Das heilende Bewusstsein
Welche Rolle spielt der Geist, wenn Menschen von eigentlich unheilbaren Krankheiten genesen? Ist es möglich, im Bewusstsein Bilder zu erschaffen, die heilen? Der Autor zeigt, wie es auf allen Kontinenten und zu allen Zeiten Kulturen gab und gibt, bei...
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Welche Rolle spielt der Geist, wenn Menschen von eigentlich unheilbaren Krankheiten genesen? Ist es möglich, im Bewusstsein Bilder zu erschaffen, die heilen? Der Autor zeigt, wie es auf allen Kontinenten und zu allen Zeiten Kulturen gab und gibt, bei denen der Glaube ein wichtige Rolle in der Medizin spielt.
Das heilende Bewusstsein von Joachim Faulstich
LESEPROBE
Die zwei Wege der Medizin
Begegnung im Regenwald
Die Sonne war untergegangen, derRegenwald erwachte mit tausend Stimmen. Über dem flachen Wasser am Ufer derLagune tanzten die Moskitos, und die letzten Boote erreichten Puerto Callao, eine Siedlung aus Bretterbuden, Vorposten derZivilisation im Tiefl and Perus.
Ich sass in einem weissen Raum, demZimmer der Chefärztin des Amazonas-Hospitals, und blickte durch das engmaschigeFliegengitter hinaus auf den See. Im graublauen Licht der beginnenden Nachtkreuzten die Einbäume der Indianer auf dem Weg zu ihren nahe gelegenen Dörfern.
Die Lagune Yarinacocha,der »See der ragenden Palmen«, war das Zentrum ihrer Welt, das Land am Rio Ucayali ihr Land, das Land der Shipibo-Conibo,eines der grössten indianischen Völker im Regenwald.
Das Hospital hatte der deutsche ArztTheodor Binder vor einigen Jahrzehnten gegründet, fasziniert vom Werk AlbertSchweitzers wollte auch er vergessenen Ureinwohnern helfen, mit modernerMedizin. Ärzteteams erkundeten seitdem in motorisierten Einbäumen diemäandernden Flüsse und boten auch in entlegenen Dörfern ihre Dienste an, siebehandelten Kranke und Verletzte und bildeten Sanitariosaus, Gesundheitsberater, die vor Ort die Grundversorgung sichern sollten.
Zum ersten Mal seit der Eroberungdes Landes durch die Weissen wurden den Indianern die Segnungen der westlichenMedizin zuteil, moderne Diagnosemethoden, chemische Medikamente, chirurgischeKunst.
Doch die Gründer des Hospitalshatten eine wichtige Tatsache übersehen: Die Shipibo-Conibowaren seit undenklichen Zeiten selbst Meister der Heilkunst. Ihre Ärzteverfügten über tiefes medizinisches Wissen, kannten Hunderte von wirksamenPflanzen, und sie heilten mit der Macht ihres Bewusstseins.
Die Schamanen der Shipibo waren jahrhundertelang imganzen Amazonas-Tiefl and berühmt, aber ihre Kunstschien am Einbruch der Moderne zerbrochen. Die spanischen Eroberer hatten ihrGebiet nicht entdeckt, doch im 20. Jahrhundert waren fundamentalistischeMissionare aus den USA gekommen, um ihnen das Christentum zu bringen. DieMissionare hatten keinen Respekt vor den Geheimnissen der indianischenGeschichte, kein Auge für die Schöpfungsmythen aus der Ferne der Zeit und fürdas geheime Netzwerk der Geister, die das spirituelle Gleichgewicht in derBalance hielten, auch nicht für den nächtlichen Kampf der Schamanen, die aufden Flügeln ihres Bewusstseins in magische Welten jenseits des Alltags reisten,um neue Kraft für ihre Patienten zu finden.
Die Missionare waren von derÜberlegenheit ihres eigenen Glaubens und ihres modernen Wissens überzeugt, auchdeshalb, weil die Kräuter des Regenwaldes und die schamanischen Ritualeoffenbar im Kampf gegen die Infektionskrankheiten, die mit den Weissen ins Landgekommen waren, nicht halfen. So bewirkten sie mit Antibiotika Wunderheilungenund demonstrierten mit diesem Zauber ihre Überlegenheit.
Die weisse Medizin und das alteWissen wurden zu Gegnern, und die Ärzte aus den Ländern des Westens siegten.Auch das Amazonas-Hospital stand in dieser Tradition, ein Brückenkopf naturwissenschaftlichenFortschritts in einer vergessenen Welt.
An diesem Abend im Mai 1979 abererzählte die Chefärztin ganz andere Geschichten. Vor einem halben Jahr erst warsie aus Deutschland in diese Klinik gekommen, aber dieses halbe Jahr hattegenügt, um ihr Weltbild zu erschüttern. Der Schamanismusder Shipibo war in Wahrheit nicht vollständiguntergegangen, sondern hatte in der Stille überlebt. Das Wissen um die Kraftder Pflanzen war nicht verloren gegangen, und noch immer beherrschten dieMeister des Heilens in den entlegenen Dörfern die archaische Reise desBewusstseins in die »andere Wirklichkeit«.
Eines Tages, so erzählte dieChefärztin, sei ein zwölfjähriges Mädchen in die Klinik gebracht worden. Eslitt unter Osteomyelitis, einer Knocheninfektion, diemit Antibiotika nicht zu beherrschen war. Eine Röntgenaufnahme zeigte, dass derHerd sich von einer bestimmten Stelle im Knochen ausbreitete.
Das Bein war auf das Doppelte desnormalen Umfangs angeschwollen und völlig unbeweglich, das Kind hatte starkeSchmerzen und hohes Fieber, es musste ständig gekühlt werden, damit dieTemperatur unter dem kritischen Punkt blieb.
Seine Überlebenschancen warengering, aber Ärzte und Krankenschwestern taten alles, um das Mädchen zu retten.
Als das Kind immer schwächer wurde,baten die besorgten Eltern um ein Gespräch mit der Chefärztin. Sie fragtenvorsichtig, ob sie einen Curandero hinzuziehendürften, einen traditionellen Heiler. Die Ärztin war einverstanden, stellteaber eine Bedingung: Der Schamane solle sich zunächst bei ihr vorstellen, damitsie ihm die Röntgenaufnahmen zeigen könne, bevor er mit seiner Arbeit beginnenwürde.
Als der Curanderokam, ein unscheinbarer kleiner Mann, versuchte die Ärztin, ihm dieAusweglosigkeit des Falles klarzumachen.
Sie führte ihn an eine Leuchttafelmit den Röntgenbildern und erklärte ihm so einfach wie möglich die Ursache undden Verlauf der Erkrankung. Dann zeigte sie ihm das Mädchen, das nur noch einSchatten seiner selbst war. Auf dem Rücken der Patientin hatten sich tiefeGeschwüre gebildet, die Krankenschwestern wussten nicht mehr, wie sie das Kindlagern sollten, es konnte sich vor Schmerzen nicht mehr bewegen, und es gabkeine Position, die ihm Erleichterung verschaffte.
Der Curanderohörte sich die Erläuterungen der Ärztin ruhig an, ab und zu nickte er, und dannblieb er allein im Krankenzimmer und begann mit seinem Heilungsritual.
Die Schamanen der Shipibo benutzen, wie viele indianische Völker desRegenwaldes, eine machtvolle Droge, um ihr Bewusstsein zu verändern und denBlick in die Welt der Geister zu lenken, wo sie um Hilfe für ihre Patientenbitten. Die Ayahuasca-Liane, zubereitet in einembitteren Trank, dem noch weitere Pflanzen hinzugefügt werden, schleudert dasBewusstsein aus der Begrenzung des Körpers und hilft dem geübten Heiler,vordergründig unsichtbare Zusammenhänge zu sehen, die sich den strengenGesetzen des Wachbewusstseins entziehen. Auf einer Reise in eine Welt, in dermythologische Figuren zu realen Wesen werden, erfährt der Schamane, was er am Krankenbetttun muss. Hilfreiche Geister, die ihm auf seiner Trance-Reise begegnen,übernehmen einen Teil der Arbeit.
Die Krankenschwestern, ausgebildetan modernen medizinischen Schulen in Lima, hörten durch die geschlossene Türdes Zimmers pentatonische Gesänge, eine endloseMelodie, beruhigend und aufwühlend zugleich. Einige Pflegerinnen beschwertensich bei der Ärztin - sie hätten sich nicht in moderner Heilkunde ausbildenlassen, um nun der längst überwundenen Vergangenheit wieder zu begegnen. Aberdie Chefärztin liess sich in ihrer Entscheidung nicht beirren: Wir sind mitunserer Kunst am Ende, sagte sie, also lassen wir der Patientin und ihrenEltern diese letzte Hoffnung.
Mehrere Tage arbeitete der Heilerhinter der stets verschlossenen Tür des Krankenzimmers, dabei setzte er auchKräuter ein, die zweite Säule der indianischen Naturmedizin. Das Kind lebteentgegen den Erwartungen der Ärztin noch immer, aber offenbar verbesserte sichsein Zustand nicht wesentlich.
Als eine Woche vergangen war, batder Curandero um ein weiteres Gespräch. SeineMöglichkeiten, sagte er, seien in dieser Umgebung begrenzt, er könne hierkeinen Zugang zur Krankheit finden, könne das Mädchen so nicht heilen.
Um es zu retten, müsse er es in seinDorf mitnehmen. Die Ärztin stimmte zu, denn noch immer sah sie keinemedizinische Möglichkeit, weiter etwas für die Patientin zu tun.
In einem Geländewagen wurde dasKind, auf Schaumstoff gelagert, über staubige Buckelpisten und schlammbedecktePfade in ein kleines Dorf gebracht. Die Hütten der Shipibohaben keine Wände, es sind Pfahlbauten mit einem erhöhten Boden aus biegsamemHolz. Sie bieten kaum Schutz vor der Hitze und noch weniger vor Wind undplötzlicher Kälte, die im Urwald oft auf heftige Regengüsse folgen. Das Kindwurde auf einer schmutzigen Decke gelagert, und die Ärztin fuhr zurück insHospital, ganz sicher, dass der Tod nur noch eine Frage von Tagen war - dashohe Fieber konnte in der Klinik nur mit Eiswasser unter dem tödlichen Wert vonzweiundvierzig Grad gehalten werden, aber hier in der Hütte gab es kein Eis.
Nach vierzehn Tagen fuhr die Ärztinnoch einmal in das Dorf, um sich nach dem Schicksal ihrer Patientin zuerkundigen.
Sie fand das Kind aufrecht sitzendauf dem Boden der Hütte, es ging ihm offensichtlich besser. Zwei Monate spätermachte sie sich noch einmal auf den Weg, jetzt hatte sich der Zustand desMädchens fast vollständig normalisiert. Es konnte wieder laufen, hieltallerdings noch das linke Bein, dessen Knochen ja befallen war, in einerSchonhaltung. Der Curandero sagte, das werde sich inder nächsten Zeit noch wesentlich bessern.
Der Heiler erlaubte der Ärztin, dasKind noch einmal mit in die Klinik zu nehmen, um das Bein abschliessend zuröntgen.
Das Bild zeigte, dass die Krankheitzum Stehen gekommen war. Und das Mädchen war nicht nur fi eberfrei und wiederbewegungsfähig, es hatte auch keine Schmerzen mehr, und die Geschwüre am Rückenhatten sich fast vollständig zurückgebildet.
Die Chefärztin lehnte sich zurückund lächelte. Seit diesem Erlebnis, sagte sie, habe sie begonnen, dietraditionellen Heiler ernst zu nehmen. Sie sei beeindruckt von der indianischenVorstellung, dass Krankheit nicht das individuelle, vom Spiel des Zufallsdiktierte Schicksal eines Menschen sei, sondern Ausdruck eines Problems der Gemeinschaft.So beschrieben die Curanderos der Shipiboden Hintergrund einer Erkrankung.
Sie verstanden diesen Zusammenhangzwar nicht im psychologischen Sinne, wie das die westliche psychosomatischeMedizin heute tun würde, sondern eher als kollektives Problem mit der Welt derGeister, im Kern aber bestehe da kein wirklicher Unterschied. Denn am Endezähle, ob Heilung geschehen könne oder nicht.
Bei den Behandlungen in denentlegenen Dörfern, habe sie inzwischen in Erfahrung gebracht, seien meist alleFamilienmitglieder anwesend, manchmal sogar alle Nachbarn, oft beteilige sichdie ganze Dorfgemeinschaft. Wenn der Patient krank bliebe, werde dies nicht alssein persönliches Problem gesehen, sondern alle fühlten sich verantwortlich.Ein faszinierender Gedanke, der dem Weltbild der westlichen Schulmedizinmagisch erschien, wenn auch neuere Erkenntnisse über psychologischeZusammenhänge diese indianische Vorstellung schon damals in ein anderes Lichtzu rücken begannen.
Und dann erzählte die Ärztin einezweite Geschichte, ein persönliches Erlebnis, das etwa ein Jahr zurücklag: Aufeiner Reise durch die Felsenlandschaft der Anden sei sie eines Abends in einabgelegenes Dorf gekommen. In der schneidenden Kälte nach Sonnenuntergang seisie in einem der Bauernhäuser Zeugin eines Abschiedes geworden. In einem Bettin der Ecke eines düsteren Zimmers lag eine sterbende Frau, und nach und nachkamen die Bewohner des Dorfes zu einem letzten Besuch. Die Ärztin hatte denImpuls zu helfen und fragte vorsichtig, ob sie die Patientin untersuchen dürfe.
Die Angehörigen stimmten zu, auchwenn sie offenkundig wenig Hoffnung in die Fremde setzten. Nach wenigen Minutenwar der Ärztin klar, dass die Krankheit heilbar war, mit einem neuenMedikament, das erst seit kurzer Zeit auf dem Markt war. Und genau dieseshochwirksame Mittel hatte sie im Reisegepäck. Sie gab es der Frau und sagte denAngehörigen, sie müssten sich keine Sorgen mehr machen - die Patientin werdemit Sicherheit ganz schnell gesund werden.
Einige Stunden später starb die alteFrau, wie es die Angehörigen erwartet hatten, und das Dorf begann mit denTrauerritualen.
Die deutsche Ärztin war verzweifeltund schockiert. Lange suchte sie nach dem Fehler, der sie in dieser schwierigenSituation scheitern liess, aber sie war sicher, die richtige Diagnose gestelltund nach den Regeln ihrer Kunst behandelt zu haben. Warum also musste die Frauin jener Nacht sterben?
Erst ein Jahr später, nach derErfahrung mit der wunderbaren Heilung des Mädchens im Tiefland, fast 1000 Kilometer von jenem Dorf in den Anden entfernt, begann sie zubegreifen, dass sie schon damals Zeugin einer besonderen Macht geworden war:der Macht des Bewusstseins. Schon immer waren in den Hochebenen Perus Menschengestorben, die an dieser Krankheit litten, allen Hoffnungen zum Trotz. DieAngehörigen im Krankenbett und alle Besucher glaubten tief in ihrem Inneren,dass es keine Rettung gab. Auch die Patientin selbst war sich über ihrSchicksal im Klaren und hatte begonnen loszulassen, den Kampf um das Lebenaufzugeben. Die Sterbende und ihre Freunde und Verwandten waren im Einklang mitihrer Tradition und ihrem alten Wissen vom Leben und von Tod. Gegen diesentiefen Glauben konnte die Fremde aus Europa nichts ausrichten. Ihremedizinische Kunst war im Angesicht dieses kollektiven Wissens ohne Bedeutung.
Der Körper der Patientin folgte derBotschaft des Bewusstseins und zog die Abwehrkräfte zurück. In diesem Momentverlor auch das Medikament aus dem Westen seine Macht, die es in Jahrenintensiver Forschung gewonnen hatte: Wenn das Bewusstsein die Heilungverweigert, weil es sie nicht für möglich hält, sind äussere Eingriffe in dieChemie des Körpers offenbar ohne Bedeutung. Die Patientin starb friedlich, wiesie selbst und alle anderen es erwartet hatten.
Die moderne Medizin kann sich mitder Macht des Bewusstseins nur schwer abfinden. Seit meiner Begegnung mitdieser deutschen Ärztin sind mehr als 30 Jahre vergangen, aber noch immerliegen die Vertreter einer mechanistischen Medizin mit jenen Ärzten im Streit,die sich in das unüberschaubare Grenzgebiet von Körper und Seele wagen. Indiesen Regionen aber könnte sich die Lösung des Rätsels verbergen, denn dortsind die Forscher geheimnisvollen Mechanismen auf der Spur, die unfassbarerscheinende Wunder ebenso möglich machen wie tragische Niederlagen.
Die grundlegende Frage, um derenLösung sich alle bemühen, steht seit Menschengedenken fest: Was ist die Kraft,die Kranke gesund macht, die Leben verlängert und den Tod hinauszögert?
Was ist der Grund, der den einenMenschen auf wunderbare Weise genesen, den anderen sterben lässt? Wo liegt dieverborgene Quelle der Heilung?
© Knaur Verlag
- Autor: Joachim Faulstich
- 2006, 335 Seiten, Masse: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426665573
- ISBN-13: 9783426665572
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