Keine Schritte zählen, keine Aufgaben lösen: einfach spazierengehen und ohne Zeitdruck die Musse erleben. Mit der richtigen Ausrüstung geht das bei jedem Wetter
Dreh doch mal ´ne Runde: Spazierengehen ist gesund
In der Corona-Zeit haben viele von uns das Spazierengehen neu entdeckt, also das entspannte Gehen ohne Pflicht und Zeitdruck.
Nirgends passt das Sprichwort „Der Weg ist das Ziel“ besser als zur Beschreibung des Spaziergangs. Hier geht es nicht ums pünktliche Ankommen oder Kilometerfressen, sondern um Erholung und Erbauung.
Einfach flanieren, spazieren, die Welt entdecken und die Zeit geniessen - das ist für uns heute gar nicht so einfach. Wollen wir doch alle möglichst produktiv sein, mit unserem Tracker Schritte zählen, Fitnesspunkte sammeln und keine Minute des Tages ungenutzt verstreichen lassen. Selbst die Wartezeit an derTram muss mit einem schnellen Mail-Check überbrückt werden. Einfach nur tatenlos in der Gegend rumstehen und auf den warten? Wie verschwenderisch! Und wie entspannend!
Für manche ist derlei Musse zunächst gewöhnungsbedürftig. Eilt man im Alltag von Termin zu Termin, setzt man sich auch in der Freizeit gerne Vorgaben oder möchte zumindest das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. So wollen manche in unter einer Stunde um den See spazieren und dabei noch ein wichtiges Telefonat erledigen.
Dabei ist das Loslösen von Zeit- und Optimierungsdruck die Voraussetzung für die wohltuende und gesundheitsfördernde Wirkung des Spazierengehens. Und diese Wirkung ist erwiesenermassen äusserst vielfältig:
Spaziergehen hält gesund
Spaziergehen ist gut für
- Herz
- Blutdruck und
- Immunsystem.
Beim gleichmässigen Gehen wird der Kreislauf in Schwung gebracht ohne überlastet zu werden. Diese Balance ist wichtig, denn gerade für Ältere oder Untrainierte sind Aktivitäten jenseits der Belastungsgrenze schädlich. Zudem sind die sanften Bewegungen beim Spaziergehen gelenkschonend, insbesondere wenn man Wege mit weichem Untergrund wählt. Wer bei schönem Wetter spazieren geht, der füllt seinen Vitamin-D-Speicher auf, was sowohl unseren Knochen als auch unserer Stimmung guttut.
Frische Luft mit gesunden Nebenwirkungen geniessen: Spazierengehen stärkt Herz, Kreislauf und Immunsystem. Wer weiter gehen will, ist mit Wanderschuhen gut beraten
Beim Spazierengehen die Gedanken fliegen lassen
Der Gang an der frischen Luft steigert die Sauerstoffversorgung des Gehirns und erhöht unsere Denkleistung.
Manche kennen diesen Effekt, wenn, nach einiger Zeit des losgelösten Wanderns, die Gedanken plötzlich anfangen zu fliegen. Im Zustand der entspannten Konzentration können wir plötzlich Dinge glasklar durchdenken, Lösungen finden und neue Ideen erspinnen.
Sobald sich meine Beine bewegen, beginnen meine Gedanken zu fliessen.
Henry David Thoreau
- Es braucht dazu im wahrsten Sinne des Wortes eine gewisse Anlaufzeit und natürlich Ruhe. Gehen Sie, wenn Sie nachdenken wollen, am besten alleine los, lassen Sie sich treiben und warten Sie nicht ungeduldig auf den ersten Geistesblitz. Ähnlich wie beim abendlichen Einschlafen, geht es meist am besten, wenn man nicht ständig daran denkt.
- Auch wenn sich die gewünschte Klarheit, Eindeutigkeit und Ordnung nicht einstellen sollte, wirkt jeder Spaziergang zumindest entspannend auf unsere Muskulatur und Nerven.
Gegen den Stress spazierengehen
Gerade in stressigen Situationen kann ein längerer Spaziergang dazu beitragen, nicht dem ersten Impuls nachzugeben und vielleicht Entscheidungen zu treffen, die man später bereut. Der Ratschlag „Dreh erst mal ´ne Runde an der frischen Luft“ hat schon so manche Freundschaft, Karriere und Beziehung gerettet.
Vom Lustwandeln des Adels zum Sonntagsspaziergang für alle
Während der Renaissance wurde der Begriff Spaziergang aus dem italienischen Wort spaziare entlehnt, was so viel wie schweifen, schweben, wandern bedeutet. Spaziare wiederum entstammt dem lateinischen Wort für Zwischenraum: spatium. Sinnbildlich gesprochen befindet man sich während eines Spaziergangs in einer Art Zwischenraum, also einer wohltuenden Lücke zwischen Terminen und Verpflichtungen.
Anfangs lustwandelte nur der Adel in seinen grosszügig angelegten Gärten und Parks. Mit dem Aufstieg des Bürgertums im 18. Jahrhundert erhielt der Spaziergang die Funktion des sozialen Austauschs. Man zeigte sich, plauderte und knüpfte Kontakte.
Das Spazierengehen wurde bald fester Bestandteil der Gepflogenheiten an Sonn- und Feiertagen. Durch den zunehmenden See- und Bädertourismus flanierte man auch auf eleganten Promenaden und Seebrücken entlang.
Flanieren und spazierengehen - statt Schritte zählen
Nachdem der regelmässige Spaziergang über Generation gepflegt wurde, kam er in den letzten Jahren immer mehr aus der Mode. Flanieren und zielloses Umherstreifen passte nicht mehr in die durchgetaktete Welt der modernen Selbstoptimierer.
Statt zu schweifen wurden plötzlich Schritte und Kalorien gezählt. Letzteres kann zwar durchaus bewegungsmotivierend sein, steht aber dem eigentlichen Zweck des Entspannens und Entdeckens entgegen. Anstatt sich vom Alltagsrhythmus zu befreien, wird man durchs ständige Vermessen neu gefangen.
Ein Spaziergang geht immer: Gute Tipps
Das Spaziergehen lässt sich fast immer auch in den Alltag integrieren.
- So kann man beispielsweise morgens den Bus nehmen und nachmittags nach Hause spazieren.
- Ist die Wegstrecke ohne Verkehrsmittel zu lang, dann steigt man einfach zwei, drei Stationen früher aus und läuft den Rest zu Fuss.
- Selbst die Mittagspause kann zu einer kurzen Flanade, verbunden mit einer körperlichen und mentalen Erfrischung, genutzt werden.
- Wer übrigens einmal das Flanieren für sich entdeckt hat, wird immer Gelegenheit und Wege finden, um wieder loszustreifen. Egal, ob alleine oder gemeinsam mit anderen.
Beim Flanieren in Gemeinschaft entspinnen sich oft gute Gespräche, und zudem macht es Spass, die Umgebung gemeinsam zu entdecken und zu kommentieren. Anstatt sich mit der Freundin immer nur im Café zu treffen, laden Sie sie doch mal zum Spazierengehen ein. So pflegen Sie Ihre Freundschaft und Gesundheit gleichermassen, und ins Café gehen können Sie anschliessend immer noch.
Spazierengehen: abseits des Schönen Schönes entdecken
Es lohnt sich, auch abseits der schönen Landschaften und bekannten Sehenswürdigkeiten zu spazieren. Selbst in Industrie-, Gewerbe- oder Neubaugebieten gibt es allerhand zu entdecken. Auf diese Weise lernt man Teile seiner Stadt und Umgebung kennen, die einem sonst verborgen blieben.
Ausserdem ist, wer abseits der typischen Pfade wandelt, meist ungestörter und aufmerksamer. Dabei lässt sich auch der Frage nachgehen, warum eine Landschaft eigentlich schön oder hässlich ist. Denn vieles, was wir in unserer Hochgeschwindigkeitswelt an uns vorbeihuschen lassen und keines Blickes würdigen, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als ästhetisch und schön. Probieren Sie es einmal aus. Ein Spaziergang ist immer eine Zeit für sich, eine Zeit der Achtsamkeit, der Aufmerksamheit, der Gelassenheit.
Vom Erfinder der Promenadologie (dt. Spaziergangswissenschaft), dem Schweizer Soziologen Lucius Burckardt, ist der treffende Satz überliefert:
Spazierengehen schafft Schönheit
Dem ist nichts hinzuzufügen.