Mr. Globetrotter (ePub)
Meine Reisen, mein Leben
Eine Autobiografie, fesselnd wie ein Abenteuerroman. Vorwort von Rüdiger Nehberg
Wer das Fernweh kennt, wen das Abenteuer lockt, der kommt um den Lebensbericht von Klaus Denart nicht herum. Einer ganzen Generation moderner Abenteurer ist er ein grosses...
Wer das Fernweh kennt, wen das Abenteuer lockt, der kommt um den Lebensbericht von Klaus Denart nicht herum. Einer ganzen Generation moderner Abenteurer ist er ein grosses...
sofort als Download lieferbar
eBook (ePub)
Fr. 23.00
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenloser tolino webreader
Produktdetails
Produktinformationen zu „Mr. Globetrotter (ePub)“
Eine Autobiografie, fesselnd wie ein Abenteuerroman. Vorwort von Rüdiger Nehberg
Wer das Fernweh kennt, wen das Abenteuer lockt, der kommt um den Lebensbericht von Klaus Denart nicht herum. Einer ganzen Generation moderner Abenteurer ist er ein grosses Vorbild. Fasziniert von seiner unstillbaren Neugier, die eigenen Grenzen auszuloten, erlebt der Leser die Abenteuer des Autors hautnah mit. Man befährt gemeinsam mit ihm den Blauen Nil in einem hölzernen Sarg oder durchquert zu Fuss den lateinamerikanischen Dschungel. Anhand dieser spannenden und authentischen Reiseberichte voll hintergründigem Humor und scharfsinniger Reflexionen lernt man die beeindruckende Persönlichkeit des Autors kennen. Die Erkenntnisse und Erfahrungen, die Klaus Denart aus diesen Abenteuern gewonnen hat, haben ihn entscheidend beim Aufbau seines Unternehmens Globetrotter Ausrüstung beeinflusst. Mit seiner besonderen Unternehmensphilosophie wurde es zum grössten Outdoor-Händler in Europa.
Wer das Fernweh kennt, wen das Abenteuer lockt, der kommt um den Lebensbericht von Klaus Denart nicht herum. Einer ganzen Generation moderner Abenteurer ist er ein grosses Vorbild. Fasziniert von seiner unstillbaren Neugier, die eigenen Grenzen auszuloten, erlebt der Leser die Abenteuer des Autors hautnah mit. Man befährt gemeinsam mit ihm den Blauen Nil in einem hölzernen Sarg oder durchquert zu Fuss den lateinamerikanischen Dschungel. Anhand dieser spannenden und authentischen Reiseberichte voll hintergründigem Humor und scharfsinniger Reflexionen lernt man die beeindruckende Persönlichkeit des Autors kennen. Die Erkenntnisse und Erfahrungen, die Klaus Denart aus diesen Abenteuern gewonnen hat, haben ihn entscheidend beim Aufbau seines Unternehmens Globetrotter Ausrüstung beeinflusst. Mit seiner besonderen Unternehmensphilosophie wurde es zum grössten Outdoor-Händler in Europa.
Lese-Probe zu „Mr. Globetrotter (ePub)“
Mr. Globetrotter von Klaus DenartVorwort
... mehr
Was treibt manche Menschen hinaus in die Ferne? Haben sie keine Heimat? Keine Heimat in sich? Ist ihr Freiheitsdrang ausgeprägter? Und was bedeutet Freiheit eigentlich? Wenn sie getrieben sind, sind sie dann wirklich frei? Wenn man altersbedingt etwas ruhiger und besinnlicher wird, so schadet es nicht, sich seine Gedanken über die Motive des eigenen Lebensweges zu machen. Schon als Sechsjähriger bin ich allein stundenlang in der Natur herumgestromert, freute mich, wenn ich mich an Hase oder Reh heranpirschen und sie beobachten konnte. Das waren meine kleinen Abenteuer. Mit elf Jahren fuhr ich mit einem Cousin mit dem Fahrrad von Kiel nach Schweden; mit dreizehn ging's per Anhalter nach Stockholm; mit 15 Jahren in den Sommerferien über Brüssel, Paris, London bis zum nördlichsten Punkt Schottlands. Das Reisen ließ mich fortan nicht mehr los. Und so wurden es zehn Jahre meines Lebens, die ich herumgereist bin und buchstäblich zum Globetrotter wurde. Das alles in einem Buch zu erzählen, sprengt den stabilsten Bucheinband. Ich berichte daher nur von den Reisen ausführlich, die mich am meisten geprägt haben. Immer weiter zog es mich in die Ferne. Und das bereits in den frühen 1960ern, als Fernreisende noch als Pioniere galten und an so etwas wie Abenteuertourismus noch nicht zu denken war. Als ich 19 Jahre alt war, fragte mein Schulfreund Peter mich: »Hast du Lust, mit mir für zwei Wochen nach Norwegen zu fahren?« Und wie ich Lust hatte! Das Problem: Peter fuhr Moped, ich fuhr Fahrrad. Peter blieb zwei Wochen, mich ließ Norwegen neun Monate lang nicht mehr los. In Nordnorwegen lernte ich die Samen, die Rentiernomaden kennen, deren ursprüngliches und naturverbundenes Leben ganz meinen Vorstellungen entsprach und das ich nur zu gerne teilte. Unvergesslich bleibt mir, wie ich als Fremder bei ihrem herbstlichen Schlachtfest mithelfen durfte, das mich in seiner Archaik zutiefst beeindruckte. Im Frühjahr 1963 bin ich dann vom äußersten Norden Europas per Anhalter über den Nahen Osten, Ägypten und den Sudan nach Äthiopien gereist. Ich hab es auf meinen Reisen nie eilig gehabt und blieb fast zwei Jahre in dem faszinierenden Kaiserreich im Osten Afrikas. Am eigenen Leib erfuhr ich quälenden Hunger -, lernte aber auch, wie man sich an den eigenen Haaren aus der Misere zieht. Von den Felsenkirchen in Lalibela aus ritt ich mit Maultieren über 4000 Meter hohe Gebirgspässe. Mit einem belgischen Kamera mann durchquerte ich zu Fuß die Danakil, die heißeste Wüste der Erde. Und mit einem sargähnlichen Fahrzeug fuhren Günter Krieg und ich den reißenden Blauen Nil hinab. Nach 25 Tagen zerschellte das Boot. Wir mussten sechs Tage lang ohne Essen laufen, klettern, kriechen, bis wir auf Menschen stießen. Nach über zwei Jahren zurück in Deutschland lernte ich meine Frau Rosemarie kennen. Noch vor der Hochzeit warnte ich sie: »Ich will wieder auf Reisen. Da musst du mitkommen.« Wir bekamen zwei Töchter, und sobald die aus den Windeln waren, ging es für die gesamte Familie wieder los - dreieinhalb Jahre mit einem Unimog kreuz und quer durch Afrika. Gemeinsam durchquerten wir die Sahara von West nach Ost. Ein Familienurlaub der besonderen Art, der uns nachhaltig zusammengeschweißt und jeden von uns geprägt hat. Nach unserer Rückkehr besuchten wir meinen Freund Rüdiger Nehberg, den ich sofort mit meinem Danakil-Bazillus infizierte. Drei Monate später stand ich, zusammen mit Rüdiger und dem Chemiestudenten Horst Walter, erneut unter der sengenden Sonne der Danakil-Wüste. Es war das extremste Abenteuer meines Lebens, das alle Facetten dessen enthielt, was viele Menschen einst auch in Europa durchleiden mussten: Hitze, Hunger, Durst, Bedrohung, Krieg. Aber auch faszinierende Begegnungen mit ursprünglichen Menschen, die von dieser menschenfeindlichen Wüste geprägt sind - der Kontakt mit dem Islam oder das Besteigen von feuerspeienden Vulkanen gehörten dazu. Erst die Gründung der Firma Globetrotter Ausrüstung 1979 schränkte mein Nomadenleben stark ein, die Reisen wurden kürzer. Die existenziellen Erfahrungen aus meinen Abenteuern waren mir beim Aufbau und der Leitung des Unternehmens eine enorme Hilfe. Denn der Weg zu dem heute größten Outdoor- Spezialisten Europas erforderte nicht selten Mut, Zielstrebigkeit und Risikobereitschaft. Werte wie Teamgeist und soziale Verantwortung, auch unseren Mitarbeitern gegenüber, prägen nach wie vor die Kultur unserer Firma. Heute reise ich noch, aber ich muss nicht mehr ständig auf Achse sein. Ich genieße das Leben auf dem Lande mit Pferden, Hund und Katzen; ich freue mich, wenn im Februar die ersten Kraniche mit lautem Trompeten ihre Rückkehr verkünden oder wenn die Bussarde scheinbar schwerelos im Aufwind ihre Kreise ziehen, sorglos den Moment genießend und nicht ahnend, dass die Menschen ihre Lebensgrundlage - die intakte Natur - jeden Tag kontinuierlich zerstören. Was hat es für mich bedeutet, immer auf Achse zu sein? War es Lust? War es Flucht? Sucht oder Suche? Sicher von allem etwas. Letztlich bedeutet Reisen für mich, herauszufinden, wo meine physischen und psychischen Grenzen sind.
12 Uhr Mittagswehr oder spiel mir das Lied vom Tod
Das letzte Stakkato, die letzten Korrekturen, um das Kanu optimal auf Kurs zu bringen. Die Stechpaddel stießen in die Fluten. Der Spaß konnte beginnen! Im nächsten Moment zog es den offenen Kanadier in den Sog des Mittagswehrs. Wir rauschten den aufgestauten Wasserfall hinab. Der Bug tauchte in die Walze. Die rotierenden Wassermassen schnappten sich das Boot, wirbelten es herum. Mein Freund Melchior und ich fanden uns in den Strudeln wieder und trieben ein paar Meter flussabwärts. »Super! Ganz toll! Aber können wir die Sache sicherheitshalber noch mal wiederholen?«, rief der Fotograf Uwe Reuter. Es gab damals ja noch keine Kameras, bei denen man sich das Foto eine Sekunde später auf dem Display ansehen konnte. »Klar, können wir.« Reuter arbeitete für eine Illustrierte, die eine Reportage über diese neu gegründete Firma in der Wandsbeker Chaussee in Hamburg bringen wollte. Über diesen exotischen Laden, in dem u. a. Arved Fuchs beraten und für seine Nordpolexpeditionen ausgerüstet wurde. Die Beratung war so gründlich, dass wir mit Arved in einem Tiefkühllager arktistaugliche Schlafsäcke testeten. Bei minus 20° Celsius, inmitten von Bergen von Eipulver. Die Kälte war erträglich, hingegen war der penetrante Geruch von Hunderten von Tonnen Eipulver schon fast eine expeditionsreife Herausforderung. Peter Lechhart - mein Kompagnon, mit dem ich 1979 das Unternehmen Globetrotter Ausrüstung gegründet hatte - fuhr mit Arved zum Bossons-Gletscher am Montblanc, um den angehenden Arktisforscher in die Geheimnisse des Eiskletterns einzuweihen. Wie man sieht, war Service am Kunden für uns schon damals selbstverständlich. Peter selbst war Bergführer- Ausbilder und hatte natürlich großen Spaß daran, mit Arved die Rettung aus Gletscherspalten zu üben oder Séracs, wie man die bizarren Türme aus Gletschereis nennt, zu überwinden. Bereits 1970 hatte Peter zusammen mit drei Freunden das grönländische Inlandeis, das sich in Jahrtausenden zu einem 3000 Meter hohen Eispanzer angehäuft hat, auf Skiern durchquert und sich damit auf die Spuren des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen begeben, der 1888 als erster Mensch diese unendliche Eiswüste überwunden hatte. Folglich wurde der nächste Sohn, den Erika Lechhart in Hamburg zur Welt brachte, auf den Namen Fridtjof getauft. Wahrscheinlich spürte Peter, dass Arved ein Besessener war. So besessen, wie er selbst gute zehn Jahre zuvor gewesen war. Und Besessenen muss geholfen werden. Steht das nicht schon in der Bibel? Wenn die Kunden Glück hatten, konnten sie auch Rüdiger Nehberg begegnen, der in den Pausen zwischen seinen spektakulären Survivaltouren gerne bei seinen Freunden von Globe trotter Ausrüstung vorbeischaute, um seine minimale Ausrüstung auf Vordermann zu bringen. Viel brauchte er wirklich nicht: meistens reißfeste Reepschnüre, wasserdichte Kanister, gelegentlich mal ein neues Survivalmesser. Das Messer ist ein unentbehrliches Universalwerkzeug mit Hohlgriff, in dem man Angelzeug und Streichhölzer unterbringen kann. Die Reepschnüre sind für alles erforderlich, was unbedingt zusammengehalten werden muss. Und was brauchte ein richtiger Mann in der Steinzeit? Richtig! Eine Steinaxt, ein scharfes Messer aus Flintstein und Schnüre aus Pflanzenmaterial. Viel mehr benötigt auch der Überlebensexperte Rüdiger selten. Heute umgeben sich Männer mit Spielzeug: mit protzigen Autos, Navigationsgeräten und Telefonen, deren Funktionsfülle sich der Eier legenden Wollmilchsau annähert, obwohl sie doch eigentlich nur die Kommunikation zwischen zwei voneinander getrennten Menschen ermöglichen sollen. Lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass man Kinder an ihrem Spielzeug erkennt, richtige Männer dagegen ihre inneren Werte hinter äußerlicher Bedürfnislosigkeit verstecken? Ich hatte Rüdiger in einem lichten Moment mit dem Begriff »Sir Vival« geadelt. Er wurde sein Markenzeichen. Rüdiger und ich sind seit Ende der 60er-Jahre dicke Freunde. Ich war 1965 mit einem selbst gebauten »Sarg« in XXL-Größe den wilden Blauen Nil in Äthiopien hinuntergefahren. Rüdiger plante das gleiche Flussabenteuer, als wir uns 1968 kennenlernten. Echte Globetrotter waren Anfang der Achtziger noch absolute Exoten. Massentourismus in entlegene Regionen der Erde gab es damals noch nicht. Globetrotter waren Individualisten, Einzelgänger, die von weniger tatkräftigen Träumern bewundert und von fantasielosen Spießern als Spinner abgetan wurden. Die weite Welt lockte, und verlockend war es vor allem für Studenten, dem Hörsaal eine Saharadurchquerung im VW- Bus vorzuziehen. Waren das noch Zeiten - Deutschlands Freiheit musste noch nicht am Hindukusch verteidigt werden. Afghanistan war für viele Reisende geradezu der Inbegriff der absoluten Freiheit. Legendär waren der schwarze Afghane, die afghanische Küche oder auch die Waffenschmieden am Kyber-Pass, wo geschickte Handwerker jede Pistole preiswert nachbauten und an alle verkauften, die kaufen wollten. Auch an ungläubige Globetrotter. Nahezu unglaublich erscheint es heute, dass Afghanistan in der Vor-Taliban-Zeit ein tolerantes Land war. Unser winziger, vollgestopfter Laden zog die Globetrotter an und weckte bei vielen das Fernweh. Wer noch nicht wusste, wohin er reisen sollte, holte sich bei uns Inspiration, schnupperte Abenteuerluft, stöberte in den neuartigen Büchern für Rucksackreisende. In den alternativen Reiseführern erfuhren die Wissbegierigen, in welchem Restaurant in Kabul es das zarteste Lamm zum günstigsten Preis gab. Oder - ganz wichtig - wie man als Trans-Sahara-Reisender ungeschoren die Grenze nach Nigeria passieren konnte. Hätte man sich eigentlich denken können: Am besten am Wochenende, wenn Fußballspiele übertragen werden, dann waren die korrupten Grenzbeamten mehr am Spiel als an den Gepäckstücken der Globetrotter interessiert. An den Wänden lehnten Sandbleche aus dem Zweiten Weltkrieg, Relikte von der Landung der Alliierten in der Normandie. Die drei Meter langen Stahlbleche dienten aneinandergereiht als Fahrbahn für die Fahrzeuge der angelandeten Truppen. Ohne die Bleche wäre die Offensive der Amis und Engländer wahrscheinlich im weichen Strandsand der Normandie stecken geblieben. Selbst 35 Jahre nach der Invasion waren die Sandbleche noch begehrt bei Wüstenfahrern, die damit die Sahara zu erobern trachteten. Monate vor der Eröffnung unseres Ladens waren Peter und ich in die Normandie gefahren, schlürften frische Austern am Omaha Beach und suchten uns bei Schrott- und Autohändlern unser Inventar an alten Blechen zusammen. Dieser geschichtsträchtige Schrott der Alliierten zierte also »Norddeutschlands erstes Spezialgeschäft für Expeditionen, Safaris, Survival, Trekking«. Melchior Carati, einer unserer ersten Angestellten, hockte - wenn er wissbegierige Kunden hatte - gern im Schneidersitz auf dem massiven Kartentisch, drehte sich seine Zigaretten und plauderte nebenher kenntnisreich darüber, ob man nach Neuseeland besser einen Daunen- oder einen der neuartigen Hohlfaser- Schlafsäcke mitnehmen sollte, ob auf der Südinsel Daune oder auf der Nordinsel Hollowfill zu bevorzugen sei. Und es muss einmal gesagt werden: Manche Kundin wusste nach so viel anregendem Geplauder über ein horizontales Thema nicht, ob sie sich für Premium-Gänsedaune oder für unseren charmanten Kosmopoliten aus Holland entscheiden sollte. Zum Geruch von Melchiors Drum-Tabak gesellte sich der ständige Qualm von Peters Pfeifen, der mit seinem rotblonden Vollbart wie ein Imker aussah. Ganz zu schweigen von den rauchenden Köpfen mancher Kunden, die von unseren massiven Produktinformationen wie benebelt waren. Bei den Daunen ging es um das Füllvolumen pro Kubikzoll, bei den Zeltnähten um die Anzahl der Nadelstiche pro Zentimeter. Die Luft war jedenfalls rauchgeschwängert, sie durchdrang die Schlafsäcke und die Bekleidung. Zusätzlich zur Ware lieferten wir den Duft nach Lagerfeuer und der weiten Welt gleich mit. Peter und ich hatten seit der Gründung unseres Unternehmens im September 1979 den Ehrgeiz, unseren Kunden die bestmögliche Ausrüstung zu verkaufen, optimal und individuell zugeschnitten auf die jeweiligen Reiseziele. Schrott - außer den Sand- blechen - ging bei uns nicht über den Ladentisch. Dem Kunden die angemessene Qualität für sein persönliches Reiseziel zu empfehlen und ihn objektiv zu beraten, das war unser unbedingtes Firmenethos. Und wir empfahlen unseren Kunden nur das, was wir auch selbst auf unseren Reisen mitgenommen hätten. Das sprach sich schnell herum! Und so war es nicht verwunderlich, dass die jungfräuliche deutsche Antarktisforschung bei uns auftauchte, um sich Rat und Ausrüstung zu holen. Wir rüsteten die Baufirma Christiani & Nielsen mit Zelten, Schlafsäcken, Polarstiefeln, Eisschrauben und Kochern aus, jene Handwerker und Ingenieure, die die erste deutsche Forschungsstation im ewigen Eis errichteten. Schließlich versorgte »Polar-Klamott«, wie einer der spanischen Seeleute des nagelneuen Forschungsschiffs »Polarstern« unsere Firma taufte, 300 Seeleute und Antarktisforscher mit allem Nötigen. Kein Wunder, dass sich auch die Presse für unseren ebenso winzigen wie originellen Laden interessierte. Wenden wir uns also wieder dem Mittagswehr zu.
»Das sah toll aus, Jungs! Aber wenn ihr noch mal runterfahren könntet, wäre es noch toller«, konstatierte der Fotograf Uwe Reuter. »Sitzt du diesmal hinten?«, fragte Melchior, der beim Kentern offensichtlich mehr Wasser geschluckt hatte als ich. »Kein Problem. Lass uns zusehen, dass wir noch gerader ins Wehr hineinkommen. Vielleicht schaffen wir's jetzt, ohne zu kentern.« Wir trugen das Kanu 50 Meter flussaufwärts, setzten es ins Wasser und begannen sofort, heftig zu paddeln. Mit flotter Geschwindigkeit wollten wir das Boot auf der Ideallinie halten und mit Tempo geradewegs durch das Wehr schießen. Das Wehr erfasste unser Boot und übernahm die Kontrolle. Es zog das Kanu diagonal in die Strömung. Wir kenterten erneut. Ich versank im Wasser, was für mich eigentlich nichts Bedrohliches darstellte. Wasser war mein Element, das mich noch nie beunruhigt hatte. Ich brauchte ja nur wieder aufzutauchen und ans Ufer zu schwimmen. Auftauchen und ... Aber was war das? Das Wasser wollte mir nicht gehorchen! Das hatte ich ja noch nie erlebt. Rosemarie - seit 1967 meine Frau - hatte ihren ersten Beinahe- Herzstillstand bereits zwei Tage nach unserer Eheschließung erlitten, nur weil ich mich auf Teneriffa in der Brandung zwischen den scharfkantigen Felsen herumgetummelt und dabei noch einen Riesenspaß gehabt hatte, wenn die tosenden Wellen mich in dem Pool zwischen den Felsen durchwalkten, als wäre ich in einer riesigen Waschmaschine. Im nächsten Moment entspannte sich das Chaos, kurze Atempause im Rhythmus der Wasserkräfte. Doch nur wenige Sekunden später zog es mich durch die »Pforte« zwischen den Felsen ein Stück in die offene Bucht hinaus. Es war ein fantastisches Gefühl, sich den Wasserkräften hinzugeben, ohne Gegenwehr, ohne Angst, sich treiben zu lassen und den Kurs nur mit einigen Schwimmbewegungen zu korrigieren, damit man nicht gegen das spitze Vulkangestein geschleudert wurde. Obwohl man versucht ist, gegen den Strom anzukämpfen, ist es klüger, sich den Kräften der Natur anzupassen. Ich war Sporttaucher und Rettungsschwimmer, und Rosi war schwanger. Da fürchtete sie doch glatt, zwei Tage nach der offiziellen Familiengründung den Erzeuger ihres kommenden Kindes zu verlieren. Alles, was mich mein Leben lang über Wasser gehalten hatte, funktionierte hier am Mittagswehr nicht mehr. Die Arme flach an die Hüftknochen gelegt, Beinstöße nach oben. Die Routine versagte. Der Wasserfall drückte mich nach unten. Nein - er drückte mich nicht nach unten. Meine Beinstöße von unten und der Wasserfall von oben hielten mich im Gleichgewicht. Leider hielt dieses Gleichgewicht der Kräfte meinen Kopf einen halben Meter unter der Wasseroberfläche. Eine Scheißsituation, die mir völlig neu war. Klar, Scheißsituationen hatte ich in meinem abenteuerlichen Leben schon einige erlebt. Aber lebensbedrohliche Situationen im Wasser hatte ich noch nicht kennengelernt, vielleicht auch deshalb, weil einem die Gefahren manchmal gar nicht bewusst sind. Wenn wir Gefahren immer im Voraus erkennen würden, dürften wir uns ja gar nicht mehr auf die Straße trauen. Rückblickend möchte ich gern mal wissen, wie viele Lkws ich in meinem Leben schon in dem Moment überholt habe, in dem die Fahrer vom Sekundenschlaf übermannt wurden und im letzten Moment wieder aufgewacht sind. Waren es 10, 20 oder gar 50? 50 Mal das Glück gehabt, nicht von einem schlingernden Lkw erwischt zu werden ... Natürlich wusste ich, dass immer mal wieder Paddler am Mittagswehr ertrunken waren. Schlechte Schwimmer, dachte ich mir. Dass mich das gleiche Schicksal ereilen könnte, darauf hatte ich nie einen Gedanken verschwendet. Ein Mann will nach oben. Aber wie? Es war wie in einem Traum, in dem man rennt und rennt und kein Stück von der Stelle kommt. Ich konnte es nicht glauben - sollte es das gewesen sein? Dabei spürte ich keinerlei Panik, stellte nur lapidar fest, dass ich in der Falle saß und es definitiv keinen Ausweg gab. Knapp die Hälfte meiner mutmaßlichen Lebensspanne hatte ich hinter mir. Ging ich doch davon aus, dass ich mindestens achtzig Jahre alt werden würde. Ich war noch keine vierzig, hatte eine Frau und zwei Töchter, mit denen ich dreieinhalb Jahre kreuz und quer durch Afrika gefahren war. Ich war noch keine vierzig, hatte eine erfolgreiche Firma und war kein bisschen müde. So vergeht die Herrlichkeit der Welt ... Was für ein erbärmliches Ende, dachte ich, so ohnmächtig wie eine Fliege, die das Heransausen der Fliegenklatsche zu spät bemerkt. Erstaunlich, wie schnell wir auf das Maß einer Fliege schrumpfen können, wenn uns bewusst wird, wie gering wir sind. Woher nimmt der Mensch eigentlich seine Vermessenheit, sich für die Krone der Schöpfung zu halten? Der Mensch ist doch das einzige Lebewesen, das um seine Endlichkeit und Unvollkommenheit weiß und diese Unvollkommenheit ein Leben lang kompensieren muss. Der Mensch will nicht akzeptieren, was er vielleicht im Innersten spürt, dass er letztlich auch nicht mehr als ein Tier ist. Er verdrängt völlig, dass fast alle seine Handlungen instinktgesteuert sind. Krone der Schöpfung? Lächerlich! Ich war noch keine vierzig und hatte doch schon ganz andere Wildwasser gemeistert als dieses lächerliche Mittagswehr. Jeden Tag hatten wir mindestens 20 Mittagswehre zu überwinden, damals, 1965 auf dem Blauen Nil in Äthiopien. Und unser Fahrzeug war kein Kanu, sondern ein Sarg in XXL-Größe gewesen. Doch nun war mein Kopf einen halben Meter unter Wasser und guter Rat teuer. Um die Nerven meiner geneigten Leser nicht weiter zu strapazieren, schlage ich vor, wir wenden uns erst einmal dem hohen Norden zu. Auf den unerquicklichen Strudel werde ich später zurückkommen ...
Eismeer oder Afrika?
1963 war ich aufgebrochen, um durch Afrika zu trampen. Ursprünglich wollte ich den Schwarzen Kontinent in einem alten Mercedes 180 erobern, zusammen mit Burkhard, dem der Mercedes gehörte. Burkhard aus Karlsruhe hatte ich ein Jahr zuvor in Skaidi kennengelernt. Skaidi? Ein winziges Nest in Nordnorwegen, dort, wo die Fernstraße E 6 - die sich auf einer Strecke von gut 3000 Kilometern vom südschwedischen Trelleborg über Oslo bis nach Kirkenes an der russischen Grenze schlängelt - an eine T-Kreuzung stößt. Dort geht es linksherum nach Hammerfest, der nördlichsten Stadt der Welt. Die meisten Autofahrer bogen in Skaidi rechts ab, um das nahe Nordkap zu besuchen. Skaidi war damals auch ein Knotenpunkt für die Samen. (Früher wurden die Bewohner Lapplands Lappen genannt. Heute nennen wir sie so, wie sie sich selbst bezeichnen.) Im Juni, wenn der Schnee endlich die würzigen Moose und Flechten freigab, trieben die Rentierzüchter auf ihrer Wanderung an die Küste des nördlichen Eismeers ihre vieltausendköpfigen Herden durch Skaidi. Am Küstensaum wurde dann eines der Leittiere hinter ein Boot gebunden. Das Ruderboot entfernte sich vom Ufer, und die ganze Herde sprang hinterher ins eiskalte Wasser. Auf den Inseln vor der Küste wartete reichhaltiges Futter auf die Rentiere. Was das Leben auf diesen Inseln aber geradezu paradiesisch machte, war die Tatsache, dass es in diesem rauen Seeklima keine Mücken gab. Im lappländischen Binnenland dagegen terrorisieren Myriaden winziger Blutsauger Menschen und Tiere. Lapplands Mücken sind bei allen gefürchtet. Da bleibt nur die Flucht auf die Inseln oder - wie in Schwedisch-Lappland - in die Berge. Im August war der kurze Lapplandsommer schon wieder zu Ende. Also fingen die Samen eines der Leittiere ein, banden es hinter ein Boot, und die riesige Herde schwamm zurück aufs Festland. In den folgenden Wochen zogen sie in ihre angestammten Zentren zurück, die so wohlklingende Namen wie Karasjok und Kautokeino tragen. Anfang September 1962 kamen sie - wie jedes Jahr - auch durch Skaidi, wo ich für gut zwei Monate sesshaft geworden war. Insgesamt war ich bereits seit Monaten mit dem Fahrrad und per Anhalter in Skandinavien unterwegs gewesen. In Skaidi gab es nur etwa 20 Häuser, eine Tankstelle und ein Restaurant. Völlig unerwartet bot sich mir hier die Möglichkeit, meine Reisekasse etwas aufzufüllen. Das Restaurant in Skaidi gehörte Sofie Pettersen, einer rundlichen, stets freundlichen »Mamutschka«. Sofie entsprach eigentlich gar nicht dem Bild der Skandinavier in den 60erJahren, die alle groß und sportlich-drahtig wirkten. Sofie war die erste rundliche Frau, die ich in Norwegen wahrnahm. Mit ihrem breiten, slawisch anmutenden Gesicht entsprach sie eher dem Bild einer Russin aus der Zeit des Kalten Krieges. Sofie war eine gewichtige Institution auf dem Weg zum Nordkap, und ihre Kochkünste schienen mir denen eines Sternekochs um Längen überlegen zu sein. Oder lag es vielleicht nur daran, dass ich als 20-jähriger Globetrotter notorisch ausgehungert war und dieser Mangel meine kulinarische Urteilskraft trübte? Aber Sofie muss tatsächlich ein Kochgenie gewesen sein: Hätte ich sonst heute noch den Geschmack ihrer Rentiersuppe auf der Zunge, den Geruch ihrer Suppe in der Nase? So schmeckt Lappland, genauer gesagt, die Finnmark. Es war die fleischgewordene Metamorphose der gesamten Vege tation des hohen Nordens: Moose, Flechten, Blaubeerblätter, Krüppelbirken, Krüppelwacholder, als i-Tüpfelchen mit den Mineralien der Seeluft gewürzt. Sofie war obendrein die letzte Informationsquelle vor dem Nordkap. Immer freundlich und in fließendem Deutsch klärte sie die Touristen über Wetterkapriolen, Straßenverhältnisse und die vermeintlichen Gefahren bei der Fahrt zum Nordkap auf, die viele schon als Abenteuer empfanden. Sofie bot mir an, in ihrem Restaurant zu jobben. Dazu gehörte es auch, die Touristenhütten winterfest zu machen, Bäume zu fällen, Holz zu sägen und Proviant für den bevorstehenden langen Winter einzulagern, wenn der Ort völlig von der Außenwelt abgeschnitten sein würde. An guten Tagen bissen die Köhlerfische am nahen Repparfjord wie verrückt, sobald ich die Angel mit dem Blinker in den Schwarm unter den Fähranleger hielt. Schnell war der Eimer voller Beute, und ich fuhr mit dem Bus nach Skaidi zurück. Sofies Kühltruhen füllten sich, nicht nur mit Köhlerfisch, sondern auch mit Lachs. Sofie besaß eine Fanggenehmigung für norwegischen Wildlachs. Die Flüsse der Finnmark waren berühmt dafür, den besten Lachs Europas zu haben. Norwegische Lachsfarmen gab es damals noch nicht. Die dicke Sofie mit der Lachsangel am Flussufer sitzend, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und richtig: Sofie ließ angeln. Ein spannendes Spektakel bot sich mir, als sich Anfang September eine Gruppe von Samen außerhalb des Ortes niederließ, um ältere Rentiere zu schlachten und die Jungtiere zu markieren, die im vergangenen Mittsommer geboren worden waren. In einem eingezäunten Areal von der Größe zweier Fußballfelder brodelte es. Über 1000 Rentiere, die fünf Großfamilien gehörten, liefen auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit aufgeregt durcheinander. Zäune kannten die halbwilden Tiere nicht, die normalerweise auf einer Weidefläche von der Größe Schleswig-Holsteins nach den schmackhaftesten Kräutern und Flechten suchten. Die Samenkinder waren aus ihren jeweiligen Internaten angereist, um bei dem großen Schlachtfest in Skaidi dabei zu sein.
Alle trugen die traditionelle blau-rote Bekleidung der Rentiernomaden, die Männer zudem Lederhosen und taillierte Blusen. In ihrem Gürtel steckte ein scharfes Messer mit Birkenholz- griff. Den Kopf schützte und wärmte eine dreizipfelige, mit reichen Ornamenten bestickte Mütze. Alle Familienmitglieder, vom Säugling bis zum Greis, waren auf dem Festplatz versammelt. In einer Ecke lagen die geschlachteten Tiere. Überall tobten die kleinen Kinder in ihren farbenprächtigen Trachten herum. Die toten Tiere wurden an Gestelle gehängt und von Frauen und älteren Männern ausgenommen, Felle und Geweihe auf einen Haufen geschichtet. Über einem offenen Feuer drehten Frauen Spieße mit Fleischstücken. Durch den Rauch tönte das Gekläffe der Hunde und das Grunzen der Rentiere. Die Kinder beteiligten sich mit Leidenschaft an der Arbeit, die wahrlich kein Kinderspiel ist. Die Rentiere standen vor der Brunft und strotzten vor Kraft und Lebensenergie. Die kleineren Samenjungen durften ihr Geschick im Lassowerfen erproben und die Jungtiere dieses Sommers einfangen. Hatten sie eines erwischt, warfen sich zwei weitere Jungen auf das Tier und drückten es zu Boden. Als der kleine Jose-Mikel von einem Jungbullen umgerissen wurde, blieb er auf dem Boden liegen und stöhnte vor Schmerz. Doch die Tiere und Männer rannten weiter um ihn herum, ohne ihn zu beachten. Zeit zum Trösten hatte hier keiner. Das Leben war hart bei den Rentiernomaden, und hart zu sein musste geübt werden. Schon einige Minuten später kerbte Jose-Mikel unter den kritischen Blicken seines Vaters einem Jungtier das Besitzerzeichen in die Ohren - zwei Keilschnitte ins linke, drei Keilschnitte ins rechte Ohr. Bei den Tieren der Nachbarfamilie hatten die Tiere drei Schnitte links, drei Schnitte rechts. Die Kombinationsmöglichkeiten mit einer unterschiedlichen Anzahl von Schnitten waren vielfältig genug, um mit diesem System alle Tiere eines jeden Rentierzüchters in Lappland einfach unterscheiden zu können. Insgesamt, so hieß es, gäbe es 500 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten. Auf keinem Schlachtplatz durfte die Renpolizei fehlen. Sie führte Buch über die Besitzerzeichen. Jedes geschlachtete Tier wurde kontrolliert, ob es zu den hier versammelten Sippen gehörte oder möglicherweise aus einem fremden Weidegebiet zugewandert war. Eine Arbeit war reine Männersache: das Schlachten. Das Lassowerfen überließen sie den halbwüchsigen Jungen. Das imposante Geweih dieser arktischen Hirschart war ein vortreffliches Ziel, und sobald sich die Seilschlinge im Gehörn der meist männlichen Tiere verfangen hatte, sprang einer der Männer vor, ergriff das Tier und benutzte die Geweihstangen als Hebel, um ihm den Kopf auf den Boden zu biegen. Dabei wölbte sich die Halswirbelsäule so stark, dass sich zwischen zwei Nackenwirbeln eine Lücke bildete. Die war groß genug, dass ein zweiter Mann dem Tier mit einem dreikantigen Dolch den Todesstoß versetzen konnte. Ich war jung und ich war neugierig auf die Kultur der Rentierzüchter. »Darf ich auch mal?«, fragte ich selbstbewusst. Klar durfte ich. Menschen, die ihre alten Traditionen pflegen, freuen sich meist, wenn sich ein Fremder in ihren Fertigkeiten erproben will. Und sie freuen sich noch mehr, wenn sich der Fremde tollpatschig anstellt und von den bockigen Renbullen in die Blaubeeren stoßen lässt. Die Samen hatten also ihren Spaß mit mir, und nach einigen Minuten hatte ich auch meinen Spaß mit der Kultur der Rentierzüchter. Ich durfte den Hirschen an der Hinrichtungsstätte die Köpfe nach unten biegen und sie dem Schlachter darbieten. Ich empfand dies als eine selbstverständliche Arbeit, eben eine Arbeit, die gemacht werden musste, weil sie die Überlebensgrundlage dieses Volkes darstellt.
© 2011 Irisiana Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH München
Was treibt manche Menschen hinaus in die Ferne? Haben sie keine Heimat? Keine Heimat in sich? Ist ihr Freiheitsdrang ausgeprägter? Und was bedeutet Freiheit eigentlich? Wenn sie getrieben sind, sind sie dann wirklich frei? Wenn man altersbedingt etwas ruhiger und besinnlicher wird, so schadet es nicht, sich seine Gedanken über die Motive des eigenen Lebensweges zu machen. Schon als Sechsjähriger bin ich allein stundenlang in der Natur herumgestromert, freute mich, wenn ich mich an Hase oder Reh heranpirschen und sie beobachten konnte. Das waren meine kleinen Abenteuer. Mit elf Jahren fuhr ich mit einem Cousin mit dem Fahrrad von Kiel nach Schweden; mit dreizehn ging's per Anhalter nach Stockholm; mit 15 Jahren in den Sommerferien über Brüssel, Paris, London bis zum nördlichsten Punkt Schottlands. Das Reisen ließ mich fortan nicht mehr los. Und so wurden es zehn Jahre meines Lebens, die ich herumgereist bin und buchstäblich zum Globetrotter wurde. Das alles in einem Buch zu erzählen, sprengt den stabilsten Bucheinband. Ich berichte daher nur von den Reisen ausführlich, die mich am meisten geprägt haben. Immer weiter zog es mich in die Ferne. Und das bereits in den frühen 1960ern, als Fernreisende noch als Pioniere galten und an so etwas wie Abenteuertourismus noch nicht zu denken war. Als ich 19 Jahre alt war, fragte mein Schulfreund Peter mich: »Hast du Lust, mit mir für zwei Wochen nach Norwegen zu fahren?« Und wie ich Lust hatte! Das Problem: Peter fuhr Moped, ich fuhr Fahrrad. Peter blieb zwei Wochen, mich ließ Norwegen neun Monate lang nicht mehr los. In Nordnorwegen lernte ich die Samen, die Rentiernomaden kennen, deren ursprüngliches und naturverbundenes Leben ganz meinen Vorstellungen entsprach und das ich nur zu gerne teilte. Unvergesslich bleibt mir, wie ich als Fremder bei ihrem herbstlichen Schlachtfest mithelfen durfte, das mich in seiner Archaik zutiefst beeindruckte. Im Frühjahr 1963 bin ich dann vom äußersten Norden Europas per Anhalter über den Nahen Osten, Ägypten und den Sudan nach Äthiopien gereist. Ich hab es auf meinen Reisen nie eilig gehabt und blieb fast zwei Jahre in dem faszinierenden Kaiserreich im Osten Afrikas. Am eigenen Leib erfuhr ich quälenden Hunger -, lernte aber auch, wie man sich an den eigenen Haaren aus der Misere zieht. Von den Felsenkirchen in Lalibela aus ritt ich mit Maultieren über 4000 Meter hohe Gebirgspässe. Mit einem belgischen Kamera mann durchquerte ich zu Fuß die Danakil, die heißeste Wüste der Erde. Und mit einem sargähnlichen Fahrzeug fuhren Günter Krieg und ich den reißenden Blauen Nil hinab. Nach 25 Tagen zerschellte das Boot. Wir mussten sechs Tage lang ohne Essen laufen, klettern, kriechen, bis wir auf Menschen stießen. Nach über zwei Jahren zurück in Deutschland lernte ich meine Frau Rosemarie kennen. Noch vor der Hochzeit warnte ich sie: »Ich will wieder auf Reisen. Da musst du mitkommen.« Wir bekamen zwei Töchter, und sobald die aus den Windeln waren, ging es für die gesamte Familie wieder los - dreieinhalb Jahre mit einem Unimog kreuz und quer durch Afrika. Gemeinsam durchquerten wir die Sahara von West nach Ost. Ein Familienurlaub der besonderen Art, der uns nachhaltig zusammengeschweißt und jeden von uns geprägt hat. Nach unserer Rückkehr besuchten wir meinen Freund Rüdiger Nehberg, den ich sofort mit meinem Danakil-Bazillus infizierte. Drei Monate später stand ich, zusammen mit Rüdiger und dem Chemiestudenten Horst Walter, erneut unter der sengenden Sonne der Danakil-Wüste. Es war das extremste Abenteuer meines Lebens, das alle Facetten dessen enthielt, was viele Menschen einst auch in Europa durchleiden mussten: Hitze, Hunger, Durst, Bedrohung, Krieg. Aber auch faszinierende Begegnungen mit ursprünglichen Menschen, die von dieser menschenfeindlichen Wüste geprägt sind - der Kontakt mit dem Islam oder das Besteigen von feuerspeienden Vulkanen gehörten dazu. Erst die Gründung der Firma Globetrotter Ausrüstung 1979 schränkte mein Nomadenleben stark ein, die Reisen wurden kürzer. Die existenziellen Erfahrungen aus meinen Abenteuern waren mir beim Aufbau und der Leitung des Unternehmens eine enorme Hilfe. Denn der Weg zu dem heute größten Outdoor- Spezialisten Europas erforderte nicht selten Mut, Zielstrebigkeit und Risikobereitschaft. Werte wie Teamgeist und soziale Verantwortung, auch unseren Mitarbeitern gegenüber, prägen nach wie vor die Kultur unserer Firma. Heute reise ich noch, aber ich muss nicht mehr ständig auf Achse sein. Ich genieße das Leben auf dem Lande mit Pferden, Hund und Katzen; ich freue mich, wenn im Februar die ersten Kraniche mit lautem Trompeten ihre Rückkehr verkünden oder wenn die Bussarde scheinbar schwerelos im Aufwind ihre Kreise ziehen, sorglos den Moment genießend und nicht ahnend, dass die Menschen ihre Lebensgrundlage - die intakte Natur - jeden Tag kontinuierlich zerstören. Was hat es für mich bedeutet, immer auf Achse zu sein? War es Lust? War es Flucht? Sucht oder Suche? Sicher von allem etwas. Letztlich bedeutet Reisen für mich, herauszufinden, wo meine physischen und psychischen Grenzen sind.
12 Uhr Mittagswehr oder spiel mir das Lied vom Tod
Das letzte Stakkato, die letzten Korrekturen, um das Kanu optimal auf Kurs zu bringen. Die Stechpaddel stießen in die Fluten. Der Spaß konnte beginnen! Im nächsten Moment zog es den offenen Kanadier in den Sog des Mittagswehrs. Wir rauschten den aufgestauten Wasserfall hinab. Der Bug tauchte in die Walze. Die rotierenden Wassermassen schnappten sich das Boot, wirbelten es herum. Mein Freund Melchior und ich fanden uns in den Strudeln wieder und trieben ein paar Meter flussabwärts. »Super! Ganz toll! Aber können wir die Sache sicherheitshalber noch mal wiederholen?«, rief der Fotograf Uwe Reuter. Es gab damals ja noch keine Kameras, bei denen man sich das Foto eine Sekunde später auf dem Display ansehen konnte. »Klar, können wir.« Reuter arbeitete für eine Illustrierte, die eine Reportage über diese neu gegründete Firma in der Wandsbeker Chaussee in Hamburg bringen wollte. Über diesen exotischen Laden, in dem u. a. Arved Fuchs beraten und für seine Nordpolexpeditionen ausgerüstet wurde. Die Beratung war so gründlich, dass wir mit Arved in einem Tiefkühllager arktistaugliche Schlafsäcke testeten. Bei minus 20° Celsius, inmitten von Bergen von Eipulver. Die Kälte war erträglich, hingegen war der penetrante Geruch von Hunderten von Tonnen Eipulver schon fast eine expeditionsreife Herausforderung. Peter Lechhart - mein Kompagnon, mit dem ich 1979 das Unternehmen Globetrotter Ausrüstung gegründet hatte - fuhr mit Arved zum Bossons-Gletscher am Montblanc, um den angehenden Arktisforscher in die Geheimnisse des Eiskletterns einzuweihen. Wie man sieht, war Service am Kunden für uns schon damals selbstverständlich. Peter selbst war Bergführer- Ausbilder und hatte natürlich großen Spaß daran, mit Arved die Rettung aus Gletscherspalten zu üben oder Séracs, wie man die bizarren Türme aus Gletschereis nennt, zu überwinden. Bereits 1970 hatte Peter zusammen mit drei Freunden das grönländische Inlandeis, das sich in Jahrtausenden zu einem 3000 Meter hohen Eispanzer angehäuft hat, auf Skiern durchquert und sich damit auf die Spuren des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen begeben, der 1888 als erster Mensch diese unendliche Eiswüste überwunden hatte. Folglich wurde der nächste Sohn, den Erika Lechhart in Hamburg zur Welt brachte, auf den Namen Fridtjof getauft. Wahrscheinlich spürte Peter, dass Arved ein Besessener war. So besessen, wie er selbst gute zehn Jahre zuvor gewesen war. Und Besessenen muss geholfen werden. Steht das nicht schon in der Bibel? Wenn die Kunden Glück hatten, konnten sie auch Rüdiger Nehberg begegnen, der in den Pausen zwischen seinen spektakulären Survivaltouren gerne bei seinen Freunden von Globe trotter Ausrüstung vorbeischaute, um seine minimale Ausrüstung auf Vordermann zu bringen. Viel brauchte er wirklich nicht: meistens reißfeste Reepschnüre, wasserdichte Kanister, gelegentlich mal ein neues Survivalmesser. Das Messer ist ein unentbehrliches Universalwerkzeug mit Hohlgriff, in dem man Angelzeug und Streichhölzer unterbringen kann. Die Reepschnüre sind für alles erforderlich, was unbedingt zusammengehalten werden muss. Und was brauchte ein richtiger Mann in der Steinzeit? Richtig! Eine Steinaxt, ein scharfes Messer aus Flintstein und Schnüre aus Pflanzenmaterial. Viel mehr benötigt auch der Überlebensexperte Rüdiger selten. Heute umgeben sich Männer mit Spielzeug: mit protzigen Autos, Navigationsgeräten und Telefonen, deren Funktionsfülle sich der Eier legenden Wollmilchsau annähert, obwohl sie doch eigentlich nur die Kommunikation zwischen zwei voneinander getrennten Menschen ermöglichen sollen. Lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass man Kinder an ihrem Spielzeug erkennt, richtige Männer dagegen ihre inneren Werte hinter äußerlicher Bedürfnislosigkeit verstecken? Ich hatte Rüdiger in einem lichten Moment mit dem Begriff »Sir Vival« geadelt. Er wurde sein Markenzeichen. Rüdiger und ich sind seit Ende der 60er-Jahre dicke Freunde. Ich war 1965 mit einem selbst gebauten »Sarg« in XXL-Größe den wilden Blauen Nil in Äthiopien hinuntergefahren. Rüdiger plante das gleiche Flussabenteuer, als wir uns 1968 kennenlernten. Echte Globetrotter waren Anfang der Achtziger noch absolute Exoten. Massentourismus in entlegene Regionen der Erde gab es damals noch nicht. Globetrotter waren Individualisten, Einzelgänger, die von weniger tatkräftigen Träumern bewundert und von fantasielosen Spießern als Spinner abgetan wurden. Die weite Welt lockte, und verlockend war es vor allem für Studenten, dem Hörsaal eine Saharadurchquerung im VW- Bus vorzuziehen. Waren das noch Zeiten - Deutschlands Freiheit musste noch nicht am Hindukusch verteidigt werden. Afghanistan war für viele Reisende geradezu der Inbegriff der absoluten Freiheit. Legendär waren der schwarze Afghane, die afghanische Küche oder auch die Waffenschmieden am Kyber-Pass, wo geschickte Handwerker jede Pistole preiswert nachbauten und an alle verkauften, die kaufen wollten. Auch an ungläubige Globetrotter. Nahezu unglaublich erscheint es heute, dass Afghanistan in der Vor-Taliban-Zeit ein tolerantes Land war. Unser winziger, vollgestopfter Laden zog die Globetrotter an und weckte bei vielen das Fernweh. Wer noch nicht wusste, wohin er reisen sollte, holte sich bei uns Inspiration, schnupperte Abenteuerluft, stöberte in den neuartigen Büchern für Rucksackreisende. In den alternativen Reiseführern erfuhren die Wissbegierigen, in welchem Restaurant in Kabul es das zarteste Lamm zum günstigsten Preis gab. Oder - ganz wichtig - wie man als Trans-Sahara-Reisender ungeschoren die Grenze nach Nigeria passieren konnte. Hätte man sich eigentlich denken können: Am besten am Wochenende, wenn Fußballspiele übertragen werden, dann waren die korrupten Grenzbeamten mehr am Spiel als an den Gepäckstücken der Globetrotter interessiert. An den Wänden lehnten Sandbleche aus dem Zweiten Weltkrieg, Relikte von der Landung der Alliierten in der Normandie. Die drei Meter langen Stahlbleche dienten aneinandergereiht als Fahrbahn für die Fahrzeuge der angelandeten Truppen. Ohne die Bleche wäre die Offensive der Amis und Engländer wahrscheinlich im weichen Strandsand der Normandie stecken geblieben. Selbst 35 Jahre nach der Invasion waren die Sandbleche noch begehrt bei Wüstenfahrern, die damit die Sahara zu erobern trachteten. Monate vor der Eröffnung unseres Ladens waren Peter und ich in die Normandie gefahren, schlürften frische Austern am Omaha Beach und suchten uns bei Schrott- und Autohändlern unser Inventar an alten Blechen zusammen. Dieser geschichtsträchtige Schrott der Alliierten zierte also »Norddeutschlands erstes Spezialgeschäft für Expeditionen, Safaris, Survival, Trekking«. Melchior Carati, einer unserer ersten Angestellten, hockte - wenn er wissbegierige Kunden hatte - gern im Schneidersitz auf dem massiven Kartentisch, drehte sich seine Zigaretten und plauderte nebenher kenntnisreich darüber, ob man nach Neuseeland besser einen Daunen- oder einen der neuartigen Hohlfaser- Schlafsäcke mitnehmen sollte, ob auf der Südinsel Daune oder auf der Nordinsel Hollowfill zu bevorzugen sei. Und es muss einmal gesagt werden: Manche Kundin wusste nach so viel anregendem Geplauder über ein horizontales Thema nicht, ob sie sich für Premium-Gänsedaune oder für unseren charmanten Kosmopoliten aus Holland entscheiden sollte. Zum Geruch von Melchiors Drum-Tabak gesellte sich der ständige Qualm von Peters Pfeifen, der mit seinem rotblonden Vollbart wie ein Imker aussah. Ganz zu schweigen von den rauchenden Köpfen mancher Kunden, die von unseren massiven Produktinformationen wie benebelt waren. Bei den Daunen ging es um das Füllvolumen pro Kubikzoll, bei den Zeltnähten um die Anzahl der Nadelstiche pro Zentimeter. Die Luft war jedenfalls rauchgeschwängert, sie durchdrang die Schlafsäcke und die Bekleidung. Zusätzlich zur Ware lieferten wir den Duft nach Lagerfeuer und der weiten Welt gleich mit. Peter und ich hatten seit der Gründung unseres Unternehmens im September 1979 den Ehrgeiz, unseren Kunden die bestmögliche Ausrüstung zu verkaufen, optimal und individuell zugeschnitten auf die jeweiligen Reiseziele. Schrott - außer den Sand- blechen - ging bei uns nicht über den Ladentisch. Dem Kunden die angemessene Qualität für sein persönliches Reiseziel zu empfehlen und ihn objektiv zu beraten, das war unser unbedingtes Firmenethos. Und wir empfahlen unseren Kunden nur das, was wir auch selbst auf unseren Reisen mitgenommen hätten. Das sprach sich schnell herum! Und so war es nicht verwunderlich, dass die jungfräuliche deutsche Antarktisforschung bei uns auftauchte, um sich Rat und Ausrüstung zu holen. Wir rüsteten die Baufirma Christiani & Nielsen mit Zelten, Schlafsäcken, Polarstiefeln, Eisschrauben und Kochern aus, jene Handwerker und Ingenieure, die die erste deutsche Forschungsstation im ewigen Eis errichteten. Schließlich versorgte »Polar-Klamott«, wie einer der spanischen Seeleute des nagelneuen Forschungsschiffs »Polarstern« unsere Firma taufte, 300 Seeleute und Antarktisforscher mit allem Nötigen. Kein Wunder, dass sich auch die Presse für unseren ebenso winzigen wie originellen Laden interessierte. Wenden wir uns also wieder dem Mittagswehr zu.
»Das sah toll aus, Jungs! Aber wenn ihr noch mal runterfahren könntet, wäre es noch toller«, konstatierte der Fotograf Uwe Reuter. »Sitzt du diesmal hinten?«, fragte Melchior, der beim Kentern offensichtlich mehr Wasser geschluckt hatte als ich. »Kein Problem. Lass uns zusehen, dass wir noch gerader ins Wehr hineinkommen. Vielleicht schaffen wir's jetzt, ohne zu kentern.« Wir trugen das Kanu 50 Meter flussaufwärts, setzten es ins Wasser und begannen sofort, heftig zu paddeln. Mit flotter Geschwindigkeit wollten wir das Boot auf der Ideallinie halten und mit Tempo geradewegs durch das Wehr schießen. Das Wehr erfasste unser Boot und übernahm die Kontrolle. Es zog das Kanu diagonal in die Strömung. Wir kenterten erneut. Ich versank im Wasser, was für mich eigentlich nichts Bedrohliches darstellte. Wasser war mein Element, das mich noch nie beunruhigt hatte. Ich brauchte ja nur wieder aufzutauchen und ans Ufer zu schwimmen. Auftauchen und ... Aber was war das? Das Wasser wollte mir nicht gehorchen! Das hatte ich ja noch nie erlebt. Rosemarie - seit 1967 meine Frau - hatte ihren ersten Beinahe- Herzstillstand bereits zwei Tage nach unserer Eheschließung erlitten, nur weil ich mich auf Teneriffa in der Brandung zwischen den scharfkantigen Felsen herumgetummelt und dabei noch einen Riesenspaß gehabt hatte, wenn die tosenden Wellen mich in dem Pool zwischen den Felsen durchwalkten, als wäre ich in einer riesigen Waschmaschine. Im nächsten Moment entspannte sich das Chaos, kurze Atempause im Rhythmus der Wasserkräfte. Doch nur wenige Sekunden später zog es mich durch die »Pforte« zwischen den Felsen ein Stück in die offene Bucht hinaus. Es war ein fantastisches Gefühl, sich den Wasserkräften hinzugeben, ohne Gegenwehr, ohne Angst, sich treiben zu lassen und den Kurs nur mit einigen Schwimmbewegungen zu korrigieren, damit man nicht gegen das spitze Vulkangestein geschleudert wurde. Obwohl man versucht ist, gegen den Strom anzukämpfen, ist es klüger, sich den Kräften der Natur anzupassen. Ich war Sporttaucher und Rettungsschwimmer, und Rosi war schwanger. Da fürchtete sie doch glatt, zwei Tage nach der offiziellen Familiengründung den Erzeuger ihres kommenden Kindes zu verlieren. Alles, was mich mein Leben lang über Wasser gehalten hatte, funktionierte hier am Mittagswehr nicht mehr. Die Arme flach an die Hüftknochen gelegt, Beinstöße nach oben. Die Routine versagte. Der Wasserfall drückte mich nach unten. Nein - er drückte mich nicht nach unten. Meine Beinstöße von unten und der Wasserfall von oben hielten mich im Gleichgewicht. Leider hielt dieses Gleichgewicht der Kräfte meinen Kopf einen halben Meter unter der Wasseroberfläche. Eine Scheißsituation, die mir völlig neu war. Klar, Scheißsituationen hatte ich in meinem abenteuerlichen Leben schon einige erlebt. Aber lebensbedrohliche Situationen im Wasser hatte ich noch nicht kennengelernt, vielleicht auch deshalb, weil einem die Gefahren manchmal gar nicht bewusst sind. Wenn wir Gefahren immer im Voraus erkennen würden, dürften wir uns ja gar nicht mehr auf die Straße trauen. Rückblickend möchte ich gern mal wissen, wie viele Lkws ich in meinem Leben schon in dem Moment überholt habe, in dem die Fahrer vom Sekundenschlaf übermannt wurden und im letzten Moment wieder aufgewacht sind. Waren es 10, 20 oder gar 50? 50 Mal das Glück gehabt, nicht von einem schlingernden Lkw erwischt zu werden ... Natürlich wusste ich, dass immer mal wieder Paddler am Mittagswehr ertrunken waren. Schlechte Schwimmer, dachte ich mir. Dass mich das gleiche Schicksal ereilen könnte, darauf hatte ich nie einen Gedanken verschwendet. Ein Mann will nach oben. Aber wie? Es war wie in einem Traum, in dem man rennt und rennt und kein Stück von der Stelle kommt. Ich konnte es nicht glauben - sollte es das gewesen sein? Dabei spürte ich keinerlei Panik, stellte nur lapidar fest, dass ich in der Falle saß und es definitiv keinen Ausweg gab. Knapp die Hälfte meiner mutmaßlichen Lebensspanne hatte ich hinter mir. Ging ich doch davon aus, dass ich mindestens achtzig Jahre alt werden würde. Ich war noch keine vierzig, hatte eine Frau und zwei Töchter, mit denen ich dreieinhalb Jahre kreuz und quer durch Afrika gefahren war. Ich war noch keine vierzig, hatte eine erfolgreiche Firma und war kein bisschen müde. So vergeht die Herrlichkeit der Welt ... Was für ein erbärmliches Ende, dachte ich, so ohnmächtig wie eine Fliege, die das Heransausen der Fliegenklatsche zu spät bemerkt. Erstaunlich, wie schnell wir auf das Maß einer Fliege schrumpfen können, wenn uns bewusst wird, wie gering wir sind. Woher nimmt der Mensch eigentlich seine Vermessenheit, sich für die Krone der Schöpfung zu halten? Der Mensch ist doch das einzige Lebewesen, das um seine Endlichkeit und Unvollkommenheit weiß und diese Unvollkommenheit ein Leben lang kompensieren muss. Der Mensch will nicht akzeptieren, was er vielleicht im Innersten spürt, dass er letztlich auch nicht mehr als ein Tier ist. Er verdrängt völlig, dass fast alle seine Handlungen instinktgesteuert sind. Krone der Schöpfung? Lächerlich! Ich war noch keine vierzig und hatte doch schon ganz andere Wildwasser gemeistert als dieses lächerliche Mittagswehr. Jeden Tag hatten wir mindestens 20 Mittagswehre zu überwinden, damals, 1965 auf dem Blauen Nil in Äthiopien. Und unser Fahrzeug war kein Kanu, sondern ein Sarg in XXL-Größe gewesen. Doch nun war mein Kopf einen halben Meter unter Wasser und guter Rat teuer. Um die Nerven meiner geneigten Leser nicht weiter zu strapazieren, schlage ich vor, wir wenden uns erst einmal dem hohen Norden zu. Auf den unerquicklichen Strudel werde ich später zurückkommen ...
Eismeer oder Afrika?
1963 war ich aufgebrochen, um durch Afrika zu trampen. Ursprünglich wollte ich den Schwarzen Kontinent in einem alten Mercedes 180 erobern, zusammen mit Burkhard, dem der Mercedes gehörte. Burkhard aus Karlsruhe hatte ich ein Jahr zuvor in Skaidi kennengelernt. Skaidi? Ein winziges Nest in Nordnorwegen, dort, wo die Fernstraße E 6 - die sich auf einer Strecke von gut 3000 Kilometern vom südschwedischen Trelleborg über Oslo bis nach Kirkenes an der russischen Grenze schlängelt - an eine T-Kreuzung stößt. Dort geht es linksherum nach Hammerfest, der nördlichsten Stadt der Welt. Die meisten Autofahrer bogen in Skaidi rechts ab, um das nahe Nordkap zu besuchen. Skaidi war damals auch ein Knotenpunkt für die Samen. (Früher wurden die Bewohner Lapplands Lappen genannt. Heute nennen wir sie so, wie sie sich selbst bezeichnen.) Im Juni, wenn der Schnee endlich die würzigen Moose und Flechten freigab, trieben die Rentierzüchter auf ihrer Wanderung an die Küste des nördlichen Eismeers ihre vieltausendköpfigen Herden durch Skaidi. Am Küstensaum wurde dann eines der Leittiere hinter ein Boot gebunden. Das Ruderboot entfernte sich vom Ufer, und die ganze Herde sprang hinterher ins eiskalte Wasser. Auf den Inseln vor der Küste wartete reichhaltiges Futter auf die Rentiere. Was das Leben auf diesen Inseln aber geradezu paradiesisch machte, war die Tatsache, dass es in diesem rauen Seeklima keine Mücken gab. Im lappländischen Binnenland dagegen terrorisieren Myriaden winziger Blutsauger Menschen und Tiere. Lapplands Mücken sind bei allen gefürchtet. Da bleibt nur die Flucht auf die Inseln oder - wie in Schwedisch-Lappland - in die Berge. Im August war der kurze Lapplandsommer schon wieder zu Ende. Also fingen die Samen eines der Leittiere ein, banden es hinter ein Boot, und die riesige Herde schwamm zurück aufs Festland. In den folgenden Wochen zogen sie in ihre angestammten Zentren zurück, die so wohlklingende Namen wie Karasjok und Kautokeino tragen. Anfang September 1962 kamen sie - wie jedes Jahr - auch durch Skaidi, wo ich für gut zwei Monate sesshaft geworden war. Insgesamt war ich bereits seit Monaten mit dem Fahrrad und per Anhalter in Skandinavien unterwegs gewesen. In Skaidi gab es nur etwa 20 Häuser, eine Tankstelle und ein Restaurant. Völlig unerwartet bot sich mir hier die Möglichkeit, meine Reisekasse etwas aufzufüllen. Das Restaurant in Skaidi gehörte Sofie Pettersen, einer rundlichen, stets freundlichen »Mamutschka«. Sofie entsprach eigentlich gar nicht dem Bild der Skandinavier in den 60erJahren, die alle groß und sportlich-drahtig wirkten. Sofie war die erste rundliche Frau, die ich in Norwegen wahrnahm. Mit ihrem breiten, slawisch anmutenden Gesicht entsprach sie eher dem Bild einer Russin aus der Zeit des Kalten Krieges. Sofie war eine gewichtige Institution auf dem Weg zum Nordkap, und ihre Kochkünste schienen mir denen eines Sternekochs um Längen überlegen zu sein. Oder lag es vielleicht nur daran, dass ich als 20-jähriger Globetrotter notorisch ausgehungert war und dieser Mangel meine kulinarische Urteilskraft trübte? Aber Sofie muss tatsächlich ein Kochgenie gewesen sein: Hätte ich sonst heute noch den Geschmack ihrer Rentiersuppe auf der Zunge, den Geruch ihrer Suppe in der Nase? So schmeckt Lappland, genauer gesagt, die Finnmark. Es war die fleischgewordene Metamorphose der gesamten Vege tation des hohen Nordens: Moose, Flechten, Blaubeerblätter, Krüppelbirken, Krüppelwacholder, als i-Tüpfelchen mit den Mineralien der Seeluft gewürzt. Sofie war obendrein die letzte Informationsquelle vor dem Nordkap. Immer freundlich und in fließendem Deutsch klärte sie die Touristen über Wetterkapriolen, Straßenverhältnisse und die vermeintlichen Gefahren bei der Fahrt zum Nordkap auf, die viele schon als Abenteuer empfanden. Sofie bot mir an, in ihrem Restaurant zu jobben. Dazu gehörte es auch, die Touristenhütten winterfest zu machen, Bäume zu fällen, Holz zu sägen und Proviant für den bevorstehenden langen Winter einzulagern, wenn der Ort völlig von der Außenwelt abgeschnitten sein würde. An guten Tagen bissen die Köhlerfische am nahen Repparfjord wie verrückt, sobald ich die Angel mit dem Blinker in den Schwarm unter den Fähranleger hielt. Schnell war der Eimer voller Beute, und ich fuhr mit dem Bus nach Skaidi zurück. Sofies Kühltruhen füllten sich, nicht nur mit Köhlerfisch, sondern auch mit Lachs. Sofie besaß eine Fanggenehmigung für norwegischen Wildlachs. Die Flüsse der Finnmark waren berühmt dafür, den besten Lachs Europas zu haben. Norwegische Lachsfarmen gab es damals noch nicht. Die dicke Sofie mit der Lachsangel am Flussufer sitzend, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und richtig: Sofie ließ angeln. Ein spannendes Spektakel bot sich mir, als sich Anfang September eine Gruppe von Samen außerhalb des Ortes niederließ, um ältere Rentiere zu schlachten und die Jungtiere zu markieren, die im vergangenen Mittsommer geboren worden waren. In einem eingezäunten Areal von der Größe zweier Fußballfelder brodelte es. Über 1000 Rentiere, die fünf Großfamilien gehörten, liefen auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit aufgeregt durcheinander. Zäune kannten die halbwilden Tiere nicht, die normalerweise auf einer Weidefläche von der Größe Schleswig-Holsteins nach den schmackhaftesten Kräutern und Flechten suchten. Die Samenkinder waren aus ihren jeweiligen Internaten angereist, um bei dem großen Schlachtfest in Skaidi dabei zu sein.
Alle trugen die traditionelle blau-rote Bekleidung der Rentiernomaden, die Männer zudem Lederhosen und taillierte Blusen. In ihrem Gürtel steckte ein scharfes Messer mit Birkenholz- griff. Den Kopf schützte und wärmte eine dreizipfelige, mit reichen Ornamenten bestickte Mütze. Alle Familienmitglieder, vom Säugling bis zum Greis, waren auf dem Festplatz versammelt. In einer Ecke lagen die geschlachteten Tiere. Überall tobten die kleinen Kinder in ihren farbenprächtigen Trachten herum. Die toten Tiere wurden an Gestelle gehängt und von Frauen und älteren Männern ausgenommen, Felle und Geweihe auf einen Haufen geschichtet. Über einem offenen Feuer drehten Frauen Spieße mit Fleischstücken. Durch den Rauch tönte das Gekläffe der Hunde und das Grunzen der Rentiere. Die Kinder beteiligten sich mit Leidenschaft an der Arbeit, die wahrlich kein Kinderspiel ist. Die Rentiere standen vor der Brunft und strotzten vor Kraft und Lebensenergie. Die kleineren Samenjungen durften ihr Geschick im Lassowerfen erproben und die Jungtiere dieses Sommers einfangen. Hatten sie eines erwischt, warfen sich zwei weitere Jungen auf das Tier und drückten es zu Boden. Als der kleine Jose-Mikel von einem Jungbullen umgerissen wurde, blieb er auf dem Boden liegen und stöhnte vor Schmerz. Doch die Tiere und Männer rannten weiter um ihn herum, ohne ihn zu beachten. Zeit zum Trösten hatte hier keiner. Das Leben war hart bei den Rentiernomaden, und hart zu sein musste geübt werden. Schon einige Minuten später kerbte Jose-Mikel unter den kritischen Blicken seines Vaters einem Jungtier das Besitzerzeichen in die Ohren - zwei Keilschnitte ins linke, drei Keilschnitte ins rechte Ohr. Bei den Tieren der Nachbarfamilie hatten die Tiere drei Schnitte links, drei Schnitte rechts. Die Kombinationsmöglichkeiten mit einer unterschiedlichen Anzahl von Schnitten waren vielfältig genug, um mit diesem System alle Tiere eines jeden Rentierzüchters in Lappland einfach unterscheiden zu können. Insgesamt, so hieß es, gäbe es 500 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten. Auf keinem Schlachtplatz durfte die Renpolizei fehlen. Sie führte Buch über die Besitzerzeichen. Jedes geschlachtete Tier wurde kontrolliert, ob es zu den hier versammelten Sippen gehörte oder möglicherweise aus einem fremden Weidegebiet zugewandert war. Eine Arbeit war reine Männersache: das Schlachten. Das Lassowerfen überließen sie den halbwüchsigen Jungen. Das imposante Geweih dieser arktischen Hirschart war ein vortreffliches Ziel, und sobald sich die Seilschlinge im Gehörn der meist männlichen Tiere verfangen hatte, sprang einer der Männer vor, ergriff das Tier und benutzte die Geweihstangen als Hebel, um ihm den Kopf auf den Boden zu biegen. Dabei wölbte sich die Halswirbelsäule so stark, dass sich zwischen zwei Nackenwirbeln eine Lücke bildete. Die war groß genug, dass ein zweiter Mann dem Tier mit einem dreikantigen Dolch den Todesstoß versetzen konnte. Ich war jung und ich war neugierig auf die Kultur der Rentierzüchter. »Darf ich auch mal?«, fragte ich selbstbewusst. Klar durfte ich. Menschen, die ihre alten Traditionen pflegen, freuen sich meist, wenn sich ein Fremder in ihren Fertigkeiten erproben will. Und sie freuen sich noch mehr, wenn sich der Fremde tollpatschig anstellt und von den bockigen Renbullen in die Blaubeeren stoßen lässt. Die Samen hatten also ihren Spaß mit mir, und nach einigen Minuten hatte ich auch meinen Spaß mit der Kultur der Rentierzüchter. Ich durfte den Hirschen an der Hinrichtungsstätte die Köpfe nach unten biegen und sie dem Schlachter darbieten. Ich empfand dies als eine selbstverständliche Arbeit, eben eine Arbeit, die gemacht werden musste, weil sie die Überlebensgrundlage dieses Volkes darstellt.
© 2011 Irisiana Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH München
... weniger
Autoren-Porträt von Klaus Denart
Klaus Denart - Jahrgang 1942 - war insgesamt zehn Jahre seines Lebens als Weltenbummler unterwegs. Bereits in den 1960er Jahren unternahm er spektakuläre Reisen vom Nordkap bis in die afrikanische Wüste. So wurde er zum Vorbild zahlreicher Abenteurer, wie Rüdiger Nehberg, mit dem er die heisseste Wüste der Erde, die Danakil in Äthiopien zu Fuss durchquerte. 1979 gründete er gemeinsam mit Peter Lechhart das Outdoor-Fachgeschäft Globetrotter Ausrüstung in Hamburg. Heute ist Globetrotter der grösste Outdoor-Händler in Europa. Für soziales und fortschrittliches Unternehmertum wurden Klaus Denart und seine Kollegen mehrfach ausgezeichnet. Klaus Denart engagiert sich im Umweltschutz uns ist Mitbegründer von TARGET e.V., Nehbergs Menschenrechtsorganisation, die gegen die weibliche Genitalverstümmelung kämpft.
Bibliographische Angaben
- Autor: Klaus Denart
- 2011, 384 Seiten, Deutsch
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 3641054583
- ISBN-13: 9783641054588
- Erscheinungsdatum: 03.05.2011
Abhängig von Bildschirmgrösse und eingestellter Schriftgrösse kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Grösse: 1.49 MB
- Ohne Kopierschutz
- Vorlesefunktion
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam geniessen. Mehr Infos hier.
Kommentar zu "Mr. Globetrotter"
0 Gebrauchte Artikel zu „Mr. Globetrotter“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Mr. Globetrotter".
Kommentar verfassen