Brief an D.
"Du wirst 82. Du bist 6 Zentimeter kleiner geworden, du wiegst nur noch 45 Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit 58 Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe dich mehr denn je"
Der 83-jährige...
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"Du wirst 82. Du bist 6 Zentimeter kleiner geworden, du wiegst nur noch 45 Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit 58 Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe dich mehr denn je"
Der 83-jährige Gorz blickt auf sein bewegtes Leben und seine grosse Liebe zurück.
Brief an D. von André Gorz
LESEPROBE
Bald wirstDu jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegstnur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös undbegehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebeDich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, undwieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die WärmeDeines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag.
Ich mussDir unbedingt diese einfachen Dinge noch einmal sagen, bevor ich auf die Frageneingehe, die mich seit kurzem quälen. Warum nur bist Du in all dem, was ichgeschrieben habe, so wenig präsent, während doch unsere Verbindung das Wichtigstein meinem Leben gewesen ist? Warum nur habe ich in Der Verräter ein falschesBild von Dir gegeben, das Dich entstellt? Dieses Buch sollte zeigen, dass meinEngagement Dir gegenüber die entscheidende Wende gewesen ist, die es mir ermöglichthat, leben zu wollen. Warum aber ist dort keine Rede von der wunderbarenLiebesgeschichte, die wir sieben Jahre zuvor zu leben begonnen hatten? Warumsagte ich nicht, was mich an Dir fasziniert hat? Warum habe ich Dich als ein beklagenswertesGeschöpf dargestellt, »das niemanden kannte, kein Wort französisch sprach, sichohne mich zugrunde gerichtet hätte«, während Du doch Deinen Freundeskreishattest, einer Theatertruppe in Lausanne angehörtest und in England von einemMann erwartet wurdest, der Dich heiraten wollte?
Ich habedie gründliche Erforschung, die ich mir vornahm, als ich Der Verräter schrieb,nicht wirklich geleistet. Es bleiben noch viele Dinge, die ich verstehen,klären muss. Ich muss die Geschichte unserer Liebe rekonstruieren, um sie in ihremganzen Sinn zu erfassen. Denn sie hat es uns ermöglicht, zu werden, was wirsind, durch einander und für einander. Ich schreibe Dir, um zu verstehen, wasich erlebt habe, was wir zusammen erlebt haben.
UnsereGeschichte begann auf wunderbare Weise, fast wie ein coupde foudre - Liebe auf den ersten Blick. Am Tagunserer Begegnung warst Du von drei Männern umringt, die Dir das Pokerspiel beibringenwollten. Du hattest üppiges rotbraunes Haar, die perlmuttschimmerndeHaut und die hohe Stimme der Engländerinnen. Du warst frisch aus Englandgekommen, und jeder der drei Herren versuchte in rudimentärem Englisch, DeineAufmerksamkeit zu erregen. Du warst souverän, unübersetzbar witty,schön wie ein Traum. Als unsere Blicke einander begegnet sind, habe ichgedacht: »Bei ihr habe ich nicht die geringste Chance.«Später erfuhr ich, dass unser Gastgeber Dich vor mir gewarnt hatte: »He is an Austrian Jew.Totally devoid of interest.«
Einen Monatspäter bin ich Dir auf der Strasse begegnet und war wieder fasziniert von Deinemtänzerischen Gang. Dann habe ich Dich eines Abends durch Zufall von fernegesehen, als Du von Deiner Arbeit kamst und die Strasse hinuntergingst. Ich bingerannt, um Dich einzuholen. Du gingst schnell. Es hatte geschneit. DerNieselregen kräuselte Dein Haar. Ohne allzu sehr daran zu glauben, habe ich Dirvorgeschlagen, tanzen zu gehen. Du hast einfach ja gesagt, whynot. Es war der 23.Oktober 1947.
MeinEnglisch war ungeschickt, aber passabel. Es hatte sich dank zweieramerikanischer Romane angereichert, die ich gerade für den Verlag Marguerat übersetzt hatte. Im Laufe dieses ersten Beisammenseinshabe ich verstanden, dass Du viel gelesen hattest, während und nach dem Krieg: VirginiaWoolf, George Eliot, Tolstoi, Plato
Wir habenüber die britische Politik gesprochen, über die verschiedenen Strömungeninnerhalb der Labour Party. Auf Anhieb hast Du das Wesentliche vom Beiläufigenunterschieden. Angesichts eines komplexen Problems schien Dir die zu treffendeEntscheidung stets auf der Hand zu liegen. Du hattest ein unerschütterlichesVertrauen in die Richtigkeit Deiner Urteile. Woher nahmst Du diese Sicherheit?Dabei hattest doch auch Du entzweite Eltern gehabt; hattest sie, nacheinander,früh verlassen, hattest in den letzten Kriegsjahren allein gelebt mit DeinemKater Tabby, mit dem Du Deine Lebensmittelrationen teiltest.Schliesslich bist Du aus Deinem Land geflüchtet, um andere Welten zu erkunden.Was konnte Dich an einem mittellosen Austrian Jew interessieren?
Ichverstand es nicht. Ich wusste nicht, welche unsichtbaren Fäden sich zwischenuns entspannen. Du sprachst nicht gern über Deine Vergangenheit. Nach und nachsollte ich verstehen, welch grundlegende Erfahrung uns sogleich einander nahebrachte.
Wir habenuns wiedergesehen. Wir sind wieder tanzen gegangen.Zusammen haben wir Den Teufel im Leib mit Gérard Philipe gesehen. Darin gibt eseine Szene, in der die Heldin den Weinkellner bittet, die bereits angebrocheneFlasche auszutauschen, weil sie, wie sie behauptet, nach Korken rieche. Wirhaben diese Szene in einem Tanzlokal nachgespielt, und nach Überprüfung hat derKellner unsere Diagnose angefochten. Als wir darauf bestanden, hat er sichgefügt, uns jedoch gewarnt: »Betreten Sie dieses Lokal nie wieder!« Ich habe Deine Kaltblütigkeit und Deine Unverfrorenheitbewundert. Ich sagte mir: »Wir sind für einander geschaffen.«
Am Endeunseres dritten oder vierten Treffens habe ich Dich endlich geküsst.
© Rotpunktverlag
Übersetzung:Eva Moldenhauer
- Autor: André Gorz
- 2013, 7. Aufl., 100 Seiten, Masse: 12 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Eva Moldenhauer
- Verlag: Rotpunktverlag, Zürich
- ISBN-10: 3858693537
- ISBN-13: 9783858693532
- Erscheinungsdatum: 06.06.2013
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