Der Ritter, den es nicht gab
Roman
Der Ritter Agilulf ist der beste Ritter im Heer Karls des Grossen: perfekt, humorlos und pedantisch. Er hat nur einen Makel, es gibt ihn nicht. Und so kann er bei einer Parade vor dem Kaiser auch sein Gesicht nicht zeigen: »Weil es mich nicht gibt,...
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Produktinformationen zu „Der Ritter, den es nicht gab “
Klappentext zu „Der Ritter, den es nicht gab “
Der Ritter Agilulf ist der beste Ritter im Heer Karls des Grossen: perfekt, humorlos und pedantisch. Er hat nur einen Makel, es gibt ihn nicht. Und so kann er bei einer Parade vor dem Kaiser auch sein Gesicht nicht zeigen: »Weil es mich nicht gibt, Majestät!« Calvinos turbulente Abenteuergeschichte ist auch eine Parodie auf die mittelalterliche Ritterwelt und in mehr als einer Hinsicht absolut phantastisch und unterhaltsam.
Lese-Probe zu „Der Ritter, den es nicht gab “
Der Ritter, den es nicht gab von Italo Calvino Kapitel 1
Unter den roten Mauern von Paris war das Heer der Franken angetreten. Karl der Große sollte die Parade abnehmen. Gut drei Stunden standen die Paladine bereits da; es war heiß: ein etwas bedeckter, wolkiger Frühsommernachmittag; in den Rüstungen schmorte es wie in Kochtöpfen über langsamem Feuer. Wohl möglich, daß manch einer in dieser unbewegten Ritterfront schon das Bewußtsein verloren hatte oder eingeschlummert war, doch hielt der Harnisch alle gleichermaßen aufrecht in ihren Sätteln. Plötzlich erschollen drei Trompetenstöße; in der stillen Luft bauschten sich die Federn der Helmbüsche auf wie bei einem Windstoß, und sofort verstummte jenes meeresgleiche Brausen, das man soeben noch hatte hören können: offensichtlich das Schnarchen der Krieger im metallenen Schlund der Helme. Dort endlich - sie gewahrten ihn in der Ferne, Karl der Große, wie er auf einem ungewöhnlich mächtigen Roß daherkam, den Bart bis über die Brust, die Hände am Sattelknauf. Er herrscht und führt Krieg, führt Krieg und herrscht, unentwegt; er schien etwas gealtert seit jenem Mal, da ihn die Ritter zuletzt gesehen.
Er hielt sein Pferd vor jedem Offizier an und wandte sich ihm zu, um ihn von oben bis unten zu betrachten. »Und wer seid Ihr, fränkischer Paladin?«
»Salomon von der Bretagne, Majestät!« antwortete der Angesprochene mit lauter Stimme, lüftete zugleich das Visier und zeigte sein erhitztes Gesicht; sodann fügte er einige praktische Angaben hinzu, wie etwa: »Fünftausend Ritter, dreitausendfünfhundert Fußsoldaten, achtzehnhundert Knechte, seit fünf Jahren im Felde.«
... mehr
»Auf geht's mit den Bretonen, mein Paladin«, sagte Karl, und tack-tack, tack-tack kam er zu einem anderen Anführer.
»Undwerseidihr, fränkischer Paladin?« fragte er von neuem.
»Oliver von Wien, Majestät!« skandierten die Lippen, sobald sich die Helmklappe geöffnet hatte. Und dann: »Dreitausend ausgesuchte Reiter, siebentausend das Fußvolk, zwanzig Mauerbrecher. Sieger über den Heiden Fierabraccia durch Gottes Gnaden und zum Ruhme Karls, Königs der Franken!«
»Gut gemacht, bravo, Wiener!« sagte Karl der Große; er wandte sich den Offizieren seines Gefolges zu: »Die Pferde sind etwas mager, Haferrationen erhöhen!« Und weiter ging es.
»Undwerseidihr, fränkischer Paladin?« wiederholte er in immer gleichem Tonfall. »Tatatatà, tàtata tatatà ...«
»Bernhard von Montpellier; Majestät! Sieger über Brunamonte und Galifer.«
»Schöne Stadt, Montpellier! Die Stadt der schönen Frauen!« Und zu seiner Begleitung: »Schau zu, ob wir ihn nicht befördern können!« Alles Dinge, die, vom König gesagt, Freude machen; nur, seit so vielen Jahren waren es immer die gleichen Wendungen.
»Undwerseidihr, mit dem Wappen, das mir bekannt vorkommt? «
Er erkannte alle an dem Wappen auf ihrem Schild, ohne daß sie etwas hätten zu sagen brauchen; aber es war üblich, daß ein jeder selbst Namen und Gesicht kundtat, vielleicht, weil sonst jemand, der Besseres zu tun fand, als an der Parade teilzunehmen, einfach seine Rüstung mit einem anderen hätte entsenden können.
»Aluard von Dordogne, Sohn des Herzogs Haimon ...«
»So ist's recht, Aluard, was sagt denn der Papa?« und so fort. »Tatatatà, tàtata tatatà ...«
»Gottfried von Monjoie! Achttausend Reiter, Gefallene ausgenommen! « Die Helmbüsche schwankten. »Roger der Däne! Namo von Bayern! Palmerin von England!«
Der Abend sank nieder. Die Gesichter zwischen Visierhaube und Brustsatz ließen sich kaum mehr unterscheiden. Jedes Wort, jede Geste war vorauszusehen - wie alles in diesem Krieg, der schon so lange dauerte. Jedes Treffen, jeder Zweikampf wurde stets nach den gleichen Regeln ausgefochten. Schon heute wußte man, wer morgen als Sieger oder Besiegter, als Held oder Feigling dastehen würde; wem es bestimmt war, mit aufgeschlitztem Bauch zu enden, oder wer mit einem Sturz vom Pferd und einem wehen Hintern davonkommen konnte. Abends, beim Schein der Fackeln, hämmerten die Schmiede an den Rüstungen stets die gleichen Beulen aus.
»Und Ihr?« Der König hielt jetzt vor einem Ritter in strahlendweißer Rüstung; nur ein schmaler, schwarzer Streifen zierte die Ränder, sonst war sie blendend hell, in bestem Zustand, ohne einen Kratzer, tadellos in den Scharnieren. Darüber ragte der Helm mit einem Federbusch, der von irgendeinem orientalischen Hahn herrühren mochte und in allen Regenbogenfarben schillerte. Auf dem Schild war zwischen den beiden Zipfeln eines bauschigen Mantels ein Wappen abgebildet, und innerhalb dieses Wappens öffneten sich zwei weitere Umhänge über einem kleineren Wappen, das seinerseits ein noch kleineres, von Draperie umhülltes enthielt. In immer feineren Umrissen war eine Folge von Mänteln dargestellt, von denen ein jeder sich innerhalb des anderen öffnete, und in der Mitte mußte irgend etwas sein, was man jedoch nicht erkennen konnte, so winzig wurde die Zeichnung. »Und wer seid denn Ihr, in einem so sauberen Aufzuge ...«, sagte Karl der Große, der, je länger der Krieg dauerte, immer seltener bei der Inspektion seiner Paladine die Gebote der Sauberkeit beachtet fand.
»Ich bin« - metallisch drang die Stimme aus dem geschlossenen Helm, als vibriere darin nicht ein Kehlkopf, sondern lediglich, mit schwachem Widerhall, das Blech der Rüstung - »Agilulf Emo Bertrandino derer von Guildiverne und der anderen von Korbentratz und Sura, Ritter von Selimpia Citerior und Fez.«
»Oooh ...«, machte Karl der Große und stieß mit einem kurzen harten Geräusch Luft gegen die vorgeschobene Unterlippe, als wolle er sagen: Ich hätte viel zu tun, wenn ich mir die Namen von ihnen allen merken müßte. Aber dann runzelte er sogleich die Brauen. »Und weshalb öffnet Ihr nicht das Visier und zeigt Euer Gesicht?«
Der Ritter rührte sich nicht; seine Rechte in einem dicht gewobenen Eisenhandschuh umklammerte fester den Sattelbaum, während der andere Arm, der den Schild hielt, wie von einem Schauer durchlaufen schien.
»Heda, ich frage Euch, Paladin!« wiederholte Karl der Große mit Nachdruck. »Warum zeigt Ihr Eurem König nicht das Gesicht? «
Die Stimme drang deutlich durch die Kinnkette: »Weil es mich nicht gibt, Majestät!«
»Das ist ja allerhand!« rief der Kaiser. »Jetzt haben wir im Heer auch einen Ritter, den es gar nicht gibt! Laßt doch einmal sehen.«
Agilulf schien noch einen Augenblick zu zögern, dann öffnete er das Visier mit ruhiger, wenn auch langsamer Hand. Der Helm war leer. In der weißen Rüstung mit dem regenbogenfarbenen Helmbusch steckte niemand.
»Aber nein! Was man nicht alles zu sehen bekommt!« staunte Karl der Große. »Und wie bringt Ihr es fertig, Dienst zu tun, wenn Ihr gar nicht da seid?«
»Mit der Kraft meines Willens«, antwortete Agilulf, »und dem Glauben an unsere heilige Sache!«
»Ach so ... ach so, gut gesagt. So soll man seine Pflicht tun! Na schön, für einen, der nicht existiert, seid Ihr in Ordnung!«
Agilulf war Flügelmann. Der Kaiser hatte nunmehr allen die Parade abgenommen; er wendete sein Pferd und entfernte sich in Richtung der königlichen Zelte. Er war alt und suchte schwierige Fragen seinem Sinn fernzuhalten.
Die Trompete blies das Signal zum Wegtreten. Die Pferde liefen wie üblich auseinander, und der große Wald der Lanzen neigte sich, schwankte in Wellen wie ein Kornfeld, durch das der Wind streicht. Die Ritter stiegen aus ihren Sätteln, stapften umher, um sich die Beine zu vertreten; Schildknappen führten die Pferde am Zügel fort. Dann lösten sich aus Gewühl und Staubwolken einzelne Paladine heraus, sammelten sich zu kleinen Gruppen, aus denen bunte Helmbüsche hervorleuchteten, und erholten sich - mit Scherz und Prahlereien, mit Klatsch über Frauen und Komplimenten - von der erzwungenen Reglosigkeit jener Stunden.
Agilulf tat ein paar Schritte, um sich unter eine dieser Gruppen zu mischen. Dann ging er ohne jeden Grund weiter zu einer anderen, drängte sich aber nicht vor, wurde auch von niemandem beachtet. Etwas unschlüssig blieb er bald hinter diesem, bald bei jenem stehen, ohne sich an ihren Gesprächen zu beteiligen. Schließlich wandte er sich ab. Die Dämmerung sank herab; die irisierenden Federn auf seinem Helmbusch hatten jetzt alle die gleiche unbestimmte Färbung angenommen, doch die weiße Rüstung hob sich noch als einzige von der Wiese ab. Als fühle er sich mit einem mal entblößt, kreuzte Agilulf die Arme und zog die Schultern zusammen. Dann raffte er sich auf und strebte mit großen Schritten den Stallungen zu. Dort stellte er fest, daß die Wartung der Pferde nicht den Vorschriften entsprach; er fuhr die Knechte an, verhängte Strafen über Stallburschen, beaufsichtigte alle Verrichtungen, verteilte die Arbeit aufs neue, wobei er einen jeden bis ins kleinste unterwies, was er zu tun habe, und ließ sich das Gesagte wiederholen, um festzustellen, ob man ihn auch richtig verstehe. Und da sich unentwegt zeigte, wie säumig im Dienst seine Kollegen, die Offiziere und Paladine, gewesen waren, rief er auch sie, einen nach dem anderen, ohne Rücksicht auf ihr angenehm müßiges Abendgeplauder, und hielt ihnen in aller Zurückhaltung, aber mit Präzision und Entschiedenheit ihre Nachlässigkeiten vor. Sodann nötigte er den einen, Posten zu beziehen, einen zweiten, die Nachtwache zu übernehmen, einen dritten, eine Patrouille zu fuhren, und so fort. Immer hatte er recht, und die Paladine konnten sich ihm nicht entziehen, doch verhehlten sie kaum ihr Mißvergnügen. Agilulf Emo Bertrandino derer von Guildiverne und der anderen von Korbentratz und Sura, Ritter von Selimpia Citerior und Fez war ohne Zweifel das Musterbild eines Soldaten, aber er war ihnen allen unsympathisch.
Kapitel 2
Die Nacht ist für lagernde Heere geregelt wie der gestirnte Himmel: Es gibt die Wachablösungen, den Offizier vom Dienst, die Patrouillen. Alles übrige - die ständige Unordnung innerhalb einer Armee im Kriegszustand, das tägliche Durcheinander, aus dem plötzlich das Unvorhergesehene herausspringen kann wie ein scheuendes Pferd - ist jetzt verstummt, hat doch der Schlaf alle Krieger und alle Vierfüßler der Christenheit bezwungen: diese in Reihen und stehend, wobei sie von Zeit zu Zeit einen Huf auf dem Boden reiben, vielleicht auch ein kurzes Wiehern oder ein Eselsgeschrei hören lassen; jene, endlich von Helm und Harnisch befreit, zufrieden, sich wieder als selbständige und unverwechselbare menschliche Wesen fühlen zu können: dort liegen sie schon alle und schnarchen.
Drüben, im Lager der Ungläubigen, ist es dasselbe: die gleichen Schritte der Posten vor und zurück; der Wachhabende, der den letzten Sand im Stundenglas verrinnen sieht und sich aufmacht, um die Männer der Ablösung zu wecken; der Offizier, der die Nachtwache zur Gelegenheit nimmt, seiner Frau zu schreiben, und die christliche wie die ungläubige Patrouille rücken beide eine halbe Meile vor; beide erreichen nahezu den Wald, aber dann kehren sie um, die eine hierhin, die andere dorthin, ohne sich je zu begegnen; sie finden sich wieder im Lager ein mit der Meldung, daß alles ruhig sei, und gehen schlafen. Sterne und Mond ziehen schweigend über den feindlichen Lagern dahin. Nirgendwo schläft man so gut wie im Heer.
Nur Agilulf war diese Erquickung nicht vergönnt. Unter seinem Zelt, einem der am besten eingerichteten des christlichen Lagers, mit großem Komfort, bemühte er sich, in seiner tadellos sitzenden Rüstung auf dem Rücken zu liegen, und hing weiterhin seinen Gedanken nach: nicht müßigen und abschweifenden Gedanken eines Einschlummernden, sondern bestimmten und exakten Überlegungen. Nach einer Weile richtete er sich auf einem Ellbogen hoch: er verspürte das Bedürfnis nach irgendeiner manuellen Arbeit, etwa sein Schwert zu putzen, das allerdings schon glänzte, oder die Scharniere seiner Rüstung einzufetten. Nur wenige Augenblicke - schon stand er auf und trat mit Lanze und Schwert ins Freie, und sein weißlicher Schatten huschte durch das Lager. Aus den kegelförmigen Zelten drang das Konzert der schwer atmenden Schläfer. Was dies bedeutete - die Augen schließen und das Bewußtsein seiner selbst verlieren zu können, hinsinkend in die Leere der Stunden, um dann beim Erwachen unverändert sich wiederzufinden, die Fäden des eigenen Lebens neu zu knüpfen -, das konnte Agilulf nicht wissen, und sein Neid über die Existierenden mit ihrer Fähigkeit zu schlafen, dieser Neid war verschwommen wie gegen etwas, was sich nicht einmal begreifen ließ. Außerdem machte ihn der Anblick der nackten Füße, die hie und da mit hochgerecktem großem Zeh aus den Zelten herausragten, unruhig und betroffen. Das schlafende Lager war das Reich der Leiber. Ausgebreitet ruhte das Fleisch des alten Adam, Lobpreisung des genossenen Weins und des Schweißes eines kriegerischen Tagewerks, während die leeren Rüstungen, die von Schildknappen und Knechten am nächsten Morgen geputzt und gerichtet werden sollten, jetzt ungeordnet vor den Zelteingängen umherlagen. Wachsam, gereizt, nervös, hochmütig schritt Agilulf vorüber; die Leiber dieser Leute, die einen Körper besaßen, erfüllten ihn nicht nur mit einem an Mißgunst grenzenden Unbehagen; ihn überkam zugleich ein Gefühl des Stolzes und der verächtlichen Überlegenheit. Da lagen sie nun, die vielgenannten Kameraden, die ruhmreichen Paladine, und was waren sie wirklich? Die Rüstung, Zeugnis ihres Rangs und Adels, ihrer vollbrachten Taten, ihrer Macht und Geltung - sie war jetzt zu einer tauben Hülle, einem leeren Eisending herabgewürdigt; die Menschen selbst schnarchten, das Gesicht in Kissen vergraben, und Speichelfäden rannen ihnen von den geöffneten Lippen. Er selbst, nein, er ließ sich nicht in Einzelteile auflösen, zerstückeln; er war und blieb in jedem Augenblick des Tages und der Nacht Agilulf Emo Bertrandino derer von Guildiverne und der anderen von Korbentratz und Sura gewappneter Ritter von Selimpia Citerior und Fez, der an einem ganz bestimmten Tag die und die Taten zum Ruhme der christlichen Waffen vollbracht und im Heere Kaiser Karls des Großen den Befehl über die und die Truppen übernommen hatte. Zugleich besaß er die schönste Rüstung des ganzen Lagers, die sich nicht von ihm trennen ließ und keinerlei Makel zeigte; er war ein besserer Offizier als viele andere, deren Ruhm in aller Munde war; er war sogar der beste Offizier. Und dennoch wanderte er unglücklich in der Nacht umher.
Er hörte eine Stimme: »Herr Offizier, mit Verlaub, wann kommt denn die Ablösung? Schon seit drei Stunden läßt man mich warten!« Es war ein Posten, der sich an seiner Lanze aufrecht hielt, als habe er Bauchweh.
Agilulf wandte sich nicht einmal um:
»Du irrst, ich bin nicht der Offizier vom Dienst«, und er ging weiter.
»Verzeihung, Herr Offizier. Da ich Euch hier vorbeikommen sah, meinte ich ...«
Die geringste dienstliche Unregelmäßigkeit konnte Agilulf dazu treiben, alles zu kontrollieren, weiteren Irrtümern und Schlampereien der anderen nachzuspüren, sie ließ ihn über alles schlecht Gemachte, Unangebrachte einen heftigen Schmerz empfinden ... Aber es gehörte nicht zu seinen Obliegenheiten, zu dieser Stunde Inspektionen auszuführen, man hätte ein solches Verhalten als nicht angemessen, ja als geradezu undiszipliniert ansehen müssen. Agilulf suchte sich also zu beherrschen und sein Interesse auf Sonderfragen zu beschränken, die ohnehin am nächsten Morgen seiner harrten: einige Ständer für die Lanzen, zum Beispiel, mußten instand gesetzt werden, Vorkehrungen, daß das Heu trocken lagerte, waren zu treffen ... All diesen Überlegungen zum Trotz tauchte sein weißer Schatten immer wieder vor den Wachhabenden, dem Offizier vom Dienst oder der Patrouille auf, die auf der Suche nach einer vom Abend übriggebliebenen Weinflasche die Kantine durchstöberte. Jedes- mal war Agilulf dann einen Augenblick unschlüssig, ob er sich wie jemand benehmen solle, der schon durch seine bloße Gegenwart Respekt einzuflößen weiß, oder ob er besser verstohlen, wie einer, der sich ohne triftigen Grund irgendwo aufhält, einen Schritt zurückgehen und so tun solle, als sei er nicht zugegen. In solchem Zwiespalt blieb er nachdenklich stehen, ohne daß es ihm gelungen wäre, sich für die eine oder andere Haltung zu entscheiden. Er spürte nur, daß er allen lästig fiel, und hätte gern etwas getan, um irgendeine Beziehung zum Nächsten herzustellen; er hätte Befehle, Feldwebelschimpfworte brüllen oder aus vollem Halse lachen oder Zoten wie unter Wirtshauskumpanen zum besten geben mögen. Statt dessen murmelte er irgendein schwerverständliches Grußwort. Hochmut tarnte seine Schüchternheit, oder Schüchternheit schwächte seinen Hochmut ab. Er ging weiter; dann schien ihm, die anderen fragten etwas; er wandte sich kaum merklich um und sagte »Eh?«, überzeugte sich aber sofort, daß sie nicht mit ihm sprachen und entfernte sich fluchtartig.
Er begab sich zum Rand des Lagers, dort, wo es einsam war, und stieg eine kahle Anhöhe hinauf. Die stille Nacht wurde nur vom sanften Flug kleiner unförmiger Schatten mit lautlosen Flügeln bewegt, die umherschwirrten, ohne je die gleiche Richtung einzuhalten: Fledermäuse. Selbst diese kläglichen Leiber, ungewisse Gebilde zwischen Maus und Vogel, waren noch etwas, was man hätte greifen können, etwas, was mit offenem Maul die Luft durchsegelte und Mücken schnappen konnte, während Agilulf, trotz seines Panzers, in jeder Ritze von Windstößen durchzogen wurde, von fliegenden Mücken und Mondstrahlen. Eine unbestimmte Wut, die in ihm hochgestiegen war, brach plötzlich hervor. Er riß das Schwert aus der Scheide, packte es mit beiden Händen und hieb mit aller Kraft gegen jede tiefer fliegende Fledermaus. Nichts - sie setzten ihren Flug ohne Anfang und Ende fort, kaum daß die aufgerührte Luft sie schüttelte. Agilulf fuhr mit dem Schwert durch die Luft, Schlag um Schlag. Er suchte jetzt nicht einmal mehr die Fledermäuse zu treffen; seine Hiebe ordneten sich, folgten regelmäßigeren Bahnen, wie es den Figuren der Fechtkunst entsprach. Er begann mit Übungen, als wolle er sich auf den nächsten Kampf vorbereiten, und setzte die Theorie der Querhiebe, der Paraden und der Finten in die Tat um.
Plötzlich hielt er inne. Ein junger Mann war auf der Anhöhe hinter einer Hecke aufgetaucht und schaute ihm zu. Er war nur mit einem Schwert bewaffnet und trug einen leichten Brustharnisch.
»Oh, Ritter!« rief er. »Ich wollte Euch nicht unterbrechen! Übt Ihr Euch für die Schlacht? Nicht wahr, beim ersten Morgengrauen soll doch die Schlacht stattfinden? Erlaubt Ihr, daß ich mit Euch trainiere?« Dann, nach einer Pause: »Gestern bin ich im Lager eingetroffen ... Für mich wird es das erste Gefecht sein ... Alles ist so anders, als ich es mir vorgestellt hatte ...«
Agilulf stand jetzt schräg vor ihm, das Schwert mit verschränkten Armen gegen die Brust gepreßt; der Schild bedeckte ihn ganz. »Die vom Kommando für einen etwaigen Waffengang beschlossenen Maßnahmen werden den Herren Offizieren und der Truppe eine Stunde vor Beginn der Operation mitgeteilt.«
Der junge Mann wurde etwas verwirrt, als habe sein Eifer nachgelassen; aber dann überwand er sich und fuhr nach einem leichten Stottern gleichermaßen fort: »Ich bin nämlich jetzt hierhergekommen ... um meinen Vater zu rächen ... Und ich möchte gern, daß Ihr Älteren mir bitte sagt, wie ich es anfangen soll, diesem heidnischen Hund, dem Kalifen Isoarre - ja, ihm und keinem anderen - zu begegnen, damit ich meine Lanze zwischen seinen Rippen zerbrechen kann, so wie er es mit meinem heldenhaften Erzeuger getan hat, dem verewigten Grafen Gerhard von Roussillon, dem Gott immer gnädig sein möge!«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Auf geht's mit den Bretonen, mein Paladin«, sagte Karl, und tack-tack, tack-tack kam er zu einem anderen Anführer.
»Undwerseidihr, fränkischer Paladin?« fragte er von neuem.
»Oliver von Wien, Majestät!« skandierten die Lippen, sobald sich die Helmklappe geöffnet hatte. Und dann: »Dreitausend ausgesuchte Reiter, siebentausend das Fußvolk, zwanzig Mauerbrecher. Sieger über den Heiden Fierabraccia durch Gottes Gnaden und zum Ruhme Karls, Königs der Franken!«
»Gut gemacht, bravo, Wiener!« sagte Karl der Große; er wandte sich den Offizieren seines Gefolges zu: »Die Pferde sind etwas mager, Haferrationen erhöhen!« Und weiter ging es.
»Undwerseidihr, fränkischer Paladin?« wiederholte er in immer gleichem Tonfall. »Tatatatà, tàtata tatatà ...«
»Bernhard von Montpellier; Majestät! Sieger über Brunamonte und Galifer.«
»Schöne Stadt, Montpellier! Die Stadt der schönen Frauen!« Und zu seiner Begleitung: »Schau zu, ob wir ihn nicht befördern können!« Alles Dinge, die, vom König gesagt, Freude machen; nur, seit so vielen Jahren waren es immer die gleichen Wendungen.
»Undwerseidihr, mit dem Wappen, das mir bekannt vorkommt? «
Er erkannte alle an dem Wappen auf ihrem Schild, ohne daß sie etwas hätten zu sagen brauchen; aber es war üblich, daß ein jeder selbst Namen und Gesicht kundtat, vielleicht, weil sonst jemand, der Besseres zu tun fand, als an der Parade teilzunehmen, einfach seine Rüstung mit einem anderen hätte entsenden können.
»Aluard von Dordogne, Sohn des Herzogs Haimon ...«
»So ist's recht, Aluard, was sagt denn der Papa?« und so fort. »Tatatatà, tàtata tatatà ...«
»Gottfried von Monjoie! Achttausend Reiter, Gefallene ausgenommen! « Die Helmbüsche schwankten. »Roger der Däne! Namo von Bayern! Palmerin von England!«
Der Abend sank nieder. Die Gesichter zwischen Visierhaube und Brustsatz ließen sich kaum mehr unterscheiden. Jedes Wort, jede Geste war vorauszusehen - wie alles in diesem Krieg, der schon so lange dauerte. Jedes Treffen, jeder Zweikampf wurde stets nach den gleichen Regeln ausgefochten. Schon heute wußte man, wer morgen als Sieger oder Besiegter, als Held oder Feigling dastehen würde; wem es bestimmt war, mit aufgeschlitztem Bauch zu enden, oder wer mit einem Sturz vom Pferd und einem wehen Hintern davonkommen konnte. Abends, beim Schein der Fackeln, hämmerten die Schmiede an den Rüstungen stets die gleichen Beulen aus.
»Und Ihr?« Der König hielt jetzt vor einem Ritter in strahlendweißer Rüstung; nur ein schmaler, schwarzer Streifen zierte die Ränder, sonst war sie blendend hell, in bestem Zustand, ohne einen Kratzer, tadellos in den Scharnieren. Darüber ragte der Helm mit einem Federbusch, der von irgendeinem orientalischen Hahn herrühren mochte und in allen Regenbogenfarben schillerte. Auf dem Schild war zwischen den beiden Zipfeln eines bauschigen Mantels ein Wappen abgebildet, und innerhalb dieses Wappens öffneten sich zwei weitere Umhänge über einem kleineren Wappen, das seinerseits ein noch kleineres, von Draperie umhülltes enthielt. In immer feineren Umrissen war eine Folge von Mänteln dargestellt, von denen ein jeder sich innerhalb des anderen öffnete, und in der Mitte mußte irgend etwas sein, was man jedoch nicht erkennen konnte, so winzig wurde die Zeichnung. »Und wer seid denn Ihr, in einem so sauberen Aufzuge ...«, sagte Karl der Große, der, je länger der Krieg dauerte, immer seltener bei der Inspektion seiner Paladine die Gebote der Sauberkeit beachtet fand.
»Ich bin« - metallisch drang die Stimme aus dem geschlossenen Helm, als vibriere darin nicht ein Kehlkopf, sondern lediglich, mit schwachem Widerhall, das Blech der Rüstung - »Agilulf Emo Bertrandino derer von Guildiverne und der anderen von Korbentratz und Sura, Ritter von Selimpia Citerior und Fez.«
»Oooh ...«, machte Karl der Große und stieß mit einem kurzen harten Geräusch Luft gegen die vorgeschobene Unterlippe, als wolle er sagen: Ich hätte viel zu tun, wenn ich mir die Namen von ihnen allen merken müßte. Aber dann runzelte er sogleich die Brauen. »Und weshalb öffnet Ihr nicht das Visier und zeigt Euer Gesicht?«
Der Ritter rührte sich nicht; seine Rechte in einem dicht gewobenen Eisenhandschuh umklammerte fester den Sattelbaum, während der andere Arm, der den Schild hielt, wie von einem Schauer durchlaufen schien.
»Heda, ich frage Euch, Paladin!« wiederholte Karl der Große mit Nachdruck. »Warum zeigt Ihr Eurem König nicht das Gesicht? «
Die Stimme drang deutlich durch die Kinnkette: »Weil es mich nicht gibt, Majestät!«
»Das ist ja allerhand!« rief der Kaiser. »Jetzt haben wir im Heer auch einen Ritter, den es gar nicht gibt! Laßt doch einmal sehen.«
Agilulf schien noch einen Augenblick zu zögern, dann öffnete er das Visier mit ruhiger, wenn auch langsamer Hand. Der Helm war leer. In der weißen Rüstung mit dem regenbogenfarbenen Helmbusch steckte niemand.
»Aber nein! Was man nicht alles zu sehen bekommt!« staunte Karl der Große. »Und wie bringt Ihr es fertig, Dienst zu tun, wenn Ihr gar nicht da seid?«
»Mit der Kraft meines Willens«, antwortete Agilulf, »und dem Glauben an unsere heilige Sache!«
»Ach so ... ach so, gut gesagt. So soll man seine Pflicht tun! Na schön, für einen, der nicht existiert, seid Ihr in Ordnung!«
Agilulf war Flügelmann. Der Kaiser hatte nunmehr allen die Parade abgenommen; er wendete sein Pferd und entfernte sich in Richtung der königlichen Zelte. Er war alt und suchte schwierige Fragen seinem Sinn fernzuhalten.
Die Trompete blies das Signal zum Wegtreten. Die Pferde liefen wie üblich auseinander, und der große Wald der Lanzen neigte sich, schwankte in Wellen wie ein Kornfeld, durch das der Wind streicht. Die Ritter stiegen aus ihren Sätteln, stapften umher, um sich die Beine zu vertreten; Schildknappen führten die Pferde am Zügel fort. Dann lösten sich aus Gewühl und Staubwolken einzelne Paladine heraus, sammelten sich zu kleinen Gruppen, aus denen bunte Helmbüsche hervorleuchteten, und erholten sich - mit Scherz und Prahlereien, mit Klatsch über Frauen und Komplimenten - von der erzwungenen Reglosigkeit jener Stunden.
Agilulf tat ein paar Schritte, um sich unter eine dieser Gruppen zu mischen. Dann ging er ohne jeden Grund weiter zu einer anderen, drängte sich aber nicht vor, wurde auch von niemandem beachtet. Etwas unschlüssig blieb er bald hinter diesem, bald bei jenem stehen, ohne sich an ihren Gesprächen zu beteiligen. Schließlich wandte er sich ab. Die Dämmerung sank herab; die irisierenden Federn auf seinem Helmbusch hatten jetzt alle die gleiche unbestimmte Färbung angenommen, doch die weiße Rüstung hob sich noch als einzige von der Wiese ab. Als fühle er sich mit einem mal entblößt, kreuzte Agilulf die Arme und zog die Schultern zusammen. Dann raffte er sich auf und strebte mit großen Schritten den Stallungen zu. Dort stellte er fest, daß die Wartung der Pferde nicht den Vorschriften entsprach; er fuhr die Knechte an, verhängte Strafen über Stallburschen, beaufsichtigte alle Verrichtungen, verteilte die Arbeit aufs neue, wobei er einen jeden bis ins kleinste unterwies, was er zu tun habe, und ließ sich das Gesagte wiederholen, um festzustellen, ob man ihn auch richtig verstehe. Und da sich unentwegt zeigte, wie säumig im Dienst seine Kollegen, die Offiziere und Paladine, gewesen waren, rief er auch sie, einen nach dem anderen, ohne Rücksicht auf ihr angenehm müßiges Abendgeplauder, und hielt ihnen in aller Zurückhaltung, aber mit Präzision und Entschiedenheit ihre Nachlässigkeiten vor. Sodann nötigte er den einen, Posten zu beziehen, einen zweiten, die Nachtwache zu übernehmen, einen dritten, eine Patrouille zu fuhren, und so fort. Immer hatte er recht, und die Paladine konnten sich ihm nicht entziehen, doch verhehlten sie kaum ihr Mißvergnügen. Agilulf Emo Bertrandino derer von Guildiverne und der anderen von Korbentratz und Sura, Ritter von Selimpia Citerior und Fez war ohne Zweifel das Musterbild eines Soldaten, aber er war ihnen allen unsympathisch.
Kapitel 2
Die Nacht ist für lagernde Heere geregelt wie der gestirnte Himmel: Es gibt die Wachablösungen, den Offizier vom Dienst, die Patrouillen. Alles übrige - die ständige Unordnung innerhalb einer Armee im Kriegszustand, das tägliche Durcheinander, aus dem plötzlich das Unvorhergesehene herausspringen kann wie ein scheuendes Pferd - ist jetzt verstummt, hat doch der Schlaf alle Krieger und alle Vierfüßler der Christenheit bezwungen: diese in Reihen und stehend, wobei sie von Zeit zu Zeit einen Huf auf dem Boden reiben, vielleicht auch ein kurzes Wiehern oder ein Eselsgeschrei hören lassen; jene, endlich von Helm und Harnisch befreit, zufrieden, sich wieder als selbständige und unverwechselbare menschliche Wesen fühlen zu können: dort liegen sie schon alle und schnarchen.
Drüben, im Lager der Ungläubigen, ist es dasselbe: die gleichen Schritte der Posten vor und zurück; der Wachhabende, der den letzten Sand im Stundenglas verrinnen sieht und sich aufmacht, um die Männer der Ablösung zu wecken; der Offizier, der die Nachtwache zur Gelegenheit nimmt, seiner Frau zu schreiben, und die christliche wie die ungläubige Patrouille rücken beide eine halbe Meile vor; beide erreichen nahezu den Wald, aber dann kehren sie um, die eine hierhin, die andere dorthin, ohne sich je zu begegnen; sie finden sich wieder im Lager ein mit der Meldung, daß alles ruhig sei, und gehen schlafen. Sterne und Mond ziehen schweigend über den feindlichen Lagern dahin. Nirgendwo schläft man so gut wie im Heer.
Nur Agilulf war diese Erquickung nicht vergönnt. Unter seinem Zelt, einem der am besten eingerichteten des christlichen Lagers, mit großem Komfort, bemühte er sich, in seiner tadellos sitzenden Rüstung auf dem Rücken zu liegen, und hing weiterhin seinen Gedanken nach: nicht müßigen und abschweifenden Gedanken eines Einschlummernden, sondern bestimmten und exakten Überlegungen. Nach einer Weile richtete er sich auf einem Ellbogen hoch: er verspürte das Bedürfnis nach irgendeiner manuellen Arbeit, etwa sein Schwert zu putzen, das allerdings schon glänzte, oder die Scharniere seiner Rüstung einzufetten. Nur wenige Augenblicke - schon stand er auf und trat mit Lanze und Schwert ins Freie, und sein weißlicher Schatten huschte durch das Lager. Aus den kegelförmigen Zelten drang das Konzert der schwer atmenden Schläfer. Was dies bedeutete - die Augen schließen und das Bewußtsein seiner selbst verlieren zu können, hinsinkend in die Leere der Stunden, um dann beim Erwachen unverändert sich wiederzufinden, die Fäden des eigenen Lebens neu zu knüpfen -, das konnte Agilulf nicht wissen, und sein Neid über die Existierenden mit ihrer Fähigkeit zu schlafen, dieser Neid war verschwommen wie gegen etwas, was sich nicht einmal begreifen ließ. Außerdem machte ihn der Anblick der nackten Füße, die hie und da mit hochgerecktem großem Zeh aus den Zelten herausragten, unruhig und betroffen. Das schlafende Lager war das Reich der Leiber. Ausgebreitet ruhte das Fleisch des alten Adam, Lobpreisung des genossenen Weins und des Schweißes eines kriegerischen Tagewerks, während die leeren Rüstungen, die von Schildknappen und Knechten am nächsten Morgen geputzt und gerichtet werden sollten, jetzt ungeordnet vor den Zelteingängen umherlagen. Wachsam, gereizt, nervös, hochmütig schritt Agilulf vorüber; die Leiber dieser Leute, die einen Körper besaßen, erfüllten ihn nicht nur mit einem an Mißgunst grenzenden Unbehagen; ihn überkam zugleich ein Gefühl des Stolzes und der verächtlichen Überlegenheit. Da lagen sie nun, die vielgenannten Kameraden, die ruhmreichen Paladine, und was waren sie wirklich? Die Rüstung, Zeugnis ihres Rangs und Adels, ihrer vollbrachten Taten, ihrer Macht und Geltung - sie war jetzt zu einer tauben Hülle, einem leeren Eisending herabgewürdigt; die Menschen selbst schnarchten, das Gesicht in Kissen vergraben, und Speichelfäden rannen ihnen von den geöffneten Lippen. Er selbst, nein, er ließ sich nicht in Einzelteile auflösen, zerstückeln; er war und blieb in jedem Augenblick des Tages und der Nacht Agilulf Emo Bertrandino derer von Guildiverne und der anderen von Korbentratz und Sura gewappneter Ritter von Selimpia Citerior und Fez, der an einem ganz bestimmten Tag die und die Taten zum Ruhme der christlichen Waffen vollbracht und im Heere Kaiser Karls des Großen den Befehl über die und die Truppen übernommen hatte. Zugleich besaß er die schönste Rüstung des ganzen Lagers, die sich nicht von ihm trennen ließ und keinerlei Makel zeigte; er war ein besserer Offizier als viele andere, deren Ruhm in aller Munde war; er war sogar der beste Offizier. Und dennoch wanderte er unglücklich in der Nacht umher.
Er hörte eine Stimme: »Herr Offizier, mit Verlaub, wann kommt denn die Ablösung? Schon seit drei Stunden läßt man mich warten!« Es war ein Posten, der sich an seiner Lanze aufrecht hielt, als habe er Bauchweh.
Agilulf wandte sich nicht einmal um:
»Du irrst, ich bin nicht der Offizier vom Dienst«, und er ging weiter.
»Verzeihung, Herr Offizier. Da ich Euch hier vorbeikommen sah, meinte ich ...«
Die geringste dienstliche Unregelmäßigkeit konnte Agilulf dazu treiben, alles zu kontrollieren, weiteren Irrtümern und Schlampereien der anderen nachzuspüren, sie ließ ihn über alles schlecht Gemachte, Unangebrachte einen heftigen Schmerz empfinden ... Aber es gehörte nicht zu seinen Obliegenheiten, zu dieser Stunde Inspektionen auszuführen, man hätte ein solches Verhalten als nicht angemessen, ja als geradezu undiszipliniert ansehen müssen. Agilulf suchte sich also zu beherrschen und sein Interesse auf Sonderfragen zu beschränken, die ohnehin am nächsten Morgen seiner harrten: einige Ständer für die Lanzen, zum Beispiel, mußten instand gesetzt werden, Vorkehrungen, daß das Heu trocken lagerte, waren zu treffen ... All diesen Überlegungen zum Trotz tauchte sein weißer Schatten immer wieder vor den Wachhabenden, dem Offizier vom Dienst oder der Patrouille auf, die auf der Suche nach einer vom Abend übriggebliebenen Weinflasche die Kantine durchstöberte. Jedes- mal war Agilulf dann einen Augenblick unschlüssig, ob er sich wie jemand benehmen solle, der schon durch seine bloße Gegenwart Respekt einzuflößen weiß, oder ob er besser verstohlen, wie einer, der sich ohne triftigen Grund irgendwo aufhält, einen Schritt zurückgehen und so tun solle, als sei er nicht zugegen. In solchem Zwiespalt blieb er nachdenklich stehen, ohne daß es ihm gelungen wäre, sich für die eine oder andere Haltung zu entscheiden. Er spürte nur, daß er allen lästig fiel, und hätte gern etwas getan, um irgendeine Beziehung zum Nächsten herzustellen; er hätte Befehle, Feldwebelschimpfworte brüllen oder aus vollem Halse lachen oder Zoten wie unter Wirtshauskumpanen zum besten geben mögen. Statt dessen murmelte er irgendein schwerverständliches Grußwort. Hochmut tarnte seine Schüchternheit, oder Schüchternheit schwächte seinen Hochmut ab. Er ging weiter; dann schien ihm, die anderen fragten etwas; er wandte sich kaum merklich um und sagte »Eh?«, überzeugte sich aber sofort, daß sie nicht mit ihm sprachen und entfernte sich fluchtartig.
Er begab sich zum Rand des Lagers, dort, wo es einsam war, und stieg eine kahle Anhöhe hinauf. Die stille Nacht wurde nur vom sanften Flug kleiner unförmiger Schatten mit lautlosen Flügeln bewegt, die umherschwirrten, ohne je die gleiche Richtung einzuhalten: Fledermäuse. Selbst diese kläglichen Leiber, ungewisse Gebilde zwischen Maus und Vogel, waren noch etwas, was man hätte greifen können, etwas, was mit offenem Maul die Luft durchsegelte und Mücken schnappen konnte, während Agilulf, trotz seines Panzers, in jeder Ritze von Windstößen durchzogen wurde, von fliegenden Mücken und Mondstrahlen. Eine unbestimmte Wut, die in ihm hochgestiegen war, brach plötzlich hervor. Er riß das Schwert aus der Scheide, packte es mit beiden Händen und hieb mit aller Kraft gegen jede tiefer fliegende Fledermaus. Nichts - sie setzten ihren Flug ohne Anfang und Ende fort, kaum daß die aufgerührte Luft sie schüttelte. Agilulf fuhr mit dem Schwert durch die Luft, Schlag um Schlag. Er suchte jetzt nicht einmal mehr die Fledermäuse zu treffen; seine Hiebe ordneten sich, folgten regelmäßigeren Bahnen, wie es den Figuren der Fechtkunst entsprach. Er begann mit Übungen, als wolle er sich auf den nächsten Kampf vorbereiten, und setzte die Theorie der Querhiebe, der Paraden und der Finten in die Tat um.
Plötzlich hielt er inne. Ein junger Mann war auf der Anhöhe hinter einer Hecke aufgetaucht und schaute ihm zu. Er war nur mit einem Schwert bewaffnet und trug einen leichten Brustharnisch.
»Oh, Ritter!« rief er. »Ich wollte Euch nicht unterbrechen! Übt Ihr Euch für die Schlacht? Nicht wahr, beim ersten Morgengrauen soll doch die Schlacht stattfinden? Erlaubt Ihr, daß ich mit Euch trainiere?« Dann, nach einer Pause: »Gestern bin ich im Lager eingetroffen ... Für mich wird es das erste Gefecht sein ... Alles ist so anders, als ich es mir vorgestellt hatte ...«
Agilulf stand jetzt schräg vor ihm, das Schwert mit verschränkten Armen gegen die Brust gepreßt; der Schild bedeckte ihn ganz. »Die vom Kommando für einen etwaigen Waffengang beschlossenen Maßnahmen werden den Herren Offizieren und der Truppe eine Stunde vor Beginn der Operation mitgeteilt.«
Der junge Mann wurde etwas verwirrt, als habe sein Eifer nachgelassen; aber dann überwand er sich und fuhr nach einem leichten Stottern gleichermaßen fort: »Ich bin nämlich jetzt hierhergekommen ... um meinen Vater zu rächen ... Und ich möchte gern, daß Ihr Älteren mir bitte sagt, wie ich es anfangen soll, diesem heidnischen Hund, dem Kalifen Isoarre - ja, ihm und keinem anderen - zu begegnen, damit ich meine Lanze zwischen seinen Rippen zerbrechen kann, so wie er es mit meinem heldenhaften Erzeuger getan hat, dem verewigten Grafen Gerhard von Roussillon, dem Gott immer gnädig sein möge!«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Italo Calvino
Italo Calvino, am 15. Oktober 1923 in Santiago de las Vegas auf Kuba geboren, wuchs in San Remo auf. Er arbeitete mehrere Jahre als Lektor des Verlages Einaudi und als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in alle Weltsprachen übersetzt. Italo Calvino starb am 19. September 1985 in Siena. Seine Romane, Erzählungen und Essays sind im Carl Hanser Verlag und im Fischer Taschenbuch erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Italo Calvino
- 2013, 1. Auflage, 128 Seiten, Masse: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Oswalt von Nostitz
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596905281
- ISBN-13: 9783596905287
- Erscheinungsdatum: 22.04.2013
Rezension zu „Der Ritter, den es nicht gab “
Spannung, Witz und Humor charakterisieren die Texte von Calvino, die in einer unverwechselbar präzisen und klaren Sprache verfasst sind. Italien Magazin (Amsterdam), Juli 2013
Pressezitat
Spannung, Witz und Humor charakterisieren die Texte von Calvino, die in einer unverwechselbar präzisen und klaren Sprache verfasst sind. Italien Magazin (Amsterdam), Juli 2013
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