Brief an Deutschland
BILD-Kolumnist Franz Josef Wagner hautnah in einer Hommage an Deutschland: Ein Lebensbericht gespickt mit 70 Jahren Zeitgeschichte, vielen Porträts und genialen Geistesblitzen. Der bekannte Boulevard-Journalist lässt sein Leben Revue passieren...
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Produktinformationen zu „Brief an Deutschland “
BILD-Kolumnist Franz Josef Wagner hautnah in einer Hommage an Deutschland: Ein Lebensbericht gespickt mit 70 Jahren Zeitgeschichte, vielen Porträts und genialen Geistesblitzen. Der bekannte Boulevard-Journalist lässt sein Leben Revue passieren und schreckt nicht vor Enthüllungen zurück.
Klappentext zu „Brief an Deutschland “
Franz Josef Wagner ist der bekannteste Unbekannte der deutschen Medienszene. Er war Kriegsberichterstatter und später Chefreporter der BILD, Ghostwriter von Franz Beckenbauer und Boris Becker, Chefredakteur der BUNTE und der B.Z., ehe er 2001 zum Chefkolumnisten des Springer-Verlages berufen wurde. Er schreibt seither die beste, meistgelesene, streitbarste, abgründigste und schönste Kolumne im ganzen Land: Post von Wagner auf Seite 2 der BILD erreicht täglich ein 12-Millionen-Publikum. Wagners neues Buch ist eine Hommage an Deutschland, ein Lebensbericht gespickt mit Zeitgeschichte, Portraits und Geistesblitzen, abgefasst in einem Sound ohnegleichen - eben FJW.
"Ein Buch wie frisch gefallener Schnee." --
Bild.de, Matthias Matussek Das Buch strahlt jene literarische Kraft aus, die entsteht, wenn ein Schreiber die Routine abschüttelt, wenn er um jedes Wort ringt, wenn er versucht, jeden Satz neu zu erfinden.
Es gibt dann keine Hülsen mehr, keine Klischees. Dann entsteht Sprache in einer Klarheit und Bildhaftigkeit, die dem Leser in den Kopf springt.
Der Spiegel, Philipp Oehmke "Ein echter Wagner. Ich kann nur jedem empfehlen, es zu lesen." -- Bild.de, Alfred Draxler
Bild.de, Matthias Matussek Das Buch strahlt jene literarische Kraft aus, die entsteht, wenn ein Schreiber die Routine abschüttelt, wenn er um jedes Wort ringt, wenn er versucht, jeden Satz neu zu erfinden.
Es gibt dann keine Hülsen mehr, keine Klischees. Dann entsteht Sprache in einer Klarheit und Bildhaftigkeit, die dem Leser in den Kopf springt.
Der Spiegel, Philipp Oehmke "Ein echter Wagner. Ich kann nur jedem empfehlen, es zu lesen." -- Bild.de, Alfred Draxler
Lese-Probe zu „Brief an Deutschland “
Normalerweise brauche ich für die Kolumne 'Post von Wagner" ein, zwei Stunden. Es ist für mich finanziell und geistig absolut tödlich, einen Monat lang über einen ersten Satz nachzudenken.Den ersten Satz für diesen Brief.
Es ist jetzt 18 Uhr 27, im Haus gegenüber kehren Ehemänner/-frauen heim, ich habe sie schon morgens gesehen, als sie das Haus verliessen und ich über dem ersten Satz sass. Gegenüber gehen jetzt die Lichter aus. Es ist 0 Uhr 21. Niemand wird die Schlafenden wecken, keine Gestapo, keine Stasi. Ist das ein guter erster Satz?
Deutsche schlafen sicher.
Nehmen wir an: Eine Naturkatastrophe hätte Deutschland vernichtet und ich wäre der letzte Deutsche. Und die grosse Stimme fragt mich: W arum willst du als Deutscher überleben? Was würde ich in meiner Not antworten? Wegen Luther, Heine, Beethoven, Goethe, Humboldt, von Stauffenberg, wegen der Heldenstadt Leipzig?
Ist das ein guter Anfang?
Ich denke, der beste Satz ist die Wahrheit.
In meinem Pass steht unter Staatsangehörigkeit: deutsch. Grösse: 190 cm. Augenfarbe: blaugrau. Geburtsort: Olmütz. Olmütz hat mit Deutschland genauso viel zu tun wie Paris, Texas mit Paris, Frankreich. Olmütz, tschechisch Olomouc, ist eine Stadt in Mähren. Von ihrem Entbindungsbett hatte meine Mutter einen schönen Blick auf den Wenzelsdom. Mein Vater war bei meiner Geburt nicht dabei, aber sie bildete sich ein, ihn zu hören. Zweimal täglich starteten die Flugzeuge des Wetterdienstes der deutschen Wehrmacht vom Militärflughafen Olmütz, um den Heeren im Osten das Wetter vorherzusagen. Sehr früh am Morgen und gegen Mittag. Ich bin mittags geboren. Ich habe meinen Vater, den nach Olmütz abkommandierten Wetterdienstassistenten, erst kennengelernt, als ich schon Rad fahren konnte.
Ich bin ein Kind der amerikanischen Besatzungszone.
Meine Mutter floh vor der heranrückenden Roten Armee, meinen eineinhalb Jahre älteren Bruder mit einem Strick an ihrem Handgelenk, mich an der Brust. Ihr Problem war als
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Sudetendeutsche, wohin sie fliehen sollte. Zur Ostsee, zur Nordsee, zu den Alpen?
Gab es Deutschland überhaupt?
Jeder Mensch hat einen Schuhkarton, einen Flohmarkt an Fotos. Ich habe zwei Fotos von meiner Mutter, sie sind bräunlich verfärbt. Wenn Fotos sterben, werden sie braun. Ich besitze das Hochzeitsfoto meiner Eltern. Wie ernst man damals in die Kamera sah. Ich habe das Foto, wie mich meine Mutter in die Luft wirft. Sie ist eine junge, glückliche Frau. Sie ist zweiunddreissig auf dem Foto. Man stelle sich heute eine Zweiunddreissigjährige vor, die ohne Bahncard, Mastercard, gültiges Geld, Handy mit zwei Kindern durch die Welt irrt.
Wir schliefen unter Bäumen, wir schliefen in Scheunen. Mit der 'Berliner Erklärung" vom 5. Juni 1945 hatten die Alliierten die oberste Regierungsgewalt übernommen. Einen deutschen Staat gab es nicht mehr. Meine Mutter bettelte, manch einer gab was. Eine amerikanische Patrouille griff uns auf und brachte uns in das Schafhoflager bei Nürnberg. An das Lager erinnere ich mich. Kätzchen sagte meine Mutter zu den Ratten. 'Es sind Kätzchen." Gegen die Bilder von Bergen-Belsen, Auschwitz, der Leichenberge, die ich als Schüler im Geschichtsunterricht sehen sollte, verbieten sich die Bilder meiner Erinnerung an unser Lager. Doch ich werde sie nicht los, auch als Erwachsener nicht. Sie sterben nicht, sie sind wie in einem Winterschlaf und wachen auf.
Ein zwei-, dreijähriges Kind sieht Dinge und sieht sie nicht. Augen vergessen. Erst mit fünf, sechs Jahren öffnet sich die Festplatte für einzelne Fotos.
Ein umgekipptes Auto mit Männern, die vorher noch sprachen und jetzt nicht mehr. Das muss vor dem Lager in meinen Kopf geraten sein. War es das Wehrmachtsauto eines deutschen Soldatensenders, das uns ein Stück mitgenommen hatte und aus der Luft beschossen worden war? Waren die Männer stumm, weil sie tot waren?
Ein anderes Bild zeigt, wie meine Mutter nach mir schreit, wie ich sie nie mehr habe schreien hören. Sie hatte mich im Flüchtlingstreck verloren, die Frau, die sie gebeten hatte, mich für einen Augenblick zu nehmen, hatte mich nicht. Meine Mutter schrie nach einem roten Fleck, der Farbe meiner Mütze.
Wie viele psychisch und physisch erschöpfte Mütter ich heute in meinem Bekanntenkreis erlebe, erschöpft vom in den Kindergarten bringen, von der Schule abholen, Ballett-Unterricht fahren, auf die Putzfrau, den Babysitter warten, den Freundeskreis halten, den Ehemann, das Gewicht. Schwer vorzustellen, dass sie die Enkelinnen der Trümmerfrauen sind. Sie würden nicht den Bruchteil eines Bruchteils von dem aushalten ...
'Schreib nicht so einen Unsinn", höre ich meine Mutter sagen, 'bete, dass sie es nicht beweisen müssen." Meine Mutter hat immer Zuflucht bei Gott gesucht. Angesichts ihrer Lage gab es nur ihn. Vom Ehemann keine Nachricht, die Städte zerbombt. Auf unserer Flucht sah sie Würzburg brennen. Bis zu ihrem Tod zuckte sie vor einem aufflammenden Streichholz zusammen.
Berlin, Hamburg, Nürnberg: Kraterlandschaften, 3,6 Millionen Wohnungen in Deutschland zerstört, Millionen Menschen obdachlos, Hunderttausende bei Bombenangriffen getötet. Am 27. Februar 1945 schrieb Erich Kästner in sein Tagebuch: 'Das dritte Reich bringt sich um. Doch die Leiche heisst Deutschland. " Da war ich zwei Jahre alt.
Ich bin aufgewachsen an einem Sarg, in dem Sarg lag Deutschland.
Langsam essen ist geblieben. Menschen, die hungern müssen, essen langsam, nicht gierig. Je langsamer man die Suppe löffelt, desto Länger hat man von ihr. 1550 Kalorien gelten heute als lebensnotwendige Tagesration.
Erbettelte meine Mutter 800 Kalorien?
Die Reichsmark war nichts wert und so viel ich weiss, hatte meine Mutter nichts mehr zu tauschen. Ihr silbernes Kommunionskettchen trug eine Bäuerin.
Das Schafhoflager war eine Schlafbaracke. Zwanzig, dreissig wildfremde Menschen schliefen auf vierzig Quadratmetern, nur Frauen und Kinder. Sauberes Wasser war rar. Aus Regenwasser machte meine Mutter eine Regenwassersuppe. Sie schnitt die erbettelten Kartoffeln klein, zerrieb Brennesselblätter darüber und hielt die Schüssel in den Regen, danach machte sie ein Feuer. 'Esst langsam, Kinder!" sagte sie. Ich esse bis heute langsam.
Das war 1945.
1948 bin ich ein fünfjähriger Junge und habe einen Vater. Plötzlich war er als Gespenst auf dem Bauernhof aufgetaucht, wo meine Mutter eine Unterkunft nach den drei Jahren im Lager gefunden hatte. Ich hatte Angst vor dem fremden Mann. Ich hielt eine Weidenrute in der Hand und schlug nach ihm. Meine Mutter stand an der Tür und liess ein Glas fallen. Sie hat dann ihrem Mann jeden Tag mit einer Salbe die Füsse eingeschmiert und gewickelt, die er sich in Russland erfroren hatte. Ich war eifersüchtig auf den dünnen, kranken Mann, weil ich nicht wusste, was ein Vater ist. Es kommt vor, dass mich mein toter Vater heute im Traum weckt. Er streckt seine Hand aus, nicht um mich zu liebkosen, es ist ein Tasten.
'Frag mich", sagt er.
Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 bin ich nach Berlin gezogen, ich lebe in der Mommsenstrasse, sie ist eine elegante Strasse in Charlottenburg. In meiner Nachbarschaft wohnt die Familie Roth. Wenn man sich mehrere Male beim Bäcker oder am Kiosk sieht, nickt man sich zu und plötzlich sitzt man in einer Kneipe zusammen. Die Roths sind in Tel Aviv geboren. Nach zwei Flaschen Wein fragte ich sie einmal, warum sie im Land der Täter leben. Sie erzählten von ihren Grossmüttern und Tanten, die Deutsch mit ihnen gesprochen haben. Es sei eine Sprache mit Gerüchen, ihre Heimatsprache, sie wollten in ihre Heimat zurück. Ich kenne Juden, die nie mehr ein Wort Deutsch sprechen.
Deutsch als Heimat?
Ein Fluss fliesst durch das Dorf, in dem wir leben, die Pegnitz. Sie führt alles Mögliche mit, Zweige, Blätter, zerschossene Autoreifen, Soldatenhelme. Es ist sechs Jahrzehnte her. Ein kleiner Junge wirft Zweige in den Fluss und läuft dem Wasser voraus, um zu sehen, wer schneller ist. Ich fühlte mich wohl in dem Dorf, einmal aber war ich traurig. Die Mutter eines Spielkameraden war an der Gräte eines Karpfens erstickt. Bis heute mag ich keinen Fisch. Wir Kinder durften die Tote im offenen Sarg in der Stube sehen. Weil mein Freund weinte, weinte ich auch. Viele Jahre später erzählte mir meine Mutter, dass die Frau nicht an einer Gräte, sondern an einer Abtreibung gestorben sei. Sie war eine der unglücklichen Frauen, die während der Kriegsgefangenschaft ihrer Männer schwanger geworden waren. Es war auch ein Dorf mit seinem eigenen Schweigen.
In das Dorf kehrten die Männer zurück, einer hat nur einen Arm, einer ist blind, einer, mein Vater, hat erfrorene Füsse, einer nur ein Bein. Vielleicht habe ich als Fünfjähriger gefragt, wo das andere Bein ist, und zur Antwort bekommen, dass der Mann es im Krieg verloren hat. Ich weiss nicht, was ich als Kind gefragt habe. Vielleicht habe ich gar nicht viel gefragt, weil ein Kind merkt, wenn Antworten wehtun. Manchmal sass meine Mutter nur da und guckte uns Kinder an oder sie sang uns vor. Mein Bruder sagt, dass sie uns jeden Abend in den Schlaf gesungen hat. Es muss eine Folge dieser Jahre sein, dass ich heute bei leiser Musik am besten einschlafe. Wie viel Kind steckt noch in einem? Wie viel Furcht?
1948 schnitt Stalin Westberlin vom Strom ab, er liess Strassensperren errichten, damit keine Lebensmittel mehr in die Stadt kamen.
Ich weiss nicht, wie sich Furcht überträgt vom Erwachsenen zum Kind. Vielleicht, dass wir artig wurden, still. Kinder erwarten ja für alles eine Strafe.
Wenn ich heute, zwei Autobahnabfahrten vor Nürnberg, dieses Dorf besuche, bin ich gerührt, obwohl es etwas anders aussieht mit seiner Tankstelle und der Disco. Es ist nach wie vor ein stilles Dorf, kaum Verkehr. Den träge dahinfliessenden Fluss, wenn auch viel kleiner, gibt es noch. Die Landschaft mit seinen fränkischen Waldbergen ist wie aus dem Märchen. Es ist ein Dorf für Kinder mit Hühnern, Gänsen, Kühen; an jedem Baum hängt meine Kinderseele.
Wohnt Deutschland in einem Dorf?
Etwa 400 Kilometer ist das Dorf von Berlin entfernt. Über einen staubfarbenen Feldweg gingen wir zur kleinen Kirche hoch und beteten, dass der Russe nicht kommt. Beten bedeutet, dass man um Hilfe bittet. Das wusste ein Fünfjähriger damals. Alle im Dorf beteten, dass der Russe nicht kommt.
Die westlichen Alliierten versorgten Westberlin aus der Luft. Sie flogen pro Tag 3500 Tonnen Kohle, Holz, Milch, Mehl, Fleisch in die Stadt. Sechzig britische und amerikanische Piloten sind während der 'Berliner Luftbrücke" ums Leben gekommen. Wir besassen kein Radio, kein Telefon, Zeitungen gab es nicht. Angst breitet sich aus wie Grippe.
Am schwersten können Kinder mit dem Ungewissen leben. Wenn Kinder weinen, erzählt man ihnen von morgen, so lenkt man sie vom Weinen ab. Was morgen sein würde, wussten die Erwachsenen nicht. Das spürt ein Kind und es kriegt mehr Angst. In den ersten Tagen auf der Flucht hielt die Mutter uns Kindern nachts den Mund zu, wenn sie Schritte hörte. Flüchtlingsfrauen hatten ihr erzählt, dass russische Vortrupps Frauen suchen, es seien Mongolen.
Die Angst vor den Russen war eine kollektive Angst, plündernd und vergewaltigend würden sie über die Deutschen herfallen und sie unterjochen.
Mitte der achtziger Jahre war ich in Moskau, um über Gorbatschows Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) zu berichten. Mit einem Dolmetscher von der Nachrichtenagentur Nowosti besuchte ich unweit von Moskau eines dieser schönen Dörfer aus Holz. Es war Frühling, die Sonne schien durch die Birken, aber es lag noch Schnee. Dick eingemummt sassen ältere Frauen auf einer Bank und hielten ihre Gesichter in die Sonne. 'Dies ist ein Deutscher", sagte der Dolmetscher zu den Frauen, 'ich möchte ihm euer Dorf zeigen." Schreiend liefen die Frauen davon.
'Was schreien sie", fragte ich. 'Sie schreien", übersetzte der Dolmetscher, 'der Teufel ist da". Zwanzig Millionen Russen sind im Krieg ums Leben gekommen, deutsche Panzer standen vor Moskau. Ich glaube, dass ich in dem Dorf aus Holz zum ersten Mal die Furcht meiner Eltern begriffen habe. Die Vergangenheit ist nicht überstanden. Sie lebt.
Ich sitze in der kleinen Kirche, 2009 Jahre nach Christus, 70 Jahre nach Kriegsbeginn, 64 Jahre nach unserer Flucht. Jesus war arm, seine Eltern waren Flüchtlinge. Hinter dem Altar sind sie abgebildet, Vater, Mutter, Kind; in einer Scheune wurde Jesus geboren, sie hatten nichts. Sie hatten Angst vor Hero- des. Wie gut mein Gedächtnis in dieser Kirche funktioniert, wie genau ich mich an mich erinnere, an den kleinen Jungen, der zu dem Jesulein betet, da vorne in den ersten Bänken. Ich bin untrennbar mit dem Jungen verbunden. Es ist merkwürdig an einem Ort zu sein, an dem man schon einmal war. Ich möchte den Jungen umarmen und ihm sagen, dass alles gut wird. Aber wer konnte damals in die Zukunft sehen?
Heute kann ich in die Zukunft des kleinen Jungen sehen. Ich habe in seiner Zukunft gelebt. Ich weiss, welche Noten er in der fünften, sechsten Klasse bekommen wird und dass sein erster Bundeskanzler Konrad Adenauer heissen wird. Ich weiss, dass der Russe nicht ins Dorf kommt. Ich weiss vor dem Jungen, dass das Fussballspiel 1954 in Bern 3:2 für Deutschland ausgeht. Ich weiss, dass am 13. August 1961 eine 155 Kilometer lange Mauer durch Berlin gebaut wird und 136 Menschen sterben werden, die man Maueropfer nennt.
Wenn man sich erinnert, betritt man die Landschaft der gelebten Zukunft. Es ist wie das Betreten eines Wahrsage-Planeten. Der Junge weiss nichts, aber ich weiss es.
Es herrschte nach dem Krieg ein starker Glaube an das Leben, eine Art Ameisen-Hysterie. Die in Nürnberg angeklagten Hauptkriegsverbrecher waren in der Hölle, die Erde von ihnen befreit. Alles war wieder gut.
'Als alles vorbei war, ging alles weiter", schrieb sarkastisch mein Freund Jörg Fauser.
Es muss wie auf einem Friedhof gewesen sein. Sobald der Sarg in der Erde ist, kriegen die Trauernden etwas Wuseliges, Eiliges. Nur weg. Ich stelle mir vor, ich wäre damals Kolumnist einer Zeitung wie Bild gewesen.
'Lieber Dr. Adenauer", hätte ich hoffentlich geschrieben, 'wir sind mit blutigen Knien aus den Trümmern gekrochen. Auf den Trümmern sind nun Eisdielen. Wir haben sechs Millionen Juden umgebracht. In ihrem Kabinett sitzt der Nazi Globke. Er hat die Rassengesetze der Nazis kommentiert. Ich will nicht in Eisdielen mit einem Nazi sitzen. Nach Leichenbergen Schlagsahne. Die Öfen in Auschwitz sind noch nicht kalt und wir hören , Capri-Fischer' . Herzlichst, Ihr ..."
Ich gehe den Kirchweg hinunter zum Dorf, wo mein Auto steht. Dieses fränkische Dorf war wie ein Versteck. Selten fuhren amerikanische Panzer durch, und wenn, liefen wir Kinder hinterher und riefen: 'Hey Paperima, die Amis sind prima. Die Neger sind besser, die machen' s mit dem Messer." So was bleibt einem im Kopf. Ich fasse es nicht. Im 'Gasthof zur Linde" bestelle ich ein Bier. In diesem Dorf sammelte ich Zigarettenkippen und tauschte sie gegen Bonbons.
Man soll die Augen schliessen, wenn man sich erinnern will. Was will ich mit meinen geschlossenen Augen sehen? Nicht das Wirtschaftswunder, nicht die Zigarrenspitze Ludwig Erhards, nicht den Stapellauf des millionsten VWs oder der millionsten Miele-Waschmaschine. Ich will diese Drehtür sehen, aus der wir Nachkriegsdeutschen wie unschuldig herauskamen. 132 Fragen musste man beantworten, dann war man entnazifiziert und aus der Drehtür.
Ich kann bis heute nicht unbefangen mit Juden reden, denn ich habe die Nazikrankheit und sie wird schlimmer, je älter ich werde. Sie ist wie Neurodermitis. Zyniker wie die populären Publizisten Henryk M. Broder oder Maxim Biller machen sich lustig über diesen genetischen Juckreiz. Sie dürfen es. Sie sind die Kinder aus den Konzentrationslagern. Broders Mutter überlebte Auschwitz, beim anschliessenden Todesmarsch gelang ihr die Flucht. Broder nennt den Zentralrat der Juden in Deutschland eine 'Reue-Entgegennahme-Instanz". Er wollte sich als Zentralratspräsident bewerben und sah es als seine erste Aufgabe an, für die 'Aufhebung der Holocaustleugnung als Straftatbestand" zu werben. Broder ist ein jüdischer Poltergeist. Er hat wahrscheinlich die Nase voll von Reue. Aber wie kann man als Deutscher ohne Reue leben? Kann mir das jemand sagen? Welcher Edeldeutsche wie Siegfried der Drachentöter, Hermann der Cherusker, Karl der Grosse, Heinrich Heine, Goethe, Schiller tröstet in den Schlaf?
Keiner.
Goethe schrieb über den Vorgang des Erinnerns (oder Vergessens): 'Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten ..." Das Problem dabei ist, dass sich die Gestalten gleich wieder entfernen. Es ist unmöglich, fachmännische Auskunft von ihnen zu erhalten. 'Hört mal, Ihr Gestalten, die dreissig, vierzig Angeklagten von Nürnberg können doch nicht allein die Millionen Juden umgebracht haben. Sie haben sie auch nicht auf dem Mond oder in der gottverlassenen Antarktis umgebracht. Sie haben sie im dicht besiedelten Europa umgebracht."
Auf dem Bürgersteig vor meiner Berliner Wohnung gibt es zwei dieser Stolpersteine, die daran erinnern, dass hier zwei jüdische Familien lebten, die ermordet wurden. Viele Augen müssen es hinter den Fenstern gesehen haben, wie sie von der Gestapo abgeholt wurden. 'Wie kann man etwas sehen und wegsehen, Ihr Gestalten?" Aber die schwankenden Gestalten sind schon woanders.
1973 schickte mich meine Zeitung nach Israel, um über den Jom-Kippur-Krieg zu berichten, irgendwann fand ich Zeit das Yad-Vashem- Museum zu besuchen. Es steht auf einem Berg über Jerusalem. Der Fotoreporter Sven Simon, Sohn des Verlegers Axel Springer, war dabei. Pförtner reichen schwarze Käppchen, bevor man in die mit schwarzem Samt ausgelegte, in den Fels gehauene Museumshalle hinuntersteigt. Aus dem Halbdunkel leuchten Dokumentarfotos. Fotos von Kindern, die in Gewehrmündungen schauen. Mütter, die mit ihren Hungerkörpern, ihre Kinder an sich gepresst, am Eingang zur Gaskammer Schlange stehen. Hinter dem Museum ist ein Johannisbrotwäldchen, die Allee der Gerechten. Jeder Baum wurde zur Ehre eines Nichtjuden gepflanzt, der sich nicht fürchtete, Juden zu retten. Wir zählten damals 500 Bäumchen.
'Scheisse", sagte Sven. 'So wenig Bäumchen."
Wir Flüchtlinge lebten uns ein nach dem Krieg, ein bisschen so wie die Bettler in der U-Bahn-Station. Wenn ich nachts durch Berlin fahre und die Obdachlosen sehe, wie sie es sich wohnlich machen mit ihren Kartons, Decken und Tüten, erkenne ich dasselbe Überlebensprinzip. Das Wichtigste ist ein wind- und regengeschützter Platz in einer Ecke. Aber ich denke, wir hatten es besser als die Bettler heute. Es muss furchtbar sein in einem Land zu betteln, wo es alles gibt, Sushi, argentinische Steaks, per Hand massierte Filets von japanischen Rindern, und wo nachtstreunende Ratten noch nicht mal Pizzareste und Hühnerknochen fressen. Meine Mutter hätte Gott gedankt für Hühnerknochen. Der Unterschied ist, dass die heutigen Bettler von den Reichen betteln müssen. Wir bettelten von den Armen, und es ist nicht nur eine Redensart, dass am freigebigsten die Armen sind. Sie schenkten uns Matratzen, einen Tisch, Stühle, Messer und Gabeln. Hoffentlich gibt es heute genügend Arme für Bettler.
Es gab Integrationsprobleme für uns Flüchtlingskinder, weil wir deutsch mit einer anderen Betonung sprachen, zu Tomaten Paradeiser sagten und Jänner statt Januar. Für die einheimischen Dorfkinder waren mein Bruder und ich 'Polacken", und sie wechselten in ein verstümmeltes Ausländerdeutsch, wenn sie mit uns redeten. Es ging uns wie den Gastarbeitern in den sechziger Jahren, die wegen ihres gebrochenen Deutsch ausgegrenzt wurden.
'Mama, was ist ein Polacke?"
Keine Ahnung, welche Antwort meine Mutter gab. So wie ich sie kenne, eine zum Lachen. Meiner Mutter war es wichtig, dass wir zu essen hatten und auf die Toilette gingen. Sie behauptete auch immer, dass ihr nichts fehle, auch wenn sie krank war. Sie machte den Kanonenofen an, war als erste auf.
In meinem Kindheitsgedächtnis gibt es keine Reihenfolge von Begebenheiten, die Erinnerungen liegen verstreut da wie Steine. Fremdsein ist so ein Stein. Um nicht fremd zu sein, muss man in dem Dorf oder Nachbardorf geboren sein. Man muss die Toten auf dem Friedhof kennen, jeden einzelnen mit Namen. Jedes Haus hat seine Erinnerung. Jedes lebende Gesicht erinnert an einen Vorfahren, an den Urgrossvater, Grossvater. In einem Dorf leben die Lebenden mit den Toten. Unsere Toten hatten wir zurücklassen müssen, meine kleine Schwester Roswitha, mit drei Jahren an Leukämie gestorben, unbesucht ihr Grab, blumenlos, mit Unkraut bewachsen, ihr Name nicht mehr lesbar.
Mein Vater ist eine Lücke in meinem Leben. Mir fehlen die Jahre, die er im Krieg und in Kriegsgefangenschaft war. Wenn die Theorie stimmt, dass die Informationen, die ein Baby von seinem Vater bekommt, genauso wichtig sind wie die der Mutter, dann fehlen mir gewisse Informationen. Die Information der Sicherheit, die Information der tiefen Stimme, die Information der Gottvaterheit. Möglich, dass ich heute ein gehorsamerer Mensch wäre, wenn ich als Kind einen Vater gehabt hätte. Vielleicht wäre aus mir ein Zahnarzt geworden. Ich weiss es nicht. Ich bin nicht Doktor Freud.
Als mein kriegsheimkehrender Vater in mein Leben trat, war ich fünf. Die kleine Kammer, in der mein Bruder und ich schliefen, grenzte an das Zimmer unserer Eltern. Oft hörte ich durch die Wand, wie meine Mutter auf meinen Vater einredete. Auch wenn ich ihre Worte nicht verstand (und sie heute nicht wiedergeben kann), hörte ich ihr Unglücklichsein. Einige Male, glaube ich, meinen Vater weinen gehört zu haben. Sie hatten ihn vom Wetterdienst nach Russland an die Front abkommandiert, in einer gefrorenen Pferdedecke mit lumpenumhüllten Füssen hat er überlebt. Sein Leben war ihm beinahe genommen worden. Er hat gesehen, wie das Leben genommen wird, er wird selbst Leben genommen haben. Ich hab ihn nie gefragt, wie es war, als er sein Gewehr abfeuerte und das feurige Weiss sah, den Blitz seines Schusses.
Von Eltern und Ehefrauen der Bundeswehrsoldaten, die nach ihrem Afghanistan-Einsatz nach Hause kommen, wissen wir von der Traumatisierung ihrer Söhne und Männer. Austrainierte Zwanzigjährige klagen über Schwächezustände ihrer Muskulatur, sie können nicht mehr aufstehen. Manche haben Zahnweh, obwohl Röntgenaufnahmen ihnen ein gesundes Gebiss bescheinigen.
Gab es Deutschland überhaupt?
Jeder Mensch hat einen Schuhkarton, einen Flohmarkt an Fotos. Ich habe zwei Fotos von meiner Mutter, sie sind bräunlich verfärbt. Wenn Fotos sterben, werden sie braun. Ich besitze das Hochzeitsfoto meiner Eltern. Wie ernst man damals in die Kamera sah. Ich habe das Foto, wie mich meine Mutter in die Luft wirft. Sie ist eine junge, glückliche Frau. Sie ist zweiunddreissig auf dem Foto. Man stelle sich heute eine Zweiunddreissigjährige vor, die ohne Bahncard, Mastercard, gültiges Geld, Handy mit zwei Kindern durch die Welt irrt.
Wir schliefen unter Bäumen, wir schliefen in Scheunen. Mit der 'Berliner Erklärung" vom 5. Juni 1945 hatten die Alliierten die oberste Regierungsgewalt übernommen. Einen deutschen Staat gab es nicht mehr. Meine Mutter bettelte, manch einer gab was. Eine amerikanische Patrouille griff uns auf und brachte uns in das Schafhoflager bei Nürnberg. An das Lager erinnere ich mich. Kätzchen sagte meine Mutter zu den Ratten. 'Es sind Kätzchen." Gegen die Bilder von Bergen-Belsen, Auschwitz, der Leichenberge, die ich als Schüler im Geschichtsunterricht sehen sollte, verbieten sich die Bilder meiner Erinnerung an unser Lager. Doch ich werde sie nicht los, auch als Erwachsener nicht. Sie sterben nicht, sie sind wie in einem Winterschlaf und wachen auf.
Ein zwei-, dreijähriges Kind sieht Dinge und sieht sie nicht. Augen vergessen. Erst mit fünf, sechs Jahren öffnet sich die Festplatte für einzelne Fotos.
Ein umgekipptes Auto mit Männern, die vorher noch sprachen und jetzt nicht mehr. Das muss vor dem Lager in meinen Kopf geraten sein. War es das Wehrmachtsauto eines deutschen Soldatensenders, das uns ein Stück mitgenommen hatte und aus der Luft beschossen worden war? Waren die Männer stumm, weil sie tot waren?
Ein anderes Bild zeigt, wie meine Mutter nach mir schreit, wie ich sie nie mehr habe schreien hören. Sie hatte mich im Flüchtlingstreck verloren, die Frau, die sie gebeten hatte, mich für einen Augenblick zu nehmen, hatte mich nicht. Meine Mutter schrie nach einem roten Fleck, der Farbe meiner Mütze.
Wie viele psychisch und physisch erschöpfte Mütter ich heute in meinem Bekanntenkreis erlebe, erschöpft vom in den Kindergarten bringen, von der Schule abholen, Ballett-Unterricht fahren, auf die Putzfrau, den Babysitter warten, den Freundeskreis halten, den Ehemann, das Gewicht. Schwer vorzustellen, dass sie die Enkelinnen der Trümmerfrauen sind. Sie würden nicht den Bruchteil eines Bruchteils von dem aushalten ...
'Schreib nicht so einen Unsinn", höre ich meine Mutter sagen, 'bete, dass sie es nicht beweisen müssen." Meine Mutter hat immer Zuflucht bei Gott gesucht. Angesichts ihrer Lage gab es nur ihn. Vom Ehemann keine Nachricht, die Städte zerbombt. Auf unserer Flucht sah sie Würzburg brennen. Bis zu ihrem Tod zuckte sie vor einem aufflammenden Streichholz zusammen.
Berlin, Hamburg, Nürnberg: Kraterlandschaften, 3,6 Millionen Wohnungen in Deutschland zerstört, Millionen Menschen obdachlos, Hunderttausende bei Bombenangriffen getötet. Am 27. Februar 1945 schrieb Erich Kästner in sein Tagebuch: 'Das dritte Reich bringt sich um. Doch die Leiche heisst Deutschland. " Da war ich zwei Jahre alt.
Ich bin aufgewachsen an einem Sarg, in dem Sarg lag Deutschland.
Langsam essen ist geblieben. Menschen, die hungern müssen, essen langsam, nicht gierig. Je langsamer man die Suppe löffelt, desto Länger hat man von ihr. 1550 Kalorien gelten heute als lebensnotwendige Tagesration.
Erbettelte meine Mutter 800 Kalorien?
Die Reichsmark war nichts wert und so viel ich weiss, hatte meine Mutter nichts mehr zu tauschen. Ihr silbernes Kommunionskettchen trug eine Bäuerin.
Das Schafhoflager war eine Schlafbaracke. Zwanzig, dreissig wildfremde Menschen schliefen auf vierzig Quadratmetern, nur Frauen und Kinder. Sauberes Wasser war rar. Aus Regenwasser machte meine Mutter eine Regenwassersuppe. Sie schnitt die erbettelten Kartoffeln klein, zerrieb Brennesselblätter darüber und hielt die Schüssel in den Regen, danach machte sie ein Feuer. 'Esst langsam, Kinder!" sagte sie. Ich esse bis heute langsam.
Das war 1945.
1948 bin ich ein fünfjähriger Junge und habe einen Vater. Plötzlich war er als Gespenst auf dem Bauernhof aufgetaucht, wo meine Mutter eine Unterkunft nach den drei Jahren im Lager gefunden hatte. Ich hatte Angst vor dem fremden Mann. Ich hielt eine Weidenrute in der Hand und schlug nach ihm. Meine Mutter stand an der Tür und liess ein Glas fallen. Sie hat dann ihrem Mann jeden Tag mit einer Salbe die Füsse eingeschmiert und gewickelt, die er sich in Russland erfroren hatte. Ich war eifersüchtig auf den dünnen, kranken Mann, weil ich nicht wusste, was ein Vater ist. Es kommt vor, dass mich mein toter Vater heute im Traum weckt. Er streckt seine Hand aus, nicht um mich zu liebkosen, es ist ein Tasten.
'Frag mich", sagt er.
Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 bin ich nach Berlin gezogen, ich lebe in der Mommsenstrasse, sie ist eine elegante Strasse in Charlottenburg. In meiner Nachbarschaft wohnt die Familie Roth. Wenn man sich mehrere Male beim Bäcker oder am Kiosk sieht, nickt man sich zu und plötzlich sitzt man in einer Kneipe zusammen. Die Roths sind in Tel Aviv geboren. Nach zwei Flaschen Wein fragte ich sie einmal, warum sie im Land der Täter leben. Sie erzählten von ihren Grossmüttern und Tanten, die Deutsch mit ihnen gesprochen haben. Es sei eine Sprache mit Gerüchen, ihre Heimatsprache, sie wollten in ihre Heimat zurück. Ich kenne Juden, die nie mehr ein Wort Deutsch sprechen.
Deutsch als Heimat?
Ein Fluss fliesst durch das Dorf, in dem wir leben, die Pegnitz. Sie führt alles Mögliche mit, Zweige, Blätter, zerschossene Autoreifen, Soldatenhelme. Es ist sechs Jahrzehnte her. Ein kleiner Junge wirft Zweige in den Fluss und läuft dem Wasser voraus, um zu sehen, wer schneller ist. Ich fühlte mich wohl in dem Dorf, einmal aber war ich traurig. Die Mutter eines Spielkameraden war an der Gräte eines Karpfens erstickt. Bis heute mag ich keinen Fisch. Wir Kinder durften die Tote im offenen Sarg in der Stube sehen. Weil mein Freund weinte, weinte ich auch. Viele Jahre später erzählte mir meine Mutter, dass die Frau nicht an einer Gräte, sondern an einer Abtreibung gestorben sei. Sie war eine der unglücklichen Frauen, die während der Kriegsgefangenschaft ihrer Männer schwanger geworden waren. Es war auch ein Dorf mit seinem eigenen Schweigen.
In das Dorf kehrten die Männer zurück, einer hat nur einen Arm, einer ist blind, einer, mein Vater, hat erfrorene Füsse, einer nur ein Bein. Vielleicht habe ich als Fünfjähriger gefragt, wo das andere Bein ist, und zur Antwort bekommen, dass der Mann es im Krieg verloren hat. Ich weiss nicht, was ich als Kind gefragt habe. Vielleicht habe ich gar nicht viel gefragt, weil ein Kind merkt, wenn Antworten wehtun. Manchmal sass meine Mutter nur da und guckte uns Kinder an oder sie sang uns vor. Mein Bruder sagt, dass sie uns jeden Abend in den Schlaf gesungen hat. Es muss eine Folge dieser Jahre sein, dass ich heute bei leiser Musik am besten einschlafe. Wie viel Kind steckt noch in einem? Wie viel Furcht?
1948 schnitt Stalin Westberlin vom Strom ab, er liess Strassensperren errichten, damit keine Lebensmittel mehr in die Stadt kamen.
Ich weiss nicht, wie sich Furcht überträgt vom Erwachsenen zum Kind. Vielleicht, dass wir artig wurden, still. Kinder erwarten ja für alles eine Strafe.
Wenn ich heute, zwei Autobahnabfahrten vor Nürnberg, dieses Dorf besuche, bin ich gerührt, obwohl es etwas anders aussieht mit seiner Tankstelle und der Disco. Es ist nach wie vor ein stilles Dorf, kaum Verkehr. Den träge dahinfliessenden Fluss, wenn auch viel kleiner, gibt es noch. Die Landschaft mit seinen fränkischen Waldbergen ist wie aus dem Märchen. Es ist ein Dorf für Kinder mit Hühnern, Gänsen, Kühen; an jedem Baum hängt meine Kinderseele.
Wohnt Deutschland in einem Dorf?
Etwa 400 Kilometer ist das Dorf von Berlin entfernt. Über einen staubfarbenen Feldweg gingen wir zur kleinen Kirche hoch und beteten, dass der Russe nicht kommt. Beten bedeutet, dass man um Hilfe bittet. Das wusste ein Fünfjähriger damals. Alle im Dorf beteten, dass der Russe nicht kommt.
Die westlichen Alliierten versorgten Westberlin aus der Luft. Sie flogen pro Tag 3500 Tonnen Kohle, Holz, Milch, Mehl, Fleisch in die Stadt. Sechzig britische und amerikanische Piloten sind während der 'Berliner Luftbrücke" ums Leben gekommen. Wir besassen kein Radio, kein Telefon, Zeitungen gab es nicht. Angst breitet sich aus wie Grippe.
Am schwersten können Kinder mit dem Ungewissen leben. Wenn Kinder weinen, erzählt man ihnen von morgen, so lenkt man sie vom Weinen ab. Was morgen sein würde, wussten die Erwachsenen nicht. Das spürt ein Kind und es kriegt mehr Angst. In den ersten Tagen auf der Flucht hielt die Mutter uns Kindern nachts den Mund zu, wenn sie Schritte hörte. Flüchtlingsfrauen hatten ihr erzählt, dass russische Vortrupps Frauen suchen, es seien Mongolen.
Die Angst vor den Russen war eine kollektive Angst, plündernd und vergewaltigend würden sie über die Deutschen herfallen und sie unterjochen.
Mitte der achtziger Jahre war ich in Moskau, um über Gorbatschows Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) zu berichten. Mit einem Dolmetscher von der Nachrichtenagentur Nowosti besuchte ich unweit von Moskau eines dieser schönen Dörfer aus Holz. Es war Frühling, die Sonne schien durch die Birken, aber es lag noch Schnee. Dick eingemummt sassen ältere Frauen auf einer Bank und hielten ihre Gesichter in die Sonne. 'Dies ist ein Deutscher", sagte der Dolmetscher zu den Frauen, 'ich möchte ihm euer Dorf zeigen." Schreiend liefen die Frauen davon.
'Was schreien sie", fragte ich. 'Sie schreien", übersetzte der Dolmetscher, 'der Teufel ist da". Zwanzig Millionen Russen sind im Krieg ums Leben gekommen, deutsche Panzer standen vor Moskau. Ich glaube, dass ich in dem Dorf aus Holz zum ersten Mal die Furcht meiner Eltern begriffen habe. Die Vergangenheit ist nicht überstanden. Sie lebt.
Ich sitze in der kleinen Kirche, 2009 Jahre nach Christus, 70 Jahre nach Kriegsbeginn, 64 Jahre nach unserer Flucht. Jesus war arm, seine Eltern waren Flüchtlinge. Hinter dem Altar sind sie abgebildet, Vater, Mutter, Kind; in einer Scheune wurde Jesus geboren, sie hatten nichts. Sie hatten Angst vor Hero- des. Wie gut mein Gedächtnis in dieser Kirche funktioniert, wie genau ich mich an mich erinnere, an den kleinen Jungen, der zu dem Jesulein betet, da vorne in den ersten Bänken. Ich bin untrennbar mit dem Jungen verbunden. Es ist merkwürdig an einem Ort zu sein, an dem man schon einmal war. Ich möchte den Jungen umarmen und ihm sagen, dass alles gut wird. Aber wer konnte damals in die Zukunft sehen?
Heute kann ich in die Zukunft des kleinen Jungen sehen. Ich habe in seiner Zukunft gelebt. Ich weiss, welche Noten er in der fünften, sechsten Klasse bekommen wird und dass sein erster Bundeskanzler Konrad Adenauer heissen wird. Ich weiss, dass der Russe nicht ins Dorf kommt. Ich weiss vor dem Jungen, dass das Fussballspiel 1954 in Bern 3:2 für Deutschland ausgeht. Ich weiss, dass am 13. August 1961 eine 155 Kilometer lange Mauer durch Berlin gebaut wird und 136 Menschen sterben werden, die man Maueropfer nennt.
Wenn man sich erinnert, betritt man die Landschaft der gelebten Zukunft. Es ist wie das Betreten eines Wahrsage-Planeten. Der Junge weiss nichts, aber ich weiss es.
Es herrschte nach dem Krieg ein starker Glaube an das Leben, eine Art Ameisen-Hysterie. Die in Nürnberg angeklagten Hauptkriegsverbrecher waren in der Hölle, die Erde von ihnen befreit. Alles war wieder gut.
'Als alles vorbei war, ging alles weiter", schrieb sarkastisch mein Freund Jörg Fauser.
Es muss wie auf einem Friedhof gewesen sein. Sobald der Sarg in der Erde ist, kriegen die Trauernden etwas Wuseliges, Eiliges. Nur weg. Ich stelle mir vor, ich wäre damals Kolumnist einer Zeitung wie Bild gewesen.
'Lieber Dr. Adenauer", hätte ich hoffentlich geschrieben, 'wir sind mit blutigen Knien aus den Trümmern gekrochen. Auf den Trümmern sind nun Eisdielen. Wir haben sechs Millionen Juden umgebracht. In ihrem Kabinett sitzt der Nazi Globke. Er hat die Rassengesetze der Nazis kommentiert. Ich will nicht in Eisdielen mit einem Nazi sitzen. Nach Leichenbergen Schlagsahne. Die Öfen in Auschwitz sind noch nicht kalt und wir hören , Capri-Fischer' . Herzlichst, Ihr ..."
Ich gehe den Kirchweg hinunter zum Dorf, wo mein Auto steht. Dieses fränkische Dorf war wie ein Versteck. Selten fuhren amerikanische Panzer durch, und wenn, liefen wir Kinder hinterher und riefen: 'Hey Paperima, die Amis sind prima. Die Neger sind besser, die machen' s mit dem Messer." So was bleibt einem im Kopf. Ich fasse es nicht. Im 'Gasthof zur Linde" bestelle ich ein Bier. In diesem Dorf sammelte ich Zigarettenkippen und tauschte sie gegen Bonbons.
Man soll die Augen schliessen, wenn man sich erinnern will. Was will ich mit meinen geschlossenen Augen sehen? Nicht das Wirtschaftswunder, nicht die Zigarrenspitze Ludwig Erhards, nicht den Stapellauf des millionsten VWs oder der millionsten Miele-Waschmaschine. Ich will diese Drehtür sehen, aus der wir Nachkriegsdeutschen wie unschuldig herauskamen. 132 Fragen musste man beantworten, dann war man entnazifiziert und aus der Drehtür.
Ich kann bis heute nicht unbefangen mit Juden reden, denn ich habe die Nazikrankheit und sie wird schlimmer, je älter ich werde. Sie ist wie Neurodermitis. Zyniker wie die populären Publizisten Henryk M. Broder oder Maxim Biller machen sich lustig über diesen genetischen Juckreiz. Sie dürfen es. Sie sind die Kinder aus den Konzentrationslagern. Broders Mutter überlebte Auschwitz, beim anschliessenden Todesmarsch gelang ihr die Flucht. Broder nennt den Zentralrat der Juden in Deutschland eine 'Reue-Entgegennahme-Instanz". Er wollte sich als Zentralratspräsident bewerben und sah es als seine erste Aufgabe an, für die 'Aufhebung der Holocaustleugnung als Straftatbestand" zu werben. Broder ist ein jüdischer Poltergeist. Er hat wahrscheinlich die Nase voll von Reue. Aber wie kann man als Deutscher ohne Reue leben? Kann mir das jemand sagen? Welcher Edeldeutsche wie Siegfried der Drachentöter, Hermann der Cherusker, Karl der Grosse, Heinrich Heine, Goethe, Schiller tröstet in den Schlaf?
Keiner.
Goethe schrieb über den Vorgang des Erinnerns (oder Vergessens): 'Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten ..." Das Problem dabei ist, dass sich die Gestalten gleich wieder entfernen. Es ist unmöglich, fachmännische Auskunft von ihnen zu erhalten. 'Hört mal, Ihr Gestalten, die dreissig, vierzig Angeklagten von Nürnberg können doch nicht allein die Millionen Juden umgebracht haben. Sie haben sie auch nicht auf dem Mond oder in der gottverlassenen Antarktis umgebracht. Sie haben sie im dicht besiedelten Europa umgebracht."
Auf dem Bürgersteig vor meiner Berliner Wohnung gibt es zwei dieser Stolpersteine, die daran erinnern, dass hier zwei jüdische Familien lebten, die ermordet wurden. Viele Augen müssen es hinter den Fenstern gesehen haben, wie sie von der Gestapo abgeholt wurden. 'Wie kann man etwas sehen und wegsehen, Ihr Gestalten?" Aber die schwankenden Gestalten sind schon woanders.
1973 schickte mich meine Zeitung nach Israel, um über den Jom-Kippur-Krieg zu berichten, irgendwann fand ich Zeit das Yad-Vashem- Museum zu besuchen. Es steht auf einem Berg über Jerusalem. Der Fotoreporter Sven Simon, Sohn des Verlegers Axel Springer, war dabei. Pförtner reichen schwarze Käppchen, bevor man in die mit schwarzem Samt ausgelegte, in den Fels gehauene Museumshalle hinuntersteigt. Aus dem Halbdunkel leuchten Dokumentarfotos. Fotos von Kindern, die in Gewehrmündungen schauen. Mütter, die mit ihren Hungerkörpern, ihre Kinder an sich gepresst, am Eingang zur Gaskammer Schlange stehen. Hinter dem Museum ist ein Johannisbrotwäldchen, die Allee der Gerechten. Jeder Baum wurde zur Ehre eines Nichtjuden gepflanzt, der sich nicht fürchtete, Juden zu retten. Wir zählten damals 500 Bäumchen.
'Scheisse", sagte Sven. 'So wenig Bäumchen."
Wir Flüchtlinge lebten uns ein nach dem Krieg, ein bisschen so wie die Bettler in der U-Bahn-Station. Wenn ich nachts durch Berlin fahre und die Obdachlosen sehe, wie sie es sich wohnlich machen mit ihren Kartons, Decken und Tüten, erkenne ich dasselbe Überlebensprinzip. Das Wichtigste ist ein wind- und regengeschützter Platz in einer Ecke. Aber ich denke, wir hatten es besser als die Bettler heute. Es muss furchtbar sein in einem Land zu betteln, wo es alles gibt, Sushi, argentinische Steaks, per Hand massierte Filets von japanischen Rindern, und wo nachtstreunende Ratten noch nicht mal Pizzareste und Hühnerknochen fressen. Meine Mutter hätte Gott gedankt für Hühnerknochen. Der Unterschied ist, dass die heutigen Bettler von den Reichen betteln müssen. Wir bettelten von den Armen, und es ist nicht nur eine Redensart, dass am freigebigsten die Armen sind. Sie schenkten uns Matratzen, einen Tisch, Stühle, Messer und Gabeln. Hoffentlich gibt es heute genügend Arme für Bettler.
Es gab Integrationsprobleme für uns Flüchtlingskinder, weil wir deutsch mit einer anderen Betonung sprachen, zu Tomaten Paradeiser sagten und Jänner statt Januar. Für die einheimischen Dorfkinder waren mein Bruder und ich 'Polacken", und sie wechselten in ein verstümmeltes Ausländerdeutsch, wenn sie mit uns redeten. Es ging uns wie den Gastarbeitern in den sechziger Jahren, die wegen ihres gebrochenen Deutsch ausgegrenzt wurden.
'Mama, was ist ein Polacke?"
Keine Ahnung, welche Antwort meine Mutter gab. So wie ich sie kenne, eine zum Lachen. Meiner Mutter war es wichtig, dass wir zu essen hatten und auf die Toilette gingen. Sie behauptete auch immer, dass ihr nichts fehle, auch wenn sie krank war. Sie machte den Kanonenofen an, war als erste auf.
In meinem Kindheitsgedächtnis gibt es keine Reihenfolge von Begebenheiten, die Erinnerungen liegen verstreut da wie Steine. Fremdsein ist so ein Stein. Um nicht fremd zu sein, muss man in dem Dorf oder Nachbardorf geboren sein. Man muss die Toten auf dem Friedhof kennen, jeden einzelnen mit Namen. Jedes Haus hat seine Erinnerung. Jedes lebende Gesicht erinnert an einen Vorfahren, an den Urgrossvater, Grossvater. In einem Dorf leben die Lebenden mit den Toten. Unsere Toten hatten wir zurücklassen müssen, meine kleine Schwester Roswitha, mit drei Jahren an Leukämie gestorben, unbesucht ihr Grab, blumenlos, mit Unkraut bewachsen, ihr Name nicht mehr lesbar.
Mein Vater ist eine Lücke in meinem Leben. Mir fehlen die Jahre, die er im Krieg und in Kriegsgefangenschaft war. Wenn die Theorie stimmt, dass die Informationen, die ein Baby von seinem Vater bekommt, genauso wichtig sind wie die der Mutter, dann fehlen mir gewisse Informationen. Die Information der Sicherheit, die Information der tiefen Stimme, die Information der Gottvaterheit. Möglich, dass ich heute ein gehorsamerer Mensch wäre, wenn ich als Kind einen Vater gehabt hätte. Vielleicht wäre aus mir ein Zahnarzt geworden. Ich weiss es nicht. Ich bin nicht Doktor Freud.
Als mein kriegsheimkehrender Vater in mein Leben trat, war ich fünf. Die kleine Kammer, in der mein Bruder und ich schliefen, grenzte an das Zimmer unserer Eltern. Oft hörte ich durch die Wand, wie meine Mutter auf meinen Vater einredete. Auch wenn ich ihre Worte nicht verstand (und sie heute nicht wiedergeben kann), hörte ich ihr Unglücklichsein. Einige Male, glaube ich, meinen Vater weinen gehört zu haben. Sie hatten ihn vom Wetterdienst nach Russland an die Front abkommandiert, in einer gefrorenen Pferdedecke mit lumpenumhüllten Füssen hat er überlebt. Sein Leben war ihm beinahe genommen worden. Er hat gesehen, wie das Leben genommen wird, er wird selbst Leben genommen haben. Ich hab ihn nie gefragt, wie es war, als er sein Gewehr abfeuerte und das feurige Weiss sah, den Blitz seines Schusses.
Von Eltern und Ehefrauen der Bundeswehrsoldaten, die nach ihrem Afghanistan-Einsatz nach Hause kommen, wissen wir von der Traumatisierung ihrer Söhne und Männer. Austrainierte Zwanzigjährige klagen über Schwächezustände ihrer Muskulatur, sie können nicht mehr aufstehen. Manche haben Zahnweh, obwohl Röntgenaufnahmen ihnen ein gesundes Gebiss bescheinigen.
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Autoren-Porträt von Franz J. Wagner
Wagner, Franz JosefFranz Josef Wagner, geboren 1943 in Olmütz, ist der bekannteste Boulevard-Journalist Deutschlands. Er ist Verfasser der täglichen Kolumne Post von Wagner in der BILD-Zeitung. Wagner lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Franz J. Wagner
- 2010, 160 Seiten, Masse: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Diederichs
- ISBN-10: 3424350419
- ISBN-13: 9783424350418
- Erscheinungsdatum: 29.11.2010
Rezension zu „Brief an Deutschland “
"Ein lakonisches, eindringliches, anrührendes Werk."
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