Asja
Roman
Asja ist die Tochter des Prinzen Galizin und Krankenschwester in einem Lazarett. Dort lernt sie den jungen Offizier Sergej kennen und verliebt sich in ihn. Doch nach nur einer Nacht werden die beiden getrennt. Für Asja beginnt damit eine lebenslange...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Asja “
Asja ist die Tochter des Prinzen Galizin und Krankenschwester in einem Lazarett. Dort lernt sie den jungen Offizier Sergej kennen und verliebt sich in ihn. Doch nach nur einer Nacht werden die beiden getrennt. Für Asja beginnt damit eine lebenslange Suche nach ihrer großen und einzigen Liebe.
Klappentext zu „Asja “
Als Krankenschwester lernt die sechzehnjährige Asja, Tochter des Prinzen Galizin, im Lazarett den jungen Offizier Sergej kennen. Die Wirren der Oktoberrevolution trennen die beiden nach nur einer gemeinsamen Nacht. Es beginnt Asjas lebenslange Suche nach ihrer ersten und einzigen Liebe.
Lese-Probe zu „Asja “
Asja von Michael Ignatieff... mehr
Sie zog Mantel und Stiefel an, schloß die Küchentür und glitt hinaus, bevor jemand ihr Verschwinden bemerkte. Ihr Atem strömte durch den dicken Schal und stieg in die Birkenäste über ihr. Von den Eiszapfen an der Dachrinne rieselten stete Tropfen in die hohen Schneewälle zu beiden Seiten des Wegs; Schneeklumpen rutschten von den Tannenzweigen und sanken mit einem Zischen zu Boden; die höchsten Äste der Birken ächzten und knackten im Wind. Sie hüpfte die hundertundsechs hölzernen Stufen zum Bootshaus hinunter und sang dabei vor sich hin.
Im Bootshaus fielen Scheiben wintrigen Lichts durch die Ritzen in den Bretterwänden und zerlegten ihren Körper in helle und dunkle Streifen. An den Sparren über ihr glänzten die Skullboote, und die an Doppeltauen über ihrem Liegeplatz hängende Motorbarkasse schaukelte mit einem trokkenen, knarrenden Geräusch sachte hin und her.
Sie kletterte die Bootshausleiter hinunter und prüfte das Eis mit ihrem Stiefel. Dann stieß sie die großen Holztüren auf und trat in das grelle Licht des silbernen Stroms. In der Ferne konnte sie gerade noch den dünnen Strich des jenseitigen Ufers erkennen. Vater war einmal auf Schneeschuhen über den Fluß gegangen. Das würde sie auch tun. Sie würde alle in Erstaunen versetzen. Sie lutschte an ihrem Fausthandschuh und ging weiter.
Sie blickte zum Haus zurück, wo sie Lapin und Nanny Saunders mit dem Spiel »Schlangen und Leitern« allein gelassen hatte, doch Marino war im Nebel verschwunden. Immer wenn sie aufhörte, ihre Stiefel durch das matschige Eis zu schieben, hörte sie unter ihren Füßen den Fluß brausen. Bald würde das Eis sich heben und bersten, und ein Stöhnen würde die Luft erfüllen, als ob die ganze Erde Schmerzen habe. Dann würde der Fluß seine Decke abwerfen, die schartigen Brocken würden verrutschen und schließlich an der Anlegestelle vorbeischaukeln. Sie hatte es gern, wenn die gefrorene Welt in Bewegung geriet, wenn der Strom des Lebens den Fluß wieder für sich zurückforderte. Marino würde aus seinem Schlaf erwachen. Der Bootsmann würde Vaters englisches Skullboot schmirgeln, den Rumpf der Motorbarkasse firnissen und die Dollen des Ruderboots einfetten. Sobald das Wasser eisfrei wäre, würde Vater vom Bootshaus aus nackt hineinspringen, beim Auftauchen einen lauten Schrei ausstoßen und sich die Haare aus den Augen schütteln.
Sie platschte durch den Matsch und dachte an den Frühling. Als sie die Flußmitte erreicht hatte, war sie vom Nebel eingehüllt. Das Bootshaus hinter ihr war weg, und die lange verschlierte Spur ihrer mit Wasser gefüllten Schritte verlor sich im Nichts. Der Bleistiftstrich des gegenüberliegenden Ufers war verschwunden. Sie blieb stehen und horchte. Ein leises Geräusch. Eine Sichel, die über einen Schleifstein gezogen wurde. Eine Klinge, die an etwas Hartem geschärft wurde. Sie drehte sich um, lutschte an ihrem Handschuh, versuchte herauszufinden, von wo das Geräusch kam. Sichelnde Klingen, zischende Klingen, immer näher. Wo hatte sie dieses Geräusch schon einmal gehört? Dann wußte sie es. Was da draußen im Nebel auf sie zukam, war ein Schlittschuhläufer. Niemand, den sie kannte. Die waren alle im Haus. Jetzt konnte sie seinen Atem hören, seinen kraftvoll arbeitenden Körper, die Klingen, mit denen er dem Fluß die Haut zerschnitt. Reglos erwartete sie ihn, furchtlos und allein. Der Nebelschleier riß, die riesige weiße Gestalt sauste an ihr vorüber, und das Eis unter ihr gab nach. Sie versank in einem dunklen Wasserloch und klammerte sich an den gezackten Rand, während der Strom sie packte und ihr die Stiefel von den Füßen zog. Der Fluß brauste in ihren Ohren, flüssige Wärme - wie in der Badewanne - stieg durch ihren Körper, und sie ließ sich fortreißen.
Dann Gesichter, die über sie gebeugt waren, Hände, die sich an ihr zu schaffen machten, verzweifelt ihre Gliedmaßen rieben und sich die Tränen aus den Gesichtern wischten, und die sahen so trostlos aus, daß sie fragen wollte, was denn passiert sei, doch konnte sie nicht sprechen, sondern nur aus dem warmen Wassernest, in dem sie versunken war, zu ihnen hinaufstarren. Fest eingewickelt, wie in Windeln, wurde sie emporgehoben und hinaufgetragen. Aus ihren Armen starrte sie in die schwarzen nackten Zweige von Bäumen, die vom rosa Himmel der Dämmerung beleuchtet waren. Unter und hinter sich hörte sie das gleichmäßige Knirschen von Stiefeln im Schnee und das Weinen einer Frau. Sie konnte weder den Kopf bewegen noch erkennen, wohin sie gebracht wurde, aber sie wußte, daß sie die andere Seite erreicht hatte, den Ort, von wo der Frühling kam, den Ort, an den der Fluß sie führen wollte.
Sie schlug die Augen auf und sah, daß Praskowja ihr mit einem Tuch das Gesicht befeuchtete. Wie viel besser war es in dem warmen Wassernest gewesen. Wie viel besser war es draußen auf dem Fluß gewesen. Wie schön sie ihre Tränen auf der anderen Seite gefunden hatte, als sie nur dort liegen und sie strömen sehen konnte. Wie schmerzlich waren sie jetzt, da man die Hand ausstrecken und sie Praskowja aus dem Gesicht wischen konnte.
»Mein Kind! Du bist von den Toten zurückgekehrt! Der Herr sei gepriesen.«
Was redete sie da vom Tod? Auf dem Fluß gab es keinen Tod, nur Wärme, die ihren Körper durchflutet hatte, und die Gewißheit, eine große Vision gesehen zu haben.
»Was ist nur in dich gefahren, mein Liebstes?« Die Stimme ihrer Mutter, ganz nah, zärtlich und besorgt.
Die Augen fest geschlossen, hörte Asja sich mit schriller Stimme sagen: »Ich habe einen Schlittschuhläufer gesehen. Einen großen Mann. Da draußen. Auf dem Eis.«
Sie blickte auf. Da standen sie alle um ihr Bett gedrängt: Vater, Mutter, ihr Bruder Lapin, Praskowja, doch konnte sie ihren Mienen anmerken, daß keiner von ihnen gesehen oder gehört hatte, was sie gesehen und gehört hatte. Bis ans Ende ihres Lebens behielt sie diesen Augenblick im Gedächtnis: als sie den Abgrund des Nichtwissens entdeckte, der sie von denen trennte, die sie liebte.
Sie sah sich um. Wo war Nanny Saunders?
Ihr Vater legte seine Hand auf ihre.
»Der Stallbursche begleitet sie zum Bahnhof.«
»Aber warum?«
»Ihr wurde gekündigt, weil sie dich aus den Augen gelassen hat.«
Den weiten Weg zurück nach England? Mitten im Winter? Sie konnte sich das schwarze Kabriolett vorstellen, wie es durch den dunklen Wald zockelte, mit Nanny Saunders und ihren Schachteln auf dem Rücksitz.
»Nicht weinen, Kind, nicht weinen.«
Aber diese aus Kummer und Zorn gemischten Tränen ließen sich nicht aufhalten. Viel später, als sie das Leben kennengelernt hatte, erinnerte sie sich an diesen Augenblick als den, in dem ihr aufging, daß es Ungerechtigkeit gab und daß ein Vater dafür verantwortlich sein konnte.
»Es war nicht Nannys Schuld. Du hast mir erzählt, daß du den Fluß überquert hast. Es war nicht ihre Schuld! Ruf sie zurück!« Dr. Feldman versuchte ihren Kopf auf das Kissen zurückzudrücken. »Laß das, Kind, laß das ...«
»Ich kann sie nicht zurückrufen. Ich habe mich entschieden«, sagte Vater mit jenem vernünftigen Tonfall, der, wie sie wußte, einen stärkeren Willen als den ihren artikulierte.
»Aber du hast mir erzählt, daß du mit Schlittschuhen über den Fluß gefahren bist.«
»Habe ich das, Kind?« Sein langes Gesicht mit dem sauber gestutzten Bart war dicht über ihrem, es roch nach Wintergrünöl. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er das vergessen hatte, daß er die Worte, die er an sie richtete, so leicht nahm. Sie drehte sich von ihrem Vater weg und brach in Tränen aus.
Nach einer Woche war sie außer Gefahr, und nach einem Monat konnte sie ihre Beine wieder gebrauchen. Aus England kam eine neue Nanny, Mrs. Moorehead, eine abscheuliche und übereifrige Frau, die sie überwachen sollte, auf daß sich das furchtbare, das ersehnte Abenteuer nie wieder zutrage. Doch Nanny Moorehead hielt sich nicht lange. Dafür sorgte sie.
Sie wußte, daß ihr Abenteuer sie zu etwas Besonderem gemacht hatte. Jedermann betrachtete sie mit respektvollem Staunen. Die Nachbarn, die Tatitschews und Dolgorukis, kamen eilig in ihren Schlitten vorgefahren, um sich die Geschichte erzählen zu lassen. Die Dienstboten verbreiteten die Nachricht, so daß sich am nächsten Sonntag vor der Familienkapelle die Frauen des Dorfs um die Tochter der Herrschaft drängten - erst fünf Jahre alt, man stelle sich vor! -, die ganz allein mitten auf den Fluß hinausgegangen war. Im niedrigen Schankraum der nahegelegenen Postkutschenstation erzählte Anton Nikolajewitsch, der Bootsmann von Marino, jedem Reisenden, wie er in seinen Schneeschuhen auf das Eis hinausgestürzt sei und ihr gerade noch rechtzeitig das Seil um die Hüfte geworfen habe. Auf diese Weise verbreitete sich die Geschichte im ganzen Distrikt, so daß sich Prinz Wladimir Adamowitsch Galizin, Adelsmarschall der Provinz, bei seinem nächsten Besuch in Smolensk auf einem Empfang zu Ehren des neuen Provinzgouverneurs als Vater jenes kleinen Mädchens vorstellen konnte, das den Versuch unternommen hatte, die zugefrorene Wasusa zu überqueren.
Sie selbst hörte schweigend zu, wenn die Geschichte immer wieder erzählt wurde, wobei sie das Gefühl hatte, daß sie von jedermann in seinem eigenen Interesse verwendet wurde, nur nicht in ihrem. Praskowja verwendete sie, um zu beweisen, daß man einem englischen Kindermädchen niemals trauen könne; Anton Nikolajewitsch, um zu zeigen, wie mutig er gewesen sei; und ihr Vater, um zu demonstrieren, was für eine eigenwillige und unerschrockene Tochter er habe. In den Augen des kleinen Mädchens selbst gingen alle diese Versionen am Kern der Geschichte vorbei. Als sie älter wurde, prägte sich eine schwache Erinnerung ins strahlende Licht einer glänzenden Vision. Mit elf Jahren erzählte sie ihrem Bruder eines Abends im Kinderzimmer, was sie an jenem Winternachmittag auf dem Eis wirklich gesehen hatte.
»Er war ganz weiß, doppelt so groß wie Vater, und er hatte so einen Lederhelm an, wie Automobilfahrer sie tragen. Dazu ein gewaltiges Sausen, das den ganzen Himmel füllte.«
Bruder Lapin, der auf dem Bauch liegend die Kupfertiefdrucke in Larchs Illustrierten Pilzen studierte, blickte nicht einmal auf. »Ach«, sagte er mit seiner trockenen, präzisen Stimme, »Gott trägt also Schlittschuhe?«
Sie errötete vor Scham und sprach niemals mehr von dem, was sie gesehen hatte. Doch hielt sie an dieser Erinnerung so fest, wie ein Kind eine Murmel in der Faust behält. Denn damit hatte sich zum erstenmal der Schleier der Kindheit gehoben, es war der erste Augenblick, den sie mit einer Erinnerung an sich selbst, an Marino und an ihre Eltern verband. Alles davor, der ganze unscharfe Film der frühesten Kindheit, war aus der Kamera gerissen und durch jenen blendenden Gang übers Eis dem grellen Licht des Vergessens ausgesetzt worden. Diese frühesten Erinnerungen waren verloren, und in ihrem Inneren existierte ein dunkler Ort, von dem sie wußte, daß er nie ans Licht ihres suchenden Geistes gelangen würde. Der Schock des Flusses hatte etwas in ihr eingefroren, und in der vor ihr liegenden Zukunft würde es Situationen geben, in denen ihre Handlungen aus einer dunklen und unergründlichen Region in ihrem Inneren hervorgehen würden. Das war der Preis, den sie für die Überquerung des Flusses bezahlt hatte. Gewonnen hatte sie Furchtlosigkeit. Ein abgewandtes und zurückgezogenes Frauenleben kam für sie nicht in Frage. Der Unfall hatte ihr Dispens erteilt. Sie wußte, daß sie eine Vision gehabt hatte, daß sie verschont worden war und daß sie von nun an frei war. Ihr ganzes Leben lang nannten die Leute sie furchtlos, obwohl sie in Wahrheit genausoviel Furcht empfand wie alle anderen. Nur war ihr auch im harten Griff der Furcht genau bewußt, daß sie sie loslassen würde, so wie es der Fluß getan hatte. Menschen, die furchtlos erscheinen, wirken oftmals kalt. Sie widersprach nie, wenn man sie in ihrem späteren Leben als kalt bezeichnete. Denn sie wußte, und irgendein innerer Winkel ihres Körpers vergaß das nie, wie kalt der reißende Strom gewesen war.
Ihre Eltern behandelten sie mit Ehrfurcht, wie eine Botin, die aus einem unbesuchbaren Land zurückgekehrt war. Die merkwürdige Kühnheit ihres Kindes und seine geheimnisvolle Errettung vor dem Schicksal verleitete die beiden- vergeblich -, nach irgendeiner Spur zu suchen, die ihnen ihr Wesen erklären könnte. Aber - und dies wurde ihr klar, sobald sie die Porträts der Vorfahren an den Wänden Marinos bewußt wahrnahm - sie stammte offenbar von keinem dieser Leute ab. Ihre Mutter, eine geborene Urusow, war schüchtern, fromm und praktisch veranlagt, sie selbst dagegen ausgelassen, gottlos und weltfremd. Freilich hatte sie den großen schlanken Wuchs und das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt. »Ihr seht aus wie ein schönes Paar Barsoihunde«, pflegte Vater auf seine scherzende Art von ihnen zu sagen, womit er meinte, daß sie zierlich gebaut und fein gezeichnet waren, mit langen harmonischen Gliedmaßen. Dem jedoch standen andere Merkmale entgegen, die sich auf keines der Bilder im Familienalbum zurückführen ließen. Sie hatte lokkiges schwarzes Haar, eine blaßweiße Haut und glänzend schwarze Wimpern. Vater erklärte, das Schönste an ihr seien das feste kräftige Kinn, welches auf Entschlossenheit und Charakter hinweise, die breite flaumige Oberlippe und ihre mottengrauen Augen. Aber noch einmal: woher kamen diese Merkmale? »Wäre ich nicht vollkommen vom Gegenteil überzeugt«, sagte ihr Vater häufig zu sich selbst, »würde ich denken, sie ist überhaupt nicht mein Kind.«
Sie war zart und zierlich anzusehen - ein Mädchen, von dem man sich vorstellte, daß es feine Brüsseler Spitzen trug und der Mutter beim Arrangieren der Blumen half -, doch ihre Zierlichkeit war trügerisch. Vom Temperament her schlug sie eher ihrem Vater nach. Sie hielt die Stämme fest, wenn er unter Aufsicht des Holzfällers im Wald mit der Ablängsäge arbeitete. Ihr Vater brachte ihr bei, von einer Weide am Flußufer eine Rute zu schneiden und damit zu angeln, und als sie die Araberstute reiten lernte, hielt er selbst das Leitseil. Ihr stolzester Besitz im Alter von acht Jahren war weder eine Puppe noch ein schönes Paar Lackschuhe, sondern ein Taschenmesser aus dem Französischen Laden in Moskau. Wenn Praskowja sie abends in der Wanne badete, zeigte sie oft auf die schmutzverklebten Knie des Kindes und rief: »Du bist eine richtige Wilde. Es gehört sich nicht für eine Dame, auf Bäume zu klettern und mit dem Küchenpersonal im Garten zu graben.«
»Ich bin keine Dame«, erwiderte sie.
Indessen - da ihr Aussehen nicht auf die restriktiven genealogischen Merkmale im Familienalbum zurückzuführen war - glaubte sie aufgrund der Mythologie, die sie sich im Lauf ihres Lebens von sich selber schuf, daß sie frei von Familienbanden sei. Wenn unabänderliche Verluste eintraten, wenn jedermann sie zu trösten versuchte, bestand sie darauf, daß sie diese Dinge überhaupt nie wirklich besessen habe oder von ihnen besessen worden sei.
Geboren wurde sie auf Marino am 19. Dezember 1899, nach dem Julianischen Kalender, im oberen Schlafzimmer mit dem Bullaugenfenster. Praskowja Iwanowna und der Familienarzt Dr. Feldman waren dabei, während der Hausherr ein Stockwerk tiefer auf dem Tanzboden auf und ab schritt, eine Balkan-Sobranje nach der anderen rauchte und auf Anweisung seiner Frau in den Klageliedern Jeremiae las. Sie wurde in das Taufbecken in der zu Marino gehörenden Familienkapelle getaucht und auf den Namen Anastasia Wladimirowna getauft. Doch wurde dieser Name nur vor Besuchern benutzt. »Meine Tochter Anastasia«, pflegte ihr Vater zu sagen und seine große Hand auf ihren Kopf zu legen, und während sie dann den obligatorischen Knicks machte, hatte sie das Gefühl, als ob er nicht seine eigene Tochter, sondern eine vollkommen Fremde vorstellen würde. Ihr richtiger Name war Asja, unter diesem Diminutiv kannten sie alle.
Als sie elf Jahre alt war, erzählte ihr ein kluger Junge, den sie am Strand in Biarritz kennenlernte, daß der westliche oder Gregorianische Kalender dem Julianischen um dreizehn Tage vorauslaufe. Die beiden rechneten aus, daß sie am r. Januar 190o geboren worden war. Sie lief ins Hotel zurück und verkündete, daß sie ihren Geburtstag künftig an diesem Datum zu feiern wünsche. Von allen Leuten, die sie kannte, war sie die einzige, die mit dem Jahrhundert geboren war, und da sie zu seinem Beginn verschont geblieben war, kam sie zu der Überzeugung, daß sie auch sein Ende erleben werde. Sie brauchte lange Zeit und manche schwere Erfahrung, ehe sie die kindliche Überzeugung von ihrer Unsterblichkeit ablegte.
Ihr engster Gefährte war ihr Bruder, ein strohblonder Junge mit einem verwirrten Gesichtsausdruck, dem er seinen Spitznamen verdankte. Sein Taufname war Alexander, aber man kannte ihn nur als Lapin. Seine Mutter sprach das Wort französisch aus, sein Vater dagegen russisch, mit Betonung auf der ersten Silbe und einem eher harten als weichen »n« am Ende. Englischen Freunden erklärte der Vater, der Name werde »Lapin, wie in Mappin and Webb« ausgesprochen.
Brüder und Schwestern sollten einander verstehen, dachte sie. Aber sie konnte Lapin nie verstehen. Denn er war zum Verrücktwerden anders. Tagsüber im Unterricht waren seine Buchstaben dünn und pedantisch, ihre dick und voller Tintenkleckse. Abends im Kinderzimmer legte er seine Kleider gefaltet auf den Stuhl, wogegen sie die ihren auf dem Boden verstreut liegenließ. Während sie Vater und den Holzfäller allmorgendlich auf die Waldlichtung begleitete, folgte Lapin der Mutter in die Gewächshäuser, mit einem Blumentopf in der Hand, um die abgestorbenen Blätter aufzusammeln, die sie von den Pfirsichbäumen schnitt. Wenn Asja und Lapin im tiefen Schatten der Kiefern gemeinsam Pilze suchen gingen, vermochte er deren hervortretende Formen zu erkennen, während sie lediglich einen flachen Teppich aus hellbraunen Kiefernnadeln wahrnahm. »Pst!« sagte er dann; seine Augen suchten durch die Brille den Boden ab, und sie folgte ihm.
»Warum muß ich still sein? Ich verscheuche die Pilze doch nicht.«
»Psst. Ich kann mich nicht konzentrieren.« Wenn er über seinen Briefmarkenalben oder dem Baukasten saß, war er ganz konzentriert und angespannt, während ihre Blicke rastlos über alles hinflogen. Als er einmal im grellen Schein der Kinderzimmerlampe über seinen Briefmarkenalben brütete, stand sie auf, zog ihr Nachthemd aus und wirbelte auf Zehenspitzen völlig nackt ganz dicht hinter ihm herum, aber er bemerkte nichts davon. In dieser Nacht zog sie ihm, als er fest eingeschlafen war, die Bettdecke zurück und sah zu ihrer Verwunderung seinen Penis starr aus dem Schlitz seiner Pyjamahose ragen, wie eine Spargelspitze, die sich aus der Erde des Küchengartens bohrt. Sie berührte ihn: ein fester, elastischer Schößling, ein großes Geheimnis.
Von den ersten Herbstschauern bis zum letzten Schneesturm des Winters wohnten sie in Moskau hinter dem Kreml in der Nikolajewskij-Straße. Zu Beginn jeden Frühjahrs wurden Dienstboten und große Mengen Gepäck aus der Nikolajewskij-Straße losgeschickt, um Marino für die Sommersaison vorzubereiten. Die Familie folgte später. Die Fahrt vom Moskauer Brester Bahnhof zu der ein Dutzend Meilen von dem Gut gelegenen ländlichen Station dauerte drei Stunden.
...
Insel Verlag Berlin 2012
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1992
Sie zog Mantel und Stiefel an, schloß die Küchentür und glitt hinaus, bevor jemand ihr Verschwinden bemerkte. Ihr Atem strömte durch den dicken Schal und stieg in die Birkenäste über ihr. Von den Eiszapfen an der Dachrinne rieselten stete Tropfen in die hohen Schneewälle zu beiden Seiten des Wegs; Schneeklumpen rutschten von den Tannenzweigen und sanken mit einem Zischen zu Boden; die höchsten Äste der Birken ächzten und knackten im Wind. Sie hüpfte die hundertundsechs hölzernen Stufen zum Bootshaus hinunter und sang dabei vor sich hin.
Im Bootshaus fielen Scheiben wintrigen Lichts durch die Ritzen in den Bretterwänden und zerlegten ihren Körper in helle und dunkle Streifen. An den Sparren über ihr glänzten die Skullboote, und die an Doppeltauen über ihrem Liegeplatz hängende Motorbarkasse schaukelte mit einem trokkenen, knarrenden Geräusch sachte hin und her.
Sie kletterte die Bootshausleiter hinunter und prüfte das Eis mit ihrem Stiefel. Dann stieß sie die großen Holztüren auf und trat in das grelle Licht des silbernen Stroms. In der Ferne konnte sie gerade noch den dünnen Strich des jenseitigen Ufers erkennen. Vater war einmal auf Schneeschuhen über den Fluß gegangen. Das würde sie auch tun. Sie würde alle in Erstaunen versetzen. Sie lutschte an ihrem Fausthandschuh und ging weiter.
Sie blickte zum Haus zurück, wo sie Lapin und Nanny Saunders mit dem Spiel »Schlangen und Leitern« allein gelassen hatte, doch Marino war im Nebel verschwunden. Immer wenn sie aufhörte, ihre Stiefel durch das matschige Eis zu schieben, hörte sie unter ihren Füßen den Fluß brausen. Bald würde das Eis sich heben und bersten, und ein Stöhnen würde die Luft erfüllen, als ob die ganze Erde Schmerzen habe. Dann würde der Fluß seine Decke abwerfen, die schartigen Brocken würden verrutschen und schließlich an der Anlegestelle vorbeischaukeln. Sie hatte es gern, wenn die gefrorene Welt in Bewegung geriet, wenn der Strom des Lebens den Fluß wieder für sich zurückforderte. Marino würde aus seinem Schlaf erwachen. Der Bootsmann würde Vaters englisches Skullboot schmirgeln, den Rumpf der Motorbarkasse firnissen und die Dollen des Ruderboots einfetten. Sobald das Wasser eisfrei wäre, würde Vater vom Bootshaus aus nackt hineinspringen, beim Auftauchen einen lauten Schrei ausstoßen und sich die Haare aus den Augen schütteln.
Sie platschte durch den Matsch und dachte an den Frühling. Als sie die Flußmitte erreicht hatte, war sie vom Nebel eingehüllt. Das Bootshaus hinter ihr war weg, und die lange verschlierte Spur ihrer mit Wasser gefüllten Schritte verlor sich im Nichts. Der Bleistiftstrich des gegenüberliegenden Ufers war verschwunden. Sie blieb stehen und horchte. Ein leises Geräusch. Eine Sichel, die über einen Schleifstein gezogen wurde. Eine Klinge, die an etwas Hartem geschärft wurde. Sie drehte sich um, lutschte an ihrem Handschuh, versuchte herauszufinden, von wo das Geräusch kam. Sichelnde Klingen, zischende Klingen, immer näher. Wo hatte sie dieses Geräusch schon einmal gehört? Dann wußte sie es. Was da draußen im Nebel auf sie zukam, war ein Schlittschuhläufer. Niemand, den sie kannte. Die waren alle im Haus. Jetzt konnte sie seinen Atem hören, seinen kraftvoll arbeitenden Körper, die Klingen, mit denen er dem Fluß die Haut zerschnitt. Reglos erwartete sie ihn, furchtlos und allein. Der Nebelschleier riß, die riesige weiße Gestalt sauste an ihr vorüber, und das Eis unter ihr gab nach. Sie versank in einem dunklen Wasserloch und klammerte sich an den gezackten Rand, während der Strom sie packte und ihr die Stiefel von den Füßen zog. Der Fluß brauste in ihren Ohren, flüssige Wärme - wie in der Badewanne - stieg durch ihren Körper, und sie ließ sich fortreißen.
Dann Gesichter, die über sie gebeugt waren, Hände, die sich an ihr zu schaffen machten, verzweifelt ihre Gliedmaßen rieben und sich die Tränen aus den Gesichtern wischten, und die sahen so trostlos aus, daß sie fragen wollte, was denn passiert sei, doch konnte sie nicht sprechen, sondern nur aus dem warmen Wassernest, in dem sie versunken war, zu ihnen hinaufstarren. Fest eingewickelt, wie in Windeln, wurde sie emporgehoben und hinaufgetragen. Aus ihren Armen starrte sie in die schwarzen nackten Zweige von Bäumen, die vom rosa Himmel der Dämmerung beleuchtet waren. Unter und hinter sich hörte sie das gleichmäßige Knirschen von Stiefeln im Schnee und das Weinen einer Frau. Sie konnte weder den Kopf bewegen noch erkennen, wohin sie gebracht wurde, aber sie wußte, daß sie die andere Seite erreicht hatte, den Ort, von wo der Frühling kam, den Ort, an den der Fluß sie führen wollte.
Sie schlug die Augen auf und sah, daß Praskowja ihr mit einem Tuch das Gesicht befeuchtete. Wie viel besser war es in dem warmen Wassernest gewesen. Wie viel besser war es draußen auf dem Fluß gewesen. Wie schön sie ihre Tränen auf der anderen Seite gefunden hatte, als sie nur dort liegen und sie strömen sehen konnte. Wie schmerzlich waren sie jetzt, da man die Hand ausstrecken und sie Praskowja aus dem Gesicht wischen konnte.
»Mein Kind! Du bist von den Toten zurückgekehrt! Der Herr sei gepriesen.«
Was redete sie da vom Tod? Auf dem Fluß gab es keinen Tod, nur Wärme, die ihren Körper durchflutet hatte, und die Gewißheit, eine große Vision gesehen zu haben.
»Was ist nur in dich gefahren, mein Liebstes?« Die Stimme ihrer Mutter, ganz nah, zärtlich und besorgt.
Die Augen fest geschlossen, hörte Asja sich mit schriller Stimme sagen: »Ich habe einen Schlittschuhläufer gesehen. Einen großen Mann. Da draußen. Auf dem Eis.«
Sie blickte auf. Da standen sie alle um ihr Bett gedrängt: Vater, Mutter, ihr Bruder Lapin, Praskowja, doch konnte sie ihren Mienen anmerken, daß keiner von ihnen gesehen oder gehört hatte, was sie gesehen und gehört hatte. Bis ans Ende ihres Lebens behielt sie diesen Augenblick im Gedächtnis: als sie den Abgrund des Nichtwissens entdeckte, der sie von denen trennte, die sie liebte.
Sie sah sich um. Wo war Nanny Saunders?
Ihr Vater legte seine Hand auf ihre.
»Der Stallbursche begleitet sie zum Bahnhof.«
»Aber warum?«
»Ihr wurde gekündigt, weil sie dich aus den Augen gelassen hat.«
Den weiten Weg zurück nach England? Mitten im Winter? Sie konnte sich das schwarze Kabriolett vorstellen, wie es durch den dunklen Wald zockelte, mit Nanny Saunders und ihren Schachteln auf dem Rücksitz.
»Nicht weinen, Kind, nicht weinen.«
Aber diese aus Kummer und Zorn gemischten Tränen ließen sich nicht aufhalten. Viel später, als sie das Leben kennengelernt hatte, erinnerte sie sich an diesen Augenblick als den, in dem ihr aufging, daß es Ungerechtigkeit gab und daß ein Vater dafür verantwortlich sein konnte.
»Es war nicht Nannys Schuld. Du hast mir erzählt, daß du den Fluß überquert hast. Es war nicht ihre Schuld! Ruf sie zurück!« Dr. Feldman versuchte ihren Kopf auf das Kissen zurückzudrücken. »Laß das, Kind, laß das ...«
»Ich kann sie nicht zurückrufen. Ich habe mich entschieden«, sagte Vater mit jenem vernünftigen Tonfall, der, wie sie wußte, einen stärkeren Willen als den ihren artikulierte.
»Aber du hast mir erzählt, daß du mit Schlittschuhen über den Fluß gefahren bist.«
»Habe ich das, Kind?« Sein langes Gesicht mit dem sauber gestutzten Bart war dicht über ihrem, es roch nach Wintergrünöl. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er das vergessen hatte, daß er die Worte, die er an sie richtete, so leicht nahm. Sie drehte sich von ihrem Vater weg und brach in Tränen aus.
Nach einer Woche war sie außer Gefahr, und nach einem Monat konnte sie ihre Beine wieder gebrauchen. Aus England kam eine neue Nanny, Mrs. Moorehead, eine abscheuliche und übereifrige Frau, die sie überwachen sollte, auf daß sich das furchtbare, das ersehnte Abenteuer nie wieder zutrage. Doch Nanny Moorehead hielt sich nicht lange. Dafür sorgte sie.
Sie wußte, daß ihr Abenteuer sie zu etwas Besonderem gemacht hatte. Jedermann betrachtete sie mit respektvollem Staunen. Die Nachbarn, die Tatitschews und Dolgorukis, kamen eilig in ihren Schlitten vorgefahren, um sich die Geschichte erzählen zu lassen. Die Dienstboten verbreiteten die Nachricht, so daß sich am nächsten Sonntag vor der Familienkapelle die Frauen des Dorfs um die Tochter der Herrschaft drängten - erst fünf Jahre alt, man stelle sich vor! -, die ganz allein mitten auf den Fluß hinausgegangen war. Im niedrigen Schankraum der nahegelegenen Postkutschenstation erzählte Anton Nikolajewitsch, der Bootsmann von Marino, jedem Reisenden, wie er in seinen Schneeschuhen auf das Eis hinausgestürzt sei und ihr gerade noch rechtzeitig das Seil um die Hüfte geworfen habe. Auf diese Weise verbreitete sich die Geschichte im ganzen Distrikt, so daß sich Prinz Wladimir Adamowitsch Galizin, Adelsmarschall der Provinz, bei seinem nächsten Besuch in Smolensk auf einem Empfang zu Ehren des neuen Provinzgouverneurs als Vater jenes kleinen Mädchens vorstellen konnte, das den Versuch unternommen hatte, die zugefrorene Wasusa zu überqueren.
Sie selbst hörte schweigend zu, wenn die Geschichte immer wieder erzählt wurde, wobei sie das Gefühl hatte, daß sie von jedermann in seinem eigenen Interesse verwendet wurde, nur nicht in ihrem. Praskowja verwendete sie, um zu beweisen, daß man einem englischen Kindermädchen niemals trauen könne; Anton Nikolajewitsch, um zu zeigen, wie mutig er gewesen sei; und ihr Vater, um zu demonstrieren, was für eine eigenwillige und unerschrockene Tochter er habe. In den Augen des kleinen Mädchens selbst gingen alle diese Versionen am Kern der Geschichte vorbei. Als sie älter wurde, prägte sich eine schwache Erinnerung ins strahlende Licht einer glänzenden Vision. Mit elf Jahren erzählte sie ihrem Bruder eines Abends im Kinderzimmer, was sie an jenem Winternachmittag auf dem Eis wirklich gesehen hatte.
»Er war ganz weiß, doppelt so groß wie Vater, und er hatte so einen Lederhelm an, wie Automobilfahrer sie tragen. Dazu ein gewaltiges Sausen, das den ganzen Himmel füllte.«
Bruder Lapin, der auf dem Bauch liegend die Kupfertiefdrucke in Larchs Illustrierten Pilzen studierte, blickte nicht einmal auf. »Ach«, sagte er mit seiner trockenen, präzisen Stimme, »Gott trägt also Schlittschuhe?«
Sie errötete vor Scham und sprach niemals mehr von dem, was sie gesehen hatte. Doch hielt sie an dieser Erinnerung so fest, wie ein Kind eine Murmel in der Faust behält. Denn damit hatte sich zum erstenmal der Schleier der Kindheit gehoben, es war der erste Augenblick, den sie mit einer Erinnerung an sich selbst, an Marino und an ihre Eltern verband. Alles davor, der ganze unscharfe Film der frühesten Kindheit, war aus der Kamera gerissen und durch jenen blendenden Gang übers Eis dem grellen Licht des Vergessens ausgesetzt worden. Diese frühesten Erinnerungen waren verloren, und in ihrem Inneren existierte ein dunkler Ort, von dem sie wußte, daß er nie ans Licht ihres suchenden Geistes gelangen würde. Der Schock des Flusses hatte etwas in ihr eingefroren, und in der vor ihr liegenden Zukunft würde es Situationen geben, in denen ihre Handlungen aus einer dunklen und unergründlichen Region in ihrem Inneren hervorgehen würden. Das war der Preis, den sie für die Überquerung des Flusses bezahlt hatte. Gewonnen hatte sie Furchtlosigkeit. Ein abgewandtes und zurückgezogenes Frauenleben kam für sie nicht in Frage. Der Unfall hatte ihr Dispens erteilt. Sie wußte, daß sie eine Vision gehabt hatte, daß sie verschont worden war und daß sie von nun an frei war. Ihr ganzes Leben lang nannten die Leute sie furchtlos, obwohl sie in Wahrheit genausoviel Furcht empfand wie alle anderen. Nur war ihr auch im harten Griff der Furcht genau bewußt, daß sie sie loslassen würde, so wie es der Fluß getan hatte. Menschen, die furchtlos erscheinen, wirken oftmals kalt. Sie widersprach nie, wenn man sie in ihrem späteren Leben als kalt bezeichnete. Denn sie wußte, und irgendein innerer Winkel ihres Körpers vergaß das nie, wie kalt der reißende Strom gewesen war.
Ihre Eltern behandelten sie mit Ehrfurcht, wie eine Botin, die aus einem unbesuchbaren Land zurückgekehrt war. Die merkwürdige Kühnheit ihres Kindes und seine geheimnisvolle Errettung vor dem Schicksal verleitete die beiden- vergeblich -, nach irgendeiner Spur zu suchen, die ihnen ihr Wesen erklären könnte. Aber - und dies wurde ihr klar, sobald sie die Porträts der Vorfahren an den Wänden Marinos bewußt wahrnahm - sie stammte offenbar von keinem dieser Leute ab. Ihre Mutter, eine geborene Urusow, war schüchtern, fromm und praktisch veranlagt, sie selbst dagegen ausgelassen, gottlos und weltfremd. Freilich hatte sie den großen schlanken Wuchs und das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt. »Ihr seht aus wie ein schönes Paar Barsoihunde«, pflegte Vater auf seine scherzende Art von ihnen zu sagen, womit er meinte, daß sie zierlich gebaut und fein gezeichnet waren, mit langen harmonischen Gliedmaßen. Dem jedoch standen andere Merkmale entgegen, die sich auf keines der Bilder im Familienalbum zurückführen ließen. Sie hatte lokkiges schwarzes Haar, eine blaßweiße Haut und glänzend schwarze Wimpern. Vater erklärte, das Schönste an ihr seien das feste kräftige Kinn, welches auf Entschlossenheit und Charakter hinweise, die breite flaumige Oberlippe und ihre mottengrauen Augen. Aber noch einmal: woher kamen diese Merkmale? »Wäre ich nicht vollkommen vom Gegenteil überzeugt«, sagte ihr Vater häufig zu sich selbst, »würde ich denken, sie ist überhaupt nicht mein Kind.«
Sie war zart und zierlich anzusehen - ein Mädchen, von dem man sich vorstellte, daß es feine Brüsseler Spitzen trug und der Mutter beim Arrangieren der Blumen half -, doch ihre Zierlichkeit war trügerisch. Vom Temperament her schlug sie eher ihrem Vater nach. Sie hielt die Stämme fest, wenn er unter Aufsicht des Holzfällers im Wald mit der Ablängsäge arbeitete. Ihr Vater brachte ihr bei, von einer Weide am Flußufer eine Rute zu schneiden und damit zu angeln, und als sie die Araberstute reiten lernte, hielt er selbst das Leitseil. Ihr stolzester Besitz im Alter von acht Jahren war weder eine Puppe noch ein schönes Paar Lackschuhe, sondern ein Taschenmesser aus dem Französischen Laden in Moskau. Wenn Praskowja sie abends in der Wanne badete, zeigte sie oft auf die schmutzverklebten Knie des Kindes und rief: »Du bist eine richtige Wilde. Es gehört sich nicht für eine Dame, auf Bäume zu klettern und mit dem Küchenpersonal im Garten zu graben.«
»Ich bin keine Dame«, erwiderte sie.
Indessen - da ihr Aussehen nicht auf die restriktiven genealogischen Merkmale im Familienalbum zurückzuführen war - glaubte sie aufgrund der Mythologie, die sie sich im Lauf ihres Lebens von sich selber schuf, daß sie frei von Familienbanden sei. Wenn unabänderliche Verluste eintraten, wenn jedermann sie zu trösten versuchte, bestand sie darauf, daß sie diese Dinge überhaupt nie wirklich besessen habe oder von ihnen besessen worden sei.
Geboren wurde sie auf Marino am 19. Dezember 1899, nach dem Julianischen Kalender, im oberen Schlafzimmer mit dem Bullaugenfenster. Praskowja Iwanowna und der Familienarzt Dr. Feldman waren dabei, während der Hausherr ein Stockwerk tiefer auf dem Tanzboden auf und ab schritt, eine Balkan-Sobranje nach der anderen rauchte und auf Anweisung seiner Frau in den Klageliedern Jeremiae las. Sie wurde in das Taufbecken in der zu Marino gehörenden Familienkapelle getaucht und auf den Namen Anastasia Wladimirowna getauft. Doch wurde dieser Name nur vor Besuchern benutzt. »Meine Tochter Anastasia«, pflegte ihr Vater zu sagen und seine große Hand auf ihren Kopf zu legen, und während sie dann den obligatorischen Knicks machte, hatte sie das Gefühl, als ob er nicht seine eigene Tochter, sondern eine vollkommen Fremde vorstellen würde. Ihr richtiger Name war Asja, unter diesem Diminutiv kannten sie alle.
Als sie elf Jahre alt war, erzählte ihr ein kluger Junge, den sie am Strand in Biarritz kennenlernte, daß der westliche oder Gregorianische Kalender dem Julianischen um dreizehn Tage vorauslaufe. Die beiden rechneten aus, daß sie am r. Januar 190o geboren worden war. Sie lief ins Hotel zurück und verkündete, daß sie ihren Geburtstag künftig an diesem Datum zu feiern wünsche. Von allen Leuten, die sie kannte, war sie die einzige, die mit dem Jahrhundert geboren war, und da sie zu seinem Beginn verschont geblieben war, kam sie zu der Überzeugung, daß sie auch sein Ende erleben werde. Sie brauchte lange Zeit und manche schwere Erfahrung, ehe sie die kindliche Überzeugung von ihrer Unsterblichkeit ablegte.
Ihr engster Gefährte war ihr Bruder, ein strohblonder Junge mit einem verwirrten Gesichtsausdruck, dem er seinen Spitznamen verdankte. Sein Taufname war Alexander, aber man kannte ihn nur als Lapin. Seine Mutter sprach das Wort französisch aus, sein Vater dagegen russisch, mit Betonung auf der ersten Silbe und einem eher harten als weichen »n« am Ende. Englischen Freunden erklärte der Vater, der Name werde »Lapin, wie in Mappin and Webb« ausgesprochen.
Brüder und Schwestern sollten einander verstehen, dachte sie. Aber sie konnte Lapin nie verstehen. Denn er war zum Verrücktwerden anders. Tagsüber im Unterricht waren seine Buchstaben dünn und pedantisch, ihre dick und voller Tintenkleckse. Abends im Kinderzimmer legte er seine Kleider gefaltet auf den Stuhl, wogegen sie die ihren auf dem Boden verstreut liegenließ. Während sie Vater und den Holzfäller allmorgendlich auf die Waldlichtung begleitete, folgte Lapin der Mutter in die Gewächshäuser, mit einem Blumentopf in der Hand, um die abgestorbenen Blätter aufzusammeln, die sie von den Pfirsichbäumen schnitt. Wenn Asja und Lapin im tiefen Schatten der Kiefern gemeinsam Pilze suchen gingen, vermochte er deren hervortretende Formen zu erkennen, während sie lediglich einen flachen Teppich aus hellbraunen Kiefernnadeln wahrnahm. »Pst!« sagte er dann; seine Augen suchten durch die Brille den Boden ab, und sie folgte ihm.
»Warum muß ich still sein? Ich verscheuche die Pilze doch nicht.«
»Psst. Ich kann mich nicht konzentrieren.« Wenn er über seinen Briefmarkenalben oder dem Baukasten saß, war er ganz konzentriert und angespannt, während ihre Blicke rastlos über alles hinflogen. Als er einmal im grellen Schein der Kinderzimmerlampe über seinen Briefmarkenalben brütete, stand sie auf, zog ihr Nachthemd aus und wirbelte auf Zehenspitzen völlig nackt ganz dicht hinter ihm herum, aber er bemerkte nichts davon. In dieser Nacht zog sie ihm, als er fest eingeschlafen war, die Bettdecke zurück und sah zu ihrer Verwunderung seinen Penis starr aus dem Schlitz seiner Pyjamahose ragen, wie eine Spargelspitze, die sich aus der Erde des Küchengartens bohrt. Sie berührte ihn: ein fester, elastischer Schößling, ein großes Geheimnis.
Von den ersten Herbstschauern bis zum letzten Schneesturm des Winters wohnten sie in Moskau hinter dem Kreml in der Nikolajewskij-Straße. Zu Beginn jeden Frühjahrs wurden Dienstboten und große Mengen Gepäck aus der Nikolajewskij-Straße losgeschickt, um Marino für die Sommersaison vorzubereiten. Die Familie folgte später. Die Fahrt vom Moskauer Brester Bahnhof zu der ein Dutzend Meilen von dem Gut gelegenen ländlichen Station dauerte drei Stunden.
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Insel Verlag Berlin 2012
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1992
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Autoren-Porträt von Michael Ignatieff
Michael Ignatieff, geboren 1947 in Toronto, ist Historiker, Journalist, Autor und Politiker. Von 2008 bis 2011 war er Vorsitzender der Liberalen Partei Kanadas.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Ignatieff
- 2012, 388 Seiten, Masse: 11,8 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: INSEL VERLAG
- ISBN-10: 3458358110
- ISBN-13: 9783458358114
- Erscheinungsdatum: 10.02.2012
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