Cafe Nagler OmU (DVD)

Mor Kaplansky (Jahrgang 1980) hat Zeit ihres Lebens Geschichten über das legendäre "Café Nagler" am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg gehört, das von 1908 bis 1925 von ihren Ur-Ur-Grosseltern Rosa und Ignatz Nagler betrieben wurde und in den 1920er-Jahren einer der Treffpunkte für "Gebildete" wie Schriftsteller, Schauspieler, Musiker gewesen sein musste. Auf Drängen ihrer 86-jährigen Grossmutter Naomi, die Geschirr und Besteck aus dem Café aufbewahrt und mit Kaffee- und Kuchenzeremonien in Ehren gehalten hat, reist Mor nach Berlin, um sich auf Spurensuche zu begeben und einen Dokumentarfilm über die Geschichte dieses Cafés zu drehen.
In Berlin angekommen, scheint niemand das Café zu kennen, und an der Stelle, wo es sich befunden haben muss, prangt heute eine Wiese. Mor will der Sache auf den Grund gehen, taucht in Archive ein, sucht das Gespräch mit Experten aus Museen, Vertretern von Bürgervereinen, Nachkommen von Zeitzeugen und Nachbarn.

"Café Nagler" entstand 2015 und ist Mor Kaplanskys erster Langfilm. Er ist überwiegend in Hebräisch gedreht, enthält auch englische und deutsche Passagen. Bei der Untertitelung kann zwischen Deutsch ,Englisch oder gar keiner gewählt werden. 2016 wurde er in der Reihe "kulinarisches Kino" auf der Berlinale gezeigt. Er ist ein Film von ganz eigener Art geworden, da er als Doku beginnt und dann aus sehr persönlichen Motiven und wegen der entstehenden Eigendynamik die Richtung wechselt und zu einem, im wahrsten Sinn des Wortes, fiktionalen Film wird.

Zunächst irritiert dieser Genremix zwar. So aber erzählt "Café Nagler" einfühlsam und dabei ehrlich eine individuelle Geschichte über Geschichte/Historie und Geschichten, über Empfindungen und Sehnsüchte, über Verklärung und Mythenbildung und ähnelt insofern Sarah Polleys "Stories We Tell". Das Gefühl von Entwurzelung und Heimatlosigkeit (ver)führt zum Träumen und dazu, sich selbst und andere zu "beschummeln", bis man den eigenen Erzählungen Glauben schenkt und die "Lügen" zur Wahrheit werden.

Ich fand "Café Nagler" informativ und charmant, denke jedoch, dass der Film wohl vor allem für ein Publikum geeignet ist, das sich speziell für das eben beschriebene, typisch menschliche psychologische Phänomen interessiert und/ oder für das Entstehung eines Films bzw. dafür, weshalb so manche Produktion eines Dokumentarfilms scheitert oder aufgegeben werden muss.

Das Bonusmaterial umfasst fünf Teile und rundet den Gesamteindruck ab:
1. Oma Naomi schaut ihre Lieblingsszenen, der Film ist wohl auch ihr gewidmet
2. "Das Picknick" = ein Revival der 1920-er Jahre im Park
3. Tiefer- und weitergehende Überlegungen und Anregungen eines Professors zu den Gründen, weshalb das Café aufgegeben wurde - diesen Abschnitt fand ich persönlich enorm vielsagend und einleuchtend
4. "Das verlorene Messer", ein Besuch im Archiv des Kreuzberg-Museums
5. Ein Besuch im Altersheim