Argus / C.J. Townsend Bd.3
Sie sind einsam.
Sie suchen die Nähe.
Sie finden den Tod.
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Sie sind einsam.
Sie suchen die Nähe.
Sie finden den Tod.
Wer die Titel "Cupido" und "Morpheus" von Jilliane Hoffman gelesen hat, der weiß, dass „Argus" den Abschluss der Cupido-Trilogie bildet. Und was für einen Abschluss! Aber natürlich funktioniert "Argus" als Thriller auch ohne diese „Vorkenntnisse" - das ist klar, Jilliane Hoffman ist schließlich Profi. Sie, die lange als Staatsanwältin in Florida arbeitete und auch Spezialeinheiten der Polizei unterrichtete, schreibt Bestseller nach Bestseller und mit "Argus" ist ihr ein atemberaubend spannender Thriller gelungen. Wer sich nach Feierabend auf das Buch freut, sei gewarnt: Schlafen wird er in dieser Nacht nicht können - zum einen, weil das Buch knapp 500 Seiten stark ist und man einfach nicht aufhören kann zu lesen, wissen will, wie es weitergeht und zum anderen, weil Jilliane Hoffman an tief sitzende Ängste und Albträume rührt.
Existiert ein geheimer Zirkel, der sich an den Todesqualen junger Frauen ergötzt?
Serienkiller, die scheinbar noch aus dem Gefängnis heraus etwas mit bestialischen Frauenmorden zu tun haben, geheime Zirkel, die sich an den Todesqualen dieser Frauen ergötzen und zu denen, so sagt man, hochrangige Persönlichkeiten gehören, auch aus Reihen der Polizei.
Als Gabriella Vechio, Gabby genannt, sich auf einen After-work-Drink mit Freundinnen im New Yorker Club "Jezebels" trifft, scheint es ein netter Abend zu werden. Zwar grollt sie ein wenig, weil sie, was Männerbekanntschaften angeht, immer im Schatten ihrer zauberhaften und ausnehmend hübschen Freundin Daisy, steht, aber als die früher den Club verlässt, beschließt Gabby, allein länger zu bleiben. Sie wird sofort von einem wunderbaren Mann eingeladen, er ist charmant und witzig, sieht blendend aus und scheint ernsthaft an ihr interessiert zu sein. Beide unterhalten sich den ganzen Abend, Gabby trinkt mehr Lemon Drop Martinis als ihr guttun und macht das, was sie eigentlich nie macht: Sie fährt mit zu ihm.
Aus Mr. Right wird Mr. Wrong: der Club des Todes und seine prominenten Mitglieder
Im Auto schläft Gabby ein und als sie aufwacht, ist sie definitiv nicht mehr in Manhattan, sondern in einer abgelegenen Gegend. Das Haus, in das sie gehen, ist zugleich ein Beerdigungsinstitut. Doch noch scheint alles in Ordnung, noch ist ihr Begleiter aufmerksam und zärtlich - doch schon kurze Zeit später hängt Gabby gefesselt an einem Haken und aus Mr. Right ist Mr. Wrong geworden. Als sie merkt, dass sie nicht allein sind, ist es schon zu spät. Was dann folgt, sehen alle Menschen, die diesem Club des Todes angehören. Sie sind über Video zugeschaltet und kommentieren von ihren Bildschirmen aus kalt und grausam, was mit Gabby geschehen soll. Ihre Leiche wird irgendwann in einem Müllcontainer gefunden werden, und „Argus", das Ungeheuer mit den hundert (Video-)Augen, ist für kurze Zeit befriedigt.
Snuff-Videos, eine Festnahme und ein unverzeihlicher Fehler
Manny Alvarez, Detective der Mordkommission in Miami, wird fünf Jahre später zu einem anderen Fall gerufen. Auch hier geht es um eine grausam malträtierte Frauenleiche in einem Müllcontainer. Wie sich später herausstellen wird, gibt es Verbindungen zu dem Fall von Gabby. Staatsanwältin Daria DeBianchi, die zierliche Halbitalienerin, nimmt sich mit Alvarez der Sache an und beide erreichen schnell die Verhaftung eines Verdächtigen: ein Sohn aus sehr gutem Hause. Doch die Ereignisse überschlagen sich, als plötzlich ein Snuff-Video auftaucht, das die letzten Minuten von Gabby zeigt. Alles weist für Detective Manny Alvarez darauf hin, dass der vor Jahren verhaftete Serienkiller Cupido, alias William R. Bantling, irgendetwas mit den Morden zu tun hat oder zumindest etwas weiß. Bei einem Verhör ließ Bantling damals durchblicken, dass es einen "Geheimclub aus Verrückten" geben würde, die gerne dabei zusehen würden, wie andere Menschen sterben - grausam und qualvoll sterben. Alvarez hatte damals nicht darauf reagiert - ein Fehler, der nicht wieder gutzumachen sein wird.
Furioser Paukenschlag: das Finale
Dass sich zwischen dem großen starken Alvarez und der zarten, kleinen Daria DeBianchi etwas anbahnt, gibt der Geschichte zusätzlichen Drive und das Finale ist ein echter Paukenschlag. Zuvor tritt Staatsanwältin C. J. Townsend noch auf den Plan. Sie war es, die damals Cupido, alias Bantling, hinter Gitter brachte. C. J. merkte erst im Gerichtssaal, dass genau dieser Bantling es war, der sie vor Jahren brutal vergewaltigt, gewürgt und halbtot zurückgelassen hatte. Sie erreichte Bantlings Verurteilung, allerdings agierte sie dabei mit unsauberen Methoden und unterschlug sogar Indizien. Als ein Hurrikan auf Miami zurast, passiert im Chaos der Evakuierungen etwas Unverzeihliches, C. J. Townsend muss sich ihren Dämonen stellen und plötzlich wird klar, dass alles ganz anders ist als gedacht - erschreckend anders
Einige Jahre später: Eine Serie von bestialischen Frauenmorden erschüttert Miami. Ein Kreis einflussreicher Männer soll dahinterstecken. Nur einer kennt die Namen der Mitglieder des tödlichen Clubs: William Bantling, der vor zehn Jahren für die Cupido-Morde verurteilt wurde und noch immer im Todestrakt des Florida State Prison sitzt. Er ist bereit, mit Staatsanwältin Daria zu reden. Aber ist sie bereit, seinen Preis zu bezahlen?
1
Die hübsche junge Frau in dem engen «COED»-T-Shirt lehnte sich rücklings über die Bar, sodass ihr kastanienbraunes Haar wie ein Fächer auf der weißen Kunstharztheke lag. Über ihr stand, in Vans-Turnschuhen riskant auf zwei Barhockern balancierend, ein Typ mit nacktem Oberkörper und dem eindrucksvollsten Waschbrettbauch, den Gabriella Vechio je gesehen hatte. Zwischen seinen Brustmuskeln klemmte ein Schnapsglas. Unter dem Jubel der Menge beugte er sich über die Studentin und goss ihr die bernsteinfarbene Flüssigkeit in den Mund. Southern Comfort spritzte ihr über Gesicht und T-Shirt, doch das störte das lachende Mädchen offensichtlich nicht. Und die johlende Menge erst recht nicht.
«Hey, Mann! Seht euch an, was der Kerl drauf hat!», rief der DJ , bevor er die Musik hochdrehte. «Mach den Mund auf, Baby! Zeig uns, wie viel da reingeht!»
Gabby fuhr mit dem Finger über den gezuckerten Rand ihres Lemon-Drop-Martini und beobachtete die Szene am anderen Ende des Lokals. Es wurde immer voller, die Leute standen schon in dritter Reihe um die Bar, und der Indie-Rock von vorhin, als sie und ihre Freundinnen die Vorspeisen bestellt hatten, war längst dem dumpfen Puls der Top 40 gewichen. Beyonce sang so laut, dass Messer und Gabeln, die noch auf dem Tisch lagen, klimperten und tanzten. Sogar die Kellnerin hatte gewechselt - ob es nun eine neue Blondine oder nur ein neues Outfit war, jedenfalls trug sie viel höhere Absätze und einen viel kürzeren Rock als das ausgelaugte Mädchen, das ihnen vor ein paar Stunden Quesadillas und Buffalo Wings gebracht hatte.
«Wie lang willst du denn bleiben?», fragte Gabbys Freundin Hannah stirnrunzelnd, während sie aufstand und ihre Tasche packte. Sie blickte missbilligend zu dem Spektakel an der Bar.
«Wie bitte?», gab Gabby zurück und zeigte auf ihr Ohr. Man konnte kaum noch ein Wort verstehen. Im Jezebel fing der Freitagabend mit der Happy Hour immer ganz ruhig an, aber sobald die Küche zumachte und es zu den Heinekens und Cosmos kein Essen mehr gab, wurde es rappelvoll. Nach neun verwandelte sich das Lokal schlicht in einen lärmenden Fleischmarkt. Weshalb Gabby eigentlich gar nicht gern herkam. Zwei Tage vor ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag gehörte sie bereits zum Gammelfleisch. Zumindest hier im Jezzie, wo man schon mit fünfundzwanzig Gefahr lief, von den anderen als Oma bezeichnet zu werden.
«Ich habe gefragt, wie lange du noch bleibst», wiederholte Hannah. «Wir wollen dich hier nicht allein lassen. Nicht mit diesem Partyvolk ...»
Gabby zuckte die Schultern und prostete Hannah und Daisy zu, der anderen Freundin, die daneben saß und mit großen Augen den Muskelmann und die Studentin anstarrte. «Ich trinke das nur noch aus. Kümmert euch nicht um mich; ich hab genau gegenüber geparkt.» «Ich weiß nicht, wie's euch geht, aber ich habe plötzlich einen Mordsdurst», verkündete Daisy, während auch sie langsam aufstand.
«Ich würde echt gern bleiben, aber ich habe Brandon versprochen ...» Hannah nahm zögernd ihre Laptoptasche über die Schulter.
«Sei nicht albern. Ich wollte sowieso nicht mehr lange bleiben. Ich muss morgen tausend Sachen erledigen», log Gabby. «Geh ruhig nach Hause und amüsier dich mit Brandon, Hannah. Und denk dabei an mich», setzte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.
«Wohl kaum. Heute Abend fällt das Amüsieren aus. Ich bin viel zu müde.»
«Armer Brandon», sagte Gabby lachend. «Ihr seid noch nicht mal verheiratet, und er geht jetzt schon freitagabends leer aus.»
«Bald ist ja Juli; und der Junge kann nicht behaupten, ich hätte ihn nicht gewarnt», erklärte Hannah. Dann sah sie sich unbehaglich im Lokal um. «Aber ich habe echt kein gutes Gefühl dabei, dich hier allein zu lassen, Gabby ...»
Daisy fing Gabbys Blick auf. «Vielleicht kommt er ja wieder», sagte sie mit einem frechen Grinsen und legte sich den fliederfarbenen Kaschmirschal um.
Hannah lächelte, als hätte sie gerade einen schmutzigen Witz verstanden. Gabby spürte, dass sie rot wurde, und versteckte das Gesicht hinter dem Drink. Alle drei wussten, von wem Daisy sprach - dem witzigen, attraktiven MIT-Absolventen mit den roten Haaren, der letzten Freitag genau zur gleichen Zeit plötzlich an ihrem Tisch aufgetaucht war, kurz vor Ende der Happy Hour. Er hatte sie alle drei bezirzt, bevor der Rest seiner betrunkenen Clique ihn schließlich aufspürte und in die nächste Bar schleppte. Jeff, so hieß er. Und obwohl Gabby sich einzureden versuchte, dass dieser Mr. Auf-der-Suche-nach-einem-lukrativen -Job-als-Elektroingenieur nicht der einzige Grund war, weshalb sie den Mädels für heute Abend das Jezebel vorgeschlagen hatte, musste sie doch zugeben, dass er eine gewisse Rolle gespielt hatte. Aber dass sie so leicht zu durchschauen war, hätte sie nicht gedacht. Sie verdrehte die Augen. «Bloß nicht. Ich bitte euch. Ich warte nicht auf den.»
«Wie du meinst ... darf ich dann?», antwortete Daisy lachend, und nahm den Schal wieder ab, der perfekt zu dem schönen Trenchcoat und den schicken Stiefeletten von Alice & Olivia passte. Alles an Daisy war immer perfekt. Der niedliche Name, die Kleider, Größe 34, die schokoladenbraunen Locken, die ihr bis zum Po gingen, der dunkle spanische Teint, die verführerischen nussbraunen Augen. «Der war so was von süß! Ein bisschen zu jung, aber in dem Alter kannst du ihnen noch was beibringen, weißt du.» Sie seufzte. «Und die können immer. Dreimal hintereinander, wenn du Glück hast.»
«Du bist unmöglich», schimpfte Hannah.
Gabby zeigte auf den Platz neben sich. «Tu dir keinen Zwang an, Chica.» Aber sie meinte es nicht ehrlich. Heimlich hoffte sie, Daisy würde endlich gehen. Und hatte natürlich ein superschlechtes Gewissen deswegen. Seit dem ersten Tag am College, als das Schicksal sie in dem überfüllten Wohnheim der University of Buffalo zusammengeworfen hatte, waren Hannah und Daisy ihre besten Freundinnen. Und über all die Jahre waren sie Freundinnen geblieben, zehn Jahre mit Beziehungen, Trennungen, miesen Chefs, Familienproblemen, Krankheiten, Therapien, Umzügen in andere Staaten und wieder zurück, und all das natürlich begleitet von Dramatik und Ängsten. Doch es sah so aus, als bekäme Daisy die meisten Beziehungen und Trennungen, am meisten Drama ab. Daisys ungebrochene Beliebtheit hatte Gabby eigentlich nie gestört, aber seit einem Jahr hatte sie selbst derartiges Pech bei Männern, dass schon ein Date so unerreichbar schien wie ein Sechser im Lotto.
Früher im College, als alle drei süß und unzertrennlich gewesen waren, waren sie als die «Drei Engel für Charlie» bekannt gewesen. Hannah war die Schlaue, Gabby die Witzige und Daisy die Hübsche. Und heute, fast sieben Jahre, nachdem die Engel offiziell zu Erwachsenen erklärt worden waren, hafteten diese Etiketten immer noch an ihnen. Allerdings bedeutete es kein Kompliment mehr, die Witzige zu sein. Das war natürlich einzig und allein Gabbys Komplex. Daisy war immer noch dieselbe tolle Freundin, die sie immer gewesen war. Aber der spaßige, wilde Sex-and-the-City-Lifestyle, zu dem sie ihr Leben gern stilisiert hatten, sollte eigentlich irgendwann zu Ende sein - wenn jede sich einen hochkarätigen Ehemann angelte und ein paar entzückende Babys bekam, die miteinander im Wohnzimmer eines schicken Apartments spielten, während die Mamis mit ihren Latte Macchiatos in der Küche saßen und quatschten. Phase II, wie Gabby es nannte, sollte eigentlich vor dem dreißigsten Geburtstag beginnen. Oder zumindest in Gang kommen, was bedeutete, eine ernste Beziehung und möglichst einen Verlobungsring am Finger zu haben. Aber nicht umsonst lautete das Sprichwort: Leben ist, was einem passiert, wenn man gerade andere Pläne macht. Daran erinnerte Gabbys Mutter sie gern. Die Schlaue hatte überraschend als Erste die Schablone gesprengt, indem sie eine ernsthafte Beziehung einging. Die Hübsche holte immer noch von einer Vielzahl von Verehrern eine Vielzahl von Angeboten ein und hatte es nicht eilig, sich auf irgendetwas oder irgendjemanden festzulegen. Und die Witzige ... nun, sie war noch «auf der Suche», wie Mrs. Vechio ihren Freundinnen mit leisem Seufzen erzählte, wenn die fragten, warum die kleine Gabriella denn immer noch nicht unter der Haube sei. Der Dreißigste kam mit Riesenschritten auf sie zu, und von Mr. Perfect fehlte jede Spur. Eine Beziehung mit Jeff, dem zukünftigen Ingenieur, konnte sie sich genauso gut vorstellen wie ein Dirty Dancing mit dem Muskelmann. Aber traurigerweise interessierte sich einfach niemand für die witzige Steuerberaterin, wenn auf dem Barhocker daneben die umwerfende Stylistin einer Modezeitschrift saß und ihr strahlendes Lächeln und ihren makellosen Körper zur Schau stellte.
«Ich würde bleiben, das kannst du mir glauben. Wenn ich nicht morgen früh um fünf zur Arbeit müsste», gab Daisy zurück. «Das Shooting soll vorbereitet werden, bevor die Sonne aufgeht. Wir brauchen das berühmte ‹erste Licht›, sonst ist der ganze Aufwand umsonst. Deswegen muss ich am Samstag ran.» Dann sah sie auf die Uhr und sagte: «Igitt, ich gehe um zehn nach Hause! Das ist echt peinlich. Vielleicht sollte ich lieber die Nacht durchmachen. Schlaf? Wer braucht Schlaf? Wisst ihr noch, wie wir früher drauf waren, Mädels?»
Hannah schauderte. «Ich versuche immer noch, das alles zu verdrängen, Daisy. Nur der Kater danach hat mich davon abgehalten, dem Alkohol hoffnungslos zu verfallen.»
«Das und deine protestantische Mutter, die dich nämlich umgebracht hätte», erklärte Daisy und leerte ihr Glas.
«Stimmt.»
«Bleibst du jetzt oder nicht?», fragte Gabby mit einem Anflug von Ungeduld und zwirbelte das glatte honigblonde Haar um ihren Zeigefinger. Die Strähne entrollte sich, sobald sie den Finger herauszog. In letzter Zeit hatte sie immer weniger Selbstvertrauen, wenn sie mit Daisy zusammen war. Als würde ihre Freundin nicht altern, nicht zunehmen und kein Frisurdebakel kennen. Mit 1,62 Metern und 58 Kilo war Gabby zwar nicht dick, aber eben nicht so dünn wie Daisy. Und ihr blondes Haar und die hellen Augen waren eigentlich auch nicht schlecht - solange sie nicht neben einer spanischstämmigen Sexbombe saß, die aussah wie die junge Sophia Loren. Gabriella konnte sich selbst nicht leiden, wenn sie solche Konkurrenzgedanken hatte, vor allem, da Daisy offensichtlich völlig ahnungslos war. Also schob sie den aufkeimenden Neid beiseite und zwang sich zu lächeln. «Soll ich die nächste Runde übernehmen?»
Daisy seufzte. «Nein. Das ist einer dieser Momente, in denen man das Richtige tun muss, sonst bereut man es später. Außerdem habe ich morgen Abend ein Date und muss frisch aussehen. Der Typ leitet einen Hedgefonds.» Sie fächelte sich Luft zu und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. «Jede Menge Kohle. Wir reden hier von ein paar Milliönchen, Mädels.»
«Das heißt aber auch harte Konkurrenz», stellte Hannah fest.
«Eben. Ich brauche mindestens fünf Stunden Schlaf, sonst kriege ich Ringe unter den Augen.»
«Dir stehen wahrscheinlich sogar Augenringe», bemerkte Gabriella.
«Augenringe stehen nur Zombies, Gabby, aber danke für das Kompliment», antwortete Daisy.
«Na schön, Mädels», sagte Gabby. «Ich bleibe auch nicht mehr lang.»
«Sei brav.» Hannah hielt warnend den Zeigefinger hoch. «Keine Spinner. Und keine Zirkusakrobaten», sagte sie und zeigte auf den immer noch hemdlosen Muskelmann. «Ach, und falls wir uns vorher nicht sehen, alles Liebe zum Geburtstag!»
«Ja! Alles Liebe!», schloss Daisy sich an und warf Gabby einen Luftkuss zu. «Ruf mich am Montag an. Und von mir aus tu alles, was ich auch tun würde, Zirkusakrobaten inklusive. Und schick mir eine SMS, falls der Rote und seine Freunde auftauchen. Vielleicht komme ich zurück!»
Gabriella hob prostend das Glas in ihre Richtung und sah ihre Freundinnen in der Menge der tanzenden Körper verschwinden. Das schlechte Gewissen verpuffte so schnell, wie es gekommen war, und wurde von einem berauschenden Freiheitsgefühl ersetzt. Gabby war keine Clubgängerin, aber jetzt war sie hier, in einem Club, ein paar entspannende Drinks intus und ohne Konkurrenz, die ihr Selbstbewusstsein dämpfte. Sie öffnete einen weiteren Blusenknopf, nippte an ihrem Martini und wippte zur Musik, als die Lichter gedimmt und die letzten Tische von der Mitte an die Wand geschoben wurden, um Platz zu schaffen für eine behelfsmäßige Tanzfläche. Sie füllte sich schnell. Das Lokal war voll. Bald würden die Türsteher niemanden mehr hereinlassen.
Es war zwar für die Clubszene noch früh, aber es bildeten sich schon Paare. Männer und Frauen. Frauen und Frauen. Jedenfalls wurde viel hemmungsloser getanzt als zu der Zeit, als Gabby von Club zu Club gezogen war. Und diese Klamotten der Mädchen - beziehungsweise der Mangel an Klamotten - puh! Selbst wenn sie sich die Bluse bis zum Bauchnabel aufknöpfte, wäre es noch züchtig im Vergleich. Offenbar waren alle mit ihren besten Freunden hier, oder sie waren damit beschäftigt, neue beste Freunde zu finden. Auf einmal fühlte sich Gabby bloßgestellt - die alte Jungfer ohne Begleitung. Und die anderen sahen so verdammt jung aus ...
Eine Schar junger Frauen mit Stilettos und Miniröcken schob sich vorbei und stieß gegen Gabbys Stuhl, sodass sie ihren Drink verschüttete. Sie schnaubte. Wahrscheinlich war es bescheuert zu glauben, er käme heute Abend wieder. Und noch bescheuerter zu glauben, er käme ihretwegen. Jetzt saß sie hier, in ihrem langweiligen Polyestermix-Kostüm direkt aus dem Büro, allein an einem Vierertisch, umgeben von Leuten, die weit entfernt waren von ihrem dreißigsten Geburtstag, von Kinderwunsch und der Suche nach Mr. Perfect. Das Hochgefühl der Freiheit war verflogen, und sie spürte den Anflug einer panikartigen Depression, die sie im Moment überhaupt nicht gebrauchen konnte. Gabby sah auf die Uhr und trank ihren Drink aus.
Das war's. Sie hatte es eine halbe Stunde ausgehalten. Zeit zu gehen ...
Als sie gerade nach ihrer Handtasche griff und aufstand, brachte die Kellnerin einen frischen Lemon-Drop-Martini. «Mit vielen Grüßen von dem Herrn da vorne an der Bar», sagte sie und zeigte mit einem Schwenk ihrer blonden Lockenmähne in die entsprechende Richtung.
Gabby sah sich nach ihrem rothaarigen Ingenieur um. Hatte ihr Bauchgefühl doch recht gehabt? Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Wenn ja, wäre es eine tolle Geschichte, die sie ihren Enkeln erzählen könnte ...
Doch sie konnte keinen großen, schlanken Rothaarigen entdecken. Sie tauchte den Finger in den Drink und strich über den Glasrand, während sie die Menge absuchte.
Das war der Moment, als Gabbys Blick auf den Fremden mit dem dunklen welligen Haar und den durchdringenden Augen fiel, der auf der anderen Seite der Tanzfläche an der Theke stand, eine Flasche Budweiser in der Hand, und zu ihr hinsah. Er lächelte zurückhaltend und prostete mit dem Bier in ihre Richtung.
Und so kam es, dass Gabriella Vechio mit einem verhaltenen Lächeln und einer kleinen Handbewegung den Fremden an ihren Tisch einlud, der ihr Leben für immer verändern sollte.
2
Danke für den Drink», begann Gabby, als er sich zu ihr setzte. «Woher wissen Sie, dass er von mir kommt?»
«Oh ... ich habe es einfach angenommen», stotterte sie. Er grinste. «Gern geschehen.»
«Ich bin Gabriella.»
«Ich bin Reid. Nett, Sie kennenzulernen, Gabriella.»
«Puh, das klingt so förmlich. Nur meine Mutter und mein Chef nennen mich Gabriella. Meine Freunde sagen Gabby.»
«Gabby. Okay.» Er nickte. «Aber Gabriella gefällt mir. Ein schöner Name. Wohnen Sie hier in der Gegend, Gabby?»
«Ich wohne in Forest Hills. Ich bin bloß nach der Arbeit hier vorbeigekommen.» Sie fingerte am Revers ihres Blazers herum. «Falls man das nicht sieht.»
«Was machen Sie?»
«Zumindest bin ich mit der Schule fertig», sagte Gabby mit einem kurzen Lachen.
«Ja. Das Publikum hier ist ein bisschen jung, oder?» Reid sah sich um. «Aber die Buffalo Wings sind großartig.»
«Ja. Und die Quesadillas auch. Wir - meine Freundinnen und ich - waren schon ein paarmal hier. Sie haben eine echt nette Happy Hour. Da ist das Publikum ein bisschen ... sagen wir, reifer. Sie wissen schon, Leute, die aus dem Büro kommen und so weiter.»
Er nickte und sah sich um. «Und wo sind sie jetzt? Ihre Freundinnen?»
«Ach, die sind schon nach Hause», erklärte Gabby schnell. «Vor einer halben Stunde gegangen. Sie müssen morgen beide früh aufstehen. Ich habe nur noch mein Glas ausgetrunken und wollte gerade gehen, da haben Sie mir den Drink spendiert.»
«Ich bin froh, dass Sie noch geblieben sind. Und ich muss sagen, mir gefällt das Publikum hier.» Er sah sich nicht um, als er das sagte - seine dunklen, schokoladenbraunen Augen wichen keinen Augenblick von ihren. In seinen Pupillen schimmerten faszinierende helle Bernstein- und Goldflecken.
Gabriella wurde rot. Er war attraktiv, dieser Reid. Nicht so offensichtlich wie der Typ mit den Bauchmuskeln. Sein Kinn war etwas groß, aber er hatte ein nettes Lächeln, das sein ganzes Gesicht strahlen ließ, das war ihr gleich aufgefallen. Seine Zähne waren gerade und sehr weiß, wie aus der Werbung. Kein Zahnfleisch zu sehen. Manche Frauen standen auf Waschbrettbäuche oder Locken oder schöne Augen oder pralle Muskeln, aber Gabbys Schwäche war das Lächeln. Deswegen hatte sie immer einen Zahnarzt heiraten wollen, bis ihr auffiel, dass die oft schreckliche Zähne hatten. Wie ging das Sprichwort? Arzt, heil dich selbst? Zahnarzt, richte dir selbst die Zähne. Gabby betrachte Reids markantes, attraktives Gesicht vor dem Hintergrund des wilden Erstsemestergetümmels und dachte, vielleicht war genau das sein bester Zug - dass er nicht mehr einundzwanzig war. Sie schätzte ihn auf mindestens Ende zwanzig, aber fragen wollte sie nicht, damit er sie nicht das Gleiche fragte und sie die Enttäuschung in seinem Gesicht sehen musste. Demi Moore hatte mit Ashton Kutcher vielleicht einen Trend gesetzt, aber für die meisten weiblichen Erdlinge, die weder wie ein Hollywoodstar aussahen noch über ein hollywoodmäßiges Einkommen verfügten, war es nicht so leicht, auch nur einen kleinen Altersunterschied zu einem gutaussehenden Mann zu überbrücken. Schon gar nicht an einem Ort wie diesem. Wenn sie «achtundzwanzig» hörten, verstanden die meisten Männer «dreißig» und lasen sofort die Gedankenblase über dem lächelnden, angespannten Gesicht: «Auf der Suche nach Ehemann, Haus und Kind!» Und in dem Moment entschuldigten sie sich, um aufs Klo zu gehen und tauchten nicht wieder auf. Vielleicht war Gabby albern und zu streng mit sich, aber heute wollte sie kein Risiko eingehen. Sie wollte einfach nur Spaß haben. «Ich bin Steuerberaterin bei Morgan & Tipley», antwortete sie. «Eine kleine Kanzlei in Midtown. Lexington und 43rd Street. Sie kennen sie bestimmt nicht. Ich arbeite seit ein paar Jahren dort. Es macht Spaß.»
«Steuerberatung ... oho. Ich hätte Sie ganz woanders hingesteckt - das ist überhaupt nicht mein Fach. Ich kann zwar mit meinem eigenen Geld gut umgehen, aber mit fremdem Geld - ich weiß nicht so recht ... Ich würde vielleicht neidisch werden.»
«Man kriegt es ja nicht in die Finger, die Versuchung ist also nicht groß.» Gabby trank einen Schluck. «Wo hätten Sie mich denn hingesteckt?»
«Keine Ahnung ... Astronautin? Raketenforscherin? Kernphysikerin?»
«Sehe ich so intelligent aus? Das muss das Kostüm sein.»
«Nein. Eigentlich hätte ich Sie für eine Anwältin oder Juristin gehalten. Irgendwas, das mit dem Gesetz zu tun hat. Vielleicht auch FBI-Agentin, Polizistin oder Spionin. Nur mal so geraten. Für eine Steuerberaterin sehen Sie nicht langweilig genug aus.»
«Steuerberater können ziemlich lustig sein. Sie feiern gern. Vor allem am 16. April, wenn die Steuererklärungen abgegeben sind.»
«Wirklich? Mein Steuerberater heißt Sy und arbeitet für H&R Block, und ich glaube, er war seit Jahrzehnten auf keiner Party mehr. Erzählen Sie mal, Gabby, was gefällt Ihnen daran? An der Steuerberatung?»
«Hmmm ... gute Frage. Mal sehen. Zum einen ist alles ganz objektiv, anders als in vielen anderen Berufen. Eine Freundin von mir ist Schriftstellerin, und sie weiß nie, ob es gut ist, was sie schreibt. Ich meine, es gibt immer einen, der sagt, sie hätte Mist geschrieben, auch wenn hundert andere sagen, es sei super. So was wäre nichts für mich. Am Ende rauft sie sich nur die Haare. Das Gleiche gilt für meine andere Freundin, die Stylistin ist. Irgendwer hat immer was zu kritisieren. Meint, er hätte ein besseres Ergebnis hinkriegen können: mehr Besucher bei der Modenschau, ein besseres Foto von einem besseren Model und so weiter. Aber Steuerberatung ist eindeutig, verstehen Sie? Wenn Sie alles richtig machen, geht es immer auf. Und wenn Sie wirklich alles richtig machen, dann sind auch die Kunden glücklich. Zahlen lügen nicht, und es ist ihnen egal, was andere Leute von ihnen denken.»
«Interessant ...»
Gabby hatte noch nie einem Mann erklärt, was sie an ihrem Beruf mochte. Sie fragte sich, ob sie die «richtige» Antwort gegeben hatte. Doch egal was sie sagte, Steuerberatung klang nie besonders aufregend. «Was machen Sie, Reid?»
«Ich bin Filmemacher.»
Gabbys Herz schlug schneller. Filmemacher standen wie Chirurgen ganz oben auf der Liste, was «Aufregung» und «guter Fang» anging. «Das klingt cool», sagte sie.
«Na ja, ich arbeite dran. Es ist nicht einfach, den Durchbruch zu schaffen. Viel Konkurrenz. Man muss sich was einfallen lassen, um sich von der Masse abzuheben.»
«Was für Filme machen Sie denn?»
«Also, freuen Sie sich nicht zu früh, Sie haben nicht den nächsten James Cameron vor sich. Ich, na ja ... ich mache Dokumentarfilme.»
«Das ist doch aufregend.»
Er lächelte. «Finde ich auch. Ich finde, das echte Leben ist viel aufregender als irgendwelche Scheinwelten. Echte Menschen, die echte Emotionen zeigen. Die Herausforderung, solche Momente einzufangen. Aber ... na ja, man verdient eben nicht viel Geld dabei, es sei denn, man heißt Michael Moore.»
«Ich finde, das klingt trotzdem aufregend. Geld ist schließlich nicht alles.»
«Ach ... und Sie wollen Steuerberaterin sein?»
Gabby lachte. «Ich habe für viele Leute, die viel Geld verdienen, die Steuererklärungen gemacht, und deren Leben ist trotzdem das reinste Chaos, und glücklich sind sie nicht. Nein, Geld ist wirklich nicht alles.»
«Stimmt, es gibt noch eine ganze Menge anderes im Leben.»
Gabby zeigte auf ihr Ohr. Es war jetzt ziemlich laut im Lokal.
Reid beugte sich näher, legte seine Hand auf ihren Rücken und flüsterte in ihr Ohr. Sie spürte seinen warmen Atem im Nacken und bekam Gänsehaut, als seine starke Hand über ihr Kreuz strich. «Erzählen Sie mir mehr von sich, Gabriella. Ich möchte alles von Ihnen wissen.»
Sie lächelte kokett. Dass sie um ein Haar gegangen wäre, allein nach Hause zu ihrer Katze, wo sie sich irgendeinen blöden alten Film angesehen hätte! Anscheinend wendete sich das Blatt; sie konnte es spüren. Und so erzählte sie ihm, während er ihren Rücken streichelte und mit ihren Haaren spielte, bei zwei weiteren Lemon-Drop-Martinis alles, was er wissen wollte.
...
Übersetzung: Tanja Handels und Sophie Zeitz
Copyright 0 2012 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Jilliane Hoffman war Staatsanwältin in Florida und unterrichtete jahrelang im Auftrag des Bundesstaates die Spezialeinheiten der Polizei - von Drogenfahndern bis zur Abteilung für Organisiertes Verbrechen - in allen juristischen Belangen. Ihre Thriller «Cupido», «Morpheus», «Vater unser», «Mädchenfänger», «Argus», «Samariter» und «Insomnia» waren allesamt Bestseller. Handels, Tanja
Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Literatur, unter anderem von Zadie Smith, Anna Quindlen, Erica Jong und William Finnegan, und ist auch als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. 2019 wurde sie mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Zeitz, Sophie
Sophie Zeitz lebt als Literaturübersetzerin in Berlin. Sie übersetzt unter anderem Werke von Joseph Conrad, John Green, Marina Lewycka und Lena Dunham und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.
- Autor: Jilliane Hoffman
- 2012, 2. Aufl., 493 Seiten, Masse: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Sophie Zeitz, Tanja Handels
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805208936
- ISBN-13: 9783805208932
- Erscheinungsdatum: 08.10.2012
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