Friesisches Roulette (ePub)
Tödliche Landluft
Ausgerechnet Ostfriesland! Als die junge Polizistin Nicole Jacobi ins beschauliche Reedersum zwangsversetzt wird, erwartet sie einen todlangweiligen Job. Doch kaum angekommen, rettet sie einem kleinen Schwein das Leben - und das bringt...
Ausgerechnet Ostfriesland! Als die junge Polizistin Nicole Jacobi ins beschauliche Reedersum zwangsversetzt wird, erwartet sie einen todlangweiligen Job. Doch kaum angekommen, rettet sie einem kleinen Schwein das Leben - und das bringt...
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Produktinformationen zu „Friesisches Roulette (ePub)“
Tödliche Landluft
Ausgerechnet Ostfriesland! Als die junge Polizistin Nicole Jacobi ins beschauliche Reedersum zwangsversetzt wird, erwartet sie einen todlangweiligen Job. Doch kaum angekommen, rettet sie einem kleinen Schwein das Leben - und das bringt ihren Alltag gehörig durcheinander. Kurz darauf stirbt im Ort ein alter Bauer unter seltsamen Umständen. Nicole glaubt an Mord, doch ihr neuer Chef hält das für Unsinn. Gemeinsam mit Schweinchen Jacobus beginnt sie heimlich zu ermitteln und findet bald heraus, dass in Reedersum mehr als nur einer die sprichwörtliche Leiche im Keller hat.
Ausgerechnet Ostfriesland! Als die junge Polizistin Nicole Jacobi ins beschauliche Reedersum zwangsversetzt wird, erwartet sie einen todlangweiligen Job. Doch kaum angekommen, rettet sie einem kleinen Schwein das Leben - und das bringt ihren Alltag gehörig durcheinander. Kurz darauf stirbt im Ort ein alter Bauer unter seltsamen Umständen. Nicole glaubt an Mord, doch ihr neuer Chef hält das für Unsinn. Gemeinsam mit Schweinchen Jacobus beginnt sie heimlich zu ermitteln und findet bald heraus, dass in Reedersum mehr als nur einer die sprichwörtliche Leiche im Keller hat.
Lese-Probe zu „Friesisches Roulette (ePub)“
Friesisches Roulette - Schweinekommissar Jacobus ermittelt von Laura BeerProlog
Eine heftige Windböe schlug ihm entgegen, als er die Autotür öffnete und ausstieg. Obwohl es fast stockfinster war, schaltete er seine Taschenlampe nicht ein, denn er kannte den Weg und die Umgebung wie seine Westentasche. Die Lampe würde er erst später benötigen. Vorsichtig, um nicht über einen Stein oder eine Wurzel zu stolpern, ging er den unebenen Feldweg entlang. Der kalte Wind pfiff ihm um die Ohren, und er zog sich die Kapuze seines Anoraks noch etwas tiefer ins Gesicht. Der Geruch von Salzwasser lag in der Luft, das Unwetter kam also von See her.
Nach ein paar Hundert Metern schälten sich die Umrisse von mehreren Gebäuden aus der Dunkelheit. Nirgendwo brannte Licht. Manche Bauern ließen auf ihren Höfen zur Sicherheit über Nacht die Außenbeleuchtung an, aber nicht Klaas, dafür war er zu geizig. Er hatte auch keine Bewegungsmelder installiert, die automatisch eine oder mehrere Lampen einschalteten, sobald sich jemand dem Haus oder einem der Nebengebäude näherte. Auch das hätte ja Geld gekostet. Bis vor Kurzem hatte Klaas noch einen Hofhund gehabt, einen alten Irish Setter namens Fietje, aber der war sowieso schon fast blind und taub gewesen und hätte wohl kaum seinen warmen Platz am Ofen verlassen, um sein Herrchen mitten in der Nacht vor einem Eindringling zu warnen.
Einen neuen Hund hatte sich Klaas bisher glücklicherweise noch nicht angeschafft. Und solange das Tierheim ihm nicht einen schenkte, würde sich daran wohl auch nichts ändern.
... mehr
Im Schutz einer Brombeerhecke, die den Garten neben dem Wohnhaus begrenzte, schlich er bis zum Stalltor. Er konnte die Kühe hören, die sich unruhig in ihren Boxen hin und her bewegten, ein paar muhten leise. Sicher spürten sie das heraufziehende Gewitter.
In der Ferne zuckten schon die ersten Blitze über den pechschwarzen Nachthimmel, und er zählte die Sekunden bis zum darauffolgenden Donner. Das Unwetter war noch etwa drei Kilometer entfernt, er musste sich also sputen.
Er ging so weit an der Stallmauer entlang, bis er nur noch ein kurzes Stück den Hof überqueren musste, um zu der niedrigen Scheune zu gelangen, in der Klaas seinen Traktor und anderes landwirtschaftliches Gerät untergebracht hatte. Wie erwartet war das Tor nicht abgeschlossen, sondern nur angelehnt. Es quietschte leise, als er es aufzog und sich durch den Spalt ins Innere zwängte. Drinnen konnte er die Hand vor Augen nicht erkennen und schaltete daher die Taschenlampe ein. Vom Wohnhaus aus war dieses Gebäude nicht zu sehen, daher bestand kaum ein Risiko, entdeckt zu werden.
Er stellte seine Tasche auf einer alten Werkbank ab und holte den Inhalt heraus. Dann fiel sein Blick auf etwas, das neben der Werkbank auf dem Boden stand, und er konnte sich ein hämisches Lachen nicht verkneifen. Das war ja sogar noch einfacher, als er gedacht hatte. Klaas war schon immer unvorsichtig gewesen, was den Umgang mit Gefahrenstoffen anging, das wussten viele Leute im Dorf. Wen würde es da also wundern, wenn ihm das schließlich einmal zum Verhängnis wurde? Die Scheune hatte zwar massive Mauern aus Backstein, aber das Dach war reetgedeckt und schon ziemlich marode, dazu kamen die Holzbalken, die es im Inneren abstützten. Das zusammen mit dem Sammelsurium extrem brennbarer Flüssigkeiten... da brauchte es nur einen ganz kleinen Funken.
Der Wind heulte mittlerweile noch stärker um das Gebäude und pfiff durch jede Ritze, Blitze und Donner folgten in immer kürzeren Abständen aufeinander. Er schnappte sich einen kleinen Kanister und kippte den Inhalt an einen der hölzernen Stützbalken. Dann riss er ein Streichholz an und warf es in die kleine Pfütze, die sich am Fuß des Balkens gebildet hatte. Sofort schoss eine Stichflamme hoch. Erschrocken sprang er nach hinten. Er musste eine starke Nitrolösung oder etwas Ähnliches erwischt haben.
Während er seine Utensilien hektisch in die Tasche zurückstopfte, brannte der Balken bereits lichterloh. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte in Richtung Scheunentor. Kurz bevor er es erreichte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Hartes und verlor das Gleichgewicht. Er ruderte mit den Armen, um sich wieder zu fangen, dabei entglitt ihm die Taschenlampe und landete scheppernd in irgendeiner Ecke der Scheune. Doch darum konnte er sich jetzt nicht mehr kümmern.
Gegen den heftigen Wind, der sich nun fast wie ein ausgewachsener Sturm anhörte, musste er seine ganze Kraft einsetzen, um das schwere Tor aufzudrücken. Draußen prasselte ihm kalter Regen ins Gesicht. Schnell zog er die Kapuze wieder über, hielt seine Tasche wie einen Schutzschild vor sich und kämpfte sich geduckt über den Hof zurück zum Stall. Das Gewitter war jetzt schon sehr nahe, und kurz fürchtete er, er könnte selbst vom Blitz getroffen werden. Sollte er sich im Kuhstall verstecken, bis das Schlimmste vorüber war? Da er jedoch nicht wusste, wie lange es dauern würde, bis Klaas bemerkte, dass etwas nicht stimmte, entschied er sich dagegen.
Gerade, als er den Feldweg erreichte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Er drehte sich um und sah, dass bereits das halbe Scheunendach in Flammen stand, auch der starke Regen schien dem Feuer nichts entgegensetzen zu können. Wer wusste schon, welche Chemikalien da gerade in die Luft geflogen waren. Im Laufschritt entfernte er sich vom Ort des Geschehens, denn sicher war Klaas von der Explosion wach geworden. Das Letzte, was er wollte, war, doch noch von ihm gesehen zu werden.
Ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen, verschwand er in der Dunkelheit.
1
„Ostfriesland, unendliche Weiten, dies sind die Abenteuer von Nicole Jacobi ... sofern sie in dieser elenden Suppe jemals ans Ziel kommt", murmelte Nicole und stieß einen tiefen Seufzer aus. Missmutig lenkte sie ihren alten Opel Corsa an den Straßenrand und starrte durch die Windschutzscheibe in die weißen Schwaden, die zum Greifen nah vorbeizogen. „Das wird wohl so bald nicht besser werden", sagte sie kopfschüttelnd und machte den Motor aus.
Seit sie vor einer halben Stunde die Ems überquert hatte, war der Nebel mit jedem Kilometer dichter geworden, gleichzeitig wurde der Empfang ihres Smartphones zunehmend schlechter, was sich in immer häufigeren Aussetzern äußerte. Da das Handy als Ersatz für ein richtiges Navigationsgerät diente und sie in einem Anfall von bedingungslosem Glauben an die Zuverlässigkeit der Technik darauf verzichtet hatte, eine Straßenkarte mitzunehmen, war sie nun gezwungen, alle paar Minuten anzuhalten und abzuwarten, bis sich die Internetseite mit der Karte wieder aktualisiert hatte. Und das konnte dauern.
„Wenn mir dieser Verkäufer noch mal über den Weg läuft, werde ich ihn erwürgen", sagte sie zu sich selbst und war froh, dass niemand da war, der sie hören konnte, sonst wäre sie am Ende noch die Hauptverdächtige, wenn dieser Kerl tatsächlich eines Tages erwürgt aufgefunden wurde. Das würde sie auch nicht wundern, da sie sicher nicht die Einzige war, der er diesen Handyvertrag hatte aufschwatzen können.
„Achtundneunzigprozentige Netzabdeckung", hatte er ihr versprochen.
„In Städten mit mehr als zweihundertfünfzigtausend Einwohnern", lautete dann die ergänzende Auskunft der Hotline, als Nicole unterwegs das erste Mal Verbindungsprobleme feststellte und ihren neuen Netzanbieter anrief, um sich zu beschweren.
Nachdem sie aufgelegt hatte, war sie froh gewesen, dass sie einer Aufzeichnung des Gesprächs zu „Schulungs- und Qualitätssicherungszwecken" nicht zugestimmt hatte, worauf sie zu Beginn des Telefonats von einer nervigen Männerstimme hingewiesen worden war. Ansonsten hätte ihr Anbieter jetzt einen Mitschnitt gegen sie in der Hand, der zweifellos den Tatbestand der Beleidigung erfüllte.
Dabei hatte sie doch nur einen günstigen Handyvertrag abschließen wollen, um immer gut erreichbar zu sein, wenn sie schon in so einem abgelegenen Landstrich wohnen und arbeiten musste.
Wie es zu diesem abrupten Richtungswechsel in ihrem Leben gekommen war, konnte sie immer noch nicht richtig fassen. Eigentlich hatte sie ihre Heimatstadt Hannover nur deshalb verlassen, weil sie schneller Karriere bei der Polizei machen wollte. Sie war mit ihrem Chef, Polizeihauptkommissar Wild, nach Osnabrück in die dortige Polizeidirektion gewechselt, wo es zunächst auch gut für sie lief.
Aber dann war Wild vor ein paar Monaten aus heiterem Himmel von seinem Posten abberufen worden, und ihr neuer Vorgesetzter, Rainer Weigand, hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sie in die ostfriesische Pampa zu versetzen. Natürlich hätte sie diese Versetzung ablehnen können, doch Weigand hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass er der Ansicht war, jeder Polizist, der höhere Dienstgrade anstrebe, müsse auch eine Weile auf dem platten Land gearbeitet haben, um alle Facetten der Polizeiarbeit kennenzulernen.
„Hier in der Großstadt ist das Leben viel zu anonym", hatte er ihr mit jovialem Habitus seine wohlmeinenden Absichten dargelegt, „deshalb ist es gerade für einen Polizisten - oder wie in Ihrem Fall: für eine Polizistin - wichtig, mit den Menschen in Kontakt zu kommen, für die man der ‚Freund und Helfer‘ sein soll - oder wie in Ihrem Fall: die ‚Freundin und Helferin‘ ..."
„Ist schon gut, Herr Weigand", hatte sie ihn höflich unterbrochen. „Sie müssen das nicht jedes Mal dazusagen. Ich werde mich ganz bestimmt nicht wegen Diskriminierung beschweren, nur weil Sie mir gegenüber nicht die weibliche Form verwenden."
Weigand hatte gelächelt und zufrieden genickt, dann fuhr er fort: „Auf dem Land, in einem Dorf, da lernen Sie jeden persönlich kennen, Sie erfahren etwas über das Leben und die Schicksale dieser Menschen. Das fördert Ihr Mitgefühl, und das wiederum kommt Ihnen zugute, wenn Sie anschließend wieder hierher zurückkehren. Dann ist die orientierungslose Person auf dem Bahnhofsvorplatz für Sie nicht bloß ein anonymer Mensch, ein ‚Fall‘, der bearbeitet werden muss. Vielmehr werden Sie diese Person mit ganz anderen Augen sehen, Sie werden sich fragen, wer dieser Mann ist, woher er kommt, wieso er orientierungslos ist. Sie werden mit ihm mitfühlen, und das wird Sie zu einer besseren Polizistin machen." Wie hätte sie da noch widersprechen können, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, sie wolle wohl keine bessere Polizistin werden? Sehr geschickt, Herr Weigand, wirklich sehr raffiniert.
Insgeheim hegte sie nämlich den Verdacht, dass er sie nur deshalb loswerden wollte, weil sie eine enge Mitarbeiterin seines Vorgängers gewesen war und weil er sowieso nichts von jungen Frauen im Polizeidienst hielt. Leider war er nun derjenige, von dem ihre Beförderung abhing. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Es war ja erst mal nur für ein Jahr. Mit diesem Gedanken versuchte sie sich zu trösten, wenn ihr Frust zu groß wurde. Manchmal funktionierte das sogar.
Ein Piepton holte sie wieder in die triste Gegenwart zurück. Nach fünf Minuten hatte ihr Smartphone es tatsächlich geschafft, den neuen Kartenausschnitt aufzurufen. Nun war sie sich aber nicht mehr sicher, von welcher Straße sie zuletzt abgebogen war. Dummerweise zeigte ihr die Gratis-App, die sie sich am Morgen noch schnell heruntergeladen hatte, nicht ihren aktuellen Standort an. Zudem wirkte in diesem verdammten Nebel, in dem man kaum zwanzig Meter weit sehen konnte, alles gleich. Es gab hier noch nicht einmal Bäume oder größere Büsche am Straßenrand, an denen sie sich orientieren konnte, von Straßenschildern ganz zu schweigen. Wahrscheinlich hätte sie auch im Kreis fahren können, ohne es zu merken. Sie beschloss, der Straße einfach so lange zu folgen, bis sie doch noch auf irgendein Schild stieß oder auf ein Haus, das nahe genug an der Straße stand, dass sie es auch im dichten Nebel noch sah. Sehr weit konnte es bis nach Reedersum eigentlich nicht mehr sein.
Nach ungefähr zwei Kilometern, die sie aufgrund der schlechten Sicht fast nur im Schritttempo zurückgelegt hatte, tauchte auf der rechten Straßenseite ein dunkler Schemen auf, der sich beim Näherkommen als Wohnhaus eines Bauernhofes entpuppte. Das Einfachste war es sicher, hier bei den Einheimischen nach dem Weg zu fragen. Nicole parkte den Corsa in der Hofeinfahrt, stieg aus und streckte sich kurz. Nach über zweieinhalb Stunden Fahrt inklusive eines dicken Staus auf der A1 war sie ziemlich erledigt. Auch wenn sie nicht die geringste Lust auf ihre neue Stelle hatte, im Moment wollte sie nur noch eines: endlich, endlich in diesem Kaff ankommen und in ihrem gemieteten Häuschen bei einer Tasse Tee die Füße hochlegen.
Der feuchte Nebel waberte um sie herum und ließ sie frösteln. Fast hatte sie das Gefühl, ihn mit Händen greifen zu können. Eine Nebelschwade schob sich zwischen sie und das Bauernhaus, und sie bemerkte, dass das milchige Weiß ihr nicht nur die Sicht nahm, sondern auch alle Geräusche dämpfte. Bis auf ihr eigenes Atmen war es fast unheimlich still. Ein bisschen kam sie sich vor wie in einem dieser alten Schwarz-Weiß-Gruselfilme, in denen plötzlich eine Krallenhand oder eine scheußliche Fratze aus dem Nebel auftauchte. Oder der Hund der Baskervilles.
Nicole schloss die Autotür und ging in Richtung Hauseingang. Ein gepflasterter Weg führte durch einen Vorgarten, in dem Astern und Dahlien blühten, die in dem trüben Herbstlicht jedoch seltsam farblos wirkten. Um die Tür und die Sprossenfenster rankte sich wilder Wein. Eine weiß gestrichene Holzbank lehnte an der Backsteinmauer. Fehlten nur noch der Pumpbrunnen und die Vogeltränke. Bei Sonnenschein bot das Ganze wahrscheinlich einen idyllischen Anblick. In ihr weckte es jedoch unangenehme Erinnerungen an diverse Urlaube auf dem Bauernhof, die sie als Kind mit ihrer Familie verbringen musste.
Sie liebte Tiere über alles und hatte sich schon Wochen im Voraus auf die jungen Katzen gefreut, die es jedes Jahr auf jedem Bauernhof gab, die Stallhasen, die Kühe, die Pferde und was das Landleben noch so an Vierbeinern bot. Leider vergaß sie dabei immer wieder - oder verdrängte es -, dass sie eine starke Allergie gegen alle Arten von Gräsern hatte, was den Ferienspaß ganz erheblich trübte. Während ihre jüngere Schwester Miriam mit den anderen Kindern im Heu herumtobte oder dabei half, die Kühe zu füttern, bekam sie schon rote Augen und Atemnot, wenn sie nur in die Nähe des Stalls oder des Heuschobers kam. Ihr Asthmaspray war ihr ständiger Begleiter. Trotzdem waren ihre Eltern nie auf die Idee gekommen, den Urlaub besser ans Meer oder in die Berge zu verlegen. Sie waren nämlich - typisch Lehrer - der Ansicht gewesen, ihre beiden Stadtkinder müssten wenigstes einmal im Jahr selbst erleben, dass die Milch nicht aus der Tüte kommt, dass Obst nicht in Plastikschalen wächst und dass Kühe nicht lila sind.
Seit Nicole alt genug war, ohne ihre Eltern zu verreisen, hatte sie keinen Fuß mehr aufs Land gesetzt, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Sie war mit Leib und Seele Städterin. Und nun stand sie hier: irgendwo im Nirgendwo. Seufzend schüttelte sie den Kopf und klopfte an die rotbraune Holztür. Keine Reaktion. Suchend sah sie sich um, konnte aber nirgends eine Klingel entdecken. „Hallo!", rief sie und klopfte noch einmal, diesmal fester. „Ist jemand da?"
Als sich nach zwei oder drei Minuten immer noch nichts rührte, ging sie nach rechts und spähte um die Hausecke. Dort war niemand zu sehen, nur eine Treppe, die nach unten zu einer Kellertür führte. Der Nebel machte keine Anstalten, sich aufzulösen oder wenigstens ein bisschen zu lichten, im Gegenteil. Während sie sich noch fragte, was sie jetzt tun sollte, stieg ihr plötzlich der Geruch von Gülle in die Nase. Natürlich, das hier war ein Bauernhof mit Viehwirtschaft, der Bauer oder die Bäuerin waren sicher im Stall zu finden. Von hier aus konnte sie nicht erkennen, wo der sich befand, daher ging sie einfach auf gut Glück los.
„Verdammt, was ...", fluchte Nicole, als sie an einem großen Traktor vorbeikam, der mitten auf dem Hof stand. Es war eines von diesen wuchtigen, grün lackierten Modellen mit verglaster Fahrerkabine, bei denen die beiden Hinterräder fast mannshoch waren - wobei sie von der Farbe nur wenig sehen konnte, da das Gefährt von oben bis unten mit Schlamm bespritzt war. Sie war mit dem Hosenbein an irgendeinem Teil der Maschine hängen geblieben und bückte sich, um sich zu befreien. Dabei fiel ihr Blick auf das Nummernschild, an dem erstaunlicherweise kaum Dreck klebte. Als Polizistin war sie es gewohnt, bei Fahrzeugen automatisch die TÜV-Plakette zu überprüfen, und diese hier war schon seit über zwei Jahren abgelaufen. Dafür war eigentlich ein Bußgeld fällig, aber im Moment hatte Nicole wirklich andere Sorgen.
Nachdem sie sich wieder aufgerichtet und den gröbsten Dreck von ihrer Hose geklopft hatte, bemerkte sie weiter links einen schwachen Lichtschein und den vagen Umriss eines Gebäudes. Vorsichtig ging sie darauf zu, denn die Pflastersteine waren nass und ziemlich glitschig.
Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel, wie etwas auf sie zugeschossen kam. Erschrocken fuhr sie herum und erwartete, im nächsten Augenblick von einem zähnefletschenden, geifernden Hofhund mit einer Kette um den Hals angefallen zu werden. Instinktiv nahm sie eine Abwehrhaltung ein, wie sie sie in ihren verschiedenen Selbstverteidigungskursen gelernt hatte. Nur war da nie die Verteidigung gegen große, böse Hunde durchgenommen worden. Unglücklicherweise war hier auch nichts in Reichweite, womit sie sich zur Wehr setzen konnte.
Der Aufprall war so heftig, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor, doch das Tier biss nicht zu. Wahrscheinlich war es nur darauf abgerichtet, unliebsame Besucher zu stellen, in Schach zu halten und dann mit lautem Gebell seinen Herrn zu alarmieren. Dieser Hund gab allerdings sehr merkwürdige Geräusche von sich. Das klang viel eher wie ... ein Grunzen?
Verwirrt blickte sie nach unten. Dort, eng an ihre Beine gedrückt, stand ein kleines Schwein, grunzte und quiekte leise und reckte ihr seine feuchte Schnauze entgegen. Ehe sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, schälte sich eine Gestalt aus dem Nebel, die rasch auf sie zukam - und die eine Waffe in der Hand hielt!
Reflexartig griff Nicole an ihre Hüfte, wo normalerweise ihre Dienstpistole im Waffengürtel steckte. Im Auto, schoss es ihr im selben Moment durch den Kopf. Deine Pistole liegt im Auto.
Mittlerweile war die Gestalt bis auf wenige Meter herangekommen. Ein bulliger Mann in grober Arbeitskleidung und Schnürstiefeln mit einem ziemlich finsteren Gesichtsausdruck.
„Halt, stehen bleiben, Polizei"!, rief sie, davon überzeugt, dass er sie gleich attackieren würde.
Zu ihrer Überraschung blieb er tatsächlich stehen und sah sie irritiert an. Sie konnte spüren, dass das Schweinchen immer noch da war, weil es seine Schnauze in ihre Kniekehlen drückte. Wäre sie nicht so angespannt gewesen, hätte sie über diese völlig absurde Situation eigentlich lachen müssen.
„Was faseln Sie da?", schnauzte der Mann sie an und fuchtelte dabei mit der Waffe herum. Aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass es sich weder um eine Pistole noch um einen Schlagstock handelte. Es war ein ungefähr dreißig bis vierzig Zentimeter langer, etwas dickerer Metallstab, der zu einem Ende hin ein wenig schmaler wurde. Dort befand sich irgendeine Art von Auslösemechanismus. Dunkel konnte sie sich daran erinnern, so etwas schon einmal in einer Fernsehdoku oder einem Film gesehen zu haben. Doch bevor ihr noch einfallen konnte, worum es da ging, machte der Mann zwei weitere Schritte auf sie zu.
„Wer sind Sie überhaupt? Und wieso schleichen Sie hier im Nebel auf meinem Hof rum?", fragte er mit drohendem Unterton.
„Ich schleiche nicht ...", begann Nicole, doch dann wurde ihr bewusst, dass ihr Gegenüber ganz offensichtlich der Eigentümer dieses Hofes war und völlig zu Recht wissen wollte, was eine Fremde dort zu suchen hatte. „Bitte entschuldigen Sie", machte sie einen neuen Anlauf. „Ich hätte mich Ihnen erst mal vorstellen sollen, aber ich bin so erschrocken, als Ihr ... Ihr Schwein plötzlich auf mich zugerannt kam, da ..."
„Wo ist der lütte Drietkerl hin?", unterbrach er sie barsch. „Der ist heut schon zum zweiten Mal ausgebüchst. Noch mal macht er das nich mit mir!"
Nun war sie verwirrt. War der Mann blind? Das Schweinchen stand doch immer noch hinter ihr. Sie dreht kurz den Kopf, um sich zu vergewissern, und erhaschte einen Blick auf ein behaartes Hinterteil mit einem kleinen Ringelschwanz. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass das Tier sich so hinter ihren Beinen versteckt hatte, dass der Bauer es tatsächlich nicht sehen konnte.
Als sie sich wieder ihrem Gegenüber zuwandte, blieb ihr Blick erneut an dem Gegenstand in seiner Hand hängen. Plötzlich fiel ihr ein, was es war: ein Bolzenschussgerät. Mit so etwas hatte der Killer in dem Film No Country For Old Men seine Opfer erledigt.
„Sie wollen das arme kleine Ding doch nicht etwa damit umbringen?", fragte sie entsetzt. „Nein, natürlich nich. Wie soll denn das funktionieren? Damit betäub ich es nur, bevor ich es schlachte", kam die lapidare Antwort.
„Aber wieso wollen Sie es überhaupt schlachten? Ist es dafür nicht noch viel zu klein?"
„Es wird nich mehr größer. Hat irgendein Problem mit den Nieren", erklärte der Bauer knapp. Offenbar hatte er nicht die geringste Lust, sich mit ihr über dieses Thema zu unterhalten.
Das weckte Nicoles Kampfgeist. „Und nur weil es nicht mehr weiter wachsen wird, wollen Sie es einfach töten?", ereiferte sie sich. „So können Sie mit einem empfindungsfähigen Lebewesen doch nicht umgehen. Ich kann doch auch nicht meinen Hund einschläfern lassen, nur weil ich keine Lust mehr habe, sein Futter zu bezahlen oder dreimal am Tag mit ihm Gassi zu gehen."
Der Bauer sah sich suchend um. „Sie haben einen Hund?" „Was? Nein, ich habe keinen Hund, ich ...", setzte sie zu einer Erklärung an.
„Dann haben Sie ihn also doch einschläfern lassen."
„Nein, das war nur ein hypothetischer Hund."
„Ach, das Tier war krank?", fragte der Mann irritiert.
Nicole zählte langsam bis fünf, dann antwortete sie: „Das mit dem Hund war nur ein Beispiel. Ich wollte einen Vergleich ziehen." In einem Winkel ihres Gehirns wusste sie natürlich, dass dieser Vergleich ziemlich hinkte, aber sie war schon viel zu wütend auf diesen unmöglichen Menschen, als dass sie sich davon hätte aufhalten lassen. „Ich sollte Sie einfach dem Tierschutz melden", fauchte sie frustriert.
„Hören Sie mal gut zu, wer auch immer Sie sind", schnaubte der Bauer. Trotz des Nebels konnte sie sehen, wie sein Gesicht rot anlief. „Ich weiß ja nich, in welcher Welt Sie leben, aber ich hab hier Milchkühe und eine Schweinezucht, mit der ich meine Familie ernähren muss. Ich kann es mir nich leisten, Viecher durchzufüttern, die nich für die Zucht oder die Mast taugen. Also werd ich dieses Schwein schlachten, solange ich damit noch was verdiene. Der Wirt vom Stürhuus wartet schon auf sein Spanferkel. Und Sie machen jetzt gefälligst, dass Sie von meinem Grund und Boden verschwinden, sonst ..."
Statt weiterzureden, starrte er auf einmal angestrengt an ihr vorbei, dann stapfte er los und rief: „Na warte, wenn ich dich erwische!"
Nicole drehte sich um und sah, dass das Schweinchen blitzschnell gemerkt hatte, dass es entdeckt worden war, und nun die Flucht ergriff. Bevor der Bauer sie noch überholen konnte, rannte sie auch schon hinter dem Tier her in Richtung Hofeinfahrt, wo ihr Corsa stand. Sie riss die Beifahrertür auf und versuchte sich zu erinnern, wo genau sie in dem vollgestopften Auto die Metallbox mit ihrer Dienstpistole verstaut hatte. Immerhin hatte der Mann etwas in der Hand, was sich auch gegen Menschen als Waffe einsetzen ließ, da war sie selbst außer Dienst berechtigt, sich zu schützen und gegebenenfalls zu verteidigen. Leider wurde sie auf die Schnelle nicht fündig und konnte sich nur ihren großen Regenschirm schnappen, den sie wie ein Schwert vor sich hielt, als der Bauer ein paar Sekunden später schnaufend bei ihr ankam. Das Schweinchen war nirgends zu sehen, vielleicht hatte es ja hinter dem Auto Schutz gesucht.
„Kommen Sie nicht näher!", rief Nicole. „Als ich vorhin gesagt habe, dass ich bei der Polizei bin, war das kein Witz. Ich kann Ihnen gern meinen Dienstausweis zeigen."
Das schien den Mann zumindest so weit zu beeindrucken, dass er ein paar Meter Abstand hielt. Von dort taxierte er sie mit einem skeptischen Blick aus eisgrauen Augen.
„Bei welcher Polizei? Jedenfalls nich bei unsrer. Wir haben hier seit zwanzig Jahren nur einen Gendarm."
„Tja, ab morgen haben Sie zwei", erwiderte sie und musste sich bei seinem verblüfften Gesichtsausdruck ein Grinsen verkneifen. „Das heißt, wenn Ihr Hof zum Gemeindegebiet von Reedersum, Hindersum oder ..." Sie musste einen Moment nachdenken, wie der dritte Ort noch gleich hieß. „... oder Westerheede gehört."
„Wozu soll er denn sonst gehören?", fragte der Bauer. „Bis nach Reedersum rein sind es von hier doch keine zwei Kilometer die Straße runter."
Gott sei Dank, hätte Nicole beinahe ausgerufen, konnte sich aber gerade noch bremsen. „Dann werden wir ja in Zukunft noch öfter das Vergnügen miteinander haben", sagte sie stattdessen ironisch.
„Sie? Sie sind ab morgen hier auf der Wache?" Er zog die Augenbrauen zusammen und schien über etwas nachzudenken. „Ja, richtig", murmelte er nach ein paar Sekunden, „irgendwann hat Sven ... ähm Kommissar Kröger mal was davon gesagt, dass er im Herbst Verstärkung bekommt. Aber eine Frau? Sie sind doch sicher noch keine dreißig." Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Passen Sie bloß auf, was Sie sagen, Herr, Herr ..."
„Petersen, Malte."
„Beamtenbeleidigung kann nämlich teuer werden, Herr Petersen." Natürlich wusste sie, dass das, was er gesagt hatte, noch lange nicht den Tatbestand der Beleidigung erfüllte, aber es konnte nichts schaden, sich gleich ein wenig Respekt zu verschaffen. Männer seiner Generation - sie schätzte ihn auf Ende fünfzig, Anfang sechzig - hatten ihrer Erfahrung nach generell Probleme damit, Frauen und erst recht jüngere Frauen als Autoritätspersonen zu akzeptieren. Die Uniform half da meistens ganz gut, aber die hatte sie ja leider nicht an.
Erst mal bedachte Petersen sie mit einem finsteren Blick, dann sagte er: „Polizeibeamtin oder nich, was ich hier auf meinem Hof mit meinen Tieren mache, geht Sie gar nix an. Ich könnt Sie wegen Hausfriedensbruch anzeigen."
„Das können Sie ja mal versuchen, dann werden Sie schnell feststellen, dass ihr Grundstück dafür irgendwie eingezäunt sein oder ein Hoftor haben müsste." Mit solchen Delikten kannte sie sich bestens aus, auch wenn das in der Stadt meistens in Wohnungen, Geschäften oder Diskotheken zur Anzeige kam.
„Aber das Schwein ...", begann er, doch plötzlich weiteten sich seine Augen. „Haal mi de Kuckuck, dat gifft dat do' nich!"
Nicole drehte sich um und konnte gerade noch sehen, wie zwei Hinterbeine und ein Ringelschwanz durch die halb geöffnete Beifahrertür im Inneren des Corsas verschwanden. Kurz blieb auch ihr der Mund offen stehen, aber sie fing sich schnell wieder. Sie hatte sowieso nicht vorgehabt, das arme Tier hier seinem Schicksal zu überlassen. Diesem alten Chauvinisten wollte sie nur zu gerne eine Lektion erteilen. Also machte sie kurzerhand einen Schritt nach hinten und schlug die Autotür zu.
„He, was soll denn das?", rief Petersen aufgebracht und fuchtelte wieder mit dem Bolzenschussgerät herum. „Das ist Diebstahl! Dafür werd ich Sie auf jeden Fall anzeigen, darauf können Sie einen ... ähm sich verlassen!"
Nicole hielt ihn weiter mit dem Schirm auf Abstand. „Das werden wir ja noch sehen", sagte sie und schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Worauf Sie sich aber schon mal verlassen können, ist ein Bußgeldbescheid über fünfundsiebzig Euro und zwei Punkte in Flensburg." Sie deutete in Richtung des Traktors, von dem im Nebel nur die Umrisse zu sehen waren. „Ganz schön fahrlässig von Ihnen, dieses Monstrum nicht regelmäßig warten zu lassen. Da könnte schnell mal ein Unfall passieren, und dann wird es ohne gültige TÜV-Plakette richtig teuer. Die Versicherungen zahlen dann nämlich in den seltensten Fällen." Mit erhobenem Schirm ging sie zur Fahrerseite ihres Wagens. „Seien Sie also froh, dass ich Sie vor so etwas bewahre.Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Petersen."
Mit diesen Worten stieg sie ein und verriegelte von innen sofort alle Türen. Schließlich traute sie diesem Peterson durchaus zu, dass er versuchen würde, das Schweinchen doch noch aus dem Auto zu holen. Als sie einen kurzen Blick in seine Richtung warf, stand er allerdings da wie vom Donner gerührt und machte keine Anstalten, sich dem Wagen zu nähern.
Nicole ließ den Motor an, fuhr rückwärts aus der Einfahrt, ohne darauf zu achten, ob die Straße frei war, und gab Gas. Im Rückspiegel sah sie, wie Peterson und der Hof innerhalb weniger Sekunden vom Nebel verschluckt wurden.
Nach ein paar Hundert Metern bog sie in einen schmalen Feldweg und hielt an. Bevor sie weiterfuhr, musste sie sich erst mal etwas beruhigen. Ihr war noch nicht so ganz klar, was da eben über sie gekommen war. Hatte sie wirklich ein Schwein von einem Bauernhof entführt und den Bauern mit einem Regenschirm bedroht?
Ein Blick auf die Beifahrerseite ließ daran keinen Zweifel: Im Fußraum saß ein Schweinchen von der Größe eines mittleren Hundes und futterte die letzten Butterkekse aus der offenen Packung, die auf dem Sitz lag. Seine Schlappohren wippten beim Fressen auf und ab, im linken Ohr hatte es eine runde gelbe Plastikmarke. Jetzt erst fiel Nicole seine ungewöhnliche Färbung auf. Es war nicht einfarbig rosa oder rosa mit schwarzen Flecken - es war gestreift. Kopf und Ohren ebenso wie Hinterteil und Hinterbeine wiesen eine rotbraune Farbe auf, ab den Schultern bis zur Körpermitte einschließlich der Vorderbeine war es hellrosa, fast schon weiß. Das musste eine besondere Rasse sein. Vielleicht irgendeine Neuzüchtung, überlegte sie. Als Kind war ihr in den Ferien auf dem Bauernhof jedenfalls keine ähnliche Färbung aufgefallen, zumindest nicht, soweit sie sich erinnern konnte.
Das Schweinchen verschlang eben den letzten Keks und sah dann abwartend zu ihr hoch.
„Was guckst du mich so an?", fragte Nicole, als es ein paar Grunzlaute von sich gab, die beinahe so klangen, als würde es „Hunger" sagen. „Du hättest dir die Kekse besser ein wenig einteilen sollen. Lass dir das eine Lehre sein." Dann verzog sie den Mund und murmelte: „Jetzt rede ich schon mit Schweinen! Ich komme wohl nicht mehr oft genug unter Leute."
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Normalerweise hatte sie sich gut im Griff, auch in Situationen, in denen sie provoziert wurde. Aber sobald es um das Wohl von Tieren ging, ließ ihre Professionalität sie gerne mal im Stich. Das hatte zuletzt eine Frau zu spüren bekommen, die in ihrer Dreizimmerwohnung über zwanzig Katzen hielt. Die armen Tiere mussten in ihrem eigenen Dreck leben und hatten sich vor lauter Stress schon gegenseitig verletzt. Solche Tier-Messis waren ihr zutiefst zuwider, auch wenn sie wusste, dass die meisten von ihnen psychisch krank waren. Wenn sie es recht bedachte, ging es in der Massentierhaltung auch nicht anders zu. Bei alldem, was sie darüber schon gehört und gelesen hatte, war ihr der Appetit auf Wurst und Fleisch gründlich vergangen, von den Gammelfleischskandalen der letzten Zeit mal ganz abgesehen. Allerdings hatte sie sich noch nie damit beschäftigt, dass diese Tiere, die da zu Schnitzel verarbeitet wurden, auch intelligent waren. Und dieses kleine Schweinchen hier war offensichtlich ziemlich clever.
Es hatte mittlerweile Nachschub in Form eines Apfels gefunden, der bei einem Bremsmanöver vom Beifahrersitz gerollt war und den sie vergessen hatte aufzuheben.
„Na, dir schmeckt's aber", sagte Nicole und musste bei dem Anblick unwillkürlich lächeln.
Als hätte es sie verstanden, hob das Schwein den Kopf und grunzte einmal kurz, was sie als Zustimmung deutete. Dann suchte es mit dem Rüssel weiter den Sitz und den Boden ab.
„Mehr hab ich wirklich nicht für dich", sagte sie entschuldigend und fragte sich, was sie jetzt mit dem Schweinchen anfangen sollte. Es dem Bauern zurückzubringen, kam für sie nicht infrage. Ihr war klar, dass sie sich mit dieser Aktion ganz schön Ärger einhandeln konnte, aber das kümmerte sie erst mal wenig. Sie würde das schon irgendwie regeln.
Mittlerweile hatte das Schwein gemerkt, dass es hier nichts mehr Fressbares gab. Außerdem war es ihm im Fußraum des Corsas offenbar zu ungemütlich geworden, denn noch ehe Nicole reagieren konnte, war es mit seinen schlammverschmierten Klauen auf den Beifahrersitz geklettert und ließ sich dort häuslich nieder. Ihr würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als es mit in ihr vorübergehendes Zuhause zu nehmen. Dort konnte sie dann in Ruhe überlegen, wo es sich am besten unterbringen ließ. Hoffentlich blieb es während der Fahrt einigermaßen ruhig sitzen, anschnallen konnte sie es schließlich schlecht.
Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und streichelte das Schweinchen zwischen den Ohren, was von diesem mit einem wohlig klingenden Grunzen quittiert wurde.
„Mach dir keine Sorgen, mein Kleiner, ich werde mich schon darum kümmern, dass dir niemand mehr mit so einem Bolzenschussgerät auf die Pelle rückt. Vielleicht kann ich dir ja beibringen, wie man damit umgeht, und dann kannst du nachts diesem Petersen einen Überraschungsbesuch abstatten." Mit diesen Worten machte Nicole sich auf den, wie sie hoffte, nur noch kurzen Weg bis zu ihrem gemieteten Haus in Reedersum.
Es dauerte dann doch noch fast zwanzig Minuten, bis sie endlich am Ziel ankam. Das Haus stand nämlich nicht im Zentrum, wie sie geglaubt hatte, sondern etwas außerhalb genau auf der anderen Seite des Ortes. Der war mit seinen dreieinhalbtausend Einwohnern - so sagte zumindest Wikipedia - nicht gerade groß, dafür aber sehr langgezogen. Mehrere kleine Ansiedlungen und Bauernhöfe lagen verstreut um den Hauptort, und weil bei ihrem Smartphone zusätzlich zum schlechten Empfang jetzt auch noch der Akku fast leer war, hatte sie zweimal nach dem Weg fragen müssen, bis sie die Deichstraße gefunden hatte. Zum Glück war niemandem ihr tierischer Beifahrer aufgefallen, der die ganze Fahrt über brav auf seinem Platz sitzen geblieben war.
Aufgrund des Nebels hatte sie von Reedersum nicht viel mitbekommen. Die meisten Häuser waren im typisch norddeutschen Stil aus Backstein errichtet, ein paar - wie das Rathaus - wirkten durch große Glasfronten moderner. Einige Straßen waren gepflastert, und es gab an der Hauptstraße erstaunlich viele Geschäfte. Zudem waren ihr die zahlreichen Autos mit niederländischem Nummernschild aufgefallen. Was aber auch kein Wunder war, da der Ort nur einen Steinwurf von der Grenze entfernt lag.
Nicole parkte den Corsa neben einer Buchsbaumhecke und stieg aus. Das reetgedeckte Häuschen hatte sie im Internet auf einem Immobilienportal für Ostfriesland entdeckt. Es war zwar nicht besonders groß, aber dafür möbliert, und die Miete war einigermaßen günstig. Da sie nicht vorhatte, hier Wurzeln zu schlagen, wollte sie den Aufwand für den Umzug so gering wie möglich halten. Alles, was sie unbedingt brauchte, hatte sie in ihr Auto gepackt, den Rest bei einer Spedition eingelagert und ihre Wohnung in Osnabrück für ein Jahr untervermietet. Wenn alles gut lief, konnte sie sich bald dorthin zurückversetzen lassen oder, was ihr noch verlockender erschien, wieder nach Hannover gehen.
Das Haus hatte nur ein Stockwerk, aber das Dach war ausgebaut, sodass sie insgesamt drei Zimmer zur Verfügung hatte: Schlafzimmer, Wohnzimmer und eine etwas größere Wohnküche. Dazu kam noch ein kleines Badezimmer mit Dusche und Toilette.
Einen Keller gab es nicht, dafür einen Schuppen im Garten, den sie aber sicher nicht brauchen würde. Wie das Bauernhaus von Malte Petersen hatte das Häuschen weiße Sprossenfenster und die obligatorische Bank im Vorgarten. Allerdings war die Eingangstür grün, die Wände waren weiß gestrichen. Ein Holzzaun, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, begrenzte das Grundstück. Daher entschied sie, dass sie es wagen konnte, das Schweinchen aus dem Auto zu lassen. Wenn sie es schnell durch das Gartentor dirigierte, würde es nicht mehr weglaufen können. Ihr fiel ein, dass im Kofferraum noch ein Stoffbeutel mit einer Flasche Wasser und zwei weiteren Äpfeln lag. Die würden als Lockmittel sicher funktionieren.
Nachdem sie die Äpfel herausgeholt hatte, öffnete Nicole erst das Gartentor, dann die Beifahrertür des Corsas. Sofort steckte das Schwein seine Schnauze durch den Spalt. Offenbar hatte es die Leckerbissen längst gerochen und war ganz begierig darauf, sie zu verputzen.
„Schau mal, was ich hier für dich gefunden habe", sagte sie und zog die Tür noch etwas weiter auf. Das Schweinchen kletterte erstaunlich mühelos aus dem Auto und schaute erwartungsvoll zu ihr hoch. „Komm mit, dann kriegst du die leckeren Äpfel", lockte sie, während sie schon in Richtung Gartentor ging. Das ließ sich das Tier nicht zweimal sagen und folgte ihr im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Fuße. Als sie die Objekte der Begierde schließlich neben der Haustür auf den Boden legte, stürzte sich das Schweinchen darauf wie Pauschaltouristen aufs Nachtischbuffet. Wieder musste Nicole angesichts von so viel Enthusiasmus lachen.
„Man hat ja wirklich den Eindruck, als hättest du tagelang hungern müssen", meinte sie. Dann erinnerte sie sich wieder daran, was Petersen gesagt hatte: dass er keine Viecher durchfüttern könne, die ihm keinen Profit brachten. Vielleicht hatte er ja die Rationen für das arme Tier auf ein Minimum heruntergefahren. Bei dem Gedanken packte sie gleich wieder die Wut. Der sollte ihr nur noch mal unter die Augen kommen.
Das Schweinchen hatte die Äpfel innerhalb von höchstens zwanzig Sekunden heruntergeschlungen und machte sich nun daran, den Garten zu erkunden. Vielleicht hoffte es ja, dort noch weitere Leckereien aufzustöbern.
Mit der Maklerin hatte Nicole vereinbart, dass diese den Schlüssel für das Häuschen im Blumenkasten auf der rechten Fensterbank deponierte. Dort fand sie nach kurzer Suche unter einer dünnen Erdschicht eine Plastiktüte mit Haus- und Briefkastenschlüssel. Erleichtert nahm sie den größeren der beiden heraus und steckte ihn ins Schloss.
Bevor sie die Tür öffnete, schaute sie sich noch einmal nach ihrem neuen Freund um. Das Schwein war auf seiner Entdeckungstour offenbar schon ums Haus herumgelaufen, denn es war nirgends zu sehen. Da es den Garten nicht verlassen konnte, wollte sie ihm seinen Spaß nicht verderben. Es war ihr ohnehin lieber, ihr neues Heim erst mal zu erkunden, ohne dass ihr das Tier zwischen den Füßen herumsprang.
Sie drehte den Schlüssel und schob die Tür auf.
Drinnen war es ziemlich duster, und die Luft roch etwas abgestanden. Sie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Als die Deckenlampe aufflammte, blieb ihr vor Schreck die Luft weg.
© Weltbild Eigenauflage
Im Schutz einer Brombeerhecke, die den Garten neben dem Wohnhaus begrenzte, schlich er bis zum Stalltor. Er konnte die Kühe hören, die sich unruhig in ihren Boxen hin und her bewegten, ein paar muhten leise. Sicher spürten sie das heraufziehende Gewitter.
In der Ferne zuckten schon die ersten Blitze über den pechschwarzen Nachthimmel, und er zählte die Sekunden bis zum darauffolgenden Donner. Das Unwetter war noch etwa drei Kilometer entfernt, er musste sich also sputen.
Er ging so weit an der Stallmauer entlang, bis er nur noch ein kurzes Stück den Hof überqueren musste, um zu der niedrigen Scheune zu gelangen, in der Klaas seinen Traktor und anderes landwirtschaftliches Gerät untergebracht hatte. Wie erwartet war das Tor nicht abgeschlossen, sondern nur angelehnt. Es quietschte leise, als er es aufzog und sich durch den Spalt ins Innere zwängte. Drinnen konnte er die Hand vor Augen nicht erkennen und schaltete daher die Taschenlampe ein. Vom Wohnhaus aus war dieses Gebäude nicht zu sehen, daher bestand kaum ein Risiko, entdeckt zu werden.
Er stellte seine Tasche auf einer alten Werkbank ab und holte den Inhalt heraus. Dann fiel sein Blick auf etwas, das neben der Werkbank auf dem Boden stand, und er konnte sich ein hämisches Lachen nicht verkneifen. Das war ja sogar noch einfacher, als er gedacht hatte. Klaas war schon immer unvorsichtig gewesen, was den Umgang mit Gefahrenstoffen anging, das wussten viele Leute im Dorf. Wen würde es da also wundern, wenn ihm das schließlich einmal zum Verhängnis wurde? Die Scheune hatte zwar massive Mauern aus Backstein, aber das Dach war reetgedeckt und schon ziemlich marode, dazu kamen die Holzbalken, die es im Inneren abstützten. Das zusammen mit dem Sammelsurium extrem brennbarer Flüssigkeiten... da brauchte es nur einen ganz kleinen Funken.
Der Wind heulte mittlerweile noch stärker um das Gebäude und pfiff durch jede Ritze, Blitze und Donner folgten in immer kürzeren Abständen aufeinander. Er schnappte sich einen kleinen Kanister und kippte den Inhalt an einen der hölzernen Stützbalken. Dann riss er ein Streichholz an und warf es in die kleine Pfütze, die sich am Fuß des Balkens gebildet hatte. Sofort schoss eine Stichflamme hoch. Erschrocken sprang er nach hinten. Er musste eine starke Nitrolösung oder etwas Ähnliches erwischt haben.
Während er seine Utensilien hektisch in die Tasche zurückstopfte, brannte der Balken bereits lichterloh. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte in Richtung Scheunentor. Kurz bevor er es erreichte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Hartes und verlor das Gleichgewicht. Er ruderte mit den Armen, um sich wieder zu fangen, dabei entglitt ihm die Taschenlampe und landete scheppernd in irgendeiner Ecke der Scheune. Doch darum konnte er sich jetzt nicht mehr kümmern.
Gegen den heftigen Wind, der sich nun fast wie ein ausgewachsener Sturm anhörte, musste er seine ganze Kraft einsetzen, um das schwere Tor aufzudrücken. Draußen prasselte ihm kalter Regen ins Gesicht. Schnell zog er die Kapuze wieder über, hielt seine Tasche wie einen Schutzschild vor sich und kämpfte sich geduckt über den Hof zurück zum Stall. Das Gewitter war jetzt schon sehr nahe, und kurz fürchtete er, er könnte selbst vom Blitz getroffen werden. Sollte er sich im Kuhstall verstecken, bis das Schlimmste vorüber war? Da er jedoch nicht wusste, wie lange es dauern würde, bis Klaas bemerkte, dass etwas nicht stimmte, entschied er sich dagegen.
Gerade, als er den Feldweg erreichte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Er drehte sich um und sah, dass bereits das halbe Scheunendach in Flammen stand, auch der starke Regen schien dem Feuer nichts entgegensetzen zu können. Wer wusste schon, welche Chemikalien da gerade in die Luft geflogen waren. Im Laufschritt entfernte er sich vom Ort des Geschehens, denn sicher war Klaas von der Explosion wach geworden. Das Letzte, was er wollte, war, doch noch von ihm gesehen zu werden.
Ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen, verschwand er in der Dunkelheit.
1
„Ostfriesland, unendliche Weiten, dies sind die Abenteuer von Nicole Jacobi ... sofern sie in dieser elenden Suppe jemals ans Ziel kommt", murmelte Nicole und stieß einen tiefen Seufzer aus. Missmutig lenkte sie ihren alten Opel Corsa an den Straßenrand und starrte durch die Windschutzscheibe in die weißen Schwaden, die zum Greifen nah vorbeizogen. „Das wird wohl so bald nicht besser werden", sagte sie kopfschüttelnd und machte den Motor aus.
Seit sie vor einer halben Stunde die Ems überquert hatte, war der Nebel mit jedem Kilometer dichter geworden, gleichzeitig wurde der Empfang ihres Smartphones zunehmend schlechter, was sich in immer häufigeren Aussetzern äußerte. Da das Handy als Ersatz für ein richtiges Navigationsgerät diente und sie in einem Anfall von bedingungslosem Glauben an die Zuverlässigkeit der Technik darauf verzichtet hatte, eine Straßenkarte mitzunehmen, war sie nun gezwungen, alle paar Minuten anzuhalten und abzuwarten, bis sich die Internetseite mit der Karte wieder aktualisiert hatte. Und das konnte dauern.
„Wenn mir dieser Verkäufer noch mal über den Weg läuft, werde ich ihn erwürgen", sagte sie zu sich selbst und war froh, dass niemand da war, der sie hören konnte, sonst wäre sie am Ende noch die Hauptverdächtige, wenn dieser Kerl tatsächlich eines Tages erwürgt aufgefunden wurde. Das würde sie auch nicht wundern, da sie sicher nicht die Einzige war, der er diesen Handyvertrag hatte aufschwatzen können.
„Achtundneunzigprozentige Netzabdeckung", hatte er ihr versprochen.
„In Städten mit mehr als zweihundertfünfzigtausend Einwohnern", lautete dann die ergänzende Auskunft der Hotline, als Nicole unterwegs das erste Mal Verbindungsprobleme feststellte und ihren neuen Netzanbieter anrief, um sich zu beschweren.
Nachdem sie aufgelegt hatte, war sie froh gewesen, dass sie einer Aufzeichnung des Gesprächs zu „Schulungs- und Qualitätssicherungszwecken" nicht zugestimmt hatte, worauf sie zu Beginn des Telefonats von einer nervigen Männerstimme hingewiesen worden war. Ansonsten hätte ihr Anbieter jetzt einen Mitschnitt gegen sie in der Hand, der zweifellos den Tatbestand der Beleidigung erfüllte.
Dabei hatte sie doch nur einen günstigen Handyvertrag abschließen wollen, um immer gut erreichbar zu sein, wenn sie schon in so einem abgelegenen Landstrich wohnen und arbeiten musste.
Wie es zu diesem abrupten Richtungswechsel in ihrem Leben gekommen war, konnte sie immer noch nicht richtig fassen. Eigentlich hatte sie ihre Heimatstadt Hannover nur deshalb verlassen, weil sie schneller Karriere bei der Polizei machen wollte. Sie war mit ihrem Chef, Polizeihauptkommissar Wild, nach Osnabrück in die dortige Polizeidirektion gewechselt, wo es zunächst auch gut für sie lief.
Aber dann war Wild vor ein paar Monaten aus heiterem Himmel von seinem Posten abberufen worden, und ihr neuer Vorgesetzter, Rainer Weigand, hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sie in die ostfriesische Pampa zu versetzen. Natürlich hätte sie diese Versetzung ablehnen können, doch Weigand hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass er der Ansicht war, jeder Polizist, der höhere Dienstgrade anstrebe, müsse auch eine Weile auf dem platten Land gearbeitet haben, um alle Facetten der Polizeiarbeit kennenzulernen.
„Hier in der Großstadt ist das Leben viel zu anonym", hatte er ihr mit jovialem Habitus seine wohlmeinenden Absichten dargelegt, „deshalb ist es gerade für einen Polizisten - oder wie in Ihrem Fall: für eine Polizistin - wichtig, mit den Menschen in Kontakt zu kommen, für die man der ‚Freund und Helfer‘ sein soll - oder wie in Ihrem Fall: die ‚Freundin und Helferin‘ ..."
„Ist schon gut, Herr Weigand", hatte sie ihn höflich unterbrochen. „Sie müssen das nicht jedes Mal dazusagen. Ich werde mich ganz bestimmt nicht wegen Diskriminierung beschweren, nur weil Sie mir gegenüber nicht die weibliche Form verwenden."
Weigand hatte gelächelt und zufrieden genickt, dann fuhr er fort: „Auf dem Land, in einem Dorf, da lernen Sie jeden persönlich kennen, Sie erfahren etwas über das Leben und die Schicksale dieser Menschen. Das fördert Ihr Mitgefühl, und das wiederum kommt Ihnen zugute, wenn Sie anschließend wieder hierher zurückkehren. Dann ist die orientierungslose Person auf dem Bahnhofsvorplatz für Sie nicht bloß ein anonymer Mensch, ein ‚Fall‘, der bearbeitet werden muss. Vielmehr werden Sie diese Person mit ganz anderen Augen sehen, Sie werden sich fragen, wer dieser Mann ist, woher er kommt, wieso er orientierungslos ist. Sie werden mit ihm mitfühlen, und das wird Sie zu einer besseren Polizistin machen." Wie hätte sie da noch widersprechen können, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, sie wolle wohl keine bessere Polizistin werden? Sehr geschickt, Herr Weigand, wirklich sehr raffiniert.
Insgeheim hegte sie nämlich den Verdacht, dass er sie nur deshalb loswerden wollte, weil sie eine enge Mitarbeiterin seines Vorgängers gewesen war und weil er sowieso nichts von jungen Frauen im Polizeidienst hielt. Leider war er nun derjenige, von dem ihre Beförderung abhing. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Es war ja erst mal nur für ein Jahr. Mit diesem Gedanken versuchte sie sich zu trösten, wenn ihr Frust zu groß wurde. Manchmal funktionierte das sogar.
Ein Piepton holte sie wieder in die triste Gegenwart zurück. Nach fünf Minuten hatte ihr Smartphone es tatsächlich geschafft, den neuen Kartenausschnitt aufzurufen. Nun war sie sich aber nicht mehr sicher, von welcher Straße sie zuletzt abgebogen war. Dummerweise zeigte ihr die Gratis-App, die sie sich am Morgen noch schnell heruntergeladen hatte, nicht ihren aktuellen Standort an. Zudem wirkte in diesem verdammten Nebel, in dem man kaum zwanzig Meter weit sehen konnte, alles gleich. Es gab hier noch nicht einmal Bäume oder größere Büsche am Straßenrand, an denen sie sich orientieren konnte, von Straßenschildern ganz zu schweigen. Wahrscheinlich hätte sie auch im Kreis fahren können, ohne es zu merken. Sie beschloss, der Straße einfach so lange zu folgen, bis sie doch noch auf irgendein Schild stieß oder auf ein Haus, das nahe genug an der Straße stand, dass sie es auch im dichten Nebel noch sah. Sehr weit konnte es bis nach Reedersum eigentlich nicht mehr sein.
Nach ungefähr zwei Kilometern, die sie aufgrund der schlechten Sicht fast nur im Schritttempo zurückgelegt hatte, tauchte auf der rechten Straßenseite ein dunkler Schemen auf, der sich beim Näherkommen als Wohnhaus eines Bauernhofes entpuppte. Das Einfachste war es sicher, hier bei den Einheimischen nach dem Weg zu fragen. Nicole parkte den Corsa in der Hofeinfahrt, stieg aus und streckte sich kurz. Nach über zweieinhalb Stunden Fahrt inklusive eines dicken Staus auf der A1 war sie ziemlich erledigt. Auch wenn sie nicht die geringste Lust auf ihre neue Stelle hatte, im Moment wollte sie nur noch eines: endlich, endlich in diesem Kaff ankommen und in ihrem gemieteten Häuschen bei einer Tasse Tee die Füße hochlegen.
Der feuchte Nebel waberte um sie herum und ließ sie frösteln. Fast hatte sie das Gefühl, ihn mit Händen greifen zu können. Eine Nebelschwade schob sich zwischen sie und das Bauernhaus, und sie bemerkte, dass das milchige Weiß ihr nicht nur die Sicht nahm, sondern auch alle Geräusche dämpfte. Bis auf ihr eigenes Atmen war es fast unheimlich still. Ein bisschen kam sie sich vor wie in einem dieser alten Schwarz-Weiß-Gruselfilme, in denen plötzlich eine Krallenhand oder eine scheußliche Fratze aus dem Nebel auftauchte. Oder der Hund der Baskervilles.
Nicole schloss die Autotür und ging in Richtung Hauseingang. Ein gepflasterter Weg führte durch einen Vorgarten, in dem Astern und Dahlien blühten, die in dem trüben Herbstlicht jedoch seltsam farblos wirkten. Um die Tür und die Sprossenfenster rankte sich wilder Wein. Eine weiß gestrichene Holzbank lehnte an der Backsteinmauer. Fehlten nur noch der Pumpbrunnen und die Vogeltränke. Bei Sonnenschein bot das Ganze wahrscheinlich einen idyllischen Anblick. In ihr weckte es jedoch unangenehme Erinnerungen an diverse Urlaube auf dem Bauernhof, die sie als Kind mit ihrer Familie verbringen musste.
Sie liebte Tiere über alles und hatte sich schon Wochen im Voraus auf die jungen Katzen gefreut, die es jedes Jahr auf jedem Bauernhof gab, die Stallhasen, die Kühe, die Pferde und was das Landleben noch so an Vierbeinern bot. Leider vergaß sie dabei immer wieder - oder verdrängte es -, dass sie eine starke Allergie gegen alle Arten von Gräsern hatte, was den Ferienspaß ganz erheblich trübte. Während ihre jüngere Schwester Miriam mit den anderen Kindern im Heu herumtobte oder dabei half, die Kühe zu füttern, bekam sie schon rote Augen und Atemnot, wenn sie nur in die Nähe des Stalls oder des Heuschobers kam. Ihr Asthmaspray war ihr ständiger Begleiter. Trotzdem waren ihre Eltern nie auf die Idee gekommen, den Urlaub besser ans Meer oder in die Berge zu verlegen. Sie waren nämlich - typisch Lehrer - der Ansicht gewesen, ihre beiden Stadtkinder müssten wenigstes einmal im Jahr selbst erleben, dass die Milch nicht aus der Tüte kommt, dass Obst nicht in Plastikschalen wächst und dass Kühe nicht lila sind.
Seit Nicole alt genug war, ohne ihre Eltern zu verreisen, hatte sie keinen Fuß mehr aufs Land gesetzt, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Sie war mit Leib und Seele Städterin. Und nun stand sie hier: irgendwo im Nirgendwo. Seufzend schüttelte sie den Kopf und klopfte an die rotbraune Holztür. Keine Reaktion. Suchend sah sie sich um, konnte aber nirgends eine Klingel entdecken. „Hallo!", rief sie und klopfte noch einmal, diesmal fester. „Ist jemand da?"
Als sich nach zwei oder drei Minuten immer noch nichts rührte, ging sie nach rechts und spähte um die Hausecke. Dort war niemand zu sehen, nur eine Treppe, die nach unten zu einer Kellertür führte. Der Nebel machte keine Anstalten, sich aufzulösen oder wenigstens ein bisschen zu lichten, im Gegenteil. Während sie sich noch fragte, was sie jetzt tun sollte, stieg ihr plötzlich der Geruch von Gülle in die Nase. Natürlich, das hier war ein Bauernhof mit Viehwirtschaft, der Bauer oder die Bäuerin waren sicher im Stall zu finden. Von hier aus konnte sie nicht erkennen, wo der sich befand, daher ging sie einfach auf gut Glück los.
„Verdammt, was ...", fluchte Nicole, als sie an einem großen Traktor vorbeikam, der mitten auf dem Hof stand. Es war eines von diesen wuchtigen, grün lackierten Modellen mit verglaster Fahrerkabine, bei denen die beiden Hinterräder fast mannshoch waren - wobei sie von der Farbe nur wenig sehen konnte, da das Gefährt von oben bis unten mit Schlamm bespritzt war. Sie war mit dem Hosenbein an irgendeinem Teil der Maschine hängen geblieben und bückte sich, um sich zu befreien. Dabei fiel ihr Blick auf das Nummernschild, an dem erstaunlicherweise kaum Dreck klebte. Als Polizistin war sie es gewohnt, bei Fahrzeugen automatisch die TÜV-Plakette zu überprüfen, und diese hier war schon seit über zwei Jahren abgelaufen. Dafür war eigentlich ein Bußgeld fällig, aber im Moment hatte Nicole wirklich andere Sorgen.
Nachdem sie sich wieder aufgerichtet und den gröbsten Dreck von ihrer Hose geklopft hatte, bemerkte sie weiter links einen schwachen Lichtschein und den vagen Umriss eines Gebäudes. Vorsichtig ging sie darauf zu, denn die Pflastersteine waren nass und ziemlich glitschig.
Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel, wie etwas auf sie zugeschossen kam. Erschrocken fuhr sie herum und erwartete, im nächsten Augenblick von einem zähnefletschenden, geifernden Hofhund mit einer Kette um den Hals angefallen zu werden. Instinktiv nahm sie eine Abwehrhaltung ein, wie sie sie in ihren verschiedenen Selbstverteidigungskursen gelernt hatte. Nur war da nie die Verteidigung gegen große, böse Hunde durchgenommen worden. Unglücklicherweise war hier auch nichts in Reichweite, womit sie sich zur Wehr setzen konnte.
Der Aufprall war so heftig, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor, doch das Tier biss nicht zu. Wahrscheinlich war es nur darauf abgerichtet, unliebsame Besucher zu stellen, in Schach zu halten und dann mit lautem Gebell seinen Herrn zu alarmieren. Dieser Hund gab allerdings sehr merkwürdige Geräusche von sich. Das klang viel eher wie ... ein Grunzen?
Verwirrt blickte sie nach unten. Dort, eng an ihre Beine gedrückt, stand ein kleines Schwein, grunzte und quiekte leise und reckte ihr seine feuchte Schnauze entgegen. Ehe sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, schälte sich eine Gestalt aus dem Nebel, die rasch auf sie zukam - und die eine Waffe in der Hand hielt!
Reflexartig griff Nicole an ihre Hüfte, wo normalerweise ihre Dienstpistole im Waffengürtel steckte. Im Auto, schoss es ihr im selben Moment durch den Kopf. Deine Pistole liegt im Auto.
Mittlerweile war die Gestalt bis auf wenige Meter herangekommen. Ein bulliger Mann in grober Arbeitskleidung und Schnürstiefeln mit einem ziemlich finsteren Gesichtsausdruck.
„Halt, stehen bleiben, Polizei"!, rief sie, davon überzeugt, dass er sie gleich attackieren würde.
Zu ihrer Überraschung blieb er tatsächlich stehen und sah sie irritiert an. Sie konnte spüren, dass das Schweinchen immer noch da war, weil es seine Schnauze in ihre Kniekehlen drückte. Wäre sie nicht so angespannt gewesen, hätte sie über diese völlig absurde Situation eigentlich lachen müssen.
„Was faseln Sie da?", schnauzte der Mann sie an und fuchtelte dabei mit der Waffe herum. Aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass es sich weder um eine Pistole noch um einen Schlagstock handelte. Es war ein ungefähr dreißig bis vierzig Zentimeter langer, etwas dickerer Metallstab, der zu einem Ende hin ein wenig schmaler wurde. Dort befand sich irgendeine Art von Auslösemechanismus. Dunkel konnte sie sich daran erinnern, so etwas schon einmal in einer Fernsehdoku oder einem Film gesehen zu haben. Doch bevor ihr noch einfallen konnte, worum es da ging, machte der Mann zwei weitere Schritte auf sie zu.
„Wer sind Sie überhaupt? Und wieso schleichen Sie hier im Nebel auf meinem Hof rum?", fragte er mit drohendem Unterton.
„Ich schleiche nicht ...", begann Nicole, doch dann wurde ihr bewusst, dass ihr Gegenüber ganz offensichtlich der Eigentümer dieses Hofes war und völlig zu Recht wissen wollte, was eine Fremde dort zu suchen hatte. „Bitte entschuldigen Sie", machte sie einen neuen Anlauf. „Ich hätte mich Ihnen erst mal vorstellen sollen, aber ich bin so erschrocken, als Ihr ... Ihr Schwein plötzlich auf mich zugerannt kam, da ..."
„Wo ist der lütte Drietkerl hin?", unterbrach er sie barsch. „Der ist heut schon zum zweiten Mal ausgebüchst. Noch mal macht er das nich mit mir!"
Nun war sie verwirrt. War der Mann blind? Das Schweinchen stand doch immer noch hinter ihr. Sie dreht kurz den Kopf, um sich zu vergewissern, und erhaschte einen Blick auf ein behaartes Hinterteil mit einem kleinen Ringelschwanz. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass das Tier sich so hinter ihren Beinen versteckt hatte, dass der Bauer es tatsächlich nicht sehen konnte.
Als sie sich wieder ihrem Gegenüber zuwandte, blieb ihr Blick erneut an dem Gegenstand in seiner Hand hängen. Plötzlich fiel ihr ein, was es war: ein Bolzenschussgerät. Mit so etwas hatte der Killer in dem Film No Country For Old Men seine Opfer erledigt.
„Sie wollen das arme kleine Ding doch nicht etwa damit umbringen?", fragte sie entsetzt. „Nein, natürlich nich. Wie soll denn das funktionieren? Damit betäub ich es nur, bevor ich es schlachte", kam die lapidare Antwort.
„Aber wieso wollen Sie es überhaupt schlachten? Ist es dafür nicht noch viel zu klein?"
„Es wird nich mehr größer. Hat irgendein Problem mit den Nieren", erklärte der Bauer knapp. Offenbar hatte er nicht die geringste Lust, sich mit ihr über dieses Thema zu unterhalten.
Das weckte Nicoles Kampfgeist. „Und nur weil es nicht mehr weiter wachsen wird, wollen Sie es einfach töten?", ereiferte sie sich. „So können Sie mit einem empfindungsfähigen Lebewesen doch nicht umgehen. Ich kann doch auch nicht meinen Hund einschläfern lassen, nur weil ich keine Lust mehr habe, sein Futter zu bezahlen oder dreimal am Tag mit ihm Gassi zu gehen."
Der Bauer sah sich suchend um. „Sie haben einen Hund?" „Was? Nein, ich habe keinen Hund, ich ...", setzte sie zu einer Erklärung an.
„Dann haben Sie ihn also doch einschläfern lassen."
„Nein, das war nur ein hypothetischer Hund."
„Ach, das Tier war krank?", fragte der Mann irritiert.
Nicole zählte langsam bis fünf, dann antwortete sie: „Das mit dem Hund war nur ein Beispiel. Ich wollte einen Vergleich ziehen." In einem Winkel ihres Gehirns wusste sie natürlich, dass dieser Vergleich ziemlich hinkte, aber sie war schon viel zu wütend auf diesen unmöglichen Menschen, als dass sie sich davon hätte aufhalten lassen. „Ich sollte Sie einfach dem Tierschutz melden", fauchte sie frustriert.
„Hören Sie mal gut zu, wer auch immer Sie sind", schnaubte der Bauer. Trotz des Nebels konnte sie sehen, wie sein Gesicht rot anlief. „Ich weiß ja nich, in welcher Welt Sie leben, aber ich hab hier Milchkühe und eine Schweinezucht, mit der ich meine Familie ernähren muss. Ich kann es mir nich leisten, Viecher durchzufüttern, die nich für die Zucht oder die Mast taugen. Also werd ich dieses Schwein schlachten, solange ich damit noch was verdiene. Der Wirt vom Stürhuus wartet schon auf sein Spanferkel. Und Sie machen jetzt gefälligst, dass Sie von meinem Grund und Boden verschwinden, sonst ..."
Statt weiterzureden, starrte er auf einmal angestrengt an ihr vorbei, dann stapfte er los und rief: „Na warte, wenn ich dich erwische!"
Nicole drehte sich um und sah, dass das Schweinchen blitzschnell gemerkt hatte, dass es entdeckt worden war, und nun die Flucht ergriff. Bevor der Bauer sie noch überholen konnte, rannte sie auch schon hinter dem Tier her in Richtung Hofeinfahrt, wo ihr Corsa stand. Sie riss die Beifahrertür auf und versuchte sich zu erinnern, wo genau sie in dem vollgestopften Auto die Metallbox mit ihrer Dienstpistole verstaut hatte. Immerhin hatte der Mann etwas in der Hand, was sich auch gegen Menschen als Waffe einsetzen ließ, da war sie selbst außer Dienst berechtigt, sich zu schützen und gegebenenfalls zu verteidigen. Leider wurde sie auf die Schnelle nicht fündig und konnte sich nur ihren großen Regenschirm schnappen, den sie wie ein Schwert vor sich hielt, als der Bauer ein paar Sekunden später schnaufend bei ihr ankam. Das Schweinchen war nirgends zu sehen, vielleicht hatte es ja hinter dem Auto Schutz gesucht.
„Kommen Sie nicht näher!", rief Nicole. „Als ich vorhin gesagt habe, dass ich bei der Polizei bin, war das kein Witz. Ich kann Ihnen gern meinen Dienstausweis zeigen."
Das schien den Mann zumindest so weit zu beeindrucken, dass er ein paar Meter Abstand hielt. Von dort taxierte er sie mit einem skeptischen Blick aus eisgrauen Augen.
„Bei welcher Polizei? Jedenfalls nich bei unsrer. Wir haben hier seit zwanzig Jahren nur einen Gendarm."
„Tja, ab morgen haben Sie zwei", erwiderte sie und musste sich bei seinem verblüfften Gesichtsausdruck ein Grinsen verkneifen. „Das heißt, wenn Ihr Hof zum Gemeindegebiet von Reedersum, Hindersum oder ..." Sie musste einen Moment nachdenken, wie der dritte Ort noch gleich hieß. „... oder Westerheede gehört."
„Wozu soll er denn sonst gehören?", fragte der Bauer. „Bis nach Reedersum rein sind es von hier doch keine zwei Kilometer die Straße runter."
Gott sei Dank, hätte Nicole beinahe ausgerufen, konnte sich aber gerade noch bremsen. „Dann werden wir ja in Zukunft noch öfter das Vergnügen miteinander haben", sagte sie stattdessen ironisch.
„Sie? Sie sind ab morgen hier auf der Wache?" Er zog die Augenbrauen zusammen und schien über etwas nachzudenken. „Ja, richtig", murmelte er nach ein paar Sekunden, „irgendwann hat Sven ... ähm Kommissar Kröger mal was davon gesagt, dass er im Herbst Verstärkung bekommt. Aber eine Frau? Sie sind doch sicher noch keine dreißig." Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Passen Sie bloß auf, was Sie sagen, Herr, Herr ..."
„Petersen, Malte."
„Beamtenbeleidigung kann nämlich teuer werden, Herr Petersen." Natürlich wusste sie, dass das, was er gesagt hatte, noch lange nicht den Tatbestand der Beleidigung erfüllte, aber es konnte nichts schaden, sich gleich ein wenig Respekt zu verschaffen. Männer seiner Generation - sie schätzte ihn auf Ende fünfzig, Anfang sechzig - hatten ihrer Erfahrung nach generell Probleme damit, Frauen und erst recht jüngere Frauen als Autoritätspersonen zu akzeptieren. Die Uniform half da meistens ganz gut, aber die hatte sie ja leider nicht an.
Erst mal bedachte Petersen sie mit einem finsteren Blick, dann sagte er: „Polizeibeamtin oder nich, was ich hier auf meinem Hof mit meinen Tieren mache, geht Sie gar nix an. Ich könnt Sie wegen Hausfriedensbruch anzeigen."
„Das können Sie ja mal versuchen, dann werden Sie schnell feststellen, dass ihr Grundstück dafür irgendwie eingezäunt sein oder ein Hoftor haben müsste." Mit solchen Delikten kannte sie sich bestens aus, auch wenn das in der Stadt meistens in Wohnungen, Geschäften oder Diskotheken zur Anzeige kam.
„Aber das Schwein ...", begann er, doch plötzlich weiteten sich seine Augen. „Haal mi de Kuckuck, dat gifft dat do' nich!"
Nicole drehte sich um und konnte gerade noch sehen, wie zwei Hinterbeine und ein Ringelschwanz durch die halb geöffnete Beifahrertür im Inneren des Corsas verschwanden. Kurz blieb auch ihr der Mund offen stehen, aber sie fing sich schnell wieder. Sie hatte sowieso nicht vorgehabt, das arme Tier hier seinem Schicksal zu überlassen. Diesem alten Chauvinisten wollte sie nur zu gerne eine Lektion erteilen. Also machte sie kurzerhand einen Schritt nach hinten und schlug die Autotür zu.
„He, was soll denn das?", rief Petersen aufgebracht und fuchtelte wieder mit dem Bolzenschussgerät herum. „Das ist Diebstahl! Dafür werd ich Sie auf jeden Fall anzeigen, darauf können Sie einen ... ähm sich verlassen!"
Nicole hielt ihn weiter mit dem Schirm auf Abstand. „Das werden wir ja noch sehen", sagte sie und schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Worauf Sie sich aber schon mal verlassen können, ist ein Bußgeldbescheid über fünfundsiebzig Euro und zwei Punkte in Flensburg." Sie deutete in Richtung des Traktors, von dem im Nebel nur die Umrisse zu sehen waren. „Ganz schön fahrlässig von Ihnen, dieses Monstrum nicht regelmäßig warten zu lassen. Da könnte schnell mal ein Unfall passieren, und dann wird es ohne gültige TÜV-Plakette richtig teuer. Die Versicherungen zahlen dann nämlich in den seltensten Fällen." Mit erhobenem Schirm ging sie zur Fahrerseite ihres Wagens. „Seien Sie also froh, dass ich Sie vor so etwas bewahre.Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Petersen."
Mit diesen Worten stieg sie ein und verriegelte von innen sofort alle Türen. Schließlich traute sie diesem Peterson durchaus zu, dass er versuchen würde, das Schweinchen doch noch aus dem Auto zu holen. Als sie einen kurzen Blick in seine Richtung warf, stand er allerdings da wie vom Donner gerührt und machte keine Anstalten, sich dem Wagen zu nähern.
Nicole ließ den Motor an, fuhr rückwärts aus der Einfahrt, ohne darauf zu achten, ob die Straße frei war, und gab Gas. Im Rückspiegel sah sie, wie Peterson und der Hof innerhalb weniger Sekunden vom Nebel verschluckt wurden.
Nach ein paar Hundert Metern bog sie in einen schmalen Feldweg und hielt an. Bevor sie weiterfuhr, musste sie sich erst mal etwas beruhigen. Ihr war noch nicht so ganz klar, was da eben über sie gekommen war. Hatte sie wirklich ein Schwein von einem Bauernhof entführt und den Bauern mit einem Regenschirm bedroht?
Ein Blick auf die Beifahrerseite ließ daran keinen Zweifel: Im Fußraum saß ein Schweinchen von der Größe eines mittleren Hundes und futterte die letzten Butterkekse aus der offenen Packung, die auf dem Sitz lag. Seine Schlappohren wippten beim Fressen auf und ab, im linken Ohr hatte es eine runde gelbe Plastikmarke. Jetzt erst fiel Nicole seine ungewöhnliche Färbung auf. Es war nicht einfarbig rosa oder rosa mit schwarzen Flecken - es war gestreift. Kopf und Ohren ebenso wie Hinterteil und Hinterbeine wiesen eine rotbraune Farbe auf, ab den Schultern bis zur Körpermitte einschließlich der Vorderbeine war es hellrosa, fast schon weiß. Das musste eine besondere Rasse sein. Vielleicht irgendeine Neuzüchtung, überlegte sie. Als Kind war ihr in den Ferien auf dem Bauernhof jedenfalls keine ähnliche Färbung aufgefallen, zumindest nicht, soweit sie sich erinnern konnte.
Das Schweinchen verschlang eben den letzten Keks und sah dann abwartend zu ihr hoch.
„Was guckst du mich so an?", fragte Nicole, als es ein paar Grunzlaute von sich gab, die beinahe so klangen, als würde es „Hunger" sagen. „Du hättest dir die Kekse besser ein wenig einteilen sollen. Lass dir das eine Lehre sein." Dann verzog sie den Mund und murmelte: „Jetzt rede ich schon mit Schweinen! Ich komme wohl nicht mehr oft genug unter Leute."
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Normalerweise hatte sie sich gut im Griff, auch in Situationen, in denen sie provoziert wurde. Aber sobald es um das Wohl von Tieren ging, ließ ihre Professionalität sie gerne mal im Stich. Das hatte zuletzt eine Frau zu spüren bekommen, die in ihrer Dreizimmerwohnung über zwanzig Katzen hielt. Die armen Tiere mussten in ihrem eigenen Dreck leben und hatten sich vor lauter Stress schon gegenseitig verletzt. Solche Tier-Messis waren ihr zutiefst zuwider, auch wenn sie wusste, dass die meisten von ihnen psychisch krank waren. Wenn sie es recht bedachte, ging es in der Massentierhaltung auch nicht anders zu. Bei alldem, was sie darüber schon gehört und gelesen hatte, war ihr der Appetit auf Wurst und Fleisch gründlich vergangen, von den Gammelfleischskandalen der letzten Zeit mal ganz abgesehen. Allerdings hatte sie sich noch nie damit beschäftigt, dass diese Tiere, die da zu Schnitzel verarbeitet wurden, auch intelligent waren. Und dieses kleine Schweinchen hier war offensichtlich ziemlich clever.
Es hatte mittlerweile Nachschub in Form eines Apfels gefunden, der bei einem Bremsmanöver vom Beifahrersitz gerollt war und den sie vergessen hatte aufzuheben.
„Na, dir schmeckt's aber", sagte Nicole und musste bei dem Anblick unwillkürlich lächeln.
Als hätte es sie verstanden, hob das Schwein den Kopf und grunzte einmal kurz, was sie als Zustimmung deutete. Dann suchte es mit dem Rüssel weiter den Sitz und den Boden ab.
„Mehr hab ich wirklich nicht für dich", sagte sie entschuldigend und fragte sich, was sie jetzt mit dem Schweinchen anfangen sollte. Es dem Bauern zurückzubringen, kam für sie nicht infrage. Ihr war klar, dass sie sich mit dieser Aktion ganz schön Ärger einhandeln konnte, aber das kümmerte sie erst mal wenig. Sie würde das schon irgendwie regeln.
Mittlerweile hatte das Schwein gemerkt, dass es hier nichts mehr Fressbares gab. Außerdem war es ihm im Fußraum des Corsas offenbar zu ungemütlich geworden, denn noch ehe Nicole reagieren konnte, war es mit seinen schlammverschmierten Klauen auf den Beifahrersitz geklettert und ließ sich dort häuslich nieder. Ihr würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als es mit in ihr vorübergehendes Zuhause zu nehmen. Dort konnte sie dann in Ruhe überlegen, wo es sich am besten unterbringen ließ. Hoffentlich blieb es während der Fahrt einigermaßen ruhig sitzen, anschnallen konnte sie es schließlich schlecht.
Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und streichelte das Schweinchen zwischen den Ohren, was von diesem mit einem wohlig klingenden Grunzen quittiert wurde.
„Mach dir keine Sorgen, mein Kleiner, ich werde mich schon darum kümmern, dass dir niemand mehr mit so einem Bolzenschussgerät auf die Pelle rückt. Vielleicht kann ich dir ja beibringen, wie man damit umgeht, und dann kannst du nachts diesem Petersen einen Überraschungsbesuch abstatten." Mit diesen Worten machte Nicole sich auf den, wie sie hoffte, nur noch kurzen Weg bis zu ihrem gemieteten Haus in Reedersum.
Es dauerte dann doch noch fast zwanzig Minuten, bis sie endlich am Ziel ankam. Das Haus stand nämlich nicht im Zentrum, wie sie geglaubt hatte, sondern etwas außerhalb genau auf der anderen Seite des Ortes. Der war mit seinen dreieinhalbtausend Einwohnern - so sagte zumindest Wikipedia - nicht gerade groß, dafür aber sehr langgezogen. Mehrere kleine Ansiedlungen und Bauernhöfe lagen verstreut um den Hauptort, und weil bei ihrem Smartphone zusätzlich zum schlechten Empfang jetzt auch noch der Akku fast leer war, hatte sie zweimal nach dem Weg fragen müssen, bis sie die Deichstraße gefunden hatte. Zum Glück war niemandem ihr tierischer Beifahrer aufgefallen, der die ganze Fahrt über brav auf seinem Platz sitzen geblieben war.
Aufgrund des Nebels hatte sie von Reedersum nicht viel mitbekommen. Die meisten Häuser waren im typisch norddeutschen Stil aus Backstein errichtet, ein paar - wie das Rathaus - wirkten durch große Glasfronten moderner. Einige Straßen waren gepflastert, und es gab an der Hauptstraße erstaunlich viele Geschäfte. Zudem waren ihr die zahlreichen Autos mit niederländischem Nummernschild aufgefallen. Was aber auch kein Wunder war, da der Ort nur einen Steinwurf von der Grenze entfernt lag.
Nicole parkte den Corsa neben einer Buchsbaumhecke und stieg aus. Das reetgedeckte Häuschen hatte sie im Internet auf einem Immobilienportal für Ostfriesland entdeckt. Es war zwar nicht besonders groß, aber dafür möbliert, und die Miete war einigermaßen günstig. Da sie nicht vorhatte, hier Wurzeln zu schlagen, wollte sie den Aufwand für den Umzug so gering wie möglich halten. Alles, was sie unbedingt brauchte, hatte sie in ihr Auto gepackt, den Rest bei einer Spedition eingelagert und ihre Wohnung in Osnabrück für ein Jahr untervermietet. Wenn alles gut lief, konnte sie sich bald dorthin zurückversetzen lassen oder, was ihr noch verlockender erschien, wieder nach Hannover gehen.
Das Haus hatte nur ein Stockwerk, aber das Dach war ausgebaut, sodass sie insgesamt drei Zimmer zur Verfügung hatte: Schlafzimmer, Wohnzimmer und eine etwas größere Wohnküche. Dazu kam noch ein kleines Badezimmer mit Dusche und Toilette.
Einen Keller gab es nicht, dafür einen Schuppen im Garten, den sie aber sicher nicht brauchen würde. Wie das Bauernhaus von Malte Petersen hatte das Häuschen weiße Sprossenfenster und die obligatorische Bank im Vorgarten. Allerdings war die Eingangstür grün, die Wände waren weiß gestrichen. Ein Holzzaun, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, begrenzte das Grundstück. Daher entschied sie, dass sie es wagen konnte, das Schweinchen aus dem Auto zu lassen. Wenn sie es schnell durch das Gartentor dirigierte, würde es nicht mehr weglaufen können. Ihr fiel ein, dass im Kofferraum noch ein Stoffbeutel mit einer Flasche Wasser und zwei weiteren Äpfeln lag. Die würden als Lockmittel sicher funktionieren.
Nachdem sie die Äpfel herausgeholt hatte, öffnete Nicole erst das Gartentor, dann die Beifahrertür des Corsas. Sofort steckte das Schwein seine Schnauze durch den Spalt. Offenbar hatte es die Leckerbissen längst gerochen und war ganz begierig darauf, sie zu verputzen.
„Schau mal, was ich hier für dich gefunden habe", sagte sie und zog die Tür noch etwas weiter auf. Das Schweinchen kletterte erstaunlich mühelos aus dem Auto und schaute erwartungsvoll zu ihr hoch. „Komm mit, dann kriegst du die leckeren Äpfel", lockte sie, während sie schon in Richtung Gartentor ging. Das ließ sich das Tier nicht zweimal sagen und folgte ihr im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Fuße. Als sie die Objekte der Begierde schließlich neben der Haustür auf den Boden legte, stürzte sich das Schweinchen darauf wie Pauschaltouristen aufs Nachtischbuffet. Wieder musste Nicole angesichts von so viel Enthusiasmus lachen.
„Man hat ja wirklich den Eindruck, als hättest du tagelang hungern müssen", meinte sie. Dann erinnerte sie sich wieder daran, was Petersen gesagt hatte: dass er keine Viecher durchfüttern könne, die ihm keinen Profit brachten. Vielleicht hatte er ja die Rationen für das arme Tier auf ein Minimum heruntergefahren. Bei dem Gedanken packte sie gleich wieder die Wut. Der sollte ihr nur noch mal unter die Augen kommen.
Das Schweinchen hatte die Äpfel innerhalb von höchstens zwanzig Sekunden heruntergeschlungen und machte sich nun daran, den Garten zu erkunden. Vielleicht hoffte es ja, dort noch weitere Leckereien aufzustöbern.
Mit der Maklerin hatte Nicole vereinbart, dass diese den Schlüssel für das Häuschen im Blumenkasten auf der rechten Fensterbank deponierte. Dort fand sie nach kurzer Suche unter einer dünnen Erdschicht eine Plastiktüte mit Haus- und Briefkastenschlüssel. Erleichtert nahm sie den größeren der beiden heraus und steckte ihn ins Schloss.
Bevor sie die Tür öffnete, schaute sie sich noch einmal nach ihrem neuen Freund um. Das Schwein war auf seiner Entdeckungstour offenbar schon ums Haus herumgelaufen, denn es war nirgends zu sehen. Da es den Garten nicht verlassen konnte, wollte sie ihm seinen Spaß nicht verderben. Es war ihr ohnehin lieber, ihr neues Heim erst mal zu erkunden, ohne dass ihr das Tier zwischen den Füßen herumsprang.
Sie drehte den Schlüssel und schob die Tür auf.
Drinnen war es ziemlich duster, und die Luft roch etwas abgestanden. Sie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Als die Deckenlampe aufflammte, blieb ihr vor Schreck die Luft weg.
© Weltbild Eigenauflage
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Autoren-Porträt von LAURA BEER
Die gebürtige Frankfurterin Laura Beer ist schon seit ihrer Jugend eingefleischter Krimifan und hat nun mit "Friesisches Roulette" ihren ersten eigenen Roman veröffentlicht. Inspiriert wurde sie dafür von ihren beiden Zwergschweinen George und Clooney, die sich mit ihr und ihrem Mann sowie mehreren Katzen ein Häuschen im Taunus teilen.
Bibliographische Angaben
- Autor: LAURA BEER
- 2014, 286 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3863659287
- ISBN-13: 9783863659288
- Erscheinungsdatum: 19.03.2014
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