Begegnungen
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Begegnungenvon Joachim Fest
LESEPROBE
«Ach!»:
Versuch über Wolf Jobst Siedler
Es hat michimmer wieder verblüfft, wie zwei Menschen vom gleichen Jahrgang in derselbenStadt aufwachsen und dennoch völlig unterschiedliche Erinnerungen haben können;wie die Erfahrungen des einen und des anderen dann aber doch einigermassen zusammenlaufenund ein zumindest ähnliches Lebensgefühl entstehen lassen.
Vielleichtbestand das Berlin unserer frühen Jahre tatsächlich, wie Wolf Jobst Siedlergern sagt, aus zwei Städten: aus dem Westen als der vornehmen Hälfte, die amApothekenflügel des Stadtschlosses endete, und wer einiges auf sich hielt, kamsein Leben lang über diese unsichtbare Grenze nicht hinaus; und aus dem Gebietjenseits von Schlossfreiheit und Alexanderplatz, das proletarisch war und ganzeStadtfluchten kannte, die durch sogenannte Kneipenkreuzungen markiert waren, woan den Schnittpunkten zweier Strassen vier Bierlokale lagen. Erst weiter hinaus,in den östlichen Randbezirken, wechselte das Bild. Die Quartiere wurden offenerund bürgerlich mit Buchsbäumen in den Vorgärten, Porzellanfiguren auf denVertikos und van Goghs Sonnenblumen an der Zimmerwand.
Der Westenwar Regierungssitz und grosse Welt, Kurfürstendamm und abgelegene Bars, vondenen nur mit gedämpfter Stimme die Rede war. Auch der mit den Eltern befreundeteBotschaftsrat Saverio Aprea, der an der Heerstrasse wohnte und uns Eintrittskartenfür die Oper und das Sechstagerennen verschaffte, gehörte in die geheimnisvollunruhige Lichterwelt auf der anderen Stadtseite. Was wir vom Westen kannten,waren das Marmorpalais und die Sakrower Kirche, wohin die Familie ein- oderzweimal im Sommer einen Ausflug unternahm, oder, etwas weiter entfernt, Paretzund Ribbeck, und mein Vater sagte: «Im Westen sieht es überall aus wie bei uns.Immer nur Gegend mit Wald und Wasser. Aber dann taucht hinter einer Landzungeein Tempelchen auf oder eine Brücke, und schon wird aus der Gegend, was wirnicht haben: eine Landschaft.»
Mitunterbeschäftigte uns, von meinem aufgeweckten älteren Bruder ins Gespräch gebracht,die Frage, worin sich die Menschen im Westen von uns unterschieden. Da meinBruder in der Neuen Kantstrasse zur Schule ging, gab er sich als Kenner aus underzählte, in den westlichen Stadtteilen sei alles ungeheuer elegant, die Kinosund die Konditoreien, es gebe Restaurants mit verhängten Fenstern, die feinenHerren trügen Spazierstöcke mit Silberknauf und legten noch im Bett das Monokelnicht ab. Sie lebten mit knallig angemalten Damen zwischen alten Möbeln undspreizten beim Tee den kleinen Finger ab. Die meisten seien Präsidenten von irgendwas,Geldleute oder Schauspieler und wechselten mindestens einmal am Tag das Hemd.Allen jedenfalls, meinte er, sei die Wichtigkeit am Gesicht abzulesen, sofernman den Blick dafür habe. Ein paar Mal, als er sich in einem dunklen Hausflurin der fast kleinstädtisch wirkenden Friedrichstrasse ein Stück vorgewagt habe,sei ihm klar geworden, dass auch die Herren mit den wichtigen Mienen und denSpazierstöcken nur ganz gewöhnliche Leute seien. Er verriet aber nicht, was erdamit meinte.
Jahre spätererst, nach dem Weggang aus Berlin und als die Stadt der Kindertage längstverbrannt war, habe ich einen der rätselhaften Bewohner von der anderenStadtseite kennengelernt. Wolf Jobst Siedler verkörperte sozusagen den «tiefenWesten», wie wir mit leicht ironischem Unterton gesagt hatten, und er förderte,genauer besehen, den Eindruck noch durch manche kleinen Nachhilfen. Er wohnteim Haus seiner Eltern, besass urbane Formen, Neugier sowie schnellen Witz undauch sonst viel «Weststädtisches», was der Jungenscharfsinn meines Bruders nochnicht hatte wahrnehmen oder ausdrücken können. Aber warum ich mich seit Beginnunserer langjährigen Freundschaft, sooft wir zu einem Gang um den Grunewaldseeoder sonstwohin aufbrachen, über seinen Spazierstock mit dem Silberknaufbelustigte, hat er bis jetzt nicht erfahren.
Mitte derfünfziger Jahre brachte uns ein gemeinsamer Bekannter bei «Ricci» am LehninerPlatz zusammen. Siedler war kurz zuvor Feuilletonchef des «Tagesspiegel»geworden. Wir sprachen über den Ungarnaufstand, der soeben zu Ende gegangenwar, und über das erschütternde Interview, das Imre Nagy Stunden zuvor gegebenhatte. Auffallend war, mit wie vielen grossen Namen Siedler aufwarten konnte,als wir die journalistischen Vorhaben der kommenden Tage erörterten. Wir beimRIAS hatten nicht viel mehr als eine Gesprächszusage von Georg Solti inFrankfurt sowie von einigen Flüchtlingen aus Budapest zustandegebracht, währendSiedler telefonisch in der ganzen Welt unterwegs gewesen war.
Überausanschaulich und mit geistreich plazierten Spitzen berichtete Siedler, wie erArthur Koestler, Nicolas Nabokov und ungezählte andere vor einigen Jahren, alsSekretär des Kongresses für kulturelle Freiheit, kennengelernt hatte undseither eine Art kollegialer Bruderschaft mit ihnen unterhalte. Nach mehrerenvergeblichen, von den tragödienhaften Ereignissen in Ungarn immer wiedergehinderten Anläufen brachte er die Rede auf seine Wohnung, für die er soebeneine Empire-Kommode erworben hatte, und kam anschliessend auf den Werner Heldtin seinem Besitz: eine der auch aus anderen Gemälden Heldts bekanntenStadtlandschaften, diesmal aber mit einem gewaltigen, ohne jede Effektabsicht,doch gerade deshalb überwältigend eindrucksvoll in den Bildvordergrund gesetztenTotenschädel: eine Art Memento mori für das zugrunde gerichtete, ausgepowerteBerlin, wie wir fanden, und sicherlich eines der ergreifendsten Werke imOeuvre des noch immer unterschätzten Künstlers.
Seltsamerweisebrach die Verbindung mit Siedler nach dem ersten Zusammentreffen wieder ab,und in den folgenden Jahren sind wir uns nur hier und da durch Zufall begegnet,einmal wohl bei Wolfgang Staudte, dann und wann im Schillertheater oder bei unseremRahmenhändler in der Eisenacher Strasse. Doch ein paar Jahre später, als aus derBekanntschaft eine Freundschaft zu werden begann, fanden wir heraus, dass jederdie Wortmeldungen des anderen verfolgt und in dessen Vorzugsthemen wie indessen Denkbewegungen manche verwandte Spur ausfindig gemacht hatte. Die deutscheGeschichte bis hin zum friderizianischen Preussen war ein gemeinsames Interesse,desgleichen Schinkel und das klassizistische Berlin, mit dem der von Rom oderLondon aus entlegene Osten Deutschlands den Anschluss an die Weltkulturbefestigt hatte. Sodann gehörten Thomas Mann und Gottfried Benn dazu, fernerdas Italien der Renaissance mit Macchiavelli, Bernini und den Medici als«Heimat von uns allen» sowie die skulpturale Kunst und vieles mehr. Kein Endeeigentlich.
Natürlichgab es auch Fremdpunkte des Interesses, die aber mit Beginn der FreundschaftAustauschthemen wurden. Siedlers Vorliebe für die englische Lyrik gehörtedazu, für Friedrich Meinecke, Auerbachs «Mimesis» und die Anstösse, die von dengemeinsamen Abenden mit dem Historiker Walter Bussmann kamen. Mit Stefan Georgeund mehr noch mit einigen aus seiner immer etwas gereckt daherkommendenApostelschar hatte ich etliche Mühe, und geradezu abgelegen schien mirSiedlers Vorliebe für die schwerblütigen deutschen Untergangsrhapsoden mit dem«strengen Konzertmeister Spengler am ersten Pult», wie ich spottete, wenn ichvon Siedlers «Dauerromanze mit dem Apokalyptischen» sprach.
© 2004 by Rowohlt Verlag GmbH
Interview mit Joachim Fest
In Ihrem neuen Buchporträtieren Sie so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Hannah Ahrendt und Rudolf Augstein. In welcher dieserBegegnungen" haben Sie am meisten über sich und Ihren Charakter erfahren?
Über mich selbsthabe ich natürlich durch alle Begegnungen etwas erfahren. Wenn man mitintelligenten Menschen befreundet ist, die auch einen gewissen psychologischenBlick haben, lernt man immer etwas über die anderen und im Austausch dann auch übersich selbst. Es ist geschrieben worden, ich sein von diesen Personen, die ichporträtiert habe, geprägt worden. Das ist falsch. Ulrike Meinhof hat michwirklich nicht geprägt. Und auch die anderen kaum. Es haben aber immerAkzentverschiebungen stattgefunden, Erweiterungen des Gesichtskreises oder derWahrnehmung. Aber dass Sie mich geprägt haben, oder dass ich ihnen einen Teildessen, was ich bin, zu verdanken habe, glaube ich weniger. Ich verdanke ihnensehr viel, aber nicht immer nur Dinge, die mich bestätigt oder weitergebrachthaben, sondern manchmal auch Dinge, die mich zurückgeworfen haben. Auch dasgehört zu Freundschaften.
Sie schreiben, dassalle dieser nahen und fernen Freunde" Ihr Denken beeinflussten. In welcherHinsicht trifft dies auf Ulrike Meinhof zu?
Uns verband dasgegenseitige Vergnügen am Streit. Ich habe sie in unseren Gesprächen vielnachdenklicher kennen gelernt, als sie in diesen - wie ich fand - schrecklichenArtikeln in Konkret" wirkte. Diese klangen immer extrem und überdreht. Ichfragte sie dann, wie sie über ein Thema derartige Artikel schreiben könne, überdas wir eine Woche zuvor noch diskutiert hatten. Eine Diskussion, in der sieaufgrund meiner Einwände zu der Ansicht gekommen war, dass sie sich dazu selbsterst weitere Gedanken machen müsse, bevor sie darüber schreiben könne. Dennochschrieb sie ihre Anschauung nieder - noch radikaler und unüberlegter, als siesie mir gegenüber zuvor vertreten hatte. Wenn ich sie darauf ansprach,verteidigte sie ihre veröffentlichten Thesen. Wir haben nie wirklich zueinandergefunden. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich den deutlichen Eindruck, dassein gewisser resignativer Zug an ihr zu bemerken war.Es gab für sie in diesem Augenblick eigentlich nur die Möglichkeit, das Ganzehinzuwerfen oder in die Gewalt auszuweichen. Beim Abschied machte ich eineAnspielung darauf, doch sie entgegnete mir: Machen Sie sich keine Gedanken,ich bin nicht der Aktions-Typ. Ich bin niemand, der mit Bomben wirft." Sie hates dann doch getan, oder war zumindest in irgendeiner Form daran beteiligt - esist ja nur eine Metapher. Und sie tat dies in einer viel engagierterenWeise, als ich es ihr zugetraut hätte. Nachdem sie zu Baader übergelaufen war,habe ich sie nie wieder gesehen.
In Der Untergang"zitieren Sie Claus Schenk von Stauffenberg, den Attentäter vom 20. Juli 1944:Hitler im Bunker - das ist der wahre Hitler!" Welche Charakterzüge Hitlerstraten hier besonders hervor? Und hat Sie etwas an Hitlers Verhalten währendseiner letzten Tage besonders überrascht?
Nein. Wenn man einsolches Buch geschrieben hat, wie ich es getan habe - ein Werk mit 1.200 Seiten- dann gibt es wirklich wenig, was einen in dieser Hinsicht überraschen könnte.Aber Hitlers Zerstörungsmanie und sein Rachebedürfnis an der Welt kommt indieser speziellen Situation doch sehr konzentriert zum Vorschein. Auch seinTalent als Regisseur" wird noch einmal deutlich, denn zum Teil inszenierte erden Untergang ja richtig. Viele Opfer wären nicht nötig gewesen, wenn Hitlerdas Ganze nicht zu einem grossen, schauerlichen Schaustück hätte werden lassen.Zehntausende mussten aus diesem unsinnigsten aller Gründe ihr Leben lassen.Dieses Zitat ist insofern ein äusserst kluges und vorausschauendes Wort vonStauffenbergs gewesen.
Goebbels hat nocham 17. April 1945 seine Mitarbeiter aufgefordert, durchzuhalten und Haltung zubewahren, damit sie in dem schönen Farbfilm über die schrecklichen Tage", dendie Nachwelt ihnen widmen werde, eine gute Figur machen. Welche Konsequenzenergeben sich für Filmschaffende, aber auch für Historiker aus dem Wissen, dassdie Nazis ihre Selbstinszenierung bis zuletzt als Machtinstrument einsetzten?
Man muss, wenn mandarüber schreibt oder einen Film macht, natürlich beachten, dass sich ausdieser Tatsache, aus diesen Zielen der Nazis eine weitere Perspektive ergibt.Aber eigentlich ändert das an der Grauenhaftigkeit der Sachverhalte nichts.Alles bleibt trotzdem so schrecklich, wie es tatsächlich war - ob die Nazis dasinszenieren wollten oder nicht. Ich kann darin kaum einen Unterschied sehen.Dieser ergibt sich höchstens in Bezug auf die Intentionen und den Charakter derNazis. Aber für das, was wirklich passierte, für all die Menschen, die gelittenhaben und sterben mussten, macht das keinen Unterschied.
Kürzlich sagten Siein einem Interview: Das Faktum Hitler ist anthropologisch." Bedeutet diesnicht, dass eine solche Barbarei - ein ähnliches historisches Klimavorausgesetzt - jederzeit wiederkehren kann?
Ja, natürlich, dasist meine Überzeugung. Das wird nicht Hitler sein, er wird ganz sicher nichtmit Schnurrbart und in brauner Uniform auftreten. Aber dass das Böse existiert,das er in so auffälliger Weise sichtbar gemacht hat, das ist für mich unstreitig.Es gibt das Böse, man muss damit rechnen. Dies ist das nicht angenommeneVermächtnis Hitlers. Unsere Verfassung, unsere Gerichte, unsere Schulen - woauch immer man hinsieht: Nirgendwo wird berücksichtigt, dass es das Böse gibt.Alle gehen davon aus, dass es ausreicht, die Menschen richtig zu erziehen undihnen passable soziale Umstände zu gewähren. Aufgrund dieses falschenMenschenbildes kommt es beispielsweise dazu, dass viele als Freigänger dasGefängnis tageweise oder am Wochenende verlassen können. Die Tochter einesguten Bekannten ist von einem solchen Freigänger ermordet worden. Er war wegenVergewaltigung einer Frau verurteilt worden. Nach einiger Zeit bekam er durchein sehr verständnisvolles Gutachten, das Spannungen in der Familie, das Unverständnisder Eltern und all diese sentimentalen Aspekte berücksichtigte, die Möglichkeitzu einem Freigang und nutzte die Gelegenheit sofort, dieses Mädchenumzubringen.
Ihre Texteverbinden historisches Fachwissen mit einer klaren, reifen Sprache. An welchenAutoren haben Sie Ihren Stil geschult? Wen würden Sie als Schreibender alsVorbild bezeichnen?
Man wird von sovielen Sachen beeinflusst. Nach der Karl-May-Phase, die auch ich hatte undderen Einfluss sich eher in Grenzen hielt, war für mich mit etwa vierzehnJahren Jakob Burckhardt das erste grosse Leseerlebnis. Wahrscheinlich war esnicht nur das Thema, das mich reizte - die italienische Renaissance -, sondernauch der Stil, in dem er schrieb. Ich habe in dieser Zeit auch viele Sachbüchergelesen, von denen ich einige vergessen habe, weil sie vielleicht nicht so gutgeschrieben waren wie die Bücher von Jakob Burckhardt. Einige Zeit später lasich von ihm Der Cicerone". Während des Krieges konnte ich dann natürlich nursehr wenig lesen. Als ich zurückkehrte, widmete ich mich Thomas Mann, WilliamFaulkner, Ernest Hemingway. Das alles hat mich sehr beeindruckt. Wirklich beeinflussthat mich am ehesten Thomas Mann, wobei ich von ihm damals nur die Romane undErzählungen kannte. Er war Romanautor - ich dagegen bin Essayist. Ein andererAutor hat sehr grossen Einfluss auf mich ausgeübt, und als Essayist bewundereich ihn bis heute: den Schweizer Herbert Lüthy. Ichdenke, er ist einer der besten politischen Journalisten und Essayisten, die wirje in deutscher Sprache hatten und der heute leider - völlig zu Unrecht - ganzund gar vergessen ist. Von ihm stammt beispielsweise auch die mit Abstandpoetischste, schönste und auch urbanste Übersetzung der Essais" von Michel deMontaigne. Den wunderbaren Essay, den Lüthy alsEinleitung für dieses Buch schrieb, würde ich als eines seiner Meisterwerkebezeichnen. Schon als 20-Jähriger dachte ich immer, dass er mein Massstab seinwürde, sollte ich je politische Essays schreiben. Ich hatte auch das Glück, ihnpersönlich kennen zu lernen, und wir hatten in vieler Hinsicht immer das Gefühleiner grossen Übereinstimmung.
Die Fragen stellte Roland Grosse Holtforth,literaturtest.de.
- Autor: Joachim C. Fest
- 2006, 384 Seiten, 15 Schwarz-Weiss-Abbildungen, mit Abbildungen, Masse: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499620820
- ISBN-13: 9783499620829
- Erscheinungsdatum: 15.12.2005
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