Das Echolot - Abgesang '45 - Ein kollektives Tagebuch - (4. Teil des Echolot-Projekts) -
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Diese Collage ist Totentanz und Apokalypse zugleich. In ihr kommen Opfer und Täter, Prominente und Namenlose zu Wort; sie ist ein Zeugnis des Untergangs und spricht von politischer Verblendung, von fanatischer Unbelehrbarkeit, von Verzweiflung und Todesangst, von Hoffnungen und Illusionen.
Gewinner des Corine 2005. Kategorie: Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten
1993 erschien der erste Teil des Echolots - dieser gewaltigen Collage aus Briefen, Tagebüchern, Bildern und Aufzeichnungen, die eine minutiöse Rekonstruktion von Alltagsgeschehen und historischen Ereignissen darstellt. Während die ersten vier Bände den Zeitraum von Januar und Februar 1943 umfassten, führte Walter Kempowski das kollektive Tagebuch in Teil II (»Fuga furiosa«, 1999 erschienen) in vier Bänden für die Zeit von Januar und Februar 1945 weiter. Echolot III (»Barbarossa '41«, 2002 erschienen) umfasste in einem Band die Zeit von Juni bis Dezember 1941. Mit dem jetzt erscheinenden Band »Abgesang '45« setzt Kempowski den Schlussstein zu diesem unvergleichlichen, sich insgesamt auf 10 Bände erstreckenden Unternehmen. In »Abgesang '45« lässt der Autor die hochdramatischen letzten Tage Hitlerdeutschlands wie in einem Film lebendig werden. Der Leser wird dadurch zum Augenzeugen privater und politischer Ereignisse - er erlebt das unermessliche Leid, das die Nazis über die Menschen brachten, und gleichzeitig Hitlers letzten Geburtstag am 20. April 1945, der sich im Berliner Führerbunker in gespenstischer Atmosphäre abspielt. Walter Kempowskis Collage ist Totentanz und Apokalypse zugleich. In ihr kommen Opfer und Täter, Prominente und Namenlose zu Wort; sie ist ein erschütterndes Zeugnis des Untergangs und spricht von politischer Verblendung, von fanatischer Unbelehrbarkeit, von Verzweiflung und Todesangst, von Hoffnungen und Illusionen, die mit dem Ende eines barbarischen Regimes verknüpft waren.
Das Echolot,Abgesang '45 von Walter Kempowski
LESEPROBE
Vorwort
Als ich vor zwanzig Jahren am Echolot zu arbeiten begann,beschäftigten mich drei Bilder.
Zunächst der "Turmbau zu Babel" von Breughel, jeneDarstellung des konisch zulaufenden Turms, der vielbögig aufeinander gesetztenSpirale, die sich in die Wolken hineinschraubt und zu Gott hinaufdrängt, jenerTurm, den Menschen bauten, um dem Allmächtigen gleich zu sein, den sie aberauch aus Sehnsucht aufrichteten, möglichst schon vor der Zeit zu ihm zugelangen und sich in seinem Schoss zu bergen. Der Babylonische Turm stürzte ein,wir wissen es, und die Verwirrung, die sein Fall mit sich brachte, dauert an.
Das zweite Bild war die "Alexanderschlacht" von AlbrechtAltdorfer, jenes bekannte Gemälde, auf dem Tausende von Kriegern auszumachensind, die einander umbringen. Menschen ohne Namen, Todgeweihte, längstvermodert und vergessen, und doch Männer, die Frau und Kind zu Hause sitzenhatten, deren Keime wir als Nachkommen in uns tragen.
Das dritte Bild war die "Übergabe von Breda" desSpaniers Velázquez. Auf diesem Bild steht ein Sieger einem Besiegten gegenüber.Der siegreiche Feldherr hat dem Unterlegenen, der ihm demütig die Schlüssel derStadt übergibt, nicht den Fuss in den Nacken gesetzt, sondern er neigt sich ihmgütig zu, ja, er hebt den sich beugenden Unterlegenen auf! Dieses Bild wurdevor 360 Jahren gemalt, und bis heute wurde seine Botschaft nicht eingelöst.
Heute, in den Tagen des Erinnerns, zwei Generationen nachKriegsende, sind es andere Bilder, an die ich denken muss: Die Kamera schwenktüber das zerstörte Warschau, über die Leichenhaufen von Bergen-Belsen und übereine Gefängnismauer, die von Einschüssen gesprenkelt ist, und noch immer werdenMassengräber geöffnet und Tote exhumiert. In Hiroshima läutet die Glocke.
Ich erinnere mich in diesen Tagen auch an die stillen Trecks derFlüchtlinge, an die zurückhetzenden fliehenden deutschen Soldaten, rette sichwer kann! Und an die fröhlich heimziehenden Fremdarbeiter mit ihren nationalenKokarden. Auch an den weinenden Kindersoldaten auf der Protze seines zerstörtenGeschützes muss ich denken.
Meine Eltern besassen eine Tabakbüchse aus der Zeit desSiebenjährigen Krieges, sie stand auf dem Radio neben Judenbart undSchlangenkaktus, auf der war zu lesen:
Es wechselt alles ab,
Nach Krieg und Blutvergiessen
Lasst uns des Himmels Huld,
Des Friedens Lust geniessen.
Nein, von "geniessen" kann keine Rede sein. Unser Filmist zwar durchgelaufen, aber es liegen andere bereit, die wir alle noch sehenwerden, wieder und wieder werden es Bilder von Krieg und Blutvergiessen sein,ein Ende der Vorstellung ist nicht in Sicht: Die Hochhäuser brennen schon.
An die Bilderbibel von Doré muss ich denken, die ich als Kind, aufdem Teppich liegend, durchblätterte, an die Sintflut: Die Wasser verlaufensich, und auf den Klippen liegen die Leiber der Ertrunkenen ... Wir warten nochimmer auf die Taube, die uns den Ölzweig bringt. Aber auf dem Bild von Doréspannt sich kein Regenbogen über den Toten.
Nartum, Februar 2005 Walter Kempowski
Frühlingsglaube
Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiss nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
Nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden.
2059 Tage Freitag, 20. April 1945 18 Tage
Den Feinden entfiel der Mut; denn sie merkten, dass dies Werk vonGott war.
herrnhut neh. 6,16
Diesen hof ausfegen
Deezen hoaf ous faygen
Sweep this yard
stars and stripes,
daily german lesson
Der letzte Geburtstag Hitlers verlief trübe und traurig. ZurGratulation erschienen die Grossadmirale Raeder und Dönitz, Himmler undGoebbels.
Martin Bormann 1900-1945 Berlin
Geburtstag des Führers
Leider nicht gerade "Geburtstags-Lage"
Abflug Vorauskommando nach Salzburg angeordnet.
Dr. Theodor Morell 1886-1948 Berlin / Reichskanzlei
Strophantose, Betabion forte i. v. plus Harmin s.c. - durch Dr.Stumpfegger machen lassen, da ich zu zittrig war.
*
Benito Mussolini 1883-1945 Mailand / PalazzoMonforte
Interview
Ich empfand und empfinde für Hitler die grösste Hochachtung. Manmuss unterscheiden zwischen Hitler und einigen seiner Männer, die in vordersterReihe stehen.
Adolf Hitler 1889-1945 (Berlin)
An Benito Mussolini Meinen Dank Ihnen, Duce, für Ihre Glückwünschezu meinem Geburtstag. Der Kampf, den wir um unsere nackte Existenz führen, hatseinen Höhepunkt erreicht. Mit unbeschränktem Materialeinsatz setzen derBolschewismus und die Truppen des Judentums alles daran, ihre zerstörerischenKräfte in Deutschland zu vereinen und so unseren Kontinent in ein Chaos zustürzen. Im Geiste zäher Todesverachtung werden das deutsche Volk und alle, diegleichen Geistes sind, diesen Ansturm zum Halten bringen, wie schwer auch derKampf sein mag, und durch ihren einzigartigen Heldenmut den Verlauf des Kriegesändern. In diesem historischen Augenblick, in dem das Schicksal Europas aufJahrhunderte hinaus entschieden wird, sende ich Ihnen meine herzlichsten Grüsse.Adolf Hitler
Joseph Goebbels 1897-1945 (Berlin)
Rundfunkansprache Deutschland wird nach diesem Kriege in wenigenJahren aufblühen wie nie zuvor. Seine zerstörten Landschaften und Provinzenwerden mit neuen, schöneren Städten und Dörfern bebaut werden, in denenglückliche Menschen wohnen. Ganz Europa wird an diesem Aufschwung teilnehmen.Wir werden wieder Freund sein mit allen Völkern, die guten Willens sind, werdenmit ihnen zusammen die schweren Wunden, die das edle Antlitz unseres Kontinentsentstellen, zum Vernarben bringen. Auf reichen Getreidefeldern wird das täglicheBrot wachsen, das den Hunger der Millionen stillt, die heute darben und leiden.Es wird Arbeit in Hülle und Fülle geben, und aus ihr wird als der tiefstenQuelle menschlichen Glücks Segen und Kraft für alle entspringen. Das Chaos wirdgebändigt werden! Nicht die Unterwelt wird diesen Erdteil beherrschen, sondernOrdnung, Frieden und Wohlstand. Das war immer unser Ziel! Es ist das auch nochheute. Setzten die Feindmächte ihren Willen durch, - die Menschheit würde ineinem Meer von Blut und Tränen versinken. Kriege würden sich mit Kriegen,Revolutionen mit Revolutionen abwechseln, und in ihrer furchtbaren Folge würdeauch noch der letzte Rest, der von einer Welt, die schön und liebenswert warund wieder sein wird, übriggeblieben ist, zugrunde gerichtet werden.
Winston Churchill 1874-1965 (London)
In dem Moment, da sie am dringendsten nötig gewesen wäre, fehltedie unerlässliche politische Führung. Meister über die Geschicke der Welt,standen die Vereinigten Staaten als Sieger auf dem Schauplatz, aber ohne einein sich geschlossene, klare Konzeption der Zukunft.
Bernard Law Montgomery 1887-1976 (Nordwestdeutschland)
Ich hatte immer Berlin als das Hauptziel angesehen. Es war derpolitische Mittelpunkt Deutschlands, und wenn wir vor den Russen dortseinkonnten, würde in den Jahren nach dem Krieg alles für uns viel leichter werden.[...] Berlin ging uns schon im August 1944 verloren, als wir es nach dem Siegin der Normandie unterliessen, einen vernünftigen Operationsplan aufzustellen.
Der sowjetische General Georgij Shukow 1896-1974 vor Berlin
Am 20. April [...] eröffnete die weitreichende Artillerie des 79.Schützenkorps der 3. Stossarmee das Feuer auf Berlin. Der Sturm der deutschenHauptstadt begann.
*
Alfred Kantorowicz 1899-1979 (New York)
Franklin Delano Roosevelt starb - wie Abraham Lincoln - imBewusstsein des erkämpften Sieges. Ein schöner Tod: zu sterben am Endpunkt desErfolges, bevor noch die Gegenkräfte zum Zuge gekommen sind, die den Siegschänden werden, seine Früchte verwesen machen - das Schicksal Wilsons istRoosevelt erspart geblieben. Er wird nicht mehr erleiden müssen, wie andere ihmden Frieden verderben. Es ist ein seltsames Zusammentreffen: Roosevelt in derwestlichen Hemisphäre der entscheidende Gegenspieler des rasendenPöbelanführers aus Braunau, kam zur gleichen Zeit an die Spitze der Staatsmachtwie jener. Hitler, der Besiegte, wird den Sieger nicht lange überleben. Derwütige Hasser hat Roosevelt wahrscheinlich mehr gehasst als irgendeinen andereneinzelnen in der Welt. Juden, Kommunisten, Intellektuelle, gegen die er sichheiser schrie, das waren Kollektive, Abstrakta gewissermassen,Zwangsvorstellungen des Tobsüchtigen, Objekte seiner manischen Ausbrüche, aberwenn er den Namen Roosevelt aussprach, dann brach sich seine Stimme vorHassgekreisch. Es war das Aristokratische in Roosevelt, das Helle, Strahlende,Zauberhafte, das des verlumpten Kleinbürgers dumpfige Minderwertigkeit zumBrodeln brachte.
Ich will keinen "Übermenschen" aus ihm machen, auchnicht in der Stunde der Trauer. Eher muss ich vor mir selber Ungerechtigkeitenabwägen, die sich seit Jahren in meinen Notizen finden. Ich habe bittre Worteüber ihn niedergeschrieben; sie kamen aus enttäuschtem Vertrauen, enttäuschterHoffnung. Und ich kann sie nun teilweise zurücknehmen. Der Staatsmann, derVisionär, der geistige Führer Roosevelt hat dem Politiker, der sich imRänkespiel des Alltags bewegen muss, allzuoft Konzessionen gemacht. Er hatgeschwiegen, als er - nach Pearl Harbor und der Kriegserklärung durch Nazideutschland- die Möglichkeit gehabt hätte, mit den Freunden und Verteidigern von Nazismusund Faschismus in seinem Lande abzurechnen. Er hat den Krieg entarten lassen zueiner Polizeiaktion gegen Gangster, nach deren Niederringung seine Truppen sichals Gendarmen der Restauration einführten. Die Wohnviertel der Armen sindzerbombt worden, aber seine Sonderbotschafter überbrachten Komplimente in diePaläste der Könige, Marschälle und Industrieherren. Er hat mit französischenFaschisten in Casablanca Händedrücke getauscht - in Sichtweite derKonzentrationslager, in denen damals immer noch die überlebenden Antifaschistenmisshandelt wurden. Dass er mitunter nicht von den wohlfeilen Kümmerlingen derTagespolitik zu unterscheiden war, machte mich zornig bis zur Ungerechtigkeit.
Anaïs Nin 1903-1977 (New York)
Frances schenkt mir einen kleinen Samthut mit schwingender Feder,der letzte Schrei. Pablo färbt die Feder um in leuchtendes Rosa. Ich tragediesen gewagten Hut, wenn wir ins Theater oder ins Ballett gehen.
Thea Sternheim 1883-1971 (Paris)
Welche Pracht in den Gärten! Flieder, Goldregen, Weiss- undRotdorn blühen. Über den Mauern hängen die heliotropenen Trauben der Clematis.Welch ein Zauber den weissblühenden Blumen innewohnt. Auf der Höhe Ausblick aufdie hingebreitete Stadt. Wie viele Städte sind inzwischen zum Trümmerhaufengeworden - die Engel haben Paris beschützt.
Hans Henny Jahnn 1894-1959 (Bornholm)
An seine Tante Helene Steinius In den letzten zwei Tagen haben wirFrühlingswetter, und die Arbeit auf den Feldern geht mit aller Kraft vor sich.In dieser Woche hoffe ich, werden wir mit der Einsaat der Gerste fertig werden;dann folgen Hafer und Rüben. Inzwischen werden wohl weitere drei Füllen bei unsankommen und hoffentlich auch einige Kälber.
Eberhard Fechner 1926-1992 Schloss Waldeck
Am 20. April 1945 lag ich im Schloss Waldeck in derBarockbibliothek, als Gefreiter, verwundet. Wir waren vom Amerikanergefangengenommen und dort untergebracht worden. Die Tür geht auf, und dreideutsche Führungsoffiziere kommen rein, grüssen und halten eine Geburtstagsfeierfür den Führer. Mit deutschem Gruss! Und wir lagen da mit sechs Mann, und ichdachte, ich bin verrückt geworden. Amerikaner gestatteten deutschen Offizieren,eine Geburtstagsfeier für Hitler zu machen. Und ich lag im Bett, mitSteckschüssen im Bein und hab' nicht opponiert, sondern hab' den Arm gehobenund dachte, ich bin verrückt.
Der Hauptmann Fritz Farnbacher *1914 Bohnsack bei Danzig
10 Uhr Offiziersversammlung des ganzen Regiments zur Feier desFührergeburtstages. Erst kurze Gedenkrede für Herbert K., dann Pathétique, vomDoktor gespielt, dann verschiedene Sprecher, ein Chor, das Kaiserquartett vonHaydn, Führerehrung und schliesslich Brötchen und Alkohol, der seine Wirkung nichtverfehlt; aber schliesslich wird noch 20 Minuten gute Musik vomRegimentskommandeur befohlen, die ich mit 2 Bachchorälen abschliessen muss.
Günter Cords *1928 Antiesenhofen /Österreich
Führers Geburtstag. Auf dem Dorfplatz traten wir, durch dickbäuchigeLinden gegen Fliegersicht gedeckt, zur Feier an. Von unseren Märschenangelockt, standen anderthalb Dutzend Kinder um uns herum, während ihre Elternfeige durch die Gardinen schauten. Kurz vor Schluss der Ansprache verschwandenselbst die Gören. Dafür erschienen Jabos und beendeten die Feier, bevor wir dasDeutschlandlied blasen konnten.
Der Volkssturmmann Fritz Steffen 1893-1979 Stettin
Am 20. 4. 45, 19 Uhr müssen wir zur "Feier des Geburtstagesdes Führers" im Kasino des Landeshauses erscheinen. Ein Kreisleiter redetüber den Endsieg! Die spendierte Flasche Rotwein und die kleine PortionSchinken und Wurst mit Brot haben uns nicht vom Sieg überzeugen können.
Dieter Borkowski 1928-2000 Berlin-Kreuzberg
Die meisten Parteigenossen sassen oder lagen auf dem Rinnstein; siewaren betrunken. Der Ortsgruppenleiter hatte alkoholische Beuteware verteilt.Er, selbst noch ein ganz junger Mann, stand dann käsebleich vor den altenKämpfern des Führers, die sich kaum erheben konnten und teilweise bekotzte Uniformenhatten. "Kameraden, die Stunde der Bewährung hat geschlagen! Ihr werdet ander Reichskanzlei eingesetzt und unseren geliebten Führer retten." [...]Wir setzten uns schliesslich in Marsch, um über Blücherstrasse zum Halleschen Torund dann in die Wilhelmstrasse zu marschieren.
Der norwegische Journalist Theo Findahl 1891-1976 (Berlin-Dahlem)
Als ich gegen halb ein Uhr zum Hotel Adlon hinüberkomme, schlagendie Geschosse der russischen Artillerie mit Poltern und Getöse vor dem Eingangzu den Linden ein. Im Speisesaal sind die wenigen Gäste überwältigt von derBereitwilligkeit der Kellner, den Wein in Strömen auszuschenken, sonst heisstseit langem die Regel: ein Glas pro Kopf. Nun ja, lieber die letzten Gästebezahlen lassen, als alles den Russen geben. [...] Goebbels' Stimme ist inBerlin schon lange ziemlich ausgeschrien gewesen. Er hat nicht mehr dengleichen Griff um sein Publikum wie früher, und es herrscht der Glaube unterden ausländischen Journalisten in Berlin, dass es zu einer ernsthaften Schlachtum die deutsche Hauptstadt nicht kommen werde. Die Barrikaden, ausPflastersteinen errichtet und mit allem möglichen Gerümpel, verrosteten Autosund Badewannen verstärkt, wirken nicht imponierend, und wir können uns nichtvorstellen, dass sie ein ernsthaftes Hindernis für Stalins grosse Panzerwagensein werden. In zwei, drei Tagen wird es vorüber sein, sagen wir. Alle habenwir aus den verschiedensten Richtungen gehört, dass der Volkssturm nicht kämpfenwird, und die Kommunisten werden die Russen natürlich als Befreier begrüssen.Nur einzelne schütteln ihre klugen Köpfe und sagen, die Raserei der roten Armeewerde deutsche Verzweiflung auslösen, so dass die Hitze der Schlacht selbereinen Riesenbrand entfachen werde. Die Schlacht um Berlin kann sogar furchtbarwerden, sagen sie, seid keine Toren, sondern flüchtet, solange es noch an derZeit ist. Denkt daran, die rote Armee hat die beste Artillerie der Welt. DieRussen haben an die tausend Kanonen auf einen Kilometer, eine Kanone auf denMeter - Trommelfeuer. Es ist so, dass man meint, die Erde solle untergehen. ImPresseklub am Leipziger Platz ist die Auflösung vollständig. Die Arbeitszimmersind ein Chaos von Papier, Glasscherben, Stühlen und Tischen, holterdipolterdurcheinander, alles unter einem Geriesel von Kalkstaub. Keine Telephonwache.Keine Zensur. Alles fliesst. Es sieht aus, als habe jeglicher Pressedienst vonBerlin aus aufgehört. Die Servierfräuleins pressen sich jedesmal, wenn dieKanonen dröhnen, auf den Treppen aneinander. Essen ist nicht zu bekommen. Auchdie Bar ist geschlossen. Die allermeisten Berichterstatter sind geflohen. Schonjetzt muss man Berlin als eine belagerte Stadt ansprechen; die Russen haben,soviel wir wissen, die wichtigsten Ausfallstore unter ihrer Kontrolle. Wiedurch ein Wunder kommen die telephonischen Anrufe aus Stockholm und Kopenhagendurch, und einzelne Glückliche haben Gelegenheit, sensationelle Telegramme nachHause zu schicken - an die Zensur kehrt sich keiner, alles ist ja in Auflösung.Hört, hört, sagen sie am Schluss, hört den Kanonendonner in Berlin! Wir hören,wir hören, sagen erregte Stimmen aus Stockholm und Kopenhagen.
Ausgerechnet am 20. April, Führers Geburtstag, hatten wir Tabor,die heilige Stadt der Tschechen erreicht. In einem überfüllten Wartesaal hörtenwir Goebbels' Rede aus Anlass von Hitlers Geburtstag. Es war gespenstisch, diebekannte Stimme inmitten dieser trostlosen Umgebung zu hören - sie strahltekeinerlei Zuversicht mehr aus.
(c) Verlagsgruppe Random House
Walter Kempowski, 1929 in Rostock geboren, wurde 1948 voneinem sowjetischen Militärtribunal wegen angeblicher Wirtschaftsspionage zu 25Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen verbüsste. Nachseiner Entlassung zog er in den Westen und arbeitete jahrelang alsDorfschullehrer, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seiner "DeutschenChronik", zu der Romane wie "Tadellöser & Wolff" (1971),"Aus grosser Zeit" (1978) und "Herzlich willkommen" (1984)gehören, wurde Kempowski zum Chronisten des deutschen Bürgertums. Seinemonumentale mehrbändige Echolot-Collage etablierte ihn als einen derbedeutendsten zeitgenössischen deutschen Schriftsteller. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"nennt ihn "eine Ausnahmeerscheinung in der deutschenLiteraturlandschaft", für die "Süddeutsche Zeitung" ist er der"Historiograph des untergegangenen Deutschland". Zuletzt ist von ihm"Das Echolot. Abgesang '45" erschienen. Walter Kempowski lebt undarbeitet in Nartum bei Bremen.
- Autor: Walter Kempowski
- 2005, Originalausgabe, 496 Seiten, 15 Schwarz-Weiss-Abbildungen, mit Abbildungen, Masse: 15,8 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 381350249X
- ISBN-13: 9783813502497
- Erscheinungsdatum: 11.02.2005
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