Stirb, mein Prinz / Marina Esposito Bd.3 (ePub)
Thriller
Ein grauenhafter Fund: Im Keller eines alten Hauses steht ein Käfig aus Menschenknochen. Und darin ein verwahrlostes Kind. Wer ist dieser Junge? Wer hat ihm das angetan? Mit ihren Ermittlungen stören Kommissar Phil Brennan und Profilerin Marina Esposito...
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Produktinformationen zu „Stirb, mein Prinz / Marina Esposito Bd.3 (ePub)“
Ein grauenhafter Fund: Im Keller eines alten Hauses steht ein Käfig aus Menschenknochen. Und darin ein verwahrlostes Kind. Wer ist dieser Junge? Wer hat ihm das angetan? Mit ihren Ermittlungen stören Kommissar Phil Brennan und Profilerin Marina Esposito einen kaltblütigen Menschensammler, der seit mehr als dreissig Jahren einem grausamen Ritual folgt. Und dieser Killer duldet keine Einmischung. Er will den Jungen zurück.
Lese-Probe zu „Stirb, mein Prinz / Marina Esposito Bd.3 (ePub)“
Stirb, mein Prinz von Tania Carver1
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Es war ein Haus voller Geheimnisse. Dunkler Geheimnisse, alter Geheimnisse.
Böser Geheimnisse.
Das war Cam auf den ersten Blick klar. Er hatte so ein Gefühl, eine Ahnung. Das Haus war nicht nur baufällig. Es strahlte eine Trostlosigkeit aus, als würde es unter der Last seiner eigenen Verzweiflung zusammenbrechen. Ein massiver Schatten, schwärzer als schwarz.
Das alte Haus stand auf einem Grundstück direkt am Fluss, gegenüber vom Old Siege House Pub and Restaurant am Fuße des East Hill in Colchester. Nebenan war eine ehemalige Fabrik zu schicken Apartments ausgebaut worden. Es war eine Gegend mit vielen alten Gebäuden, von denen einige noch aus Elisabethanischer Zeit stammten. Die meisten waren behutsam restauriert worden. Die Gegend hatte sich ihren ursprünglichen Charakter bewahrt, und entsprechend stark hatten die Immobilienpreise angezogen. Die Nachfrage nach solch alten Häusern war groß. Oder wenigstens nach billigen zeitgenössischen Kopien.
Doch dafür musste zunächst einmal neues Bauland erschlossen werden. Und hier kam Cam ins Spiel.
Als er, den morgendlichen Verkehr hinter sich lassend, in eine schmale Seitenstraße eingebogen war, hatte er sich richtig gut gefühlt. Sein erster Job nach drei Monaten Arbeitslosengeld. Hilfsarbeiter bei einer Bau- und Abrissfirma. Er war siebzehn Jahre alt und einer der wenigen aus seiner Klasse, die überhaupt einen Job bekommen hatten. Es war nicht gerade das, was er sich gewünscht hatte. Er las für sein Leben gern, wäre lieber zur Uni gegangen und hätte englische Literatur studiert. Aber er war Realist. Leute wie er gingen nicht zur Uni. Schon gar nicht in Zeiten wie diesen. Na ja, er konnte froh sein, dass er was zu tun hatte. Das war tausendmal besser, als zu Hause vor der Glotze zu sitzen und mit anzusehen, wie die Jeremy Kyle Show von Cash in the Attic abgelöst wurde.
Rechter Hand verlief eine alte Backsteinmauer, hinter der sich ein prunkvolles georgianisches Haus erhob, das saniert und in Büroeinheiten umgewandelt worden war. Nichts als strahlend weiße Fensterrahmen und blinkende Messingschilder. Und Bäumchen im Formschnitt, die am Ende der geschwungenen Kieseinfahrt standen und die riesige Eingangstür bewachten. Links von ihm parkten die Autos der Büroangestellten. Die heißen Motoren tickten noch.
Cam stellte sich vor, wie es wäre, eines Tages selbst so ein Auto zu fahren. In so einem Büro zu arbeiten. Eine Sekretärin zu haben, Golf zu spielen. Na ja, Golf vielleicht nicht. Aber irgendwas in der Art. Vielleicht wären die bei der Abrissfirma mit seiner Arbeit ja so zufrieden, dass er befördert würde. Er könnte immer weiter aufsteigen, bis ganz nach oben.
Lächelnd ging er weiter.
Dann schlossen sich die Kronen der Bäume über ihm, der Morgen verdunkelte sich, die Luft wurde kühler. Cams Lächeln ließ ein wenig nach. Der Verkehrslärm nahm ab. Die alten Bäume mit ihren dicken Stämmen schluckten das stete Rauschen der Fahrzeuge, und an dessen Stelle trat das natürliche Säuseln ihrer Blätter. Je weiter er sich von der Straße entfernte, desto lauter wurde dieses Säuseln, überall um ihn herum wisperte und flüsterte es. Nur selten blitzte das Sonnenlicht durch den dunklen Baldachin. Cams Lächeln verschwand völlig. Er fröstelte. Fühlte sich plötzlich allein.
Hinter der Reihe der parkenden Autos lag eine Brache. Dicke, aus alten Ölfässern gegossene Betonpfeiler, die durch eine Kette miteinander verbunden waren, umgrenzten einen von Unkraut überwucherten Schotterplatz. Die erste Verteidigungslinie, um Eindringlinge fernzuhalten.
Dann kam der Zaun.
Vor ihm blieb Cam stehen. Schwere, stabile Elemente aus Maschendraht mit massivem Betonfundament. Sträucher und Unkraut waren durch die Löcher gewachsen und zerrten am Zaun, als versuchten sie, ihn niederzuringen. Schilder mit der Aufschrift »Gefahr. Betreten verboten« und »Kein Zutritt « waren mit Kabelbindern am Maschendraht befestigt, unter dem Grün allerdings kaum zu sehen. Damit Neugierige gewarnt waren. Cam schenkte den Schildern keine Beachtung. Er war bloß froh, dass er nicht abends hier sein musste. Tagsüber war es schon unheimlich genug.
Jenseits des Zauns kämpften Schutt und Unkraut um die Vorherrschaft. Dahinter stand das Haus. Cam betrachtete es eingehend.
Ein schwarzer, kompakter Schatten, der das Tageslicht schluckte und es in seinem Innern gefangenhielt. Der nichts preisgab. Dann sah Cam an der Seite des Hauses plötzlich etwas in die Höhe fliegen und gleich darauf mit einem lederartigen Klatschen wieder herabfallen. Wie riesige Krähenflügel. Oder ein Monster aus einem Horrorfilm. Er fuhr zusammen und schnappte erschrocken nach Luft.
Er drehte sich um. Sein erster Gedanke war: weglaufen. Aber dann blieb er stehen. Gab sich einen Ruck. So was Lächerliches. Es war früh am Morgen, und das da war bloß ein verfallenes altes Haus, nichts weiter. Erneut musterte er es.
Inspizierte es, setzte sich ganz bewusst mit ihm auseinander, in der Hoffnung, dass es dadurch vielleicht seinen Schrecken verlieren würde.
Streng genommen war es wohl eher eine Scheune oder ein Lagerhaus. Auf alle Fälle war es alt. Sehr alt. Die Fassade war mit schwarzen Holzlamellen verkleidet. Die meisten hingen schief oder waren aufgrund des Alters und mangelnder Instandhaltung abgefallen. Darunter kamen die hölzernen Stützleisten und nacktes Mauerwerk zum Vorschein. Was Cam für Krähenflügel gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine große schwarze Plastikplane, die an der Seite des Gebäudes festgenagelt war. Eine halbherzige Reparaturmaßnahme. Ein Provisorium, das immer noch da hing, obwohl es inzwischen zerfetzt und daher vollkommen nutzlos war.
Im Dach klafften riesige Löcher und legten das alte, vom Wasser geschädigte Gerippe aus Latten und Sparren frei. Hinter dem Haus befand sich ein eingeschossiger Anbau mit schwarz verfärbtem Putz und verfaulten hölzernen Fensterrahmen. Dahinter lag der Fluss Colne, auf dessen schmutzig braunem Wasser Plastikmüll und öliger Schaum träge dahinschwammen.
Er war so nah an der Straße, mitten in der Stadt, und doch hätte er Gott weiß wo sein können. Mitten im Nirgendwo.
Es ist nur ein Haus, sagte sich Cam. Nur ein Haus, nichts weiter.
»Na, was ist, brauchst du 'ne Extraeinladung?« Eine Stimme ertönte hinter ihm, laut und ungehalten.
Cam zuckte vor Schreck zusammen. Dann wandte er sich um.
»Na los, 'n bisschen plötzlich. Wir arbeiten auf Zeit.« Der Mann warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wird's bald?«
»Sorry ...« Cam fand seine Stimme wieder. »Sorry, Gav ...«
Sein Boss war hinter ihm den Weg entlanggekommen. Cam war so sehr in den Anblick des Hauses vertieft gewesen, dass er ihn gar nicht gehört hatte. Von Gavs barschen Worten wachgerüttelt und froh, Verstärkung bekommen zu haben, begann Cam am Zaun zu zerren. Dünne Zweige schlugen ihm ins Gesicht und gegen Arme und Beine. Ihm war, als würden sich ledrige grüne Ranken um seine Gliedmaßen wickeln und ihn festhalten. Er spürte eine unerklärliche, aber heftige Panik in sich aufsteigen. Er warf sich ein letztes Mal gegen den Zaun, und endlich gelang es ihm, eine Lücke zu schaffen, die groß genug war, dass er sich durchzwängen konnte. Er schwitzte vor Anstrengung. Seine Fingerknöchel waren rot und aufgescheuert vom Metall und grün von den Blättern.
»Na klar«, brummte Gav hinter ihm. »Hauptsache, das Klappergestell passt durch. Denkst nur an dich. Saftarsch.«
Cam wollte antworten, seine plötzliche Panik erklären. Die grundlose Angst, die ihn beim Anblick des Hauses aus heiterem Himmel überkommen hatte. Wollte sich sogar entschuldigen. Er hatte bereits Luft geholt, um etwas zu sagen, ließ es dann aber sein. Gav machte bloß einen Scherz. Was er so unter Scherz verstand. Er selbst hielt sich für einen Spaßvogel erster Güte, doch die meisten anderen fanden ihn bloß laut und plump. Außerdem hätte er garantiert nicht verstanden, warum Cam sich so fürchtete. Cam verstand es ja selbst nicht.
Ein ganz einfacher Job, hatte Gav gesagt. Zwei Leute sollten das Ding in Augenschein nehmen, überlegen, wie man beim Abriss am besten vorging, alles planen und durchführen. Das Grundstück musste komplett frei gemacht werden, damit irgendwer noch ein Neubauprojekt hochziehen, noch ein paar schachtelförmige Wohneinheiten draufquetschen konnte. Das Letzte, was Colchester brauchte, fand Cam, waren mehr Schachteln zum Wohnen. Aber er versuchte, seine persönliche Meinung außen vor zu lassen. Er brauchte den Job. Außerdem waren einige dieser Schachtelhäuser gar nicht so übel. Er hätte selbst auch gern in einem gewohnt.
Hinter sich hörte Cam den Zaun rasseln, spürte, wie er bebte und zitterte. Hörte Flüche und Kraftausdrücke, als Gav seinen durch Steroide aufgepumpten Leib unter größtmöglichem Lärm durch die Öffnung zwängte.
»Und? Was meinst du?«, fragte Gav, dem nach dem Kraftakt der Schweiß ausgebrochen war.
»Wie das Haus der Geheimnisse«, sagte Cam und bereute seine Worte sofort.
Gav drehte sich zu ihm um, die Lippen zu einem spöttischen Grinsen verzogen. »Das was?«
Cam begann zu stammeln. »D-d-das Haus der Geheimnisse. Das ist aus einem Comic.«
»Bist 'n bisschen zu alt für Comics, oder?«
Cam wurde rot. »Den hab ich als Kind gelesen. Das war ein ... ein Gruselcomic. Da gab es diese zwei Brüder. Kain und Abel. Abel hat im Haus der Geheimnisse gewohnt und Kain im Haus der Mysterien. Und dazwischen lag ein Friedhof.« Zögernd hielt er inne. Gav sagte nichts, also redete er weiter. »Kain hat Abel andauernd umgebracht, aber im nächsten Heft war er dann immer wieder lebendig.«
Er rechnete damit, dass Gav ihn niedermachen würde. Sich totlachen. Aber das tat er nicht.
»Kain und Abel«, meinte Gav. »Die sind aus der Bibel. Der erste Mörder und das erste Mordopfer.«
Cam sah ihn verblüfft an.
»Was? Nur weil ich Häuser abreiße, muss ich ja wohl kein Vollidiot sein.« Gav wandte den Blick ab und spähte durch den Zaun zum Weg.
»He, sieh mal«, sagte er und zeigte mit dem Finger. Er lachte. »Da drüben steht noch eins. Muss dein Haus der Mysterien sein.«
Cam folgte seinem Blick. Gav hatte recht. Ein Stück den Weg entlang stand ein zweites Gebäude, das sogar noch baufälliger war. Es schien sich um alte Reihenhäuser zu handeln, allesamt verrammelt, abbruchreif und von Grün überwuchert. Verlassen. Unheimlich. Selbst die Graffiti an den Wänden sahen irgendwie halbherzig aus.
Und dazwischen, dachte Cam, der Friedhof.
»Gruselig«, meinte er. »Findest du nicht? Als ... als wäre da irgendwas passiert.«
»Glaubst du, da ist 'n alter Indianerfriedhof, oder was?«, lachte Gav. »Du bist echt zu sensibel. Spinner.« Er zog lautstark die Nase hoch. »Komm jetzt«, meinte er dann. »Wird Zeit, dass wir loslegen. Wenn du nicht langsam mal in die Gänge kommst, kriegen wir Ärger. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Los, lass uns reingehen.«
Gav ging an Cam vorbei auf die mit Brettern vernagelte Haustür zu. Als Cam ihm widerstrebend folgte, sah er etwas in Gavs Miene, das er dort noch nie gesehen hatte. Etwas, über das die markigen Sprüche und das Gepolter nicht hinwegtäuschen konnten.
Angst.
2
Aus nächster Nähe sah das Haus noch baufälliger und noch unheimlicher aus.
Die hintere Seite war komplett mit Plastikplanen verhängt. Im Laufe der Zeit hatten sich die Ränder der Planen von Holz und Mauerwerk gelöst, so dass es jetzt so aussah, als hinge dort eine Reihe von Kutten an der Wand, die darauf warteten, im Rahmen einer schwarzen Messe getragen zu werden.
© List
Es war ein Haus voller Geheimnisse. Dunkler Geheimnisse, alter Geheimnisse.
Böser Geheimnisse.
Das war Cam auf den ersten Blick klar. Er hatte so ein Gefühl, eine Ahnung. Das Haus war nicht nur baufällig. Es strahlte eine Trostlosigkeit aus, als würde es unter der Last seiner eigenen Verzweiflung zusammenbrechen. Ein massiver Schatten, schwärzer als schwarz.
Das alte Haus stand auf einem Grundstück direkt am Fluss, gegenüber vom Old Siege House Pub and Restaurant am Fuße des East Hill in Colchester. Nebenan war eine ehemalige Fabrik zu schicken Apartments ausgebaut worden. Es war eine Gegend mit vielen alten Gebäuden, von denen einige noch aus Elisabethanischer Zeit stammten. Die meisten waren behutsam restauriert worden. Die Gegend hatte sich ihren ursprünglichen Charakter bewahrt, und entsprechend stark hatten die Immobilienpreise angezogen. Die Nachfrage nach solch alten Häusern war groß. Oder wenigstens nach billigen zeitgenössischen Kopien.
Doch dafür musste zunächst einmal neues Bauland erschlossen werden. Und hier kam Cam ins Spiel.
Als er, den morgendlichen Verkehr hinter sich lassend, in eine schmale Seitenstraße eingebogen war, hatte er sich richtig gut gefühlt. Sein erster Job nach drei Monaten Arbeitslosengeld. Hilfsarbeiter bei einer Bau- und Abrissfirma. Er war siebzehn Jahre alt und einer der wenigen aus seiner Klasse, die überhaupt einen Job bekommen hatten. Es war nicht gerade das, was er sich gewünscht hatte. Er las für sein Leben gern, wäre lieber zur Uni gegangen und hätte englische Literatur studiert. Aber er war Realist. Leute wie er gingen nicht zur Uni. Schon gar nicht in Zeiten wie diesen. Na ja, er konnte froh sein, dass er was zu tun hatte. Das war tausendmal besser, als zu Hause vor der Glotze zu sitzen und mit anzusehen, wie die Jeremy Kyle Show von Cash in the Attic abgelöst wurde.
Rechter Hand verlief eine alte Backsteinmauer, hinter der sich ein prunkvolles georgianisches Haus erhob, das saniert und in Büroeinheiten umgewandelt worden war. Nichts als strahlend weiße Fensterrahmen und blinkende Messingschilder. Und Bäumchen im Formschnitt, die am Ende der geschwungenen Kieseinfahrt standen und die riesige Eingangstür bewachten. Links von ihm parkten die Autos der Büroangestellten. Die heißen Motoren tickten noch.
Cam stellte sich vor, wie es wäre, eines Tages selbst so ein Auto zu fahren. In so einem Büro zu arbeiten. Eine Sekretärin zu haben, Golf zu spielen. Na ja, Golf vielleicht nicht. Aber irgendwas in der Art. Vielleicht wären die bei der Abrissfirma mit seiner Arbeit ja so zufrieden, dass er befördert würde. Er könnte immer weiter aufsteigen, bis ganz nach oben.
Lächelnd ging er weiter.
Dann schlossen sich die Kronen der Bäume über ihm, der Morgen verdunkelte sich, die Luft wurde kühler. Cams Lächeln ließ ein wenig nach. Der Verkehrslärm nahm ab. Die alten Bäume mit ihren dicken Stämmen schluckten das stete Rauschen der Fahrzeuge, und an dessen Stelle trat das natürliche Säuseln ihrer Blätter. Je weiter er sich von der Straße entfernte, desto lauter wurde dieses Säuseln, überall um ihn herum wisperte und flüsterte es. Nur selten blitzte das Sonnenlicht durch den dunklen Baldachin. Cams Lächeln verschwand völlig. Er fröstelte. Fühlte sich plötzlich allein.
Hinter der Reihe der parkenden Autos lag eine Brache. Dicke, aus alten Ölfässern gegossene Betonpfeiler, die durch eine Kette miteinander verbunden waren, umgrenzten einen von Unkraut überwucherten Schotterplatz. Die erste Verteidigungslinie, um Eindringlinge fernzuhalten.
Dann kam der Zaun.
Vor ihm blieb Cam stehen. Schwere, stabile Elemente aus Maschendraht mit massivem Betonfundament. Sträucher und Unkraut waren durch die Löcher gewachsen und zerrten am Zaun, als versuchten sie, ihn niederzuringen. Schilder mit der Aufschrift »Gefahr. Betreten verboten« und »Kein Zutritt « waren mit Kabelbindern am Maschendraht befestigt, unter dem Grün allerdings kaum zu sehen. Damit Neugierige gewarnt waren. Cam schenkte den Schildern keine Beachtung. Er war bloß froh, dass er nicht abends hier sein musste. Tagsüber war es schon unheimlich genug.
Jenseits des Zauns kämpften Schutt und Unkraut um die Vorherrschaft. Dahinter stand das Haus. Cam betrachtete es eingehend.
Ein schwarzer, kompakter Schatten, der das Tageslicht schluckte und es in seinem Innern gefangenhielt. Der nichts preisgab. Dann sah Cam an der Seite des Hauses plötzlich etwas in die Höhe fliegen und gleich darauf mit einem lederartigen Klatschen wieder herabfallen. Wie riesige Krähenflügel. Oder ein Monster aus einem Horrorfilm. Er fuhr zusammen und schnappte erschrocken nach Luft.
Er drehte sich um. Sein erster Gedanke war: weglaufen. Aber dann blieb er stehen. Gab sich einen Ruck. So was Lächerliches. Es war früh am Morgen, und das da war bloß ein verfallenes altes Haus, nichts weiter. Erneut musterte er es.
Inspizierte es, setzte sich ganz bewusst mit ihm auseinander, in der Hoffnung, dass es dadurch vielleicht seinen Schrecken verlieren würde.
Streng genommen war es wohl eher eine Scheune oder ein Lagerhaus. Auf alle Fälle war es alt. Sehr alt. Die Fassade war mit schwarzen Holzlamellen verkleidet. Die meisten hingen schief oder waren aufgrund des Alters und mangelnder Instandhaltung abgefallen. Darunter kamen die hölzernen Stützleisten und nacktes Mauerwerk zum Vorschein. Was Cam für Krähenflügel gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine große schwarze Plastikplane, die an der Seite des Gebäudes festgenagelt war. Eine halbherzige Reparaturmaßnahme. Ein Provisorium, das immer noch da hing, obwohl es inzwischen zerfetzt und daher vollkommen nutzlos war.
Im Dach klafften riesige Löcher und legten das alte, vom Wasser geschädigte Gerippe aus Latten und Sparren frei. Hinter dem Haus befand sich ein eingeschossiger Anbau mit schwarz verfärbtem Putz und verfaulten hölzernen Fensterrahmen. Dahinter lag der Fluss Colne, auf dessen schmutzig braunem Wasser Plastikmüll und öliger Schaum träge dahinschwammen.
Er war so nah an der Straße, mitten in der Stadt, und doch hätte er Gott weiß wo sein können. Mitten im Nirgendwo.
Es ist nur ein Haus, sagte sich Cam. Nur ein Haus, nichts weiter.
»Na, was ist, brauchst du 'ne Extraeinladung?« Eine Stimme ertönte hinter ihm, laut und ungehalten.
Cam zuckte vor Schreck zusammen. Dann wandte er sich um.
»Na los, 'n bisschen plötzlich. Wir arbeiten auf Zeit.« Der Mann warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wird's bald?«
»Sorry ...« Cam fand seine Stimme wieder. »Sorry, Gav ...«
Sein Boss war hinter ihm den Weg entlanggekommen. Cam war so sehr in den Anblick des Hauses vertieft gewesen, dass er ihn gar nicht gehört hatte. Von Gavs barschen Worten wachgerüttelt und froh, Verstärkung bekommen zu haben, begann Cam am Zaun zu zerren. Dünne Zweige schlugen ihm ins Gesicht und gegen Arme und Beine. Ihm war, als würden sich ledrige grüne Ranken um seine Gliedmaßen wickeln und ihn festhalten. Er spürte eine unerklärliche, aber heftige Panik in sich aufsteigen. Er warf sich ein letztes Mal gegen den Zaun, und endlich gelang es ihm, eine Lücke zu schaffen, die groß genug war, dass er sich durchzwängen konnte. Er schwitzte vor Anstrengung. Seine Fingerknöchel waren rot und aufgescheuert vom Metall und grün von den Blättern.
»Na klar«, brummte Gav hinter ihm. »Hauptsache, das Klappergestell passt durch. Denkst nur an dich. Saftarsch.«
Cam wollte antworten, seine plötzliche Panik erklären. Die grundlose Angst, die ihn beim Anblick des Hauses aus heiterem Himmel überkommen hatte. Wollte sich sogar entschuldigen. Er hatte bereits Luft geholt, um etwas zu sagen, ließ es dann aber sein. Gav machte bloß einen Scherz. Was er so unter Scherz verstand. Er selbst hielt sich für einen Spaßvogel erster Güte, doch die meisten anderen fanden ihn bloß laut und plump. Außerdem hätte er garantiert nicht verstanden, warum Cam sich so fürchtete. Cam verstand es ja selbst nicht.
Ein ganz einfacher Job, hatte Gav gesagt. Zwei Leute sollten das Ding in Augenschein nehmen, überlegen, wie man beim Abriss am besten vorging, alles planen und durchführen. Das Grundstück musste komplett frei gemacht werden, damit irgendwer noch ein Neubauprojekt hochziehen, noch ein paar schachtelförmige Wohneinheiten draufquetschen konnte. Das Letzte, was Colchester brauchte, fand Cam, waren mehr Schachteln zum Wohnen. Aber er versuchte, seine persönliche Meinung außen vor zu lassen. Er brauchte den Job. Außerdem waren einige dieser Schachtelhäuser gar nicht so übel. Er hätte selbst auch gern in einem gewohnt.
Hinter sich hörte Cam den Zaun rasseln, spürte, wie er bebte und zitterte. Hörte Flüche und Kraftausdrücke, als Gav seinen durch Steroide aufgepumpten Leib unter größtmöglichem Lärm durch die Öffnung zwängte.
»Und? Was meinst du?«, fragte Gav, dem nach dem Kraftakt der Schweiß ausgebrochen war.
»Wie das Haus der Geheimnisse«, sagte Cam und bereute seine Worte sofort.
Gav drehte sich zu ihm um, die Lippen zu einem spöttischen Grinsen verzogen. »Das was?«
Cam begann zu stammeln. »D-d-das Haus der Geheimnisse. Das ist aus einem Comic.«
»Bist 'n bisschen zu alt für Comics, oder?«
Cam wurde rot. »Den hab ich als Kind gelesen. Das war ein ... ein Gruselcomic. Da gab es diese zwei Brüder. Kain und Abel. Abel hat im Haus der Geheimnisse gewohnt und Kain im Haus der Mysterien. Und dazwischen lag ein Friedhof.« Zögernd hielt er inne. Gav sagte nichts, also redete er weiter. »Kain hat Abel andauernd umgebracht, aber im nächsten Heft war er dann immer wieder lebendig.«
Er rechnete damit, dass Gav ihn niedermachen würde. Sich totlachen. Aber das tat er nicht.
»Kain und Abel«, meinte Gav. »Die sind aus der Bibel. Der erste Mörder und das erste Mordopfer.«
Cam sah ihn verblüfft an.
»Was? Nur weil ich Häuser abreiße, muss ich ja wohl kein Vollidiot sein.« Gav wandte den Blick ab und spähte durch den Zaun zum Weg.
»He, sieh mal«, sagte er und zeigte mit dem Finger. Er lachte. »Da drüben steht noch eins. Muss dein Haus der Mysterien sein.«
Cam folgte seinem Blick. Gav hatte recht. Ein Stück den Weg entlang stand ein zweites Gebäude, das sogar noch baufälliger war. Es schien sich um alte Reihenhäuser zu handeln, allesamt verrammelt, abbruchreif und von Grün überwuchert. Verlassen. Unheimlich. Selbst die Graffiti an den Wänden sahen irgendwie halbherzig aus.
Und dazwischen, dachte Cam, der Friedhof.
»Gruselig«, meinte er. »Findest du nicht? Als ... als wäre da irgendwas passiert.«
»Glaubst du, da ist 'n alter Indianerfriedhof, oder was?«, lachte Gav. »Du bist echt zu sensibel. Spinner.« Er zog lautstark die Nase hoch. »Komm jetzt«, meinte er dann. »Wird Zeit, dass wir loslegen. Wenn du nicht langsam mal in die Gänge kommst, kriegen wir Ärger. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Los, lass uns reingehen.«
Gav ging an Cam vorbei auf die mit Brettern vernagelte Haustür zu. Als Cam ihm widerstrebend folgte, sah er etwas in Gavs Miene, das er dort noch nie gesehen hatte. Etwas, über das die markigen Sprüche und das Gepolter nicht hinwegtäuschen konnten.
Angst.
2
Aus nächster Nähe sah das Haus noch baufälliger und noch unheimlicher aus.
Die hintere Seite war komplett mit Plastikplanen verhängt. Im Laufe der Zeit hatten sich die Ränder der Planen von Holz und Mauerwerk gelöst, so dass es jetzt so aussah, als hinge dort eine Reihe von Kutten an der Wand, die darauf warteten, im Rahmen einer schwarzen Messe getragen zu werden.
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Autoren-Porträt von Tania Carver
Tania Carver lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Südengland. Ihre Thriller um die Profilerin Marina Esposito sind internationale Bestseller.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tania Carver
- 2013, 1. Auflage, 528 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Sybille Uplegger
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843704236
- ISBN-13: 9783843704236
- Erscheinungsdatum: 14.05.2013
Abhängig von Bildschirmgrösse und eingestellter Schriftgrösse kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Grösse: 2.44 MB
- Ohne Kopierschutz
Pressezitat
"Ein Thriller in Reinkultur, handwerklich perfekt gemacht – selten so gegruselt, selten so mitgefiebert, selten so die Story verschlungen.", Tania Carver Rezension auf Krimi-couch.de, Lars Schafft, 01.08.2013
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam geniessen. Mehr Infos hier.
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