtigen Situation aufgrund der Verwerfungen auf den Geld- und Kreditmärkten außer gewöhnliche Finanzierungsbedürfnisse haben können« und dass »die Federal Reserve Liquidität bereitstellt, um zu geordneten Abläufen auf den Finanzmärkten beizutragen.«
Mit anderen Worten: Bernanke und die Fed waren ebenfalls bereit, den Geldhahn aufzudrehen.
Das englische Cricketteam erlebte an diesem Donnerstag im Kennington Oval ein Auf und Ab mit schlechtem Ende. Indien schaffte am ersten Tag des fünftägigen Länderkampfs 316 Runs und verlor nur vier Wickets. Zentralbankchef Mervyn King hatte seine Mitarbeiter angewiesen, ihn nur im Notfall zu stören. Nun befanden sich die Mitarbeiter der Marktabteilung der Bank of England in ihrer festungsartigen Zentrale in der Londoner Threadneedle Street in einem interessanten Dilemma: Handelte es sich bei der Situation, die die überraschende Liquiditätsspritze der EZB erforderlich gemacht hatte, um eine Notlage?
Schließlich gelangten Kings Untergebene zu der Überzeugung, dass es sich tatsächlich um einen Notfall handelte, und riefen ihren Chef an. Dieser machte sich weniger Gedanken darüber, ob die Bank of England ebenfalls handeln sollte; er fragte sich eher, ob die EZB durch ihre Intervention nicht die Panik schürte und sich vielleicht besser herausgehalten hätte. Noch am Vortag hatte er in einer Pressekonferenz die Kreditknappheit als »willkommene Entwicklung« bezeichnet, die in seinen Augen auf eine »realistischere Einschätzung der Risiken « hindeutete.2 Hinter verschlossenen Türen ließ er keinen Zweifel daran, dass er Trichets Vorgehen für einen Fehler hielt. Er sagte zu seinen Vertrauten, sein alter Freund Jean-Claude habe überreagiert. Die Intervention der EZB könne eine notwendige und längst überfällige Marktkorrektur verhindern. Das Bankensystem müsse sich einfach von den Jahren der Exzesse erholen, und Großbritannien werde die Turbulenzen problemlos überstehen.
Anders als die Verantwortlichen bei der Fed und der EZB zweifelte Mervyn King, einer der renommiertesten britischen Ökonomen seiner Generation, ein Jahr lang am Ernst der Krise. Er glaubte an die Marktkräfte und sträubte sich sogar dann noch gegen Eingriffe, als die Märkte offenbar völlig verrückt spielten. »The King of Threadneedle Street«, wie man ihn nannte, war vollkommen von seinem eigenen Urteil überzeugt und attackierte ohne zu zögern jeden, der anderer Meinung war als er - auch wenn diese Person der mächtigste Zentralbanker auf dem europäischen Kontinent war. King, der in einem Land, in dem die Klassenzugehörigkeit sehr wichtig ist, als Sohn einer Arbeiterfamilie aufgewachsen war, hatte sich dank seines scharfen Intellekts und seines ausgeprägten Konkurrenzdenkens einen Platz in der britischen Machtelite erkämpft. Er war Anfang der neunziger Jahre als Chefvolkswirt zur Bank of England gekommen, zu einer Zeit, als die Bank viel von ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte, und hatte die angeschlagene Institution nach seinen Vorstellungen umgestaltet: gründlich in der Analyse, theoretisch beschlagen, unbarmherzig gegenüber Mitarbeitern oder Abteilungen, die abweichende Meinungen vertraten oder seinen hohen Ansprüchen nicht genügten.
Für die Bankenregulierung hatte King in den vorangegangenen Jahren kaum Interesse gezeigt. Im Gegensatz zur Geldpolitik mit ihrer eleganten wissenschaftlichen Theorie war die Bankenaufsicht in seinen Augen eine unerfreuliche Aufgabe. Er schien sogar eine persönliche Abneigung gegen die Bankiers zu hegen und äußerte sich privat geringschätzig über ihre Ansichten. »Die Stabilität des Finanzsektors spielte in der Zentralbank eine untergeordnete Rolle«, erklärt Kate Barker, die von 2001 bis 2010 dem Geldpolitischen Ausschuss der Bank of England angehörte. Kings Vorgänger Eddie George habe es bedauert, dass die Zentralbank die Funktion des Stabilitätshüters verloren hatte, »aber ich glaube, Mervyn hatte anfangs kein allzu großes Interesse daran«.
Tatsächlich überließ es King an jenem chaotischen Donnerstag seiner Stellvertreterin Rachel Lomax, die Bank of England in den Telefonkonferenzen mit seinen Amtskollegen in aller Welt zu vertreten. Später würde King genauso wie die anderen Zentralbanker im Kampf gegen die Panik an vorderster Front stehen. Aber an jenem ersten Tag hielt er es nicht für nötig, sich mit der Finanzkrise zu beschäftigen.
Die Leiter der drei großen westlichen Zentralbanken lebten in verschiedenen Welten: Sie waren nicht nur räumlich weit voneinander entfernt, sondern schätzten das Problem, mit dem die Weltwirtschaft konfrontiert war, und die erforderlichen Antworten sehr unterschiedlich ein. Für Trichet war die Panik im Bankensektor das Problem, er sah einen plötzlich verunsicherten Finanzmarkt. In Kings Augen war dies nur eine notwendige Korrektur nach einer langen Zeit der Exzesse. Bernanke sah verschiedene, miteinander verflochtene Risiken für das Bankensystem und die Gesamtwirtschaft. Das lag teilweise daran, dass die Vereinigten Staaten das Epizentrum der Krise auf dem Immobilienmarkt und Urheber der faulen Hypothekenkredite waren, die nun die Schwierigkeiten in Europa auslösten. Aber es hatte auch mit seiner wissenschaftlichen Ausbildung zu tun. Bernanke war einer der besten Kenner der Weltwirtschaftskrise der zwanziger und dreißiger Jahre und hatte aus seiner Forschungsarbeit die Lehre gezogen, dass die wirtschaftlichen Wirren jener Zeit von einem »Finanzakzelerator « ausgelöst worden waren: Infolge einer Bankenkrise war die Wirtschaft nicht mehr mit Kapital versorgt worden, und die Schwäche der Wirtschaft hatte zum Zusammenbruch weiterer Banken geführt, was wiederum die Wirtschaft zusätzlich geschwächt hatte. Sollte es nötig werden, so war Bernanke entschlossen, sämtliche Mittel der Federal Reserve einzusetzen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Es war reines Glück, dass die amerikanische Zentralbank
Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer
© econ
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Autoren-Porträt von Neil Irwin
Neil Irwin ist Journalist und arbeitet seit 10 über Jahren für das Wirtschaftsressort der Washington Post. Er hat direkten Zugang zu allen führenden Zentralbankern und ist einer der wenigen Journalisten, die bei dem jährlichen Treffen in Jackson Hole dabei sein dürfen. Für seine Artikel hat Neil Irwin bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Neil Irwin
- 2013, 512 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Gebauer, Stephan
- Übersetzer: Stephan Gebauer
- Verlag: ECON
- ISBN-10: 3430201268
- ISBN-13: 9783430201261
- Erscheinungsdatum: 11.10.2013
Rezension zu „Die Alchemisten “
"Gerade vor dem Hintergrund der Machtverschiebungen liest sich Irwins Buch wie ein Kriminalroman", Deutschlandfunk ("Andruck"), Eva Bahners, 18.11.2013
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