Ich bin dann mal weg
Sechs Wochen lang war Hape Kerkeling unterwegs - als Pilger zum Grab des heiligen Jakob in Santiago de Compostela. Er beschreibt seine Reise mit Witz, Charme und dem Blick für das Besondere. Er erzählt von Zweifeln und Erschöpfung, von...
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Sechs Wochen lang war Hape Kerkeling unterwegs - als Pilger zum Grab des heiligen Jakob in Santiago de Compostela. Er beschreibt seine Reise mit Witz, Charme und dem Blick für das Besondere. Er erzählt von Zweifeln und Erschöpfung, von Hilfsbereitschaft und Freundschaft - und von dem Gefühl der Nähe zu Gott.
''Ein ehrliches Buch, das Menschen, die der Kirche fern sind, Mut macht, sich auf die Suche nach Gott zu machen.''
Die Tagespost
Ich bindann mal weg von Hape Kerkeling
LESEPROBE
10. Juni2001 - Roncesvalles
Mann, bin ich gebeutelt! Kann kaum noch den Stift in derHand halten.
Heute Morgen um kurz vor sieben verlasse ich mein Hotel mitdem Ziel Roncesvalles in Spanien. Frühstück gabs keines. Das wird erst ab achtgereicht. Stattdessen hab ich mir einen Powermüsliriegel gegönnt. Davon habeich mir drei Stück eigentlich nur für Notfälle aus Deutschland mitgenommen.Meine Ein-Liter-Plastikwasserflasche habe ich lediglich zur Hälfte gefüllt,denn jedes Milligramm mehr macht meinen Rucksack nur schwerer.
Gleich nachdem ich den offiziellen, zunächst gepflastertenPilgerpfad betrete, fängt es an, wie aus Kübeln zu regnen, und die nassfeuchteKälte macht mir schnell klar, dass meine überteuerte Regenjacke nicht nurkälte-, sondern auch wasserdurchlässig ist. Kein anderer Pilger ist unterwegs, soweit ich das in dem dichten Nebel beurteilen kann. Die Herrschaftenbaden offensichtlich gerne lau. Alles Weicheier und nicht so hart im Nehmen wieich, so viel steht jetzt schon fest!
Eigentlich wollte ich heute schön langsam starten und michan das Gewicht auf meinen Schultern und das Gehen mit dem Wanderstock gewöhnen.Pustekuchen! Bei dem Wetter will man nicht laufen, sondern bloss so schnell wiemöglich irgendwo ankommen. Der doofe Pilgerstab gerät mir ständig zwischen dieFüsse und kleinste Stolperer führen dazu, dass mich der Rucksack, derSchwerkraft gehorchend, mit voller Wucht nach vorne drückt, sodass ichuntrainierter Moppel mich nur mit Mühe wieder fange. Ein vernünftiges Lauftempostellt sich so nicht ein. Entweder hetze ich atemlos vor mich hin oder ichkrieche nur so voran.
Ob die Gegend hier schön ist, vermag ich nicht zubeurteilen. Vor lauter Regen und Nebel kann ich nichts, absolut nichts sehen.Das Foto in meinem farbigen Reiseführer zeigt eine märchenhaft verschneiteGebirgskulisse vor einem glühenden Sonnenuntergang und erklärt diese Region zueiner der magischsten Europas, die ich unbedingt mal gesehen haben sollte.Hier soll es üppige Weidematten mit Schafen, die unbedingte Vorfahrt geniessen,egal wer des Weges kommt, unter schroffen Felsformationen geben. Mag sein.
Leider werde ich nie guten Gewissens behaupten können, hiergewesen zu sein!
So holpere ich dann in einem dreistündigen Gewaltmarschimmer nur steil bergauf, arbeite mich stoisch durch eine riesige Nebelwand aufdie Passhöhe von Roncesvalles auf 1300 Höhenmetern zu, während mein Rucksackganz eindeutig wieder nach Hause will, so wie der zieht.
Irgendwann, es war ja zu befürchten, kann ich nicht mehrweiter. Mir kommt der Gedanke, dass, wenn ich jetzt tot umfalle, mir auch meinknallroter Signalrucksack nichts nützt. Bei dem Bergnebel wäre ich auch vonoben schier unauffindbar. Ich beschliesse, dass das überaus tragisch ist, und sokann ich mich durch einen nervösen Lachanfall wenigstens entspannen. Lachenstrengt mich aber noch mehr an. Die Vernunft obsiegt und so entscheide ich,dass hier und jetzt nichts mehr geht, dass ich das Heft nicht mehr in der Handhalte und mich demütig in mein Schicksal füge. Ich kann einfach nicht mehrweiter!
Bei strömendem Regen setze ich mich auf einen Stein amWegesrand und geniesse das nicht vorhandene Pyrenäen panorama. Ein Blick nachrechts sagt mir, dass ich den steilen Aufstieg nicht mehr schaffen werde, dader Gipfel, wenn ich von meinem bisherigen Entenmarschtempo ausgehe,wahrscheinlich noch Stunden entfernt liegt. Ein Blick nach links verrät, dassich den wahrscheinlich dreistündigen, nicht minder steilen Abstieg auch nichtmehr auf die Reihe bekomme. Dies ist also ein Notfall und so gönne ich mireinen Müsliriegel und eine klatschnasse Zigarette. Triefende Nässe verleiht demTabak eine besondere Note. Der Regen stört mich nicht mehr, es ist eh schonalles triefend nass, übrigens auch alle Dinge in meinem garantiertwasserundurchlässigen Rucksack! Qualmend sitze ich auf dem Stein und lache.Keine Ahnung wie lang; fünfzehn Minuten vielleicht? Auf dem gesamtenmehrstündigen Marsch war ich nicht einem einzigen Menschen begegnet.
Plötzlich - ohne Vorwarnung - taucht links vor mir im Nebelein kleiner blauer Transporter auf. Ich reagiere prompt und zwinge ihn, vorFreude mit meinem Wanderstab wedelnd, zu halten. An mir und meinem Warnrucksackkommt der auf dem schmalen Strässchen sowieso nicht vorbei. Der uraltedreirädrige Wagen kommt zum Stehen. Von innen wird die Beifahrertür geöffnetund ein knallrotes Bauerngesicht strahlt mich derbe an.
»Na, wo wollen Sie denn bei dem Sauwetter hin?«, schallt esmir in einem urwüchsigen französischen Dialekt entgegen.
»Nach oben!«, sage ich, denn das französische Wort fürGipfel will mir gerade partout nicht einfallen. Mit einer knappen einladendenGeste und einem dahingebrummten Wort bittet der Bauer mich in den Wagen. Ohneden Rucksack vorher abzuschnallen, setze ich mich neben den Gauloise rauchendenMann im Blaumann und klebe nur fast mit der Nase an der Scheibe. Den von hintenkommenden strengen Gestank kann ich allerdings noch deutlich riechen. Ich drehemich um und ein gigantischer Widderkopf blökt mich von der Ladefläche an. Einzweites Tier streckt mir seelen ruhig sein Hinterteil entgegen. Mit Vollgasgeht es jetzt Richtung Gipfel.
»Wie weit ist es denn noch bis... oben?«, frage ich, um eineKonversation zu beginnen.
»Nicht mehr weit. Zweieinhalb Kilometer vielleicht?«,entgegnet er, während er mir eine trockene Zigarette anbietet, welche ich mirrasch anzünde.
»Dann war ich ja doch schon fast oben«, entfährt es mirerleichtert.
»Sind Sie einer von den Pilgern?«
»Ja!«, antworte ich knapp und denke: »Jetzt habe ich es zumersten Mal gesagt: Ich bin Pilger!«
»Meinen Sie nicht, dass Sie sich da ein bisschen zu vielaufhalsen?«, will er jetzt kritisch dreinschauend wissen.
Ja, ich mute mir allerdings zu viel zu, aber ich werde einenTeufel tun, das in Gegenwart zweier stinkender Schafe zuzugeben.
Der Wagen schlängelt sich flott nach oben und wie aufKommando wird der blökende Widder von einem akuten Würgereiz, begleitet vongrünem Auswurf, befallen. Kurz gesagt: Das riesige Schaf kotzt auf dieLadefläche. Als wäre das eine besondere Leistung, grinst der Landmann michfröhlich an. Mir fällt nichts Originelleres ein als: »Ist ihm nicht gut?«
Der Bauer kann mich aber beruhigen: »Das macht er immer! Erfährt nicht gern Auto! Aber der Sommer kommt und dann müssen sie nun einmalwieder auf die Alm und das geht nur mit dem Auto.«
Auf einer Anhöhe setzt mich mein Fahrer dann im strömendenRegen und noch dichterem Nebel und bei subjektiv eindeutig gefühltenMinustemperaturen an einem total zermatschten Waldweg aus. Er beugt sich nochmal lächelnd mit der Kippe im Mund zu mir: »Das Schlimmste haben Sie geschafft!Der Gipfel ist nicht mehr weit.« Ich bedanke mich von Herzen und kann es mirnicht verkneifen, dem Widder gute Besserung zu wünschen. So braust das Autoweiter, während ich im Nebel erfolgreich nach Wegweisern fahnde. Durch dieVerschnaufpause fühle ich mich wieder halbwegs gewappnet für den Weg nachSpanien und will mir daraufhin einen Schluck Wasser gönnen. Beim Griff nach meinerWasserflasche muss ich jedoch feststellen, dass mir diese im Auto aus demRucksack gerutscht sein muss. Grossartig! Es regnet in Strömen und ich hab dasGefühl zu verdursten.
Nach unzähligen weiteren kleinen Aufstiegen - die Luft wirdda oben schon etwas dünner - komme ich an die berühmte Rolandsquelle, ganz inder Nähe der offenen spanischen Landesgrenze, dorthin, wo Ritter Roland sich sowacker, aber erfolglos gegen die Basken - oder waren es die Mauren? - geschlagen hat. Schon Karl der Grosse soll aus der Quelle getrunken haben. Fürsolche historischen Spitzfindigkeiten habe ich jetzt allerdings wenig Sinn -ich habe Durst. Frei nach Brecht kommt erst das Trinken, dann die Bildung. ImLauftempo hoppele ich zu dem Brunnen, während mein Rucksack fröhlich auf und abschunkelt und noch viel stärker an meinen armen Schultern zerrt. Schon sehe ichmich meinen Durst stillen und drücke beinahe feierlich den schicken goldenenHahn der Rolandsquelle und - nichts passiert! Kein Wasser!
Ich versuche es mehrmals, aber die Quelle scheint versiegt.
Sturzbäche fliessen links und rechts an mir vorbei. Rot,matschig und modderig. Aber kein Wasser in der Quelle.
Mein Reiseführer weiss indes zu berichten, dass dies dieeinzige Trinkwasserquelle auf der gesamten Etappe ist, dass Roland, der PaladinKarls des Grossen, hier von den Sarazenen - ah, den Sarazenen! - brutalgemeuchelt wurde und dass mich auf Grund der schlechten Witterung nochmindestens viereinhalb Stunden Fussmarsch erwarten. Fantastisch! Heute istdefinitiv mein Tag! Ich bin wütend. Kann mir nicht verdammt noch mal jemand nKlempner schicken?
Da höre ich plötzlich ein allmählich sich näherndesMotorengeräusch. Und aus dem Nebel taucht am Berghang oberhalb der Quelle einkleines Feuerwehrauto auf. Keine Halluzination!
Zwei gut gelaunte Feuerwehrmänner steigen aus und taperndurch den Nebel langsam zu mir herunter. »Cest tout bien, monsieur?« Sieerkundigen sich netterweise nach meinem Befinden. Meine Antwort kommt promptund wer so grossen Durst hat, der kann auch gut Französisch: »Mir geht esbestens, aber der Wasserhahn der historisch bedeutsamen Rolandsquelle istdefekt. Sie werden es kaum glauben, aber da ist kein Wasser mehr drin!« InNullkommanix, wie halt die Feuerwehr so ist, bringen sie zwar den Hahn nicht dazu,Wasser zu spucken, aber durch eine gemeinsame Kraftanstrengung gelingt esihnen, hinter der Quelle einen Schlauch aus dem Erdboden zu reissen und ich kannendlich saufen!
Mindestens zwei Liter lasse ich in mich hineinlaufen. Danachreparieren die Jungs alles wieder bzw. sie machen den Brunnen wiederfunktionsuntüchtig; so wie er halt vorher war!
Heute war ich sicher der Einzige, der hier getränkt wurde.Und dann sprudelt die Frage förmlich aus mir heraus: »Was um Himmels willenmachen Sie denn bei diesem Sauwetter hier oben?«
Der kräftigere der Feuerwehrmänner erklärt mir mit einemLächeln: »Gar nichts. Meinem Kumpel ist bloss schlecht geworden. Gestern hattenwir den grossen Feuerwehrball in Saint-Jean-Pied-de-Port und er hat zu vielgetrunken und nun müssen wir alle zehn Minuten anhalten, weil der Kollege sichübergeben muss.« So schnell wie die Feuerwehr-Fata-Morgana gekommen ist,verschwindet sie auch wieder in der Nebelwand.
Mensch und Tier scheint es hier wohl öfter schlecht zu gehenund mir kommt es auf mysteriöse Art zugute. Zum zweiten Mal bin ich heutedankbar.
Die Feuerwehrmänner waren Franzosen, was bedeutet, dass ichalso noch nicht mal in Spanien bin und der längste Teil des Wegs noch vor mirliegt. Beschwingt marschiere ich weiter durch den immer dichter werdenden Waldund über Berge, von denen ich nur vermuten kann, dass es sie gibt. Der Himmelwill und will nicht aufreissen.
Nach drei weiteren quälenden Stunden Fussmarsch werde ichendgültig lauffaul, habe aber noch locker zwei Stunden auf den Beinen vor mir,denn der Regen wird immer stärker und ich immer schwächer. Mittlerweile bin ichso langsam geworden, dass mich innerhalb von einer halben Stunde ein DutzendPilger überholen. Wo kommen die auf einmal alle her? Seit Stunden habe ich niemandengesehen und nun ziehen sie klitschnass und grusslos an mir vorüber!
Zum Glück geht es dann aber auch irgendwann wieder abwärts.Mein Herz schlägt höher. Der Abstieg auf dem höchstens zwanzig Zentimeterbreiten Matsch- und Geröllpfad durch den Wald aus Buchen ist jedoch so steil,dass mein linkes Knie nach kurzer Zeit anfängt zu pochen und höllisch zuschmerzen. Dass Knieschmerzen sich so rasend steigern können, war mir bisherunbekannt. Es hilft nichts, ich muss laut vor mich hin stöhnen, um es auszuhalten,und es ist mir gleichgültig, ob das irgendjemand in dieser gottverlassenenWildnis hört. Ich bin jetzt wehleidig!
Aus einem touristischen Kaufrausch heraus habe ich mir Gottsei Dank diesen Wanderstock gekauft. So sehr mich dieser Knüppel beim Aufstiegbehindert hat, so sehr nützt mir dieser Zauberstab jetzt bei dieserSchlitterpartie nach unten. Ohne ihn könnte ich mich auf dieser Rutschbahn garnicht mehr halten. Alle zehn Minuten muss ich eine Pause einlegen, um überhauptvorwärts zu kommen. Jetzt bloss kein Selbstmitleid. Ich hab mich hierhochgeschleppt und nun schleppe ich mich eben wieder runter. Allerdings mussich vor Sonnenuntergang in Roncesvalles sein, sonst sehe ich tatsächlichschwarz. Bisher war immer noch kein Grenzstein zu sehen, also muss ich immernoch in Frankreich sein. Spanien, komm mir doch bitte ein Stückchen entgegen!
Die Schmerzen im Knie werden unerträglich und ich bin denTränen nahe! In meinem hellsichtigen Reiseführer steht übrigens, dass jederPilger auf der Reise mindestens einmal weinen wird.
Aber doch bitte nicht gleich am ersten Tag! Noch zehnMinuten und ich falle um! Und oh Wunder, kurz bevor ich tatsächlich losheule,komme ich aus dem dichten Wald an eine Lichtung und sehe die Klostermauern vonRoncesvalles. Ich fühle mich wie ein Aussätziger im Mittelalter, dem einBarmherziger ein Stück Brot reicht. Ich habs geschafft. SechsundzwanzigKilometer zu Fuss über die Pyrenäen! Die kleine Spritztour mit dem Schafbauernmal nicht dazu gerechnet.
Das wuchtige Kloster von Roncesvalles, die offiziellePilgerherberge, sieht aus wie eine verschlafene Dornröschenburg und ist dreiNummern zu gross für den bescheidenen Flecken. Der Ort scheint quasi jedenMoment von dem Konvent erdrückt zu werden. Nach einem kleinen Rundgang durch dasKloster, bei dem ich mich auf das Erdgeschoss beschränke, da ich heute nichtmal mehr eine Bordsteinkante bewältigen könnte, stellt sich leider heraus, dassdie Schlafsäle, die Toiletten und Duschen nicht halten, was das Kloster vonaussen verspricht. Es ist schrecklich kalt und schmutzig. In der Haupthallelagern an die fünfzig Pilger. Ihre durchnässten Kleider haben sie auf demfeuchten Steinboden zum Trocknen ausgebreitet. In den Ecken kauern und liegenverschwitzte, überanstrengte Menschen mit erstaunlich zufriedenen Gesichtern.So sehe ich also auch aus.
Als ich mir meinen ersten richtigen Pilgerstempel im Klosterabhole, fragt mich der stämmige baskische Rentner hinter dem Schreibtisch:
»Wieso wollen Sie nur einen Pilgerstempel, brauchen Sie keinBett?«
Mein Spanisch kann sich im Gegensatz zu meinem Französischwirklich hören lassen. Spanisch war mein zweites Abiturfach und ich liebe dieseSprache nach wie vor. Also entgegne ich ihm: »Nein, ein Bett brauche ich nicht,ich werde im Hotel schlafen.« Der Mann erhebt sich wütend von seinemSchreibtisch, haut mit der Faust auf den Tisch und fährt mich an: »Was fälltIhnen ein? Das sind ja ganz neue Moden! Als Pilger hat man in einerPilgerherberge zu schlafen, um gemeinsame Erfahrungen mit anderen Pilgernauszutauschen, und sich nicht in einem Hotel abzusondern!«
Fassungslos schaue ich den Bettenwart an und sage:»Erfahrungen tausche ich gerne aus, an Fusspilzaustausch habe ich jedoch keinInteresse.« Ich drehe mich um und gehe. Anstatt hier rumzumaulen, könnte derTyp besser mal eben die Duschwannen durchfeudeln, schiesst es mir wütend durchden Kopf. Beim besten Willen, in diesem Kloster werde ich nicht übernachten.Ich habe mir den Gewaltmarsch meines Lebens angetan und werde mich jetzt nichtdafür bestrafen, indem ich in diesem refugio schlafe. Gut, übersetzt bedeutetdas nicht mehr und nicht weniger als »Zuflucht«, deswegen darf man auch nichtzu viel erwarten.
Ich humpele auf die andere Seite der einzigen Strasse imDorf.
Meine Wahl fällt auf die kleine Pension direkt gegenüber demKonvent. Sie ist preisgünstig, gepflegt und im warmen Zimmer gibt es sogar eineBadewanne. In der guten Stube angekommen, breite ich zunächst mal meine nassenHabseligkeiten auf dem Boden und über der Heizung aus. Selbst das Geld und meinReiseführer sind nass. Mein Knie tut jetzt bei jedem Schritt höllisch weh.Hoffentlich muss ich das Unternehmen nicht nach der ersten Etappe abbrechen.Kommt nicht in Frage! Im Ruhezustand merke ich ja nichts. Rauflaufen gehtgerade noch, aber runter ist unmöglich und leider hat man mir das einzige freieZimmer im ersten Stock gegeben. Ich habe ewig gebraucht, bis ich hier oben war,und hab vorsichtshalber unten gleich was gegessen; Calamares in der eigenenTinte, so muss ich nachher nicht mehr runter und dann wieder rauf. In meinemdesorientierten Reiseführer steht, es soll hier ein Lebensmittelgeschäft geben.Gibt es aber nicht. Mir ist ein Rätsel, wo ich morgen Verpflegung herbekommensoll. Und selbst wenn es irgendwo ein Lebensmittelgeschäft gäbe, würde ichmorgen früh die Stufen runter ins Erdgeschoss womöglich ja gar nicht mehrschaffen.
Ich halte fest: Auf meine Weise habe ich heute einen Gipfelerklommen. Meine unteren Gliedmassen sprechen eine eindeutige Sprache. Sie sindmittlerweile zu einem einzigen dumpfen Schmerz zusammengewachsen. Verhält essich mit meiner Suche vielleicht so wie mit der Suche nach dem Gipfel im Nebel?Ich kann zwar nichts sehen, aber er ist da! Es wird ja wohl nicht an akutemSauerstoffmangel liegen? Jedenfalls freue ich mich, in Spanien zu sein, undmorgen gehts weiter. Ich fühle mich so, als wäre ich heute durch einennebeligen Geburtskanal auf den Weg geboren worden. Es war eine schwere Geburt,aber Mutter und Kind sind trotzdem wohlauf und die Nabelschnur ist durchtrennt!Von meinen orthopädischen Problemen sollte ich einmal absehen.
Erkenntnisdes Tages:
Obwohl ichden Gipfel durch den Nebel nicht sehen kann, ist er doch da!
© Piper Verlag
9. Juni 2001 - Saint-Jean-Pied-de-Port
10. Juni 2001 - Roncesvalles
11. Juni 2001 - Zubiri
12. Juni 2001 - Pamplona
13. Juni 2001 - Pamplona
14. Juni 2001 - Viana und Logroño
15. Juni 2001 - Navarrete und Nájera
17. Juni 2001 - Santo Domingo de la Calzada
18. Juni 2001 - Santo Domingo de la Calzada
21. Juni 2001 - Castildelgado
22. Juni 2001 - Belorado, Tosantos und Villafranca
24. Juni 2001 - Burgos, Tardajos
25. Juni 2001 - Hornillos del Camino und Hontanas
26. Juni 2001 - Castrojeriz und Frómista
27. Juni 2001 - Carrión de los Condes
28. Juni 2001 - Calzadilla de la Cueza
29. Juni 2001 - Sahagún
30. Juni 2001 - León
1. Juli 2001 - León
2. Juli 2001 - Irgendwo im Nirgendwo hinter León
3. Juli 2001 - Astorga
4. Juli 2001 - Astorga
5. Juli 2001 - Rabanal
6. Juli 2001 - Rabanal
7. Juli 2001 - Foncebadón und El Acebo
8. Juli 2001 - El Acebo
9. Juli 2001 - Molinaseca, Ponferrada
10. Juli 2001 - Villafranca del Bierzo
11. Juli 2001 - Trabadelo und Vega de Valcarce
12. Juli 2001 - La Faba und O Cebreiro
13. Juli 2001 - Triacastela
14. Juli 2001 - Triacastela
15. Juli 2001 - Sarria und Rente
16. Juli 2001 - Portomarín
17. Juli 2001 - Palas de Rei
18. Juli 2001 - Castañeda
19. Juli 2001 - Rúa
20. Juli 2001 - Santiago de Compostela
Nachwort 346
- Autor: Hape Kerkeling
- 2008, 75. Aufl., 352 Seiten, 35 Abbildungen, Masse: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Malik
- ISBN-10: 3890293123
- ISBN-13: 9783890293127
- Erscheinungsdatum: 16.05.2006
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