Der Hass auf den Westen
Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren. Mit e. Vorw. d. Autors
Ausgezeichnet mit dem "Literaturpreis für Menschenrechte" 2008
Auf dem Nährboden gegenseitigen Unverständnisses und in dem Bewusstsein jahrhundertelanger Verachtung und Unterdrückung wächst der Hass der Armen und Entrechteten...
Auf dem Nährboden gegenseitigen Unverständnisses und in dem Bewusstsein jahrhundertelanger Verachtung und Unterdrückung wächst der Hass der Armen und Entrechteten...
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Produktinformationen zu „Der Hass auf den Westen “
Ausgezeichnet mit dem "Literaturpreis für Menschenrechte" 2008
Auf dem Nährboden gegenseitigen Unverständnisses und in dem Bewusstsein jahrhundertelanger Verachtung und Unterdrückung wächst der Hass der Armen und Entrechteten auf den Westen - mit weitreichenden Folgen für die globale Friedenspolitik. Auf seiner Suche nach Antworten nimmt Jean Ziegler seine Leser mit auf eine lange Reise, die von den internationalen Konferenzsälen in New York und Genf bis in die entlegendsten Dörfer Nigerias und Boliviens führt. Präzise und engagiert formuliert der Bestsellerautor unbequeme Wahrheiten, denen die reichen westlichen Länder sich stellen müssen - zum Wohle aller.
Auf dem Nährboden gegenseitigen Unverständnisses und in dem Bewusstsein jahrhundertelanger Verachtung und Unterdrückung wächst der Hass der Armen und Entrechteten auf den Westen - mit weitreichenden Folgen für die globale Friedenspolitik. Auf seiner Suche nach Antworten nimmt Jean Ziegler seine Leser mit auf eine lange Reise, die von den internationalen Konferenzsälen in New York und Genf bis in die entlegendsten Dörfer Nigerias und Boliviens führt. Präzise und engagiert formuliert der Bestsellerautor unbequeme Wahrheiten, denen die reichen westlichen Länder sich stellen müssen - zum Wohle aller.
Klappentext zu „Der Hass auf den Westen “
Ausgezeichnet mit dem "Literaturpreis für Menschenrechte" 2008Auf dem Nährboden gegenseitigen Unverständnisses und in dem Bewusstsein jahrhundertelanger Verachtung und Unterdrückung wächst der Hass der Armen und Entrechteten auf den Westen - mit weitreichenden Folgen für die globale Friedenspolitik. Auf seiner Suche nach Antworten nimmt Jean Ziegler seine Leser mit auf eine lange Reise, die von den internationalen Konferenzsälen in New York und Genf bis in die entlegendsten Dörfer Nigerias und Boliviens führt. Präzise und engagiert formuliert der Bestsellerautor unbequeme Wahrheiten, denen die reichen westlichen Länder sich stellen müssen - zum Wohle aller.
Lese-Probe zu „Der Hass auf den Westen “
Der Hass auf den Westen von Jean ZiegleVORWORT
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Der Tag war kalt. Zaghaft drang die Sonne durch die Wolken. Die Pennsylvania Avenue war schwarz von Menschen. Vor der Westfront des Kapitols hatte man eine Bühne aufgeschlagen und sie mit den amerikanischen Farben geschmückt. Ein hochgewachsener Mann von achtundvierzig Jahren, mit dunklem Teint und klarem Blick, in einen nachtblauen Mantel gehüllt, trat in die Mitte der Bühne.
Der Präsident des Obersten Gerichts verlas die Eidesformel. Barack Obama sprach sie nach. An seiner Seite standen seine Frau Michelle und die beiden kleinen Töchter Sasha und Malia.
Michelles Urgroßvater hieß Dolphus Shields. Er wurde 1859 als Sklave auf einer Baumwollplantage in Süd-Carolina geboren. In der unabsehbaren Menschenmenge, die sich vor dem Capitol und entlang der Pennsylvania Avenue drängte, hatten viele Tränen in den Augen. Man schrieb Mittwoch, den 20. Januar 2009. Seit der ersten Veröffentlichung des vorliegenden Buchs im September 2008 war die Wahl Barak Obamas zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten sicherlich eines der spektakulärsten Ereignisse auf unserem Planeten. Dieser Wahlsieg, der in erster Linie den Träumen und der Mobilisierung des verwundeten Gedächtnisses vieler Millionen Menschen afrikanischer Abstammung und Angehöriger anderer Minderheiten zu verdanken ist, hat in der ganzen Welt, jedoch vor allem in der südlichen Hemisphäre, leidenschaftliche Hoffnungen geweckt. Hoffnungen, die sich inzwischen zerschlagen haben. In dem größten Militärgefängnis der Welt, im afghanischen Bagram, werden die Gefangenen wie eh und je von den Agenten der amerikanischen Sicherheitsdienste gefoltert. Die »Militärkommissionen « sind immer noch aktiv; gefangen genommenen »feindlichen Kombattanten« oder einfachen Verdächtigen wird die Anwendung der Genfer Konvention verweigert.
Ich zitiere ein Beispiel: In Bagram kümmert sich die New Yorker Anwältin Tina Forster im Auftrag des International Justice Network um drei Häftlinge: zwei Jeminiten und einen Tunesier. Tina Forster: »Es gibt überhaupt keinen Unterschied zwischen den Regierungen Obama und Bush.« Obama führt zwei Kriege zugleich ... und erhält den Friedensnobelpreis! Im Ghetto von Gaza, wo sich auf 365 Quadratkilometern 1,5 Millionen Palästinenser drängen, provozieren Unterernährung und Epidemien verheerende Folgen. Durch die israelische Blockade werden den Krankenhäusern Medikamente vorenthalten. Nach den israelischen Massakern und Bombenangriffen im Januar 2009 ist kein Wiederaufbau möglich. Die Kollektivstrafe, die über die belagerte Zivilbevölkerung verhängt worden ist, verhindert die Einfuhr von Baumaterialien. Ungehindert nimmt im Westjordanland und im besetzten Ostjerusalem der Raub von Land, Wasser und palästinensischen Häusern seinen Fortgang.
Im Auftrag der Vereinten Nationen hat der südafrikanische Richter Richard Goldstone sechs Monate lang die israelische Aggression gegen das Ghetto von Gaza vom Januar 2009 untersucht: 1400 tote Palästinenser, mehr als 6000 Versehrte und Verbrannte, darunter viele Frauen und Kinder. Sein Ergebnis: Der israelische Staat (aber auch die Hamas-Regierung) hat Kriegsverbrechen begangen. Gold Strafgerichtshof. Im Sicherheitsrat und im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen blockieren die Vereinigten Staaten den Goldstone- Bericht. Zu den strategischen Verbündeten der Vereinigten Staaten gehören auch weiterhin zahlreiche Staaten - Usbekistan, Saudi-Arabien, Israel, Nigeria, Kolumbien, Kuweit -, die von Amnesty International schlimmster Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die Washington Post stellt fest: »Obamas Schwachpunkt sind die Menschenrechte.« Warum dieses Scheitern?
Barack Obama bekommt mit ungebremster Wucht das Gesetz des Imperiums zu spüren. Trotz ihrer relativ begrenzten Bevölkerung - 300 Millionen Einwohner - sind die Vereinigten Staaten noch immer die bei weitem kreativste, kompetenteste und dynamischste Industrienation der Welt. 2010 stammten rund 25 Prozent aller weltweit in einem Jahr produzierten Industriegüter aus amerikanischen Unternehmen. Der wichtigste Rohstoff dieser gigantischen Industriemaschine ist das Erdöl: Die Vereinigten Staaten verbrauchen ungefähr 20 Millionen Barrel pro Tag. Doch die täglich zwischen Alaska und Texas geförderte Ölmenge beträgt noch nicht einmal 8 Millionen Barrel. 61 Prozent, das heißt, etwas mehr als 12 Millionen Barrel, werden pro Tag aus dem Ausland importiert. Und erst noch aus einem feindlichen Ausland, aus Regionen, die von Konflikten zerrissen sind: dem Mittleren Osten, Zentralasien, dem Nigerdelta.
Die Konsequenz? Die Vereinigten Staaten müssen außerordentlich starke und kostspielige Streitkräfte unterhalten. 2008 haben zum ersten Mal in der Geschichte die Rüstungsausgaben der UN-Mitgliedstaaten 1000 Milliarden Dollar pro Jahr überschritten. Der Anteil der Vereinigten Staaten daran betrug 41 Prozent, (auf China, die zweitgrößte Militärmacht der Welt, entfielen 11 Prozent).
Die Erfordernisse der Ölindustrie - und des Militärs - zwingen die Regierung in Washington also, auf der ganzen Welt mit gewissen Staaten, die die Rechte der ihnen ausgelieferten Völker mit Füßen treten, strategische Bündnisse zu schließen.
Das ist das Paradoxon, dem wir uns gegenüber sehen: Nach der Wahl eines Afroamerikaners zum Präsidenten der USA, hat sich bei den Völkern des Südens der Hass auf den Westen deutlich verstärkt. Régis Debray schreibt: »Heute, mehr als jemals zuvor, ist das Gedächtnis revolutionär.« Das zweite wichtige Phänomen, das sich seit Erscheinen dieses Buchs verdeutlichte, sind die raschen Fortschritte und die Konsolidierung der indianischen Revolutionen in Lateinamerika. Auf den endlosen, trockenen Kordilleren, in den tiefen Tälern, den üppigen Wäldern des Amazonasbeckens erlebt das verwundete Gedächtnis der indianischen Völker eine überraschende Renaissance.
Aus diesem Gedächtnis wird heute politisches Bewusstsein, Wille zur Volkserhebung, Kraft des Widerstands, unbezähmbare soziale Bewegung. Mai 2009: Die Indianer im peruanischen Amazonas erheben sich. Die Regierung in Lima hat westlichen Ölgesellschaften gerade Bohrrechte gewährt, die das Land und die Wasserläufe der indigenen Gemeinschaften gefährden. Unter der AIDESEP (Interethnische Vereinigung zum Schutz des peruanischen Regenwalds) organisieren die Gemeinschaften den Widerstand, blockieren die Straßen und Flüsse der Region. Der von den ausländischen Konzernen bevormundete Präsident Alan Garcia ruft den Ausnahmezustand aus. Die Unterdrückung der Gemeinschaften beginnt. Dann häufen sich die Morde an den Indianern. Beim Massaker von Bagua erschießt die Armee aus nächster Nähe 34 Demonstranten, darunter Frauen und Kinder.
Doch der Widerstand erlahmt nicht.
Mittwoch, 17. Juni 2009, Alan Garcia spricht vor dem Kongress in Lima. Er verkündet die Aufhebung der Erlasse, die die Enteignung der Amazonasgebiete betreffen. In Bolivien schreitet die stille Revolution, die begann, als mit Evo Morales Ayma 2006 der erste gewählte indianische Präsident Südamerikas seit 500 Jahren in den Palacio Quemado einzog, stürmisch voran. Die mit mehr als 200 westlichen Gas-, Öl- und Minengesellschaften ausgehandelten Verträge verwandeln die Konzerne in einfache Dienstleistungsunternehmen, die dem bolivianischen Staat Jahr für Jahr mehrere Zehnmilliarden Dollar bescheren - Summen, dank derer Evo Morales die materielle Situation der ärmsten Schichten radikal verändert. Langsam lässt das bolivianische Volk sein jahrhundertelanges Elend hinter sich. Seit 2009 erhält jeder Bolivianer über 60 ohne Einkommen 200 Boliviano pro Monat.7 Der Bono madre-niño ist ein weiteres, seit 2009 bestehendes allgemeines Reformprojekt. Es garantiert Frauen eine kostenlose Schwangerschaftsvorsorge. Das gleiche Anrecht hat das Kind. Während der gesamten Schwangerschaft und der ersten zwei Lebensjahre des Kindes erhält die Mutter 200 Boliviano im Monat. Wieder ein anderer Bono soll für den Schulbesuch der Kinder aus den ärmsten Familien sorgen. Wenn das Kind das fünfte Schuljahr vollendet hat, erhält es eine Prämie von 200 Boliviano, rund 30 Dollar. Diese Summe mag lächerlich niedrig erscheinen, doch häufig haben die Familien sechs bis acht Kinder.
Erfolge zeitigt auch der Kampf gegen die Sklavenarbeit. Im Alto Parapeti, Departement Santa Cruz, haben die Agenten der INCRA8 2009 zehn Latifundien entdeckt, die fünf Familien gehörten und zusammen eine Fläche von 36 000 Hektar einnahmen. Mehrere Hundert Guarani-Familien wurden dort gewaltsam festgehalten und dazu gezwungen, ohne Lohn oder andere Vergütung zu arbeiten. Daraufhin wurde das Land enteignet, auf dem diese Sklaven lebten. Am 14. März 2009 kam Evo Morales persönlich ins Alto Parapeti, um den Ältesten der Guarani-Gemeinschaften ihre Eigentumsurkunden auszuhändigen. Doch der Feind gibt sich nicht geschlagen. Immer wieder werden an den Bauern Massaker verübt. Leopoldo Fernandez, 2009 Gouverneur des Departements Pando, in Ostamazonien, ist ein Komplize und Freund der Großgrundbesitzer der Region. Seine Gendarmen und Privatmilizen machen Jagd auf die INCRA-Agenten, die aus La Paz kommenden Agronomen, auf die Landvermesser, die die Agrarreform vorbereiten sollen. Aus Protest organisierten Tausende landloser Bauern zusammen mit ihren Frauen und Kindern einen Marsch auf den Hauptort des Departements. Beim Dorf Catchuela-Esperanza lauerten ihnen die Pistoleros von Fernandez auf. 17 Demonstranten, darunter Frauen und Kinder, wurden aus nächster Näher erschossen. Mehr als 600 wurden verwundet. Dutzende gelten als vermisst. Überlebende sagten aus, mehrere der Angreifer hätten nicht Spanisch gesprochen, sondern sich einer »unbekannten« Sprache bedient.
Im April 2009 trafen sich in Trinidad und Tobago, dem Venezue la vorgelagerten Karibikstaat, die Staatschefs Nord- und Südamerikas zum fünften Cumbre de las Americas, dem sogenannten Amerika- Gipfel. Dort begegnete Barack Obama zum ersten Mal Evo Morales. Ihr Gespräch war kurz.
Währenddessen wurde die Sabotage-Kampagne, die die Oligarchie von Santa Cruz mit ihren kroatischen Söldnern unter Führung amerikanischer Geheimdienstleute gegen die rechtmäßige Regierung Boliviens führt, mit äußerster Brutalität fortgeführt. Zwei Tage nach dem Händedruck von Trinidad umstellten Spezialeinheiten der bolivianischen Polizei das Hotel Las Americas in Santa Cruz.
In der vierten Etage des Gebäudes hatten fünf kroatisch- und ungarischstämmige Veteranen der Balkankriege ein Waffen- und Sprengstoffdepot angelegt. Um fünf Uhr morgens stürmte die Polizei das Hotel.
Wie die dort aufgefundenen Notizen bewiesen, hatten die Söldner beabsichtigt, Evo Morales, den Vizepräsidenten Garcia Linera und vier wichtige Minister der Regierung zu ermorden. Beim Zugriff wurden drei Söldner getötet und zwei gefangen genommen. Die Mordkomplotte und Sabotageakte sind nicht die einzigen Gefahren, die der stillen Revolution Boliviens drohen. Der Baum des neuen Boliviens, der langsam emporwächst, besitzt schwache Zweige und morsche Äste. Beispiel: Santos Ramirez, Mitbegründer des MAS (Movimiento al Socialismo), das Morales an die Macht gebracht hatte. Nach Evo Morales und Garcia Linera war er der drittmächtigste Mann des Staates. Der ehemalige Anwalt der Bauerngewerkschaften war Generaldirektor der YPFB , der staatlichen Erdölgesellschaft, geworden. Im Februar 2009 verhaftete ihn die Polizei in seinem Haus. Sie fand bei ihm 450 000 Dollar Bargeld, ein »Geschenk« - so der Untersuchungsrichter - des amerikanischen Unternehmens Castler Uni service. Das hatte von der YPFB den Auftrag zum Bau einer Erdgasverflüssigungsanlage bekommen.
Evo Morales feuerte Ramirez und ersetzte ihn durch Carlos Villegas ... den sechsten Generaldirektor der YPFB seit Amtsantritt des Präsidenten!
Doch weder die internationalen Intrigen noch die Verleumdungen der europäischen Presse noch die Sabotageakte konnten bislang die machtvolle indianische Identitätsbewegung, den Aufbau des National staates und die soziale Revolution unter Führung der MAS aufhalten. Die neue Verfassung ist demokratisch angenommen worden. Bei der Wahl vom Dezember 2009 wurde Evo Morales Ayma mit überwältigender Mehrheit in seinem Amt als Präsident der Republik bestätigt.
Dritter neuer Sachverhalt seit der ersten Auflage dieses Buchs: Im Herbst 2008 hat ein Finanztsunami den Planeten erschüttert: Das Raubgesindel des globalisierten Finanzkapitals hat mit seinen irrwitzigen Spekulationen, seiner zwanghaften Gier, in wenigen Monaten viele Tausend Milliarden Dollars Vermögenswerte vernichtet. Alphonse Allais schreibt: »Wenn die Reichen abmagern, sterben die Armen.« Der Banken-Banditismus hat im Westen Millionen Arbeitslose geschaffen. In den Ländern des Südens jedoch tötet er. Laut Weltbank sind seit Ausbruch der Finanzkatastrophe mehrere Hundertmillionen Menschen mehr in den Abgrund äußerster Armut und Hungersnot gestürzt worden.
Am 22. Oktober 2008 kamen im Pariser Élyséepalast die sechzehn Staats- und Regierungschefs der Eurostaaten zusammen, darunter José Luis Zapatero, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Ihre Entscheidung? Die Länder der Eurozone stellten ab sofort 1,7 Billionen Euro bereit, um das Kreditgeschäft unter Banken wieder zu beleben und die Untergrenze der Selbstfinanzierung ihrer Banken von 3 auf 5 Prozent zu erhöhen.
In den ersten zwei Monaten nach dem Pariser Treffen haben die Industriestaaten ihre Zuwendungen an die internationalen humanitären Hilfsorganisationen und die für die ärmsten Länder bestimmten Kredite massiv gekürzt.
Ein Beispiel: Das mit der Nahrungs-Nothilfe betraute WPF (Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen) verfügt normalerweise über einen ordentlichen Etat von sechs Milliarden Dollar. 2010 waren 71 Millionen Menschen in seiner Obhut - Opfer von Kriegen, Naturkatastrophen, Vertreibung. Heute belaufen sich seine verfügbaren Mittel noch auf knapp drei Milliarden Dollar. In wenigen Monaten hat das WPF also mehr als die Hälfte seines Etats eingebüßt. Mit welchem Ergebnis?
In Bangladesch musste das WPF die Schulspeisung von einer Million unterernährter Kinder streichen. In den Lagern auf kenianischem Gebiet erhalten 300 000 somalische Flüchtlinge heute nur noch eine Tagesration von 1500 Kalorien. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzt das Existenzminimum auf 2200 Kalorien pro Erwachsenen und Tag fest. In den Lagern, über denen die blauweiße UNOFlagge weht, organisiert die UNO heute die Unterernährung von Menschen, die damit Agonie und Tod ausgeliefert werden.
Wo ist Hoffnung?
In der Aussicht, dass die Völker des Südens souveräne Nationen bilden - multiethnische, demokratische Nationen, die über die Reichtümer, die Bodenschätze ihres Landes gebieten, unter der Herrschaft des Rechts leben und fortan in der Lage sind, auf Augenhöhe mit den westlichen Mächten zu verhandeln.
1799 kam Simon Bolivar mit sechzehn Jahren zum ersten Mal nach Paris. Die Erfahrung der revolutionären Veränderungen in Frankreich nährte seinen Hass auf den spanischen Despotismus in Amerika. Die Ideen von Robespierre und Saint-Just beflügelten auch andere junge Leute, die schon bald die Befreiungsarmeen über die Anden führen sollten.
Antonio José de Sucre, José de San Martín, Bernardo O'Higgins und viele andere haben sich von den Schriften und Kämpfen der französischen Revolutionäre inspirieren lassen. Doch das Licht kommt heute nicht mehr aus Europa.
Mit einer bewundernswert dynamischen und kreativen Produktionsweise ausgestattet, aber der zügellosen, ungeduldigen Gewinnsucht und dem Eroberungswillen ihrer herrschenden Klassen hingegeben, ließen die Weißen das Licht der Aufklärung verlöschen, das sie entzündet hatten.
Die westlichen Staaten praktizieren, was Maurice Duverger den »äußeren Faschismus« nennt. In den Grenzen ihrer Territorien sind sie echte Demokratien. Doch die demokratischen Werte, die die Grundlage ihrer Verfassungen bilden, hören an den Grenzen auf. Gegenüber den Völkern des Südens praktizieren sie das Gesetz des Dschungels, das Faustrecht des Stärkeren, und vernichten jeden, der sich ihnen in den Weg stellt. Die zwanghafte Profitgier ihrer jeweiligen Oligarchien bestimmt ihre Außenpolitik. Unempfänglich für das Leiden der südlichen Völker, ihr verwundetes Gedächtnis, ihre Forderung nach Entschuldigung und Wieder gutmachung, bleibt der Westen blind und taub, einbetoniert in seinen Herrschafts-Willen.
In Europa leiden der Wunsch nach Wiedergutmachung und die Hoffnung auf ein sinnstiftendes kollektives Leben an Kräfteschwund. Das Gift des hedonistischen Individualismus, das von den Herren des globalisierten Finanzkapitals mit Bedacht zusammengebraut wurde, verfehlt seine Wirkung nicht. Allein das Wort Revolte löst Sarkasmus aus. Das kapitalistische Krebsgeschwür zerfrisst den Westen. An der Schwelle zu diesem neuen Jahrtausend kommt die Hoffnung aus den amazonischen Wäldern Ecuadors und Perus, den Hochebenen Boliviens, den Llanos Venezuelas und, in geringerem Maße, den Megapolen Brasiliens. Immanuel Kant, Abonnent mehrerer revolutionärer Zeitschriften, darunter vor allem seit Juli 1789 L'Ami du Peuple, verfolgte von Königsberg aus die Ereignisse in Paris. Im Gegensatz zu seinen Landsleuten Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, die doch immerhin in dem Ruf standen, »Freiheitsdichter« zu sein, begriff Kant diesen »Bruch der Zeiten« intuitiv und aufs Tiefste in ihrer Größe und universellen Bedeutung. Mit seinen Freunden vom Gasthaus Zum Ewigen Frieden kommentierte er täglich und leidenschaftlich die Widersprüche, Erschütterungen und Einsichten der ihren Lauf nehmenden Revolution.
Kurz nach der Terrorherrschaft und dem Sturz von Saint-Just und Robespierre, schrieb Kant 1798: »Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte ... Aber wenn der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck auch jetzt nicht erreicht würde ... so verliert jene philosophische Vorhersagung doch nichts von ihrer Kraft. - Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt und ihrem Einflusse nach auf die Welt in allen ihren Theilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern bei irgend einer Veranlassung günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte.« In den von tragischer Schwäche befallenen Händen des Westens ist die Fackel der Revolution erloschen. Heute lodert die Revolte des in seiner Würde missachteten Menschen in den Llanos, im Herzen der Anden. Es sind die Völker Südamerikas und der Karibik, die die Flamme wieder entzünden. Sie wird, vielleicht schon bald, die ganze Welt in Brand setzen. Die große Emanzipationsbewegung des Menschen, die allmähliche Humanisierung der Geschichte, breitet sich rasch in der ganzen südlichen Hemisphäre aus, besonders unter den Völkern der Muslime und der Indianer. Die unerhörte Begebenheit, die Kant so beredt, exakt und zutreffend beschreibt, wird heute von den Völkern der südlichen Hemisphäre, und insbesondere Südamerikas, erneut durchlebt. Doch im Innersten dieser machtvollen Identitätsrenaissance, dieses Wunsches nach Zusammenleben in Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, der jeder Nationenbildung zugrundeliegt, gibt es eine tödliche Gefahr, ein Gift: die ständige Versuchung des Rückfalls in den Tribalismus, den Identitätsfanatismus, den Partikularismus, die zur Ablehnung des Anderen, Rassismus, kurzum zu krankhaftem Hass führen.
Fernando Quispe, Ollanda Humaila und die Propheten der Raza cobriza verkörpern diese Gefahr in den Anden, die Salafisten und die Taliban in der islamischen Welt. Wenn der Westen in seiner Blindheit verharrt, werden die tribalistischen Fanatiker, die rassistischen Propheten den Sieg davontragen. Sie zerstören die Emanzipationsbewegung und mit ihr die Hoffnung auf einen Sieg über die gegenwärtige kannibalische Weltordnung. Von der Solidarität des Westens mit den neuen souveränen Staaten in Lateinamerika und anderen Regionen der südlichen Hemisphäre hängt es ab, ob eine neue lebenswertere, würdigere, der Gerechtigkeit und Vernunft verpflichtete Welt entsteht.
Jean Ziegler, Genf, Januar 2011
Copyright © 2009 der deutschen Erstausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Tag war kalt. Zaghaft drang die Sonne durch die Wolken. Die Pennsylvania Avenue war schwarz von Menschen. Vor der Westfront des Kapitols hatte man eine Bühne aufgeschlagen und sie mit den amerikanischen Farben geschmückt. Ein hochgewachsener Mann von achtundvierzig Jahren, mit dunklem Teint und klarem Blick, in einen nachtblauen Mantel gehüllt, trat in die Mitte der Bühne.
Der Präsident des Obersten Gerichts verlas die Eidesformel. Barack Obama sprach sie nach. An seiner Seite standen seine Frau Michelle und die beiden kleinen Töchter Sasha und Malia.
Michelles Urgroßvater hieß Dolphus Shields. Er wurde 1859 als Sklave auf einer Baumwollplantage in Süd-Carolina geboren. In der unabsehbaren Menschenmenge, die sich vor dem Capitol und entlang der Pennsylvania Avenue drängte, hatten viele Tränen in den Augen. Man schrieb Mittwoch, den 20. Januar 2009. Seit der ersten Veröffentlichung des vorliegenden Buchs im September 2008 war die Wahl Barak Obamas zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten sicherlich eines der spektakulärsten Ereignisse auf unserem Planeten. Dieser Wahlsieg, der in erster Linie den Träumen und der Mobilisierung des verwundeten Gedächtnisses vieler Millionen Menschen afrikanischer Abstammung und Angehöriger anderer Minderheiten zu verdanken ist, hat in der ganzen Welt, jedoch vor allem in der südlichen Hemisphäre, leidenschaftliche Hoffnungen geweckt. Hoffnungen, die sich inzwischen zerschlagen haben. In dem größten Militärgefängnis der Welt, im afghanischen Bagram, werden die Gefangenen wie eh und je von den Agenten der amerikanischen Sicherheitsdienste gefoltert. Die »Militärkommissionen « sind immer noch aktiv; gefangen genommenen »feindlichen Kombattanten« oder einfachen Verdächtigen wird die Anwendung der Genfer Konvention verweigert.
Ich zitiere ein Beispiel: In Bagram kümmert sich die New Yorker Anwältin Tina Forster im Auftrag des International Justice Network um drei Häftlinge: zwei Jeminiten und einen Tunesier. Tina Forster: »Es gibt überhaupt keinen Unterschied zwischen den Regierungen Obama und Bush.« Obama führt zwei Kriege zugleich ... und erhält den Friedensnobelpreis! Im Ghetto von Gaza, wo sich auf 365 Quadratkilometern 1,5 Millionen Palästinenser drängen, provozieren Unterernährung und Epidemien verheerende Folgen. Durch die israelische Blockade werden den Krankenhäusern Medikamente vorenthalten. Nach den israelischen Massakern und Bombenangriffen im Januar 2009 ist kein Wiederaufbau möglich. Die Kollektivstrafe, die über die belagerte Zivilbevölkerung verhängt worden ist, verhindert die Einfuhr von Baumaterialien. Ungehindert nimmt im Westjordanland und im besetzten Ostjerusalem der Raub von Land, Wasser und palästinensischen Häusern seinen Fortgang.
Im Auftrag der Vereinten Nationen hat der südafrikanische Richter Richard Goldstone sechs Monate lang die israelische Aggression gegen das Ghetto von Gaza vom Januar 2009 untersucht: 1400 tote Palästinenser, mehr als 6000 Versehrte und Verbrannte, darunter viele Frauen und Kinder. Sein Ergebnis: Der israelische Staat (aber auch die Hamas-Regierung) hat Kriegsverbrechen begangen. Gold Strafgerichtshof. Im Sicherheitsrat und im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen blockieren die Vereinigten Staaten den Goldstone- Bericht. Zu den strategischen Verbündeten der Vereinigten Staaten gehören auch weiterhin zahlreiche Staaten - Usbekistan, Saudi-Arabien, Israel, Nigeria, Kolumbien, Kuweit -, die von Amnesty International schlimmster Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die Washington Post stellt fest: »Obamas Schwachpunkt sind die Menschenrechte.« Warum dieses Scheitern?
Barack Obama bekommt mit ungebremster Wucht das Gesetz des Imperiums zu spüren. Trotz ihrer relativ begrenzten Bevölkerung - 300 Millionen Einwohner - sind die Vereinigten Staaten noch immer die bei weitem kreativste, kompetenteste und dynamischste Industrienation der Welt. 2010 stammten rund 25 Prozent aller weltweit in einem Jahr produzierten Industriegüter aus amerikanischen Unternehmen. Der wichtigste Rohstoff dieser gigantischen Industriemaschine ist das Erdöl: Die Vereinigten Staaten verbrauchen ungefähr 20 Millionen Barrel pro Tag. Doch die täglich zwischen Alaska und Texas geförderte Ölmenge beträgt noch nicht einmal 8 Millionen Barrel. 61 Prozent, das heißt, etwas mehr als 12 Millionen Barrel, werden pro Tag aus dem Ausland importiert. Und erst noch aus einem feindlichen Ausland, aus Regionen, die von Konflikten zerrissen sind: dem Mittleren Osten, Zentralasien, dem Nigerdelta.
Die Konsequenz? Die Vereinigten Staaten müssen außerordentlich starke und kostspielige Streitkräfte unterhalten. 2008 haben zum ersten Mal in der Geschichte die Rüstungsausgaben der UN-Mitgliedstaaten 1000 Milliarden Dollar pro Jahr überschritten. Der Anteil der Vereinigten Staaten daran betrug 41 Prozent, (auf China, die zweitgrößte Militärmacht der Welt, entfielen 11 Prozent).
Die Erfordernisse der Ölindustrie - und des Militärs - zwingen die Regierung in Washington also, auf der ganzen Welt mit gewissen Staaten, die die Rechte der ihnen ausgelieferten Völker mit Füßen treten, strategische Bündnisse zu schließen.
Das ist das Paradoxon, dem wir uns gegenüber sehen: Nach der Wahl eines Afroamerikaners zum Präsidenten der USA, hat sich bei den Völkern des Südens der Hass auf den Westen deutlich verstärkt. Régis Debray schreibt: »Heute, mehr als jemals zuvor, ist das Gedächtnis revolutionär.« Das zweite wichtige Phänomen, das sich seit Erscheinen dieses Buchs verdeutlichte, sind die raschen Fortschritte und die Konsolidierung der indianischen Revolutionen in Lateinamerika. Auf den endlosen, trockenen Kordilleren, in den tiefen Tälern, den üppigen Wäldern des Amazonasbeckens erlebt das verwundete Gedächtnis der indianischen Völker eine überraschende Renaissance.
Aus diesem Gedächtnis wird heute politisches Bewusstsein, Wille zur Volkserhebung, Kraft des Widerstands, unbezähmbare soziale Bewegung. Mai 2009: Die Indianer im peruanischen Amazonas erheben sich. Die Regierung in Lima hat westlichen Ölgesellschaften gerade Bohrrechte gewährt, die das Land und die Wasserläufe der indigenen Gemeinschaften gefährden. Unter der AIDESEP (Interethnische Vereinigung zum Schutz des peruanischen Regenwalds) organisieren die Gemeinschaften den Widerstand, blockieren die Straßen und Flüsse der Region. Der von den ausländischen Konzernen bevormundete Präsident Alan Garcia ruft den Ausnahmezustand aus. Die Unterdrückung der Gemeinschaften beginnt. Dann häufen sich die Morde an den Indianern. Beim Massaker von Bagua erschießt die Armee aus nächster Nähe 34 Demonstranten, darunter Frauen und Kinder.
Doch der Widerstand erlahmt nicht.
Mittwoch, 17. Juni 2009, Alan Garcia spricht vor dem Kongress in Lima. Er verkündet die Aufhebung der Erlasse, die die Enteignung der Amazonasgebiete betreffen. In Bolivien schreitet die stille Revolution, die begann, als mit Evo Morales Ayma 2006 der erste gewählte indianische Präsident Südamerikas seit 500 Jahren in den Palacio Quemado einzog, stürmisch voran. Die mit mehr als 200 westlichen Gas-, Öl- und Minengesellschaften ausgehandelten Verträge verwandeln die Konzerne in einfache Dienstleistungsunternehmen, die dem bolivianischen Staat Jahr für Jahr mehrere Zehnmilliarden Dollar bescheren - Summen, dank derer Evo Morales die materielle Situation der ärmsten Schichten radikal verändert. Langsam lässt das bolivianische Volk sein jahrhundertelanges Elend hinter sich. Seit 2009 erhält jeder Bolivianer über 60 ohne Einkommen 200 Boliviano pro Monat.7 Der Bono madre-niño ist ein weiteres, seit 2009 bestehendes allgemeines Reformprojekt. Es garantiert Frauen eine kostenlose Schwangerschaftsvorsorge. Das gleiche Anrecht hat das Kind. Während der gesamten Schwangerschaft und der ersten zwei Lebensjahre des Kindes erhält die Mutter 200 Boliviano im Monat. Wieder ein anderer Bono soll für den Schulbesuch der Kinder aus den ärmsten Familien sorgen. Wenn das Kind das fünfte Schuljahr vollendet hat, erhält es eine Prämie von 200 Boliviano, rund 30 Dollar. Diese Summe mag lächerlich niedrig erscheinen, doch häufig haben die Familien sechs bis acht Kinder.
Erfolge zeitigt auch der Kampf gegen die Sklavenarbeit. Im Alto Parapeti, Departement Santa Cruz, haben die Agenten der INCRA8 2009 zehn Latifundien entdeckt, die fünf Familien gehörten und zusammen eine Fläche von 36 000 Hektar einnahmen. Mehrere Hundert Guarani-Familien wurden dort gewaltsam festgehalten und dazu gezwungen, ohne Lohn oder andere Vergütung zu arbeiten. Daraufhin wurde das Land enteignet, auf dem diese Sklaven lebten. Am 14. März 2009 kam Evo Morales persönlich ins Alto Parapeti, um den Ältesten der Guarani-Gemeinschaften ihre Eigentumsurkunden auszuhändigen. Doch der Feind gibt sich nicht geschlagen. Immer wieder werden an den Bauern Massaker verübt. Leopoldo Fernandez, 2009 Gouverneur des Departements Pando, in Ostamazonien, ist ein Komplize und Freund der Großgrundbesitzer der Region. Seine Gendarmen und Privatmilizen machen Jagd auf die INCRA-Agenten, die aus La Paz kommenden Agronomen, auf die Landvermesser, die die Agrarreform vorbereiten sollen. Aus Protest organisierten Tausende landloser Bauern zusammen mit ihren Frauen und Kindern einen Marsch auf den Hauptort des Departements. Beim Dorf Catchuela-Esperanza lauerten ihnen die Pistoleros von Fernandez auf. 17 Demonstranten, darunter Frauen und Kinder, wurden aus nächster Näher erschossen. Mehr als 600 wurden verwundet. Dutzende gelten als vermisst. Überlebende sagten aus, mehrere der Angreifer hätten nicht Spanisch gesprochen, sondern sich einer »unbekannten« Sprache bedient.
Im April 2009 trafen sich in Trinidad und Tobago, dem Venezue la vorgelagerten Karibikstaat, die Staatschefs Nord- und Südamerikas zum fünften Cumbre de las Americas, dem sogenannten Amerika- Gipfel. Dort begegnete Barack Obama zum ersten Mal Evo Morales. Ihr Gespräch war kurz.
Währenddessen wurde die Sabotage-Kampagne, die die Oligarchie von Santa Cruz mit ihren kroatischen Söldnern unter Führung amerikanischer Geheimdienstleute gegen die rechtmäßige Regierung Boliviens führt, mit äußerster Brutalität fortgeführt. Zwei Tage nach dem Händedruck von Trinidad umstellten Spezialeinheiten der bolivianischen Polizei das Hotel Las Americas in Santa Cruz.
In der vierten Etage des Gebäudes hatten fünf kroatisch- und ungarischstämmige Veteranen der Balkankriege ein Waffen- und Sprengstoffdepot angelegt. Um fünf Uhr morgens stürmte die Polizei das Hotel.
Wie die dort aufgefundenen Notizen bewiesen, hatten die Söldner beabsichtigt, Evo Morales, den Vizepräsidenten Garcia Linera und vier wichtige Minister der Regierung zu ermorden. Beim Zugriff wurden drei Söldner getötet und zwei gefangen genommen. Die Mordkomplotte und Sabotageakte sind nicht die einzigen Gefahren, die der stillen Revolution Boliviens drohen. Der Baum des neuen Boliviens, der langsam emporwächst, besitzt schwache Zweige und morsche Äste. Beispiel: Santos Ramirez, Mitbegründer des MAS (Movimiento al Socialismo), das Morales an die Macht gebracht hatte. Nach Evo Morales und Garcia Linera war er der drittmächtigste Mann des Staates. Der ehemalige Anwalt der Bauerngewerkschaften war Generaldirektor der YPFB , der staatlichen Erdölgesellschaft, geworden. Im Februar 2009 verhaftete ihn die Polizei in seinem Haus. Sie fand bei ihm 450 000 Dollar Bargeld, ein »Geschenk« - so der Untersuchungsrichter - des amerikanischen Unternehmens Castler Uni service. Das hatte von der YPFB den Auftrag zum Bau einer Erdgasverflüssigungsanlage bekommen.
Evo Morales feuerte Ramirez und ersetzte ihn durch Carlos Villegas ... den sechsten Generaldirektor der YPFB seit Amtsantritt des Präsidenten!
Doch weder die internationalen Intrigen noch die Verleumdungen der europäischen Presse noch die Sabotageakte konnten bislang die machtvolle indianische Identitätsbewegung, den Aufbau des National staates und die soziale Revolution unter Führung der MAS aufhalten. Die neue Verfassung ist demokratisch angenommen worden. Bei der Wahl vom Dezember 2009 wurde Evo Morales Ayma mit überwältigender Mehrheit in seinem Amt als Präsident der Republik bestätigt.
Dritter neuer Sachverhalt seit der ersten Auflage dieses Buchs: Im Herbst 2008 hat ein Finanztsunami den Planeten erschüttert: Das Raubgesindel des globalisierten Finanzkapitals hat mit seinen irrwitzigen Spekulationen, seiner zwanghaften Gier, in wenigen Monaten viele Tausend Milliarden Dollars Vermögenswerte vernichtet. Alphonse Allais schreibt: »Wenn die Reichen abmagern, sterben die Armen.« Der Banken-Banditismus hat im Westen Millionen Arbeitslose geschaffen. In den Ländern des Südens jedoch tötet er. Laut Weltbank sind seit Ausbruch der Finanzkatastrophe mehrere Hundertmillionen Menschen mehr in den Abgrund äußerster Armut und Hungersnot gestürzt worden.
Am 22. Oktober 2008 kamen im Pariser Élyséepalast die sechzehn Staats- und Regierungschefs der Eurostaaten zusammen, darunter José Luis Zapatero, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Ihre Entscheidung? Die Länder der Eurozone stellten ab sofort 1,7 Billionen Euro bereit, um das Kreditgeschäft unter Banken wieder zu beleben und die Untergrenze der Selbstfinanzierung ihrer Banken von 3 auf 5 Prozent zu erhöhen.
In den ersten zwei Monaten nach dem Pariser Treffen haben die Industriestaaten ihre Zuwendungen an die internationalen humanitären Hilfsorganisationen und die für die ärmsten Länder bestimmten Kredite massiv gekürzt.
Ein Beispiel: Das mit der Nahrungs-Nothilfe betraute WPF (Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen) verfügt normalerweise über einen ordentlichen Etat von sechs Milliarden Dollar. 2010 waren 71 Millionen Menschen in seiner Obhut - Opfer von Kriegen, Naturkatastrophen, Vertreibung. Heute belaufen sich seine verfügbaren Mittel noch auf knapp drei Milliarden Dollar. In wenigen Monaten hat das WPF also mehr als die Hälfte seines Etats eingebüßt. Mit welchem Ergebnis?
In Bangladesch musste das WPF die Schulspeisung von einer Million unterernährter Kinder streichen. In den Lagern auf kenianischem Gebiet erhalten 300 000 somalische Flüchtlinge heute nur noch eine Tagesration von 1500 Kalorien. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzt das Existenzminimum auf 2200 Kalorien pro Erwachsenen und Tag fest. In den Lagern, über denen die blauweiße UNOFlagge weht, organisiert die UNO heute die Unterernährung von Menschen, die damit Agonie und Tod ausgeliefert werden.
Wo ist Hoffnung?
In der Aussicht, dass die Völker des Südens souveräne Nationen bilden - multiethnische, demokratische Nationen, die über die Reichtümer, die Bodenschätze ihres Landes gebieten, unter der Herrschaft des Rechts leben und fortan in der Lage sind, auf Augenhöhe mit den westlichen Mächten zu verhandeln.
1799 kam Simon Bolivar mit sechzehn Jahren zum ersten Mal nach Paris. Die Erfahrung der revolutionären Veränderungen in Frankreich nährte seinen Hass auf den spanischen Despotismus in Amerika. Die Ideen von Robespierre und Saint-Just beflügelten auch andere junge Leute, die schon bald die Befreiungsarmeen über die Anden führen sollten.
Antonio José de Sucre, José de San Martín, Bernardo O'Higgins und viele andere haben sich von den Schriften und Kämpfen der französischen Revolutionäre inspirieren lassen. Doch das Licht kommt heute nicht mehr aus Europa.
Mit einer bewundernswert dynamischen und kreativen Produktionsweise ausgestattet, aber der zügellosen, ungeduldigen Gewinnsucht und dem Eroberungswillen ihrer herrschenden Klassen hingegeben, ließen die Weißen das Licht der Aufklärung verlöschen, das sie entzündet hatten.
Die westlichen Staaten praktizieren, was Maurice Duverger den »äußeren Faschismus« nennt. In den Grenzen ihrer Territorien sind sie echte Demokratien. Doch die demokratischen Werte, die die Grundlage ihrer Verfassungen bilden, hören an den Grenzen auf. Gegenüber den Völkern des Südens praktizieren sie das Gesetz des Dschungels, das Faustrecht des Stärkeren, und vernichten jeden, der sich ihnen in den Weg stellt. Die zwanghafte Profitgier ihrer jeweiligen Oligarchien bestimmt ihre Außenpolitik. Unempfänglich für das Leiden der südlichen Völker, ihr verwundetes Gedächtnis, ihre Forderung nach Entschuldigung und Wieder gutmachung, bleibt der Westen blind und taub, einbetoniert in seinen Herrschafts-Willen.
In Europa leiden der Wunsch nach Wiedergutmachung und die Hoffnung auf ein sinnstiftendes kollektives Leben an Kräfteschwund. Das Gift des hedonistischen Individualismus, das von den Herren des globalisierten Finanzkapitals mit Bedacht zusammengebraut wurde, verfehlt seine Wirkung nicht. Allein das Wort Revolte löst Sarkasmus aus. Das kapitalistische Krebsgeschwür zerfrisst den Westen. An der Schwelle zu diesem neuen Jahrtausend kommt die Hoffnung aus den amazonischen Wäldern Ecuadors und Perus, den Hochebenen Boliviens, den Llanos Venezuelas und, in geringerem Maße, den Megapolen Brasiliens. Immanuel Kant, Abonnent mehrerer revolutionärer Zeitschriften, darunter vor allem seit Juli 1789 L'Ami du Peuple, verfolgte von Königsberg aus die Ereignisse in Paris. Im Gegensatz zu seinen Landsleuten Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, die doch immerhin in dem Ruf standen, »Freiheitsdichter« zu sein, begriff Kant diesen »Bruch der Zeiten« intuitiv und aufs Tiefste in ihrer Größe und universellen Bedeutung. Mit seinen Freunden vom Gasthaus Zum Ewigen Frieden kommentierte er täglich und leidenschaftlich die Widersprüche, Erschütterungen und Einsichten der ihren Lauf nehmenden Revolution.
Kurz nach der Terrorherrschaft und dem Sturz von Saint-Just und Robespierre, schrieb Kant 1798: »Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte ... Aber wenn der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck auch jetzt nicht erreicht würde ... so verliert jene philosophische Vorhersagung doch nichts von ihrer Kraft. - Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt und ihrem Einflusse nach auf die Welt in allen ihren Theilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern bei irgend einer Veranlassung günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte.« In den von tragischer Schwäche befallenen Händen des Westens ist die Fackel der Revolution erloschen. Heute lodert die Revolte des in seiner Würde missachteten Menschen in den Llanos, im Herzen der Anden. Es sind die Völker Südamerikas und der Karibik, die die Flamme wieder entzünden. Sie wird, vielleicht schon bald, die ganze Welt in Brand setzen. Die große Emanzipationsbewegung des Menschen, die allmähliche Humanisierung der Geschichte, breitet sich rasch in der ganzen südlichen Hemisphäre aus, besonders unter den Völkern der Muslime und der Indianer. Die unerhörte Begebenheit, die Kant so beredt, exakt und zutreffend beschreibt, wird heute von den Völkern der südlichen Hemisphäre, und insbesondere Südamerikas, erneut durchlebt. Doch im Innersten dieser machtvollen Identitätsrenaissance, dieses Wunsches nach Zusammenleben in Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, der jeder Nationenbildung zugrundeliegt, gibt es eine tödliche Gefahr, ein Gift: die ständige Versuchung des Rückfalls in den Tribalismus, den Identitätsfanatismus, den Partikularismus, die zur Ablehnung des Anderen, Rassismus, kurzum zu krankhaftem Hass führen.
Fernando Quispe, Ollanda Humaila und die Propheten der Raza cobriza verkörpern diese Gefahr in den Anden, die Salafisten und die Taliban in der islamischen Welt. Wenn der Westen in seiner Blindheit verharrt, werden die tribalistischen Fanatiker, die rassistischen Propheten den Sieg davontragen. Sie zerstören die Emanzipationsbewegung und mit ihr die Hoffnung auf einen Sieg über die gegenwärtige kannibalische Weltordnung. Von der Solidarität des Westens mit den neuen souveränen Staaten in Lateinamerika und anderen Regionen der südlichen Hemisphäre hängt es ab, ob eine neue lebenswertere, würdigere, der Gerechtigkeit und Vernunft verpflichtete Welt entsteht.
Jean Ziegler, Genf, Januar 2011
Copyright © 2009 der deutschen Erstausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Jean Ziegler
Ziegler, JeanJean Ziegler, geboren 1934 im schweizerischen Thun, lehrte bis zu seiner 2002 erfolgten Emeritierung Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne/Paris, er war von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, als dessen Berater er heute noch tätig ist.
Jean Ziegler wurde in jungen Jahren geprägt von seiner Freundschaft zu Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir sowie durch einen zweijährigen Afrika-Aufenthalt als UN-Experte nach der Ermordung Patrice Lumumbas ("Ich habe mir geschworen, nie wieder, auch nicht zufällig, auf der Seite der Henker zu stehen."). Bis 1999 war Jean Ziegler Nationalrat im Parlament der Schweizer Eidgenossenschaft. Seine Publikationen wie »Die Schweiz wäscht weisser« und »Die Schweiz, das Gold und die Toten« haben erbitterte Kontroversen ausgelöst und ihm internationales Ansehen. Zuletzt erschien der Weltbesteller »Das Imperium der Schande«" im C. Bertelsmann Verlag. Ziegler gehört zu den international profiliertesten und charismatischsten Kritikern weltweiter Profitgier und ist derzeit Mitglied des UN-Menschenrechtsrates.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jean Ziegler
- 2011, 287 Seiten, Masse: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Kober, Hainer
- Übersetzer: Hainer Kober
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442156491
- ISBN-13: 9783442156498
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