Tanz, Püppchen, tanz (ePub)
Roman
Die Anwältin Amanda Travis ist glücklich, in einem neuen Zuhause in Florida endlich mit der Vergangenheit abschliessen zu können. In ihrer Heimatstadt Toronto hat sie ihre Mutter Gwen zurückgelassen, unter der sie zeitlebens leiden musste. Doch dann erhält...
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Produktinformationen zu „Tanz, Püppchen, tanz (ePub)“
Die Anwältin Amanda Travis ist glücklich, in einem neuen Zuhause in Florida endlich mit der Vergangenheit abschliessen zu können. In ihrer Heimatstadt Toronto hat sie ihre Mutter Gwen zurückgelassen, unter der sie zeitlebens leiden musste. Doch dann erhält Amanda einen unglaublichen Anruf: Gwen hat in der Lobby eines Luxushotels einen Mann erschossen und verweigert jede Aussage. Widerwillig reist Amanda zurück nach Toronto, um herauszufinden, welches Geheimnis ihre Mutter so eisern hütet. Doch dabei kommen Erinnerungen hoch, die sie bislang verdrängt hatte - und vor denen sie nun nicht länger fliehen kann ...
"Hochspannung, bis das Stromkabel qualmt." -- Main Post
"Spannend, durch raffinierte Wendungen, bis zuletzt fesselnd und dabei so flott und locker, dass man es nur geniessen kann." -- Funk Uhr
"Auch der neueste Roman von Joy Fielding bietet Hochspannung bis zum Schluss. (...) Ein typischer Fielding: von Anfang an fesselnd und mit unerwartetem Ausgang." -- Westfälische Anzeiger
"Spannend, durch raffinierte Wendungen, bis zuletzt fesselnd und dabei so flott und locker, dass man es nur geniessen kann." -- Funk Uhr
"Auch der neueste Roman von Joy Fielding bietet Hochspannung bis zum Schluss. (...) Ein typischer Fielding: von Anfang an fesselnd und mit unerwartetem Ausgang." -- Westfälische Anzeiger
Lese-Probe zu „Tanz, Püppchen, tanz (ePub)“
Tanz, Püppchen, tanz von Joy FieldingDeutsch von Kristian Lutze
1
Was Amanda Travis mag: die Farbe Schwarz; Spinning-Kurse in der Mittagspause im Fitness-Center in der Clematis Street in Downtown Palm Beach; ihr ganz in Weiß gehaltenes Apartment mit Meerblick in Jupiter; willfährige Geschworene; und Männer, deren Frauen sie nicht verstehen.
Was sie nicht mag: die Farbe Rosa; wenn die Temperatur hinter ihrer durchgehenden Fensterfront unter achtzehn Grad fällt; Mandanten, die ihren Rat nicht befolgen; die Farbe Grau; beim Betreten eines Lokals ihren Ausweis vorzeigen zu müssen; Spitznamen jedweder Art und Bedeutung.
Und was sie auch nicht mag: Bissspuren.
Vor allem Bissspuren, die selbst nach mehreren Tagen noch so tief und deutlich ausgeprägt sind wie eine leuchtend violette Tätowierung vor einem Hintergrund aus senffarbenen Blutergüssen; Bissspuren, die sie von den Fotos auf ihrem Verteidigertisch förmlich anlächeln.
... mehr
Amanda schüttelt das blonde schulterlange Haar aus ihrem schmalen Gesicht, schiebt das anstößige Foto unter einen Block mit gelbem, liniertem Papier, nimmt einen Stift und gibt vor, etwas Wichtiges zu notieren, während sie in Wahrheit schreibt Zahnpasta nicht vergessen. Diese Geste richtet sich an die Geschworenen für den Fall, dass einer von ihnen hinguckt. Was eher unwahrscheinlich ist. Heute Morgen hat sie bereits einen von ihnen, einen Mann mittleren Alters mit roten Haaren und schütterer Ronald-Reagan- Frisur, dabei ertappt, wie er eingedöst ist. Sie seufzt, lässt den Bleistift fallen, lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und schürzt ihre Lippen zu einem missbilligenden Schmollen. Nur angedeutet, gerade genug, um den Geschworenen zu zeigen, was sie von der Zeugenaussage hält. Und sie würde sie gern glauben machen, dass das nicht viel ist.
»Er hat rumgeschrien wegen irgendwas«, sagt die junge Frau im Zeugenstand und zupft mit einer Hand abwesend an ihrem Haar. Sie blickt zum Tisch der Verteidigung, zieht an ihren platinblonden Locken, bis der dunkle Haaransatz sichtbar wird, und wickelt sie um ihre falschen, eckigen Fingernägel. »Er hat immer wegen irgendwas rumgeschrien.«
Amanda nimmt den Bleistift wieder in ihre rechte Hand und setzt Stouffer's Tiefkühl-Makkaroni mit Käse auf ihre improvisierte Einkaufsliste. Und Orangensaft, fällt ihr noch ein, was sie mit übertriebenem Schnörkel notiert, als ob sie gerade eine entscheidende juristische Einsicht gehabt hätte. Dadurch verrutscht das Foto unter dem Block, sodass ihr der fotografische Abdruck der Zähne ihres Mandaten auf der Haut der Zeugin erneut entgegenstarrt.
Es sind diese Bissspuren, die ihr alles vermasseln werden.
Vielleicht könnte sie es schaffen, die Fakten zu frisieren, die Indizien zu vernebeln und die Geschworenen mit irrelevanten Details und nicht immer begründeten Zweifeln zu verwirren, aber um diese grausamen Bilder führt einfach kein Weg herum. Sie werden das Schicksal ihres Mandanten besiegeln und ihre eigene perfekte Bilanz beschädigen. Wie ein Fleck auf ansonsten makelloser Haut werden sie von beinahe einem Jahr voller herausragender Auftritte zugunsten der Armen, Unglücklichen und erdrückend Schuldigen ablenken.
Überhaupt dieser verfluchte Derek Clemens. Musste er so verdammt durchschaubar sein?
Amanda beugt sich vor und tätschelt die Hand des neben ihr sitzenden Mannes. Eine weitere Geste für die Geschworenen, obwohl sie sich fragt, ob irgendjemand sich davon täuschen lässt. Diese Leute gucken garantiert auch genug Fernsehen, um die diversen Tricks ihrer Zunft zu kennen: die geheuchelte Empörung, die mitleidigen Blicke, das ungläubige Kopfschütteln. Sie zieht ihre Hand zurück und reibt die Stelle, wo sie die Haut ihres Mandanten berührt hat, unter dem Tisch mehrfach an ihrem schwarzen Leinenrock ab. Idiot, denkt sie, während sie aufmunternd lächelt. Nicht mal ein Quäntchen Selbstkontrolle war drin. Du musstest sie auch noch beißen.
Der Angeklagte lächelt zurück, zum Glück mit geschlossenem Mund. Die Geschworenen werden demnächst noch mehr als genug von Derek Clemens' Zähnen zu sehen bekommen.
Mit seinen achtundzwanzig Jahren und der drahtigen Statur von einsfünfundsiebzig ist Derek Clemens genauso alt und groß wie die Frau, die ausgewählt worden ist, ihn zu vertreten. Selbst ihr Haar ist von dem gleichen zarten Blond, ihre Augenfarbe eine Variation desselben kühlen Blaus, wobei ihre Augen dunkler und undurchsichtiger sind als seine, die blasser wirken und ins Pastellige tendieren. Unter anderen, angenehmeren Umständen hätte man Amanda Travis und Derek Clemens für Geschwister halten können, vielleicht sogar für Zwillinge.
Amanda schüttelt den unschönen Gedanken ab, wie immer froh darüber, ein Einzelkind zu sein. Sie dreht sich auf ihrem Stuhl um und blickte zu der langen Fensterfront auf der Rückseite des Gerichtssaals. Draußen ist es ein typischer Februartag in Südflorida - der Himmel türkisfarben, die Luft warm, der Strand eine Versuchung. Sie unterdrückt den Impuls, aufzustehen, den Kopf an die getönten Scheiben zu lehnen und über den Intercoastal Waterway hinweg auf den Ozean zu blicken. Nur in Palm Beach konnte es der Meerblick aus einem Gerichtssaal mit der Aussicht aus dem Penthouse eines Top-Hotels aufnehmen.
Perverserweise sitzt Amanda lieber hier im Gerichtssaal 5C des Palm Beach County Court House neben irgendeinem asozialen Abschaum, der der Körperverletzung sowie der massiven Bedrohung und sexuellen Nötigung seiner bei ihm lebenden Freundin beschuldigt wird, als neben einem zu leicht bekleideten, überfütterten Schneevogel auf dem kühlen Sand in der Sonne zu liegen. Ein paar Minuten auf dem Rücken, die nackten Füße von der Brandung umspült, reichen Amanda Travis meistens, bis sie sich wieder nach dem heißen Pflaster des Bürgersteigs sehnt.
»Ich würde die Ereignisse vom Vormittag des 16. August gern noch einmal Schritt für Schritt durchgehen, Miss Fletcher «, sagt der stellvertretenden Distriktstaatsanwalt, und seine tiefe Baritonstimme lenkt Amandas Aufmerksamkeit so unverzüglich auf die Geschehnisse im Gerichtssaal zurück wie das verführerische Seufzen eines Geliebten.
Caroline Fletcher nickt und spielt weiter an ihren zu stark gebleichten Haaren herum, während ihr chirurgisch vergrößerter Busen die Knöpfe ihrer lächerlich konservativen blauen Bluse zu sprengen droht. Es hilft dem Angeklagten, dass die Frau, die verletzt und gedemütigt zu haben man ihn beschuldigt, aussieht wie eine Stripperin, obwohl sie tatsächlich in einem Frisörsalon arbeitet. Amanda lächelt in dem Wissen, dass das weniger wichtig ist als das projizierte Bild. Vor Gericht wie in so vielen anderen Bereichen des Lebens zählt die Erscheinung weit mehr als die Substanz. Es ist schließlich der Anschein von Gerechtigkeit, nicht Gerechtigkeit an sich, den es zu verwirklichen gilt.
»Der 16. August?« Die Frau schiebt mit der Zunge das Kaugummi, auf dem sie seit Beginn ihrer Zeugenaussage kaut, auf die Seite.
»Der Tag des Angriffs«, erinnert der Ankläger sie, geht auf den Zeugenstand zu und baut sich vor seiner Starzeugin auf. Tyrone King ist knapp einsachtzig groß, mit schokoladenbrauner Haut und rasiertem Schädel. Als Amanda vor gut einem Jahr in die Kanzlei von Beatty und Rowe eingetreten ist, drangen Gerüchte an ihr Ohr, der attraktive stellvertretende Distriktstaatsanwalt wäre ein Neffe von Martin Luther King, aber als sie ihn danach fragte, erwiderte er lachend, dass man allen Schwarzen mit dem Nachnamen King nachsagte, mit dem ermordeten Bürgerrechtler verwandt zu sein. »Sie haben ausgesagt, dass der Angeklagte schlecht gelaunt von der Arbeit nach Hause gekommen ist.«
»Er war immer schlecht gelaunt.«
Amanda steht halb von ihrem Stuhl auf und erhebt Einspruch gegen diese Verallgemeinerung. Dem Einspruch wird stattgegeben. Die Zeugin zupft fester an ihren Haaren.
»Wie hat sich diese Laune manifestiert?«
Die Zeugin sieht ihn verwirrt an.
»Ist er laut geworden? Hat er gebrüllt?«
»Sein Boss hat ihn angebrüllt, also hat er zu Hause mich angebrüllt.« »Einspruch.« »Stattgegeben.« »Warum hat er gebrüllt?« Die Zeugin verdreht die Augen zu der hohen Decke. »Er
hat gesagt, es würde aussehen wie in einem Saustall und dass nie was zu essen im Haus wäre und dass er die Schnauze voll hätte, nach der Nachtschicht in eine unaufgeräumte Wohnung zu kommen, in der es kein Frühstück gibt.«
»Und was haben Sie gemacht?«
»Ich habe gesagt, ich hätte keine Zeit, mir seine Beschwerden anzuhören, weil ich zur Arbeit musste. Und dann sagte er, dass es überhaupt nicht in Frage käme, dass ich ausgehen und ihn den ganzen Tag mit dem Baby allein lassen würde, weil er seinen Schlaf brauchte, und ich hab ihm gesagt, dass ich das Baby ja wohl schlecht mit in den Frisörsalon nehmen könnte und immer so weiter.«
»Können Sie uns sagen, was genau passiert ist?«
Die Zeugin zuckt die Achseln und schiebt das Kaugummi mit der Zunge nervös von einer Wange zur anderen. »Genau weiß ich es nicht mehr.«
»So genau, wie Sie sich erinnern können.«
»Wir haben angefangen, uns anzuschreien. Er sagte, ich würde nichts in der Wohnung tun und den ganzen Tag bloß auf meinem knochigen Arsch rumsitzen, und wenn ich schon nicht kochen oder sauber machen würde, könnte ich wenigstens auf die Knie gehen und ihm einen ...« Caroline Fletcher bricht ab, strafft die Schulter und sieht die Geschworenen flehend an. »Sie wissen schon.«
»Er hat Oralsex von Ihnen verlangt?«
Die Zeugin nickt. »Dafür sind sie ja nie zu müde.«
Die sieben Frauen in der Jury glucksen wissend, genau wie Amanda, die hinter vorgehaltener Hand ebenfalls lächelt und beschließt, auf einen Einspruch zu verzichten.
»Was ist dann passiert?«, fragt der Ankläger.
»Er hat mich Richtung Schlafzimmer gezerrt. Ich hab immer wieder nein gesagt, ich hätte keine Zeit, doch er hat nicht zugehört. Dann ist mir ein Film wieder eingefallen, den ich im Fernsehen gesehen habe, mit Jennifer Lopez, glaube ich, aber ich weiß nicht mehr so genau, jedenfalls hat dieser Typ sie angegriffen, und sie hat gemerkt, je mehr sie sich gewehrt hat, umso geiler wurde er und umso schlimmer wurde es für sie, also hat sie aufgehört, sich zu wehren, was ihn irgendwie aus der Fassung gebracht hat, und sie konnte fliehen. Ich dachte, das probier ich auch.«
»Sie haben aufgehört, sich zu wehren?«
Wieder nickt Caroline Fletcher. »Ich hab mich ganz schlaff gestellt, so als würde ich nachgeben, und als wir an der Schlafzimmertür waren, habe ich ihn weggeschubst, bin ins Zimmer gerannt und hab abgeschlossen.«
»Und was hat Derek Clemens dann getan?«
»Er war total wütend. Er hat gegen die Tür gehämmert und gebrüllt, er würde mich platt machen«, erläutert Caro
line Fletcher.
»Und wie haben Sie das interpretiert?«
»Ich dachte, dass er mich platt machen würde«, erklärte Caroline Fletcher.
Amanda blickt die Geschworenen direkt an. Diesen Ausbruch, sagen ihre Augen, kann man doch gewiss nicht als ernsthafte Morddrohung betrachten. Sie nimmt ihren Bleistift und fügt ihrer Einkaufsliste den Posten Weizenkleie hinzu.
»Fahren Sie fort, Miss Fletcher.«
»Also, er hämmerte gegen die Tür und brüllte rum. Und natürlich ist Tiffany aufgewacht und hat angefangen zu weinen. «
»Tiffany?«
»Unsere Tochter. Sie ist fünfzehn Monate alt.«
»Wo war Tiffany denn die ganze Zeit?«
»In ihrem Kinderbett im Wohnzimmer. Dort haben wir es hingestellt, weil die Wohnung nur ein Schlafzimmer hat, und Derek sagt, dass er seine Ruhe braucht.«
»Sein Gebrüll hat also das Baby geweckt.«
»Sein Gebrüll hat das ganze Haus geweckt.«
»Einspruch.«
»Stattgegeben.«
»Und was dann?«
»Also, mir wurde klar, wenn ich die Tür nicht aufmache, tritt er sie einfach ein, also hab ich ihm gesagt, dass ich aufmachen würde, aber nur wenn er verspricht, sich vorher zu beruhigen. Er hat es versprochen, und dann war es bis auf das Weinen des Babys ganz still, also hab ich die Tür aufgemacht, und ehe ich wusste, wie mir geschah, war er über mir, hat mich geschlagen und an meinem Kleid gerissen.«
»Ist dies das Kleid?« Mit zwei Schritten steht der stellvertretende Distriktsstaatsanwalt vor dem Tisch der Anklage, wo er ein formloses graues Jerseykleid in die Hand nimmt, das erkennbar schon bessere Tage gesehen hat. Er zeigt es der Zeugin, bevor er es den Geschworenen zur Begutachtung präsentiert.
»Ja, das ist es.«
Amanda lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, um ihre Sorglosigkeit zu bekunden. Sie hofft, dass die Geschworenen von den beiden winzigen Rissen unten an beiden Seitensäumen ebenso wenig beeindruckt sind wie sie selbst; Risse, die Caroline Fletcher ebenso gut selbst verursacht haben könnte, als sie sich das Kleid über die Hüften zog, wie Derek Clemens, als er es nach oben zerrte.
»Was geschah, nachdem er Ihr Kleid zerrissen hatte?«
»Er hat mich aufs Bett geworfen und mich gebissen.«
Wie durch Zauberei tauchen die inkriminierenden Fotos in der Hand des stellvertretenden Distriktsstaatsanwalts auf. Sie werden rasch als Beweismittel zu Protokoll genommen und unter den Geschworenen verteilt. Amanda beobachtet sie, während sie den Abdruck von Derek Clemens' Zähnen auf Caroline Fletchers Rücken betrachten, sieht den Ekel über ihre Mienen huschen wie den Widerschein der Flammen an einem Lagerfeuer, während sie sich bemühen, den Anschein von Unparteilichkeit zu wahren.
Die Jury ist wie immer ein bunt zusammengewürfelter Haufen - ein alter jüdischer Rentner sitzt eingeklemmt zwischen zwei schwarzen Frauen mittleren Alters, ein glatt rasierter Lateinamerikaner mit Anzug und Krawatte neben einem jungen Mann mit Pferdeschwanz, Jeans und T-Shirt, eine schwarze Frau mit weißen Haaren hinter einer weißen Frau mit schwarzen Haaren; Korpulente und Schlanke, Beflissene und Blasierte. Und alle haben eins gemeinsam - die Verachtung in ihrem Blick, als sie von den Fotos zu dem Angeklagten schauen.
»Was geschah, nachdem er Sie gebissen hat?«
Caroline Fletcher blickt zögernd auf ihre Füße. »Er hat mich auf den Rücken gedreht und Sex mit mir gehabt.« »Er hat Sie vergewaltigt?«, formuliert der Ankläger ihre Antwort sorgfältig um.
»Jawohl. Er hat mich vergewaltigt.«
»Er hat Sie vergewaltigt«, wiederholt Tyrone King. »Und was dann?«
»Als er fertig war, hab ich im Salon angerufen und gesagt, dass ich ein bisschen später kommen würde, und er hat mir das Telefon aus der Hand gerissen und es mir an den Kopf geworfen.«
Was zum Anklagepunkt des Angriffs mit einer tödlichen Waffe geführt hat, denkt Amanda und schreibt eine ernst gemeinte Frage unter ihre Einkaufsliste. Sie haben den Salon angerufen und nicht die Polizei?
»Er hat Ihnen das Telefon an den Kopf geworden?«, wiederholt der Ankläger in einer Art, die schnell zur ermüdenden Marotte wird.
»Ja. Es hat mich seitlich am Kopf getroffen und ist dann auf den Boden gefallen und zerbrochen.«
»Was geschah danach?«
»Ich habe mich umgezogen und bin zur Arbeit gegangen. Er hat mir das Kleid zerrissen«, erinnert sie die Geschworenen. »Also musste ich mich umziehen.«
»Und haben Sie die Vorfälle der Polizei gemeldet?«
»Jawohl.«
»Wann war das?«
»Ein paar Tage später. Er fing wieder an, mich zu schlagen, und ich hab ihm gesagt, wenn er nicht aufhören würde, würde ich zur Polizei gehen, und er hat nicht aufgehört, also habe ich es getan.«
»Was haben Sie der Polizei erzählt?« Caroline Fletcher wirkt verwirrt. »Na, was der Beamte Ihnen schon erzählt hat.« Sie meint Sergeant Dan Peterson, den Zeugen vor ihr, einen Mann, der derartig kurzsichtig ist, dass sein Gesicht beinahe während der gesamten Zeugenaussage buchstäblich in seinen Notizen verschwunden war.
»Sie haben ihm von der Vergewaltigung berichtet?«
»Ich hab ihm erzählt, dass Derek und ich gestritten haben, dass Derek mich immer schlägt und so, und dann hat er ein paar Fotos gemacht.«
Tyrone King hebt seine langen, eleganten Finger und bedeutet seiner Zeugin, eine Pause zu machen, in der er etliche weitere Fotos findet, die er Caroline Fletcher zeigt. »Sind das die Fotos, die der Polizeibeamte gemacht hat?«
Caroline verzieht das Gesicht, als sie die verschiedenen Bilder betrachtet. Ziemlich überzeugend, denkt Amanda und fragt sich, ob ihre Aussage einstudiert ist. Haben Sie keine Angst, Gefühle zu zeigen, kann sie Tyrone King mit seinem verführerischen Bariton förmlich flüstern hören. Die Sympathie der Geschworenen ist entscheidend.
Amanda blickt in ihren Schoß und versucht, die Fotos mit den Augen eines Geschworenen zu sehen. Nichts allzu Vernichtendes. Ein paar Kratzer auf der Wange der Frau, die auch die tastenden Finger ihrer kleinen Tochter hinterlassen haben könnten, ein kleine rote Stelle an ihrem Kinn, ein verblassender violetter Fleck am Oberarm, den man sich bei allem Möglichen hätte zuziehen können. Kaum der Stoff für eine schwere Körperverletzung. Nichts, was ihren Mandanten direkt belastet.
»Und dann hab ich ihm erzählt, dass Derek mich gebissen hat«, fährt Caroline unaufgefordert fort. »Und er hat Fotos von meinem Rücken gemacht und mich gefragt, ob Derek mich auch sexuell genötigt hätte, und ich habe gesagt, ich wüsste nicht so genau.«
»Sie wussten nicht so genau?«
»Nun, wir waren seit drei Jahren zusammen. Wir hatten ein Baby. Ich war mir über meine Rechte nicht im Klaren, bis Sergeant Peterson sie mir erklärt hat.«
»Und dann haben Sie beschlossen, Anzeige gegen Derek Clemens zu erstatten?«
»Ja. Ich habe also Anzeige erstattet, und die Polizei hat mich nach Hause gefahren, und dann haben sie Derek verhaftet. «
Ein Telefonklingeln unterbricht die natürliche Geräuschkulisse im Raum. Eine Melodie ertönt. Camptown ladies sing dis song - Doodah! Doodah. Und dann noch einmal. Camptown ladies sing dis song ...
Amanda blickt zu der Handtasche neben ihren Füßen. Sie hat ihr Handy doch bestimmt nicht angelassen, hofft sie, greift jedoch wie mehrere Frauen aus der Jury dann doch in ihre Handtasche. Der Lateinamerikaner klopft sein Jackett ab. Der Staatsanwalt sieht vorwurfsvoll seine Assistentin an, aber sie reißt die Augen kopfschüttelnd auf, als wollte sie sagen: ich nicht.
»Oh mein Gott«, ruft die Zeugin plötzlich, und alle Farbe weicht aus ihrem ohnehin blassen Gesicht, als sie einen riesigen Leinenbeutel vom Boden aufhebt und darin herumkramt, während die Melodie immer lauter und aufdringlicher wird.
Camptown ladies sing dis song ...
»Tut mir Leid«, entschuldigt sie sich bei dem Richter, der sie über die Metallfassung einer Lesebrille hinweg tadelnd ansieht, während sie ihr Handy abschaltet und wieder in ihre Tasche wirft. »Ich hab den Leuten gesagt, sie sollen mich nicht anrufen«, entschuldigt sie sich.
»Lassen Sie Ihr Telefon heute Nachmittag bitte zu Hause«, erklärt der Richter knapp und nutzt die Gelegenheit, die Sitzung für die Mittagspause zu unterbrechen. »Und Ihr Kaugummi auch«, fügt er noch hinzu, bevor er alle Anwesenden auffordert, sich um vierzehn Uhr wieder einzufinden.
»Und wo gehen wir essen?«, fragt Derek Clemens lässig und streift beim Aufstehen Amandas Arm.
»Ich esse mittags nicht.« Amanda sammelt ihre Unterlagen ein und verstaut sie in ihrem Aktenkoffer. »Ich schlage vor, Sie holen sich in der Cafeteria was zu beißen.« Sofort bereut sie ihre Wortwahl. »Ich treffe Sie in einer Stunde wieder hier.«
»Wohin gehen Sie?«, hört sie ihn fragen, ist jedoch schon auf halbem Weg den Mittelgang des Gerichtssaals hinunter. Als sie die Halle betritt und auf die Fahrstühle auf der rechten Seite zusteuert, hört sie wie von ferne das Tosen des Ozeans. Ein Fahrstuhl öffnet sich in dem Moment, als sie zur Tür kommt, was sie als gutes Omen nimmt. Sie betritt die Kabine und blickt auf die Uhr. Wenn sie sich beeilt, kommt sie gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Spinning- Kurses in ihrem Fitness-Studio.
Während sie die Olive Street bis zur Clematis Street hinuntereilt, hört sie die Mailbox ihres Handys ab. Sie hat drei Nachrichten. Zwei stammen von Janet Berg, die in der Wohnung direkt unter ihr lebt und mit deren Ehemann Amanda vor einigen Monaten eine kurze und nicht weiter bemerkenswerte Affäre hatte. Ist es möglich, dass Janet davon erfahren hat? Amanda löscht rasch beide Nachrichten und hört sich die dritte an, die zum Glück von ihrer Sekretärin Kelly Jamieson ist. Amanda hat die gnadenlos muntere junge Frau mit den stacheligen roten Haaren von ihrer Vorgängerin bei Beatty und Rowe geerbt, einer Frau, die offenbar enttäuscht davon, überarbeitetes und unterbezahltes Mitglied einer der am meisten beschäftigten Kanzleien in der Stadt zu sein, es vorgezogen hatte, die Vorzeigeehefrau eines alternden Schwerenöters zu werden.
Dagegen ist nichts einzuwenden, denkt Amanda, als sie sich der Kreuzung Olive und Clematis Street nähert. Sie findet den Berufszweig Vorzeigeehefrau durchaus ehrenhaft.
Schließlich war sie selbst mal eine.
Sie ruft im Büro an und fängt an zu reden, bevor ihre Sekretärin Hallo sagen kann. »Was gibt's, Kelly?« Sie überquert die Straße, während die Ampel von Dunkelgelb auf Rot umspringt.
»Gerald Rayner hat angerufen, um zu fragen, ob Sie einer weiteren Verschiebung im Fall Buford zustimmen; Naxine Fisher möchte wissen, ob Sie am Mittwoch um elf statt am Donnerstag um zehn kommen können; Ellie hat angerufen, um Sie an das Mittagessen morgen zu erinnern; Ron sagt, er bräuchte sie bei einem Termin am Freitag; und ein Ben Myers aus Toronto hat angerufen. Er möchte, dass Sie ihn zurückrufen; er sagt, es sei dringend. Er hat seine Nummer hinterlassen.«
Amanda bleibt wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen. »Was haben Sie gesagt?« »Ben Myers aus Toronto hat angerufen«, wiederholt ihre Sekretärin. »Sie stammen doch aus Toronto, oder?«
Amanda leckt frische Schweißperlen von ihrer Oberlippe.
Ein Auto hupt, kurz danach ein weiteres. Amanda versucht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber erst als sie mehrere Wagen ungeduldig auf sich zurollen sieht, setzen sich ihre Beine widerwillig in Bewegung.
Püppchen!, hört sie ferne Stimmen rufen, während sie sich durch den fließenden Verkehr einen Weg auf die andere Straßenseite bahnt.
»Amanda? Amanda, sind Sie noch da?«
»Ich melde mich später.« Amanda schaltet das Handy aus und lässt es wieder in ihre Handtasche fallen. Mehrere Sekunden steht sie keuchend auf dem Bürgersteig, als wollte sie jeden Hauch der Vergangenheit ausatmen. Bis sie den verglasten Eingang des Fitness-Studios erreicht hat, ist es ihr fast gelungen, das Gespräch mit ihrer Sekretärin wieder aus ihren Gedanken zu radieren.
Noch etwas, was Amanda Travis nicht mag: Erinnerungen.
2
Als Amanda sich umgezogen, ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihre Turnschuhe geschnürt hat, ist der Spinning-Kurs bereits voll im Gange, und alle Räder sind besetzt. »Verdammt«, murmelt sie, schlägt mit der flachen Hand auf ihre schwarze Lycra-Hose und stellt erstaunt fest, dass sie den Tränen gefährlich nahe ist. Das Studio sollte wirklich mehr Räder anschaffen, denkt sie, weil acht für einen derart beliebten Kurs wohl kaum ausreichen. Sie spielt kurz mit dem Gedanken, eine andere Frau vom Sattel zu schubsen, wobei sie sich zwischen einem muskulösen Teenager in der ersten Reihe und einer atemlosen Frau Mitte fünfzig, die sich weiter hinten abstrampelt, zu entscheiden versucht. Ihre Wahl fällt auf Letztere, da es ihrerseits wahrscheinlich ein Akt der Gnade wäre, sie von ihrem Platz zu vertreiben. Die arme Frau kriegt noch einen Herzinfarkt, wenn sie nicht aufpasst. Weiß sie nicht, dass Spinning- Kurse für diejenigen sind, die sie eigentlich gar nicht nötig haben?
Amanda steht eine Weile unschlüssig in der Tür und beobachtet voller Neid den Kurs, während sie hofft, dass eine der Teilnehmerinnen die Verzweiflung in ihrem Blick lesen und ihr ihren Platz abtreten wird. Versteht denn niemand, dass sie nur begrenzt Zeit hat? Dass sie im Gegensatz zu den meisten anderen hier einen richtigen Job hat, zu dem sie zurückkehren muss, dass sie in etwas mehr als einer Stunde wieder vor Gericht erwartet wird und diese fünfundvierzig Minuten quälenden Strampelns braucht, um ein wenig von dem am Vormittag angestauten Dampf abzulassen und ihre Kräfte für den Nachmittag zu sammeln?
»Okay, alle miteinander Popo hoch«, bellt der männliche Trainer über das ununterbrochene Wummern der Rockmusik hinweg. Die Frauen, denen der Schweiß schon in die glasigen Augen und offenen Münder tropft, heben unverzüglich ihr Hinterteil in die Höhe und strampeln schneller und härter und schneller und härter, um mit dem Vorturner mitzuhalten, während Blondie aus den Lautsprechern plärrt.
Die Erinnerung an das Gespräch mit ihrer Sekretärin schleicht sich erneut von hinten an und flüstert in Amandas Ohr. Und ein Ben Myers aus Toronto hat angerufen, sagt ihre Sekretärin. Er möchte, dass Sie ihn zurückrufen. Er sagt, es sei dringend.
Eilig flieht Amanda in den großen Raum des Studios, stürzt sich auf das erste unbesetzte Laufband vor den Fenstern mit Blick auf die unten liegende Straße und beschleunigt das Tempo, bis sie rennt. Drei Fernseher blicken strategisch platziert auf sie herab, ohne Ton, aber den Nahaufnahmen kann man sich nicht entziehen, und am unteren Bildrand laufen ununterbrochen die neuesten Nachrichten. Amanda spürt hinter ihren Augen den Ansatz von Kopfschmerzen und wendet den Blick ab, als der Nachrichtensprecher gerade eine wichtige aktuelle Entwicklung aus dem Nahen Osten vermeldet.
Er sagt, es sei dringend.
»Das sollten Sie nicht tun«, sagt ein Mann und bleibt neben ihr stehen.
Amanda spürt seinen warmen Atem auf ihrem nackten Arm.
»Was sollte ich nicht tun?«, fragt sie, ohne ihn anzusehen. Seine Stimme klingt unbekannt, und sie versucht, sich vorzustellen, wie er aussieht. Um die dreißig, entscheidet sie.
Dunkle Haare, braune Augen, muskulöse Arme, kräftige Schenkel.
»Wenn Sie die Neigung so steil einstellen, riskieren Sie eine Verletzung. Ich spreche aus Erfahrung«, fügt er hinzu, als sie seine Warnung ignoriert. »Ich habe mir im letzten Jahr den Adduktor gerissen. Hat alles in allem ein halbes Jahr gedauert.«
Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, blickt Amanda in seine Richtung und ist zufrieden, dass er ziemlich genauso aussieht, wie sie ihn sich vorgestellt hat, außer dass er wahrscheinlich eher vierzig als dreißig ist und keine braunen, sondern grüne Augen hat; auf eine übertrieben gepflegte Art attraktiv, nie allzu weit von seinem Föhn entfernt. Sie hat ihn schon öfter gesehen und weiß, dass sie ihm nicht zum ersten Mal auffällt. Sie drückt auf einen Knopf und spürt, wie der Aufstieg unter ihren Füßen weniger steil wird. »So besser?«
»Am besten wäre es ehrlich gesagt, wenn Sie ganz ohne Steigung laufen würden. Sie laufen ohnehin schon gegen Druck an. Die Steigung bedeutet nur eine zusätzliche Belastung Ihrer Unterleibsmuskulatur.«
»Na, das wollen wir doch nicht.« Amanda reduziert die Steigung auf null. »Vielen Dank«, sagt sie und fragt sich, wie lange der Mann braucht, um sich vorzustellen.
»Carter Reese«, sagt er, bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hat.
»Amanda Travis.« Sie verschlingt ihn mit einem Blick, während er auf das Laufband neben sie steigt: die breiten Schultern, die muskulösen Beine, der dicke Hals. Hat im College wahrscheinlich Football gespielt. Jetzt spielt er Golf und geht ins Fitness-Studio. Bestimmt ein Investment- Berater. Frisch geschieden oder seit kurzem getrennt. Dem fehlenden Ehering nach zu urteilen. Mehrere Kinder. Kein Interesse an etwas Ernstem. Sie gibt ihm drei Minuten, bis er vorschlägt, dass man sich später noch auf einen Drink
treffen könnte.
»Nennen die Leute Sie Mandy?«
»Nie.«
»Okay, dann also Amanda. Kommen Sie oft hierher?«, fragt er nur halb im Scherz.
Amanda lächelt. Sie mag Männer, die sich im Klischee zu Hause fühlen. »So oft ich kann.«
»Normalerweise sehe ich Sie auf einem dieser verrückten Fahrräder.«
»Leider bin ich heute ein bisschen zu spät gekommen. Sie waren alle besetzt.«
»Wohnen Sie in der Nähe?«
»Ich wohne in Jupiter. Und Sie?«
»In West Palm. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie den weiten Weg von Jupiter bis hierher gemacht haben, nur um zu trainieren.«
»Nein. Ich bin von der Arbeit gekommen.«
»Was arbeiten Sie denn?«
»Ich bin Anwältin.«
»Wirklich? Ich bin beeindruckt.«
Amanda lächelt. »Ach wirklich?« Sie fragt sich, ob er sich über sie lustig macht. »Anwältinnen mit tollen Beinen beeindrucken mich«, redet er weiter. Amandas Lächeln erstarrt. Sie hätte es wissen müssen. Zwei Minuten, denkt sie.
»Und Sie?«
»Ich bin Investment-Berater.«
»Jetzt bin ich diejenige, die beeindruckt ist«, erklärt sie, gratuliert sich insgeheim zu ihrer intuitiven Menschenkenntnis und hofft, dass sie sich nicht allzu unaufrichtig anhört.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Amanda schüttelt das blonde schulterlange Haar aus ihrem schmalen Gesicht, schiebt das anstößige Foto unter einen Block mit gelbem, liniertem Papier, nimmt einen Stift und gibt vor, etwas Wichtiges zu notieren, während sie in Wahrheit schreibt Zahnpasta nicht vergessen. Diese Geste richtet sich an die Geschworenen für den Fall, dass einer von ihnen hinguckt. Was eher unwahrscheinlich ist. Heute Morgen hat sie bereits einen von ihnen, einen Mann mittleren Alters mit roten Haaren und schütterer Ronald-Reagan- Frisur, dabei ertappt, wie er eingedöst ist. Sie seufzt, lässt den Bleistift fallen, lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und schürzt ihre Lippen zu einem missbilligenden Schmollen. Nur angedeutet, gerade genug, um den Geschworenen zu zeigen, was sie von der Zeugenaussage hält. Und sie würde sie gern glauben machen, dass das nicht viel ist.
»Er hat rumgeschrien wegen irgendwas«, sagt die junge Frau im Zeugenstand und zupft mit einer Hand abwesend an ihrem Haar. Sie blickt zum Tisch der Verteidigung, zieht an ihren platinblonden Locken, bis der dunkle Haaransatz sichtbar wird, und wickelt sie um ihre falschen, eckigen Fingernägel. »Er hat immer wegen irgendwas rumgeschrien.«
Amanda nimmt den Bleistift wieder in ihre rechte Hand und setzt Stouffer's Tiefkühl-Makkaroni mit Käse auf ihre improvisierte Einkaufsliste. Und Orangensaft, fällt ihr noch ein, was sie mit übertriebenem Schnörkel notiert, als ob sie gerade eine entscheidende juristische Einsicht gehabt hätte. Dadurch verrutscht das Foto unter dem Block, sodass ihr der fotografische Abdruck der Zähne ihres Mandaten auf der Haut der Zeugin erneut entgegenstarrt.
Es sind diese Bissspuren, die ihr alles vermasseln werden.
Vielleicht könnte sie es schaffen, die Fakten zu frisieren, die Indizien zu vernebeln und die Geschworenen mit irrelevanten Details und nicht immer begründeten Zweifeln zu verwirren, aber um diese grausamen Bilder führt einfach kein Weg herum. Sie werden das Schicksal ihres Mandanten besiegeln und ihre eigene perfekte Bilanz beschädigen. Wie ein Fleck auf ansonsten makelloser Haut werden sie von beinahe einem Jahr voller herausragender Auftritte zugunsten der Armen, Unglücklichen und erdrückend Schuldigen ablenken.
Überhaupt dieser verfluchte Derek Clemens. Musste er so verdammt durchschaubar sein?
Amanda beugt sich vor und tätschelt die Hand des neben ihr sitzenden Mannes. Eine weitere Geste für die Geschworenen, obwohl sie sich fragt, ob irgendjemand sich davon täuschen lässt. Diese Leute gucken garantiert auch genug Fernsehen, um die diversen Tricks ihrer Zunft zu kennen: die geheuchelte Empörung, die mitleidigen Blicke, das ungläubige Kopfschütteln. Sie zieht ihre Hand zurück und reibt die Stelle, wo sie die Haut ihres Mandanten berührt hat, unter dem Tisch mehrfach an ihrem schwarzen Leinenrock ab. Idiot, denkt sie, während sie aufmunternd lächelt. Nicht mal ein Quäntchen Selbstkontrolle war drin. Du musstest sie auch noch beißen.
Der Angeklagte lächelt zurück, zum Glück mit geschlossenem Mund. Die Geschworenen werden demnächst noch mehr als genug von Derek Clemens' Zähnen zu sehen bekommen.
Mit seinen achtundzwanzig Jahren und der drahtigen Statur von einsfünfundsiebzig ist Derek Clemens genauso alt und groß wie die Frau, die ausgewählt worden ist, ihn zu vertreten. Selbst ihr Haar ist von dem gleichen zarten Blond, ihre Augenfarbe eine Variation desselben kühlen Blaus, wobei ihre Augen dunkler und undurchsichtiger sind als seine, die blasser wirken und ins Pastellige tendieren. Unter anderen, angenehmeren Umständen hätte man Amanda Travis und Derek Clemens für Geschwister halten können, vielleicht sogar für Zwillinge.
Amanda schüttelt den unschönen Gedanken ab, wie immer froh darüber, ein Einzelkind zu sein. Sie dreht sich auf ihrem Stuhl um und blickte zu der langen Fensterfront auf der Rückseite des Gerichtssaals. Draußen ist es ein typischer Februartag in Südflorida - der Himmel türkisfarben, die Luft warm, der Strand eine Versuchung. Sie unterdrückt den Impuls, aufzustehen, den Kopf an die getönten Scheiben zu lehnen und über den Intercoastal Waterway hinweg auf den Ozean zu blicken. Nur in Palm Beach konnte es der Meerblick aus einem Gerichtssaal mit der Aussicht aus dem Penthouse eines Top-Hotels aufnehmen.
Perverserweise sitzt Amanda lieber hier im Gerichtssaal 5C des Palm Beach County Court House neben irgendeinem asozialen Abschaum, der der Körperverletzung sowie der massiven Bedrohung und sexuellen Nötigung seiner bei ihm lebenden Freundin beschuldigt wird, als neben einem zu leicht bekleideten, überfütterten Schneevogel auf dem kühlen Sand in der Sonne zu liegen. Ein paar Minuten auf dem Rücken, die nackten Füße von der Brandung umspült, reichen Amanda Travis meistens, bis sie sich wieder nach dem heißen Pflaster des Bürgersteigs sehnt.
»Ich würde die Ereignisse vom Vormittag des 16. August gern noch einmal Schritt für Schritt durchgehen, Miss Fletcher «, sagt der stellvertretenden Distriktstaatsanwalt, und seine tiefe Baritonstimme lenkt Amandas Aufmerksamkeit so unverzüglich auf die Geschehnisse im Gerichtssaal zurück wie das verführerische Seufzen eines Geliebten.
Caroline Fletcher nickt und spielt weiter an ihren zu stark gebleichten Haaren herum, während ihr chirurgisch vergrößerter Busen die Knöpfe ihrer lächerlich konservativen blauen Bluse zu sprengen droht. Es hilft dem Angeklagten, dass die Frau, die verletzt und gedemütigt zu haben man ihn beschuldigt, aussieht wie eine Stripperin, obwohl sie tatsächlich in einem Frisörsalon arbeitet. Amanda lächelt in dem Wissen, dass das weniger wichtig ist als das projizierte Bild. Vor Gericht wie in so vielen anderen Bereichen des Lebens zählt die Erscheinung weit mehr als die Substanz. Es ist schließlich der Anschein von Gerechtigkeit, nicht Gerechtigkeit an sich, den es zu verwirklichen gilt.
»Der 16. August?« Die Frau schiebt mit der Zunge das Kaugummi, auf dem sie seit Beginn ihrer Zeugenaussage kaut, auf die Seite.
»Der Tag des Angriffs«, erinnert der Ankläger sie, geht auf den Zeugenstand zu und baut sich vor seiner Starzeugin auf. Tyrone King ist knapp einsachtzig groß, mit schokoladenbrauner Haut und rasiertem Schädel. Als Amanda vor gut einem Jahr in die Kanzlei von Beatty und Rowe eingetreten ist, drangen Gerüchte an ihr Ohr, der attraktive stellvertretende Distriktstaatsanwalt wäre ein Neffe von Martin Luther King, aber als sie ihn danach fragte, erwiderte er lachend, dass man allen Schwarzen mit dem Nachnamen King nachsagte, mit dem ermordeten Bürgerrechtler verwandt zu sein. »Sie haben ausgesagt, dass der Angeklagte schlecht gelaunt von der Arbeit nach Hause gekommen ist.«
»Er war immer schlecht gelaunt.«
Amanda steht halb von ihrem Stuhl auf und erhebt Einspruch gegen diese Verallgemeinerung. Dem Einspruch wird stattgegeben. Die Zeugin zupft fester an ihren Haaren.
»Wie hat sich diese Laune manifestiert?«
Die Zeugin sieht ihn verwirrt an.
»Ist er laut geworden? Hat er gebrüllt?«
»Sein Boss hat ihn angebrüllt, also hat er zu Hause mich angebrüllt.« »Einspruch.« »Stattgegeben.« »Warum hat er gebrüllt?« Die Zeugin verdreht die Augen zu der hohen Decke. »Er
hat gesagt, es würde aussehen wie in einem Saustall und dass nie was zu essen im Haus wäre und dass er die Schnauze voll hätte, nach der Nachtschicht in eine unaufgeräumte Wohnung zu kommen, in der es kein Frühstück gibt.«
»Und was haben Sie gemacht?«
»Ich habe gesagt, ich hätte keine Zeit, mir seine Beschwerden anzuhören, weil ich zur Arbeit musste. Und dann sagte er, dass es überhaupt nicht in Frage käme, dass ich ausgehen und ihn den ganzen Tag mit dem Baby allein lassen würde, weil er seinen Schlaf brauchte, und ich hab ihm gesagt, dass ich das Baby ja wohl schlecht mit in den Frisörsalon nehmen könnte und immer so weiter.«
»Können Sie uns sagen, was genau passiert ist?«
Die Zeugin zuckt die Achseln und schiebt das Kaugummi mit der Zunge nervös von einer Wange zur anderen. »Genau weiß ich es nicht mehr.«
»So genau, wie Sie sich erinnern können.«
»Wir haben angefangen, uns anzuschreien. Er sagte, ich würde nichts in der Wohnung tun und den ganzen Tag bloß auf meinem knochigen Arsch rumsitzen, und wenn ich schon nicht kochen oder sauber machen würde, könnte ich wenigstens auf die Knie gehen und ihm einen ...« Caroline Fletcher bricht ab, strafft die Schulter und sieht die Geschworenen flehend an. »Sie wissen schon.«
»Er hat Oralsex von Ihnen verlangt?«
Die Zeugin nickt. »Dafür sind sie ja nie zu müde.«
Die sieben Frauen in der Jury glucksen wissend, genau wie Amanda, die hinter vorgehaltener Hand ebenfalls lächelt und beschließt, auf einen Einspruch zu verzichten.
»Was ist dann passiert?«, fragt der Ankläger.
»Er hat mich Richtung Schlafzimmer gezerrt. Ich hab immer wieder nein gesagt, ich hätte keine Zeit, doch er hat nicht zugehört. Dann ist mir ein Film wieder eingefallen, den ich im Fernsehen gesehen habe, mit Jennifer Lopez, glaube ich, aber ich weiß nicht mehr so genau, jedenfalls hat dieser Typ sie angegriffen, und sie hat gemerkt, je mehr sie sich gewehrt hat, umso geiler wurde er und umso schlimmer wurde es für sie, also hat sie aufgehört, sich zu wehren, was ihn irgendwie aus der Fassung gebracht hat, und sie konnte fliehen. Ich dachte, das probier ich auch.«
»Sie haben aufgehört, sich zu wehren?«
Wieder nickt Caroline Fletcher. »Ich hab mich ganz schlaff gestellt, so als würde ich nachgeben, und als wir an der Schlafzimmertür waren, habe ich ihn weggeschubst, bin ins Zimmer gerannt und hab abgeschlossen.«
»Und was hat Derek Clemens dann getan?«
»Er war total wütend. Er hat gegen die Tür gehämmert und gebrüllt, er würde mich platt machen«, erläutert Caro
line Fletcher.
»Und wie haben Sie das interpretiert?«
»Ich dachte, dass er mich platt machen würde«, erklärte Caroline Fletcher.
Amanda blickt die Geschworenen direkt an. Diesen Ausbruch, sagen ihre Augen, kann man doch gewiss nicht als ernsthafte Morddrohung betrachten. Sie nimmt ihren Bleistift und fügt ihrer Einkaufsliste den Posten Weizenkleie hinzu.
»Fahren Sie fort, Miss Fletcher.«
»Also, er hämmerte gegen die Tür und brüllte rum. Und natürlich ist Tiffany aufgewacht und hat angefangen zu weinen. «
»Tiffany?«
»Unsere Tochter. Sie ist fünfzehn Monate alt.«
»Wo war Tiffany denn die ganze Zeit?«
»In ihrem Kinderbett im Wohnzimmer. Dort haben wir es hingestellt, weil die Wohnung nur ein Schlafzimmer hat, und Derek sagt, dass er seine Ruhe braucht.«
»Sein Gebrüll hat also das Baby geweckt.«
»Sein Gebrüll hat das ganze Haus geweckt.«
»Einspruch.«
»Stattgegeben.«
»Und was dann?«
»Also, mir wurde klar, wenn ich die Tür nicht aufmache, tritt er sie einfach ein, also hab ich ihm gesagt, dass ich aufmachen würde, aber nur wenn er verspricht, sich vorher zu beruhigen. Er hat es versprochen, und dann war es bis auf das Weinen des Babys ganz still, also hab ich die Tür aufgemacht, und ehe ich wusste, wie mir geschah, war er über mir, hat mich geschlagen und an meinem Kleid gerissen.«
»Ist dies das Kleid?« Mit zwei Schritten steht der stellvertretende Distriktsstaatsanwalt vor dem Tisch der Anklage, wo er ein formloses graues Jerseykleid in die Hand nimmt, das erkennbar schon bessere Tage gesehen hat. Er zeigt es der Zeugin, bevor er es den Geschworenen zur Begutachtung präsentiert.
»Ja, das ist es.«
Amanda lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, um ihre Sorglosigkeit zu bekunden. Sie hofft, dass die Geschworenen von den beiden winzigen Rissen unten an beiden Seitensäumen ebenso wenig beeindruckt sind wie sie selbst; Risse, die Caroline Fletcher ebenso gut selbst verursacht haben könnte, als sie sich das Kleid über die Hüften zog, wie Derek Clemens, als er es nach oben zerrte.
»Was geschah, nachdem er Ihr Kleid zerrissen hatte?«
»Er hat mich aufs Bett geworfen und mich gebissen.«
Wie durch Zauberei tauchen die inkriminierenden Fotos in der Hand des stellvertretenden Distriktsstaatsanwalts auf. Sie werden rasch als Beweismittel zu Protokoll genommen und unter den Geschworenen verteilt. Amanda beobachtet sie, während sie den Abdruck von Derek Clemens' Zähnen auf Caroline Fletchers Rücken betrachten, sieht den Ekel über ihre Mienen huschen wie den Widerschein der Flammen an einem Lagerfeuer, während sie sich bemühen, den Anschein von Unparteilichkeit zu wahren.
Die Jury ist wie immer ein bunt zusammengewürfelter Haufen - ein alter jüdischer Rentner sitzt eingeklemmt zwischen zwei schwarzen Frauen mittleren Alters, ein glatt rasierter Lateinamerikaner mit Anzug und Krawatte neben einem jungen Mann mit Pferdeschwanz, Jeans und T-Shirt, eine schwarze Frau mit weißen Haaren hinter einer weißen Frau mit schwarzen Haaren; Korpulente und Schlanke, Beflissene und Blasierte. Und alle haben eins gemeinsam - die Verachtung in ihrem Blick, als sie von den Fotos zu dem Angeklagten schauen.
»Was geschah, nachdem er Sie gebissen hat?«
Caroline Fletcher blickt zögernd auf ihre Füße. »Er hat mich auf den Rücken gedreht und Sex mit mir gehabt.« »Er hat Sie vergewaltigt?«, formuliert der Ankläger ihre Antwort sorgfältig um.
»Jawohl. Er hat mich vergewaltigt.«
»Er hat Sie vergewaltigt«, wiederholt Tyrone King. »Und was dann?«
»Als er fertig war, hab ich im Salon angerufen und gesagt, dass ich ein bisschen später kommen würde, und er hat mir das Telefon aus der Hand gerissen und es mir an den Kopf geworfen.«
Was zum Anklagepunkt des Angriffs mit einer tödlichen Waffe geführt hat, denkt Amanda und schreibt eine ernst gemeinte Frage unter ihre Einkaufsliste. Sie haben den Salon angerufen und nicht die Polizei?
»Er hat Ihnen das Telefon an den Kopf geworden?«, wiederholt der Ankläger in einer Art, die schnell zur ermüdenden Marotte wird.
»Ja. Es hat mich seitlich am Kopf getroffen und ist dann auf den Boden gefallen und zerbrochen.«
»Was geschah danach?«
»Ich habe mich umgezogen und bin zur Arbeit gegangen. Er hat mir das Kleid zerrissen«, erinnert sie die Geschworenen. »Also musste ich mich umziehen.«
»Und haben Sie die Vorfälle der Polizei gemeldet?«
»Jawohl.«
»Wann war das?«
»Ein paar Tage später. Er fing wieder an, mich zu schlagen, und ich hab ihm gesagt, wenn er nicht aufhören würde, würde ich zur Polizei gehen, und er hat nicht aufgehört, also habe ich es getan.«
»Was haben Sie der Polizei erzählt?« Caroline Fletcher wirkt verwirrt. »Na, was der Beamte Ihnen schon erzählt hat.« Sie meint Sergeant Dan Peterson, den Zeugen vor ihr, einen Mann, der derartig kurzsichtig ist, dass sein Gesicht beinahe während der gesamten Zeugenaussage buchstäblich in seinen Notizen verschwunden war.
»Sie haben ihm von der Vergewaltigung berichtet?«
»Ich hab ihm erzählt, dass Derek und ich gestritten haben, dass Derek mich immer schlägt und so, und dann hat er ein paar Fotos gemacht.«
Tyrone King hebt seine langen, eleganten Finger und bedeutet seiner Zeugin, eine Pause zu machen, in der er etliche weitere Fotos findet, die er Caroline Fletcher zeigt. »Sind das die Fotos, die der Polizeibeamte gemacht hat?«
Caroline verzieht das Gesicht, als sie die verschiedenen Bilder betrachtet. Ziemlich überzeugend, denkt Amanda und fragt sich, ob ihre Aussage einstudiert ist. Haben Sie keine Angst, Gefühle zu zeigen, kann sie Tyrone King mit seinem verführerischen Bariton förmlich flüstern hören. Die Sympathie der Geschworenen ist entscheidend.
Amanda blickt in ihren Schoß und versucht, die Fotos mit den Augen eines Geschworenen zu sehen. Nichts allzu Vernichtendes. Ein paar Kratzer auf der Wange der Frau, die auch die tastenden Finger ihrer kleinen Tochter hinterlassen haben könnten, ein kleine rote Stelle an ihrem Kinn, ein verblassender violetter Fleck am Oberarm, den man sich bei allem Möglichen hätte zuziehen können. Kaum der Stoff für eine schwere Körperverletzung. Nichts, was ihren Mandanten direkt belastet.
»Und dann hab ich ihm erzählt, dass Derek mich gebissen hat«, fährt Caroline unaufgefordert fort. »Und er hat Fotos von meinem Rücken gemacht und mich gefragt, ob Derek mich auch sexuell genötigt hätte, und ich habe gesagt, ich wüsste nicht so genau.«
»Sie wussten nicht so genau?«
»Nun, wir waren seit drei Jahren zusammen. Wir hatten ein Baby. Ich war mir über meine Rechte nicht im Klaren, bis Sergeant Peterson sie mir erklärt hat.«
»Und dann haben Sie beschlossen, Anzeige gegen Derek Clemens zu erstatten?«
»Ja. Ich habe also Anzeige erstattet, und die Polizei hat mich nach Hause gefahren, und dann haben sie Derek verhaftet. «
Ein Telefonklingeln unterbricht die natürliche Geräuschkulisse im Raum. Eine Melodie ertönt. Camptown ladies sing dis song - Doodah! Doodah. Und dann noch einmal. Camptown ladies sing dis song ...
Amanda blickt zu der Handtasche neben ihren Füßen. Sie hat ihr Handy doch bestimmt nicht angelassen, hofft sie, greift jedoch wie mehrere Frauen aus der Jury dann doch in ihre Handtasche. Der Lateinamerikaner klopft sein Jackett ab. Der Staatsanwalt sieht vorwurfsvoll seine Assistentin an, aber sie reißt die Augen kopfschüttelnd auf, als wollte sie sagen: ich nicht.
»Oh mein Gott«, ruft die Zeugin plötzlich, und alle Farbe weicht aus ihrem ohnehin blassen Gesicht, als sie einen riesigen Leinenbeutel vom Boden aufhebt und darin herumkramt, während die Melodie immer lauter und aufdringlicher wird.
Camptown ladies sing dis song ...
»Tut mir Leid«, entschuldigt sie sich bei dem Richter, der sie über die Metallfassung einer Lesebrille hinweg tadelnd ansieht, während sie ihr Handy abschaltet und wieder in ihre Tasche wirft. »Ich hab den Leuten gesagt, sie sollen mich nicht anrufen«, entschuldigt sie sich.
»Lassen Sie Ihr Telefon heute Nachmittag bitte zu Hause«, erklärt der Richter knapp und nutzt die Gelegenheit, die Sitzung für die Mittagspause zu unterbrechen. »Und Ihr Kaugummi auch«, fügt er noch hinzu, bevor er alle Anwesenden auffordert, sich um vierzehn Uhr wieder einzufinden.
»Und wo gehen wir essen?«, fragt Derek Clemens lässig und streift beim Aufstehen Amandas Arm.
»Ich esse mittags nicht.« Amanda sammelt ihre Unterlagen ein und verstaut sie in ihrem Aktenkoffer. »Ich schlage vor, Sie holen sich in der Cafeteria was zu beißen.« Sofort bereut sie ihre Wortwahl. »Ich treffe Sie in einer Stunde wieder hier.«
»Wohin gehen Sie?«, hört sie ihn fragen, ist jedoch schon auf halbem Weg den Mittelgang des Gerichtssaals hinunter. Als sie die Halle betritt und auf die Fahrstühle auf der rechten Seite zusteuert, hört sie wie von ferne das Tosen des Ozeans. Ein Fahrstuhl öffnet sich in dem Moment, als sie zur Tür kommt, was sie als gutes Omen nimmt. Sie betritt die Kabine und blickt auf die Uhr. Wenn sie sich beeilt, kommt sie gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Spinning- Kurses in ihrem Fitness-Studio.
Während sie die Olive Street bis zur Clematis Street hinuntereilt, hört sie die Mailbox ihres Handys ab. Sie hat drei Nachrichten. Zwei stammen von Janet Berg, die in der Wohnung direkt unter ihr lebt und mit deren Ehemann Amanda vor einigen Monaten eine kurze und nicht weiter bemerkenswerte Affäre hatte. Ist es möglich, dass Janet davon erfahren hat? Amanda löscht rasch beide Nachrichten und hört sich die dritte an, die zum Glück von ihrer Sekretärin Kelly Jamieson ist. Amanda hat die gnadenlos muntere junge Frau mit den stacheligen roten Haaren von ihrer Vorgängerin bei Beatty und Rowe geerbt, einer Frau, die offenbar enttäuscht davon, überarbeitetes und unterbezahltes Mitglied einer der am meisten beschäftigten Kanzleien in der Stadt zu sein, es vorgezogen hatte, die Vorzeigeehefrau eines alternden Schwerenöters zu werden.
Dagegen ist nichts einzuwenden, denkt Amanda, als sie sich der Kreuzung Olive und Clematis Street nähert. Sie findet den Berufszweig Vorzeigeehefrau durchaus ehrenhaft.
Schließlich war sie selbst mal eine.
Sie ruft im Büro an und fängt an zu reden, bevor ihre Sekretärin Hallo sagen kann. »Was gibt's, Kelly?« Sie überquert die Straße, während die Ampel von Dunkelgelb auf Rot umspringt.
»Gerald Rayner hat angerufen, um zu fragen, ob Sie einer weiteren Verschiebung im Fall Buford zustimmen; Naxine Fisher möchte wissen, ob Sie am Mittwoch um elf statt am Donnerstag um zehn kommen können; Ellie hat angerufen, um Sie an das Mittagessen morgen zu erinnern; Ron sagt, er bräuchte sie bei einem Termin am Freitag; und ein Ben Myers aus Toronto hat angerufen. Er möchte, dass Sie ihn zurückrufen; er sagt, es sei dringend. Er hat seine Nummer hinterlassen.«
Amanda bleibt wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen. »Was haben Sie gesagt?« »Ben Myers aus Toronto hat angerufen«, wiederholt ihre Sekretärin. »Sie stammen doch aus Toronto, oder?«
Amanda leckt frische Schweißperlen von ihrer Oberlippe.
Ein Auto hupt, kurz danach ein weiteres. Amanda versucht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber erst als sie mehrere Wagen ungeduldig auf sich zurollen sieht, setzen sich ihre Beine widerwillig in Bewegung.
Püppchen!, hört sie ferne Stimmen rufen, während sie sich durch den fließenden Verkehr einen Weg auf die andere Straßenseite bahnt.
»Amanda? Amanda, sind Sie noch da?«
»Ich melde mich später.« Amanda schaltet das Handy aus und lässt es wieder in ihre Handtasche fallen. Mehrere Sekunden steht sie keuchend auf dem Bürgersteig, als wollte sie jeden Hauch der Vergangenheit ausatmen. Bis sie den verglasten Eingang des Fitness-Studios erreicht hat, ist es ihr fast gelungen, das Gespräch mit ihrer Sekretärin wieder aus ihren Gedanken zu radieren.
Noch etwas, was Amanda Travis nicht mag: Erinnerungen.
2
Als Amanda sich umgezogen, ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihre Turnschuhe geschnürt hat, ist der Spinning-Kurs bereits voll im Gange, und alle Räder sind besetzt. »Verdammt«, murmelt sie, schlägt mit der flachen Hand auf ihre schwarze Lycra-Hose und stellt erstaunt fest, dass sie den Tränen gefährlich nahe ist. Das Studio sollte wirklich mehr Räder anschaffen, denkt sie, weil acht für einen derart beliebten Kurs wohl kaum ausreichen. Sie spielt kurz mit dem Gedanken, eine andere Frau vom Sattel zu schubsen, wobei sie sich zwischen einem muskulösen Teenager in der ersten Reihe und einer atemlosen Frau Mitte fünfzig, die sich weiter hinten abstrampelt, zu entscheiden versucht. Ihre Wahl fällt auf Letztere, da es ihrerseits wahrscheinlich ein Akt der Gnade wäre, sie von ihrem Platz zu vertreiben. Die arme Frau kriegt noch einen Herzinfarkt, wenn sie nicht aufpasst. Weiß sie nicht, dass Spinning- Kurse für diejenigen sind, die sie eigentlich gar nicht nötig haben?
Amanda steht eine Weile unschlüssig in der Tür und beobachtet voller Neid den Kurs, während sie hofft, dass eine der Teilnehmerinnen die Verzweiflung in ihrem Blick lesen und ihr ihren Platz abtreten wird. Versteht denn niemand, dass sie nur begrenzt Zeit hat? Dass sie im Gegensatz zu den meisten anderen hier einen richtigen Job hat, zu dem sie zurückkehren muss, dass sie in etwas mehr als einer Stunde wieder vor Gericht erwartet wird und diese fünfundvierzig Minuten quälenden Strampelns braucht, um ein wenig von dem am Vormittag angestauten Dampf abzulassen und ihre Kräfte für den Nachmittag zu sammeln?
»Okay, alle miteinander Popo hoch«, bellt der männliche Trainer über das ununterbrochene Wummern der Rockmusik hinweg. Die Frauen, denen der Schweiß schon in die glasigen Augen und offenen Münder tropft, heben unverzüglich ihr Hinterteil in die Höhe und strampeln schneller und härter und schneller und härter, um mit dem Vorturner mitzuhalten, während Blondie aus den Lautsprechern plärrt.
Die Erinnerung an das Gespräch mit ihrer Sekretärin schleicht sich erneut von hinten an und flüstert in Amandas Ohr. Und ein Ben Myers aus Toronto hat angerufen, sagt ihre Sekretärin. Er möchte, dass Sie ihn zurückrufen. Er sagt, es sei dringend.
Eilig flieht Amanda in den großen Raum des Studios, stürzt sich auf das erste unbesetzte Laufband vor den Fenstern mit Blick auf die unten liegende Straße und beschleunigt das Tempo, bis sie rennt. Drei Fernseher blicken strategisch platziert auf sie herab, ohne Ton, aber den Nahaufnahmen kann man sich nicht entziehen, und am unteren Bildrand laufen ununterbrochen die neuesten Nachrichten. Amanda spürt hinter ihren Augen den Ansatz von Kopfschmerzen und wendet den Blick ab, als der Nachrichtensprecher gerade eine wichtige aktuelle Entwicklung aus dem Nahen Osten vermeldet.
Er sagt, es sei dringend.
»Das sollten Sie nicht tun«, sagt ein Mann und bleibt neben ihr stehen.
Amanda spürt seinen warmen Atem auf ihrem nackten Arm.
»Was sollte ich nicht tun?«, fragt sie, ohne ihn anzusehen. Seine Stimme klingt unbekannt, und sie versucht, sich vorzustellen, wie er aussieht. Um die dreißig, entscheidet sie.
Dunkle Haare, braune Augen, muskulöse Arme, kräftige Schenkel.
»Wenn Sie die Neigung so steil einstellen, riskieren Sie eine Verletzung. Ich spreche aus Erfahrung«, fügt er hinzu, als sie seine Warnung ignoriert. »Ich habe mir im letzten Jahr den Adduktor gerissen. Hat alles in allem ein halbes Jahr gedauert.«
Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, blickt Amanda in seine Richtung und ist zufrieden, dass er ziemlich genauso aussieht, wie sie ihn sich vorgestellt hat, außer dass er wahrscheinlich eher vierzig als dreißig ist und keine braunen, sondern grüne Augen hat; auf eine übertrieben gepflegte Art attraktiv, nie allzu weit von seinem Föhn entfernt. Sie hat ihn schon öfter gesehen und weiß, dass sie ihm nicht zum ersten Mal auffällt. Sie drückt auf einen Knopf und spürt, wie der Aufstieg unter ihren Füßen weniger steil wird. »So besser?«
»Am besten wäre es ehrlich gesagt, wenn Sie ganz ohne Steigung laufen würden. Sie laufen ohnehin schon gegen Druck an. Die Steigung bedeutet nur eine zusätzliche Belastung Ihrer Unterleibsmuskulatur.«
»Na, das wollen wir doch nicht.« Amanda reduziert die Steigung auf null. »Vielen Dank«, sagt sie und fragt sich, wie lange der Mann braucht, um sich vorzustellen.
»Carter Reese«, sagt er, bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hat.
»Amanda Travis.« Sie verschlingt ihn mit einem Blick, während er auf das Laufband neben sie steigt: die breiten Schultern, die muskulösen Beine, der dicke Hals. Hat im College wahrscheinlich Football gespielt. Jetzt spielt er Golf und geht ins Fitness-Studio. Bestimmt ein Investment- Berater. Frisch geschieden oder seit kurzem getrennt. Dem fehlenden Ehering nach zu urteilen. Mehrere Kinder. Kein Interesse an etwas Ernstem. Sie gibt ihm drei Minuten, bis er vorschlägt, dass man sich später noch auf einen Drink
treffen könnte.
»Nennen die Leute Sie Mandy?«
»Nie.«
»Okay, dann also Amanda. Kommen Sie oft hierher?«, fragt er nur halb im Scherz.
Amanda lächelt. Sie mag Männer, die sich im Klischee zu Hause fühlen. »So oft ich kann.«
»Normalerweise sehe ich Sie auf einem dieser verrückten Fahrräder.«
»Leider bin ich heute ein bisschen zu spät gekommen. Sie waren alle besetzt.«
»Wohnen Sie in der Nähe?«
»Ich wohne in Jupiter. Und Sie?«
»In West Palm. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie den weiten Weg von Jupiter bis hierher gemacht haben, nur um zu trainieren.«
»Nein. Ich bin von der Arbeit gekommen.«
»Was arbeiten Sie denn?«
»Ich bin Anwältin.«
»Wirklich? Ich bin beeindruckt.«
Amanda lächelt. »Ach wirklich?« Sie fragt sich, ob er sich über sie lustig macht. »Anwältinnen mit tollen Beinen beeindrucken mich«, redet er weiter. Amandas Lächeln erstarrt. Sie hätte es wissen müssen. Zwei Minuten, denkt sie.
»Und Sie?«
»Ich bin Investment-Berater.«
»Jetzt bin ich diejenige, die beeindruckt ist«, erklärt sie, gratuliert sich insgeheim zu ihrer intuitiven Menschenkenntnis und hofft, dass sie sich nicht allzu unaufrichtig anhört.
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Autoren-Porträt von Joy Fielding
Joy Fielding gehört zu den grossen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller »Lauf, Jane, lauf« waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding hat zwei Töchter und lebt mit ihrem Mann in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joy Fielding
- 2009, 448 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Kristian Lutze
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 3641028086
- ISBN-13: 9783641028084
- Erscheinungsdatum: 02.09.2009
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