Bildung statt Bologna! / Ullstein eBooks (ePub)
Die europäische Hochschulreform ist in Deutschland katastrophal gescheitert. Dieter Lenzen sieht die Universitätsbildung in Gefahr. Seine Forderung: Wir müssen uns auf klassische Bildungsideale zurückbesinnen und selbständige, kritische Persönlichkeiten...
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Produktinformationen zu „Bildung statt Bologna! / Ullstein eBooks (ePub)“
Die europäische Hochschulreform ist in Deutschland katastrophal gescheitert. Dieter Lenzen sieht die Universitätsbildung in Gefahr. Seine Forderung: Wir müssen uns auf klassische Bildungsideale zurückbesinnen und selbständige, kritische Persönlichkeiten formen, anstatt reine Lernfabriken zu betreiben, die nur Spezialwissen vermitteln. Schneller studieren, internationaler studieren - das waren die hoch gesteckten Ziele der Bologna-Reform. Tatsächlich sieht die Situation an den Universitäten heute anders aus. Studenten hetzen von Prüfung zu Prüfung, erwerben Schmalspurwissen und sind menschlich unvorbereitet, wenn sie auf den Arbeitsmarkt kommen. Auch die Wirtschaft beobachtet manche Folgen von Bologna mit Sorge. In diesem Buch analysiert Uni-Präsident Dieter Lenzen, was Europa mit der klassischen Hochschultradition angestellt hat und in welche Richtung die Reform reformiert werden muss. Denn die zentrale Aufgabe der Universität besteht nach wie vor darin, kritisch denkende Persönlichkeiten zu formen - im Interesse von uns allen.
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Bildung statt Bologna! von Dieter LenzenVORWORT
Dieser Essay soll nicht die x-te Bologna-Schelte sein. Der Text optiert für eine Besinnung über die besinnungslose Umsetzung eines europäischen Reformgedankens an den deutschsprachigen Universitäten. Er ruft zum Handeln auf, mit dem Ziel, der Aufgabe allgemeiner Persönlichkeitsbildung und Menschenbildung durch Wissenschaft wieder einen gleichrangigen Stellenwert neben der Ausbildung für ein berufliches Leben einzuräumen.
Dieser Text hat drei Anlässe, von denen es auch Dutzende weitere geben könnte.
Zum Beispiel: An einer großen deutschen Universität wurde unlängst eine Bande dingfest gemacht, die ein kriminelles Geschäftsmodell entwickelt hatte. In dem riesigen Raum, in dem 1200 Studierende zur Abfassung einer Abschlussklausur zur Einführungsvorlesung in die Betriebswirtschaft versammelt waren, wurde ein Universitätsfremder als vermeintlicher Student eingeschleust, der mit Hilfe seines Handys die Klausuraufgaben aus dem Prüfungsraum heraus nach draußen zu einer Gruppe von Komplizen funkte, um die Aufgaben dort mit unerlaubten Hilfsmitteln und durch qualifizierte Personen schnellstens lösen zu lassen. Die Lösungen bot der eingeschleuste »Student« dann während der Klausur in zunächst unentdeckter Weise in einem Kettensystem den Prüflingen gegen eine beträchtliche Geldzahlung zum Kauf an. Als der Täter durch die Klausuraufsicht auf die unerlaubte Benutzung seines Handys angesprochen und herausgebeten wurde, fielen die Bandenmitglieder über die Aufsichtsperson her, prügelten sie ins Koma und flüchteten.
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Ein weiterer, persönlicher Anlass: An einer anderen deutschen Universität schrieb unlängst einer meiner Söhne ebenfalls eine Klausur zur Einführungsvorlesung in die Betriebswirtschaft. Wir verabredeten, da ich von diesem Problem gehört hatte, dass er nach der Klausur die Papierkörbe im Klausurraum untersuchen sollte. Neben vielem belanglosen Zeug fand er insgesamt neun ausgeleerte Schachteln des Präparats Ritalin, das etliche Prüflinge sich offenbar zu Beginn der Klausur selbst verabreicht hatten.
Und schließlich, aus einer ganz anderen Welt, lesen wir in der Allgemeinen Zeitung Mainz vom 15.11.2013, dass der Präsident der Unternehmerverbände in Rheinland- Pfalz, Gerhard F. Braun, sich mit der Bologna-Reform zufrieden zeige, weil sie mit der »Überakademisierung « ein Ende gemacht habe: »Grundsätzlich gab es vor der Umstellung viele überqualifizierte Bewerber, eine Überakademisierung.« Die Ironie ist: Viele Studierende wissen gar nicht, dass der Bachelor aus Sicht der Arbeitgeber oft überhaupt kein »wissenschaftlicher « Abschluss ist. Auf die Überakademisierung folgt gewissermaßen bruchlos die Unterakademisierung, weil dem Absolventen mit Bachelor-Abschluss weite Teile des Arbeitsmarktes, etwa der höhere Staatsdienst, verschlossen bleiben.
»Die Bologna-Reform führt zur Bildung krimineller Vereinigungen, zum Drogenmissbrauch und zur Täuschung einer ganzen Generation von Studierenden, die mit dem Bachelor glaubten, einen akademischen Abschluss zu erwerben, aus der Sicht der Wirtschaft aber genau diesen nicht besitzen.« - So einfach darf man es sich sicher nicht machen. Gleichwohl sind diese Beispiele paradigmatische Folgen der weitestreichenden Veränderung im deutschen Bildungssystem seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Was ist geschehen?
Das deutsche kontinentaleuropäische Universitätssystem, dessen Eckstücke in der Idee der Bildung durch Wissenschaft, durch den Gedanken des forschenden Lernens, die Idee der akademischen Freiheit und die Beschränkung des Eingriffs in das studentische Lernen auf eine Abschlussprüfung bestanden, ist ersetzt worden durch das dem atlantischen Hochschulverständnis entliehene Modell universitärer Einrichtungen als Berufsausbildungsinstitutionen für eine nicht nur akademische Ausbildung. Dies kann als einzigartiger »Sieg« der britisch-amerikanisch akzentuierten Universitätsvorstellungen über das klassische Universitätsideal deutscher Provenienz gelten.
So ist etwa die Abschlussprüfung abgeschafft worden, die nicht zu Unrecht als Grund für lange Studienzeiten aus Angst vor den Prüfungen verantwortlich gemacht wurde, es aber auch ermöglichte, dass das Studium selbst, durch die Beschränkung auf ein Sammeln von »Scheinen«, relativ restriktionsfrei war. Heutzutage ist das gesamte Studium von »studienbegleitenden Prüfungen « durchsetzt, die am Ende jedes »Moduls« oder sogar einzelner Lehrveranstaltungen stehen und ausnahmslos alle in die Schlussnote des Abschlusszeugnisses eingehen (das damit eigentlich keinen Abschluss mehr bescheinigt, sondern einen Verlauf ). Nicht selten führt diese Praxis für die Studierenden zu zweistelligen Prüfungszahlen pro Semester. Jeder Atemzug wird bewertet, das Lernen erfolgt unter taktischen und strategischen Gesichtspunkten, und die Last des Unterrichts für die Lehrenden vervielfältigt sich. Der Arbeitsalltag der Dozenten ist mittlerweile mehr von Klausurdurchsichten als von einer ausreichenden Vorbereitung der Unterrichtseinheiten gekennzeichnet. Kein Wunder, dass in einer solchen, nicht mehr akademischen Lernwirklichkeit die Lernlast als »Workload« berechnet und wie in Tarifverhandlungen auf 40 Stunden pro Woche fixiert wird.
Der politische Grund war die Idee der Schaffung eines europäischen Hochschulraums mit hoher internationaler Durchlässigkeit und dem wohl dahinterliegenden Ziel, die Vereinigung Europas voranzutreiben. Während des - idealerweise kurzen - Studiums sollte den Studierenden ermöglicht werden, den Studienort nicht nur innerhalb der eigenen Nation, sondern transnational zu wechseln. Es wurde offenbar davon ausgegangen, dass ein junger Mensch, sagen wir aus Plau am See oder aus Herne in Westfalen, europäischer werde, wenn er einige Monate in der University of the Aegean auf der Insel Lesbos studieren würde oder in Reykjavík.
Keine Frage: Gemeinsam mit Menschen anderer Nationen in einer Stadt eines anderen Landes zu studieren kann geeignet sein, einen »Germanozentrismus« zu relativieren und den Blick zu weiten für das Andere. Das Andere ist aber nicht identisch mit dem »Europäischen «, denn wenn im europäischen Einigungsprozess etwas versäumt wurde, dann dies: eine europäische Idee von Mensch und Gesellschaft, von Pflicht und Neigung, von Vergangenheit und Zukunft und von Werten zu erarbeiten und zu leben. Mit einer europäischen Identität ist es nicht weit her, und da es diese nicht gibt und sie folglich auch nicht den »Geist« von Hunderten europäischer Hochschulen an Hunderten unterschiedlichen Orten ausmachen kann, konnte »europäische Bildung« durch ein Studium »abroad« gar nicht entstehen.
Sie konnte es aber auch deswegen nicht, weil im Bologna- Konzept europäische Bildung oder - genereller - Menschenbildung gar nicht der Grundgedanke für den wechselseitigen Assimilationsprozess der Hochschultypen war, sondern die rein formale Sicherung wechselseitiger Anerkennungsfähigkeit von Studien- und Prüfungsleistungen.
Ich erinnere mich noch gut, wie viele von uns Hochschullehrern Ende der neunziger Jahre von dem Gedanken einer großen Angleichung der Bedingungen (!) eines Studiums innerhalb Europas angetan waren. Wir hätten im Traum nicht daran gedacht, dass es gar nicht um Inhalte allgemeiner Bildung durch Wissenschaft gehen würde, sondern um die Vereinbarung von »Qualitätsstandards« auf dem Niveau von Kompetenzbeschreibungen und Wissensbeständen. Deshalb haben viele von uns es versäumt, von Anfang an konsequenten Widerstand zu leisten. Das ist verständlich. Dafür, dass wir es auch dann nicht getan haben, als uns die unbeabsichtigten Nebenfolgen der Reform klar vor Augen standen, dafür gibt es keine Entschuldigung. Auf der Suche nach einer Erklärung für die hohe Anpassungsbereitschaft an bürokratische Vorgaben dürfte dem geschichtsbewussten Zeitgenossen so ängstlich zumute werden, dass er sie gar nicht aussprechen mag. Nun ist es zu spät. Es ist zu spät, die Idee einer bürokratischen Gleichschaltung zu verhindern und in Auseinandersetzung mit den Vertretern des atlantischen Konzepts auf dem kontinentaleuropäischen Bildungsverständnis zu bestehen. Und es ist zu spät, die Orientierung an kurzfristigen Zielen wie Beschäftigungsfähigkeit, Innovation und Arbeitskräfteaustausch durch eine umfassendere Perspektive zu ersetzen, die nicht nur die natürlichen und technischen, sondern auch die sozialen Überlebensbedingungen der nächsten Generationen im Blick behält.
Jetzt gibt es nur die Möglichkeit, nein, die Pflicht, zu massiver Korrektur. Ihr Ziel wird die Herstellung eines Hochschulverständnisses sein müssen, nach dem die Universität neben ihrer Aufgabe der Berufsausbildung und des Technologietransfers die »sittliche Pflicht«, und ich verwende diesen historischen Terminus bewusst, zur Bildung junger Menschen als Persönlichkeiten wahrnimmt.
Dafür tritt dieser Text ein. Er fußt auf einer ganzen Reihe von Rede- und Gesprächsanlässen aus den letzten Jahren, die sich mir als Präsident zweier Universitäten und als Akteur in einem Bildungssystem in unterschiedlichen Funktionen boten.
Es ist kein zorniger Blick zurück und in einen kulturkritisch umschriebenen Abgrund, sondern eine Aufforderung, aus dem europäischen Hochschulsystem der Zukunft nicht einseitig ein atlantisches werden zu lassen, sondern eines, das dessen Pragmatismus mit der kontinentaleuropäischen Idee der Menschenbildung so verknüpft, dass ein Hochschulstudium nicht zweckrational- blind und deswegen gefährlich ist, sondern Lebenssicherheit und Perspektive vermittelt, weil es bildet.
Copyright © Ullstein Verlag.
Ein weiterer, persönlicher Anlass: An einer anderen deutschen Universität schrieb unlängst einer meiner Söhne ebenfalls eine Klausur zur Einführungsvorlesung in die Betriebswirtschaft. Wir verabredeten, da ich von diesem Problem gehört hatte, dass er nach der Klausur die Papierkörbe im Klausurraum untersuchen sollte. Neben vielem belanglosen Zeug fand er insgesamt neun ausgeleerte Schachteln des Präparats Ritalin, das etliche Prüflinge sich offenbar zu Beginn der Klausur selbst verabreicht hatten.
Und schließlich, aus einer ganz anderen Welt, lesen wir in der Allgemeinen Zeitung Mainz vom 15.11.2013, dass der Präsident der Unternehmerverbände in Rheinland- Pfalz, Gerhard F. Braun, sich mit der Bologna-Reform zufrieden zeige, weil sie mit der »Überakademisierung « ein Ende gemacht habe: »Grundsätzlich gab es vor der Umstellung viele überqualifizierte Bewerber, eine Überakademisierung.« Die Ironie ist: Viele Studierende wissen gar nicht, dass der Bachelor aus Sicht der Arbeitgeber oft überhaupt kein »wissenschaftlicher « Abschluss ist. Auf die Überakademisierung folgt gewissermaßen bruchlos die Unterakademisierung, weil dem Absolventen mit Bachelor-Abschluss weite Teile des Arbeitsmarktes, etwa der höhere Staatsdienst, verschlossen bleiben.
»Die Bologna-Reform führt zur Bildung krimineller Vereinigungen, zum Drogenmissbrauch und zur Täuschung einer ganzen Generation von Studierenden, die mit dem Bachelor glaubten, einen akademischen Abschluss zu erwerben, aus der Sicht der Wirtschaft aber genau diesen nicht besitzen.« - So einfach darf man es sich sicher nicht machen. Gleichwohl sind diese Beispiele paradigmatische Folgen der weitestreichenden Veränderung im deutschen Bildungssystem seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Was ist geschehen?
Das deutsche kontinentaleuropäische Universitätssystem, dessen Eckstücke in der Idee der Bildung durch Wissenschaft, durch den Gedanken des forschenden Lernens, die Idee der akademischen Freiheit und die Beschränkung des Eingriffs in das studentische Lernen auf eine Abschlussprüfung bestanden, ist ersetzt worden durch das dem atlantischen Hochschulverständnis entliehene Modell universitärer Einrichtungen als Berufsausbildungsinstitutionen für eine nicht nur akademische Ausbildung. Dies kann als einzigartiger »Sieg« der britisch-amerikanisch akzentuierten Universitätsvorstellungen über das klassische Universitätsideal deutscher Provenienz gelten.
So ist etwa die Abschlussprüfung abgeschafft worden, die nicht zu Unrecht als Grund für lange Studienzeiten aus Angst vor den Prüfungen verantwortlich gemacht wurde, es aber auch ermöglichte, dass das Studium selbst, durch die Beschränkung auf ein Sammeln von »Scheinen«, relativ restriktionsfrei war. Heutzutage ist das gesamte Studium von »studienbegleitenden Prüfungen « durchsetzt, die am Ende jedes »Moduls« oder sogar einzelner Lehrveranstaltungen stehen und ausnahmslos alle in die Schlussnote des Abschlusszeugnisses eingehen (das damit eigentlich keinen Abschluss mehr bescheinigt, sondern einen Verlauf ). Nicht selten führt diese Praxis für die Studierenden zu zweistelligen Prüfungszahlen pro Semester. Jeder Atemzug wird bewertet, das Lernen erfolgt unter taktischen und strategischen Gesichtspunkten, und die Last des Unterrichts für die Lehrenden vervielfältigt sich. Der Arbeitsalltag der Dozenten ist mittlerweile mehr von Klausurdurchsichten als von einer ausreichenden Vorbereitung der Unterrichtseinheiten gekennzeichnet. Kein Wunder, dass in einer solchen, nicht mehr akademischen Lernwirklichkeit die Lernlast als »Workload« berechnet und wie in Tarifverhandlungen auf 40 Stunden pro Woche fixiert wird.
Der politische Grund war die Idee der Schaffung eines europäischen Hochschulraums mit hoher internationaler Durchlässigkeit und dem wohl dahinterliegenden Ziel, die Vereinigung Europas voranzutreiben. Während des - idealerweise kurzen - Studiums sollte den Studierenden ermöglicht werden, den Studienort nicht nur innerhalb der eigenen Nation, sondern transnational zu wechseln. Es wurde offenbar davon ausgegangen, dass ein junger Mensch, sagen wir aus Plau am See oder aus Herne in Westfalen, europäischer werde, wenn er einige Monate in der University of the Aegean auf der Insel Lesbos studieren würde oder in Reykjavík.
Keine Frage: Gemeinsam mit Menschen anderer Nationen in einer Stadt eines anderen Landes zu studieren kann geeignet sein, einen »Germanozentrismus« zu relativieren und den Blick zu weiten für das Andere. Das Andere ist aber nicht identisch mit dem »Europäischen «, denn wenn im europäischen Einigungsprozess etwas versäumt wurde, dann dies: eine europäische Idee von Mensch und Gesellschaft, von Pflicht und Neigung, von Vergangenheit und Zukunft und von Werten zu erarbeiten und zu leben. Mit einer europäischen Identität ist es nicht weit her, und da es diese nicht gibt und sie folglich auch nicht den »Geist« von Hunderten europäischer Hochschulen an Hunderten unterschiedlichen Orten ausmachen kann, konnte »europäische Bildung« durch ein Studium »abroad« gar nicht entstehen.
Sie konnte es aber auch deswegen nicht, weil im Bologna- Konzept europäische Bildung oder - genereller - Menschenbildung gar nicht der Grundgedanke für den wechselseitigen Assimilationsprozess der Hochschultypen war, sondern die rein formale Sicherung wechselseitiger Anerkennungsfähigkeit von Studien- und Prüfungsleistungen.
Ich erinnere mich noch gut, wie viele von uns Hochschullehrern Ende der neunziger Jahre von dem Gedanken einer großen Angleichung der Bedingungen (!) eines Studiums innerhalb Europas angetan waren. Wir hätten im Traum nicht daran gedacht, dass es gar nicht um Inhalte allgemeiner Bildung durch Wissenschaft gehen würde, sondern um die Vereinbarung von »Qualitätsstandards« auf dem Niveau von Kompetenzbeschreibungen und Wissensbeständen. Deshalb haben viele von uns es versäumt, von Anfang an konsequenten Widerstand zu leisten. Das ist verständlich. Dafür, dass wir es auch dann nicht getan haben, als uns die unbeabsichtigten Nebenfolgen der Reform klar vor Augen standen, dafür gibt es keine Entschuldigung. Auf der Suche nach einer Erklärung für die hohe Anpassungsbereitschaft an bürokratische Vorgaben dürfte dem geschichtsbewussten Zeitgenossen so ängstlich zumute werden, dass er sie gar nicht aussprechen mag. Nun ist es zu spät. Es ist zu spät, die Idee einer bürokratischen Gleichschaltung zu verhindern und in Auseinandersetzung mit den Vertretern des atlantischen Konzepts auf dem kontinentaleuropäischen Bildungsverständnis zu bestehen. Und es ist zu spät, die Orientierung an kurzfristigen Zielen wie Beschäftigungsfähigkeit, Innovation und Arbeitskräfteaustausch durch eine umfassendere Perspektive zu ersetzen, die nicht nur die natürlichen und technischen, sondern auch die sozialen Überlebensbedingungen der nächsten Generationen im Blick behält.
Jetzt gibt es nur die Möglichkeit, nein, die Pflicht, zu massiver Korrektur. Ihr Ziel wird die Herstellung eines Hochschulverständnisses sein müssen, nach dem die Universität neben ihrer Aufgabe der Berufsausbildung und des Technologietransfers die »sittliche Pflicht«, und ich verwende diesen historischen Terminus bewusst, zur Bildung junger Menschen als Persönlichkeiten wahrnimmt.
Dafür tritt dieser Text ein. Er fußt auf einer ganzen Reihe von Rede- und Gesprächsanlässen aus den letzten Jahren, die sich mir als Präsident zweier Universitäten und als Akteur in einem Bildungssystem in unterschiedlichen Funktionen boten.
Es ist kein zorniger Blick zurück und in einen kulturkritisch umschriebenen Abgrund, sondern eine Aufforderung, aus dem europäischen Hochschulsystem der Zukunft nicht einseitig ein atlantisches werden zu lassen, sondern eines, das dessen Pragmatismus mit der kontinentaleuropäischen Idee der Menschenbildung so verknüpft, dass ein Hochschulstudium nicht zweckrational- blind und deswegen gefährlich ist, sondern Lebenssicherheit und Perspektive vermittelt, weil es bildet.
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Autoren-Porträt von Dieter Lenzen
Dieter Lenzen, 1947 geboren, studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie und mehrere Sprachen. Nach Professuren im In- und Ausland wurde er Präsident der Freien Universität Berlin und später der Universität Hamburg. Er ist Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz und gilt als einer der profiliertesten Kritiker des Bologna-Prozesses.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dieter Lenzen
- 2014, 1. Auflage, 100 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843708703
- ISBN-13: 9783843708708
- Erscheinungsdatum: 11.04.2014
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Grösse: 0.56 MB
- Ohne Kopierschutz
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