Unterholz / Kommissar Jennerwein ermittelt Bd.5 (ePub)
Alpenkrimi
Auf der Alm, da mäht der Tod noch selbst: Kult-Ermittler Hubertus Jennerwein vor seinem abgründigsten Fall:
Auf der Wolzmüller-Alm oberhalb des idyllischen alpenländischen Kurorts wird eine Frauenleiche gefunden. Jennerweins...
Auf der Wolzmüller-Alm oberhalb des idyllischen alpenländischen Kurorts wird eine Frauenleiche gefunden. Jennerweins...
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Produktinformationen zu „Unterholz / Kommissar Jennerwein ermittelt Bd.5 (ePub)“
Auf der Alm, da mäht der Tod noch selbst: Kult-Ermittler Hubertus Jennerwein vor seinem abgründigsten Fall:
Auf der Wolzmüller-Alm oberhalb des idyllischen alpenländischen Kurorts wird eine Frauenleiche gefunden. Jennerweins Bemühungen, etwas über die 'Tote ohne Gesicht' zu erfahren, laufen ins Leere. Niemand im Ort will etwas über geheime Treffen auf der Alm gewusst haben, und der Bürgermeister bangt nur um seine Bollywood-Kontakte. Endlich verrät das Bestatterehepaar a.D. Grasegger dem Kommissar, dass es sich bei der Toten um die 'Äbtissin' handeln soll, eine branchenberühmte Auftragskillerin. Wer hat es geschafft, sie umzubringen? Da geschieht ein weiterer Almenmord, ein mysteriöser Maler gerät ins Fadenkreuz, und Jennerwein pirscht mit seiner Truppe durchs Unterholz...
Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Er studierte Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und ist nun nicht nur Krimiautor, sondern auch Musikkabarettist. Eine feste Größe in der süddeutschen Kabarettszene, leitete er jahrelang ein Theater in München und wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München (2005), dem Agatha-Christie-Krimi-Preis (2006 und 2007), dem Ernst-Hoferichter-Preis (2012) und dem Publikumskrimipreis MIMI (2012). Sein Krimi-Kabarettprogramm ist Kult. »Kriminell komisch.« Süddeutsche Zeitung
Auf der Wolzmüller-Alm oberhalb des idyllischen alpenländischen Kurorts wird eine Frauenleiche gefunden. Jennerweins Bemühungen, etwas über die 'Tote ohne Gesicht' zu erfahren, laufen ins Leere. Niemand im Ort will etwas über geheime Treffen auf der Alm gewusst haben, und der Bürgermeister bangt nur um seine Bollywood-Kontakte. Endlich verrät das Bestatterehepaar a.D. Grasegger dem Kommissar, dass es sich bei der Toten um die 'Äbtissin' handeln soll, eine branchenberühmte Auftragskillerin. Wer hat es geschafft, sie umzubringen? Da geschieht ein weiterer Almenmord, ein mysteriöser Maler gerät ins Fadenkreuz, und Jennerwein pirscht mit seiner Truppe durchs Unterholz...
Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Er studierte Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und ist nun nicht nur Krimiautor, sondern auch Musikkabarettist. Eine feste Größe in der süddeutschen Kabarettszene, leitete er jahrelang ein Theater in München und wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München (2005), dem Agatha-Christie-Krimi-Preis (2006 und 2007), dem Ernst-Hoferichter-Preis (2012) und dem Publikumskrimipreis MIMI (2012). Sein Krimi-Kabarettprogramm ist Kult. »Kriminell komisch.« Süddeutsche Zeitung
Lese-Probe zu „Unterholz / Kommissar Jennerwein ermittelt Bd.5 (ePub)“
Unterholz von Jörg Maurer1
Als Unterholz bezeichnet man in der Forstwirtschaft den Bewuchs unterhalb der Baumkronen, der aus Sträuchern oder kleinen Bäumen besteht.
Der dünne Stahldraht um seinen Hals zog sich ruckartig zusammen. Jennerwein schrie auf vor Schmerzen. Er hatte versucht, den Kopf zu heben, dabei war der empfindliche Ruhezustand der straff gespannten Drähte, mit denen er fixiert war, aus dem Gleichgewicht geraten. Der Druck auf seine Kehle nahm zu. Jennerwein würgte und hustete. Nur mit großer Mühe konnte er Luft holen, denn jede noch so kleine Bewegung steigerte seine Schmerzen ins Unerträgliche. Er lag auf dem Bauch. Direkt vor seinen Augen konnte er moosigen Waldboden erkennen, der mit Wurzelwerk durchsetzt war. Der Boden war leicht abschüssig. Die Erde roch scharf und unverschämt wohltuend nach Bergwald und Pilzen. Die Erinnerung kam langsam zurück. Er war angegriffen worden. Für einen Sekundenbruchteil war er nicht bei der Sache gewesen. Und alles um ihn herum war schwarz geworden.
... mehr
Kommissar Jennerwein konzentrierte sich. Er versuchte sich ein Bild von seiner momentanen Lage zu machen. Eine Draht- schlinge riss an seinem Hals, eine weitere Schlinge schnitt in seine Handgelenke, die hinter dem Rücken gefesselt waren. Zwei weitere solche Befestigungen spürte er an den Fußgelenken. Seine Beine und sein Kopf wurden nach oben gezogen, vermutlich lag er unter einem Baum, und alle vier Drähte waren hoch über seinem Rücken an einem Ast zusammengebunden. Wenn er ein Körperteil bewegte, um sich etwas Linderung zu verschaffen, spürte er die Einschnitte an den anderen Stellen umso schmerzhafter. Vermutlich liefen die Drähte dort oben durch eine Rolle, die leise knarzend im Wind schaukelte. Es klang so, und es fühlte sich so an. Wie war er bloß in diese Situation geraten? Schon wieder hatte er eine unbedachte Bewegung gemacht. Die Schmerzen fraßen sich fest wie wütende Hunde. Er begriff langsam, dass ein Entkommen unmöglich war. Diese Konstruktion war unter dem Namen Die Schweinefessel bekannt. Mitglieder der Fremdenlegion verwendeten sie, um Gefangene ruhigzustellen oder zu foltern.
Jennerwein versuchte, wenigstens den Kopf etwas zur Seite zu drehen, um sich zu orientieren, doch auch bei dieser winzigen Drehung fuhr ihm ein solch scharfer Schmerz durch den Körper, dass er es aufgab. Regungslos hing er im Netz. Auf die berüchtigte Schweinefessel deutete auch der Klavierdraht hin, der ihn gefangen hielt. Ein Stückchen davon hing in sein Gesichtsfeld, vielleicht war das Absicht, wie um ihm zu zeigen, dass er es nicht mit Dilettanten zu tun hatte. Kupferumwickelte Klaviersaiten waren rutsch- und reißfest. Sie hatten an beiden Enden vorgefertigte kleine Schlaufen, mit denen man die Drähte gut und schnell verbinden konnte, ohne komplizierte Knoten knüpfen zu müssen. Eine solche Klaviersaite war zudem leicht zu beschaffen, auf jedem Schrottplatz stand ein alter Klimperkasten, den man ausweiden konnte. Am geeignetsten waren die mittleren Klaviersaiten aus Gussstahldraht, sie waren hauchdünn, trotzdem stabil. Wo oben auf den Elfenbeintasten die Läufe und Arpeggios von Mozart und Beethoven endeten, begannen unter dem Holz die besten Saitenstärken für eine Fesselung. Der Hustenreiz wurde langsam unerträglich. Jennerwein versuchte zu husten, ohne sich zu bewegen. Es war nicht möglich. Wer hatte ihn in diese Lage gebracht? Und wo waren die anderen Mitglieder seines Polizeiteams?
Seine Gedanken gingen ein paar Tage zurück. Wie hatte er sich gefreut, seine Kollegen nach einem halben Jahr Pause wiederzusehen! Er hatte in dieser Zeit nur unspektakuläre Schreibtischfälle zu bearbeiten gehabt. Dann aber hatte er einen überraschenden Anruf aus dem idyllisch gelegenen alpenländischen Kurort erhalten. Polizeiobermeister Ostler war dran.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Chef.«
»Guten Morgen. Was gibts?«
»Eine weibliche Leiche. Todesursache ungeklärt. Nicht natürlich. Ich hole Sie mit dem Jeep ab.«
»Kann ich nicht selbst -«
»Der Tatort ist unzugänglich gelegen, auf sechzehnhundert Meter Höhe.«
Jennerwein hatte gewusst, dass er sie alle bald wieder um sich haben würde, die beiden ortskundigen Polizeiobermeister Johann Ostler und Franz Hölleisen, den knorzigen Allgäuer Ludwig Stengele, die kriminalistisch hochbegabte Nicole Schwattke und vor allem - die Psychologin Maria Schmalfuß. Was für ein angenehm warmes Gefühl war in ihm aufgestiegen, als er gehört hatte, dass sie auch mit dabei war!
Jetzt lag er bewegungsunfähig auf dem Bauch. Sechzehnhundert Meter Höhe? Er überlegte. Natürlich! Er befand sich irgendwo in der Nähe dieser verdammten Wolzmüller-Alm, hoch am Berg, über dem Talkessel. Er drehte die Augen nach rechts, ohne den Kopf zu bewegen. Er blinzelte ungläubig. Einen halben Meter vor ihm bewegte sich etwas. Ein dunkler Schatten, der sich auf der Erde vorwärtsschob. Was war das? Eine Maus? Ein Ast im Wind? Ein Schuh? Schließlich sah er die klumpige Masse aus den Augenwinkeln. Es war eine Ansammlung von zwei, drei Dutzend Käfern. Sie bildeten eine breite Front, und von hinten drängten weitere heran. Beim näheren Hinsehen konnte Jennerwein die schwarze Panzerung und das dunkelrote Halsschild erkennen. Ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht hielt die seltsame Prozession an. Die Insekten bewegten sich nicht weiter. Ihre kolbenartigen Fühler drehten sich ruckartig in alle Richtungen, ihre sechs plumpen Beinchen zitterten, und die schwarzen klebrigen Deckflügel wölbten sich über der starren Brustpanzerung. Jennerwein konnte sogar die feinen goldenen Haare erkennen, die den roten Halsschild der Käfer bedeckten. Entsetzen packte ihn. Es waren Aaskäfer. Und sie schienen auf etwas zu warten.
2
Als Unterholz wird beim Klavierbau der Teil des hölzernen Stimmstocks bezeichnet, in den die Wirbel eingeschlagen werden, die die Klaviersaiten halten. Jazzpianisten bevorzugen weiches Unterholz aus Pappel und Linde, klassische Pianisten hartes aus Buche und Eiche. Elton John verwendet Kirsch- oder Walnussholz.
Um die Wolzmüller-Alm rankten sich viele Spekulationen und Gerüchte. Sie war nicht leicht zugänglich, lag vom Kurort drei bis vier Fußstunden entfernt, und besonders das letzte Stück des Weges war ein mühevoller Schlauch, der sich den Berg hinaufwand. Das alles verstärkte das Geheimnis um die Alm nur. Zum Mythos wird immer nur das nicht ganz Zugängliche. Nur das Verschattete und Halbseidene, das Verfluchte und Abschüssige ist auf Dauer von Interesse. Und gerade diese Wolzmüller- Alm hatte in der Tat eine wechselvolle Geschichte. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts lief sie noch einigermaßen gut. Regelmäßig rückten Tiroler Landarbeiter an, die das Gras in mühevoller Handarbeit mit der Sense mähten, die Butter stampften, die Bäume für die Holzwirtschaft fällten und die gereiften Käselaibe mit Kraxen ins Tal hinuntertrugen. Auch eine Leitung hatten sie gebaut, mit der die frisch gemolkene Ziegenmilch sprudelnd in den Kurort rauschte. Damals, vor dreißig Jahren, gab es noch einen leibhaftigen Almbauern, den Wolzmüller Andreas. Natürlich kamen auch Kurgäste. Die schwer zugängliche Alm war ein Geheimtipp.
»Ja, was treibst denn dann du den ganzen Tag?«, fragte der Wolzmüller Andreas einen dieser Kurgäste, nachdem der sich in seinem kleinen Gästezimmer häuslich eingerichtet hatte.
»Das siehst du doch. Ich bin Maler.«
»Gibts das heute auch noch? Es kommt doch alles im Fernsehen. «
»Es werden schon noch richtige Bilder gemalt.«
»Richtige Bilder? Das habe ich nicht gewusst.«
Der Wolzmüller-Bauer war ein grobschlächtiges Mannsbild, ein herumfliegender Dreschflegel hatte ihm ein Auge herausgehauen, fast zwei Meter groß war er, und einen Sohn hatte er, der nichts taugte. So viel wusste der Maler, der sich mit Frank Möbius vorgestellt hatte.
»Wie viel Bilder malt man dann so?«, fasste der alte Wolzmüller nach.
»Eines in der Woche schon.«
»Und da verdienst du so viel, dass du dir bei mir heroben auf der Alm eine Stube leisten kannst?«
Vorsicht!, dachte Möbius, nicht sagen, dass es sehr billig ist hier auf der Alm. Und dass er sein Zimmer in der Stadt gut vermietet hatte. An einen Malerkollegen, der ebenfalls eine Schulbibel illustrierte, eine evangelische allerdings. Er erhöht womöglich den Preis. Laut sagte Möbius:
»Ja, mal sehen, wie lange ich mir das leisten kann.«
»Weißt du was, Maler: Du kriegst das Zimmer umsonst, wenn du meinem Buben das Handwerk lernst.«
»Welches Handwerk?«
»Deines. Er will nix arbeiten. In der Landwirtschaft ist er unbrauchbar. Zwei linke Hände hat er. Mit lauter Daumen dran. Ich habe ihn hinunter ins Dorf geschickt, aber dort will er auch nichts lernen. Da ist doch die Malerei grade recht.«
Wie erklärt man das jetzt einem hinterwäldlerischen Almbauern, dachte Möbius, ohne ihn zu beleidigen?
»Das geht nicht so leicht«, begann er vorsichtig.
»Aha, so ist das! Fürchtest du die Konkurrenz?«
»Ist er überhaupt interessiert, dein Michl?«
»Interessiert? Am Nichtstun ist der schon interessiert. Der Handel ist der: Du lernst ihm jeden Tag was, dann hast du freie Kost und Logis.«
Der Wolzmüller hielt seine Riesenpratzen hin. Frank Möbius war eigentlich Buchillustrator. Er hatte einen Auftrag an Land gezogen, der war in drei Wochen abzuliefern. Er sollte eine katholische Schulbibel bebildern, möglichst plastisch, möglichst eingängig, mit einem kleinen Schuss Humor, wie der Verleger gesagt hatte. Bisher hatte er erst eine einzige Illustration fertiggestellt: Adam wartete draußen vor dem Garten Eden, Eva packte drinnen noch ihre Sachen zusammen. Der Abgabetermin drohte. In drei Wochen musste er die dreißig Zeichnungen fertig haben, das ganze Alte Testament rauf und runter.
Der Sohn des Almbauern, der Wolzmüller Michl, war ein maulfauler Geselle, der mit seinen zwanzig Jahren keinen Bock zu gar nichts hatte. Seine Augen glotzten blöde und trübe, als er Möbius vorgestellt wurde. Widerwillig gab er ihm die Hand.
»Wann hast du denn Zeit?«, fragte Möbius.
Keine Antwort. Schulterzucken.
»Hast du schon einmal etwas gemalt?«
Wieder keine Antwort. Ein schwieriges Stück Fleisch, dieser Wolzmüller Michl, dachte Möbius.
»Schaust du gern Bilder an?«
Dann, nach furchtbar langer Zeit:
»Wenn es gute sind, schon.«
»Willst du einmal ein Bild von mir sehen?«
Schulterzucken. Möbius zeigte ihm seinen Entwurf zum Buch Jona eins bis vier.
»Was soll das sein?«, murmelte der Michl.
»Jonas und der Wal.«
»Ich sehe nichts.«
Möbius deutete mit dem Bleistift auf die Figuren.
»Das ist Jonas, und das ist der Wal.«
Michl Wolzmüller schüttelte den Kopf.
»So schaut keiner aus, der gerade ins Meer geworfen worden ist und der Angst hat. So schaut auch kein Wal aus.«
»Ich habe es natürlich etwas überspitzt -«
Und dann nahm der Michl ein Stück Papier und einen stumpfen dicken Zimmermannsbleistift und malte auf dem unebenen Holztisch, der in der Almhüttenstube stand, seine Interpretation des Buches Jona eins bis vier. Er kritzelte ein paar Striche und Kurven. Und es war Jonas. Und es war der Wal. Und es waren auf einem fernen Schiff im Hintergrund die Männer, die Jonas ins Meer geworfen hatten. Und es war die Angst von Jonas vor dem Wal, und der skeptische Blick des Wals angesichts dieses unverdaulichen Brockens.
»Ninive könnte man auch noch hinzeichnen«, nuschelte der Wolzmüller Michl. »Im Hintergrund.«
Möbius wusste, dass er diesem Schüler nichts beibringen konnte. Der beherrschte es bereits. Ganz intuitiv. Der war nicht dumm, der war bloß faul. Und in Möbius' Kopf reifte ein Plan.
Schon nach zwei Wochen schickte er dreißig Zeichnungen in die Stadt. Eine besser als die andere: Erschaffung der Tiere, Sintflut, Heuschreckenplage, das übliche fundamentalistische AT- Programm. Der Bibelverlag war begeistert.
»Und, wie läuft es mit dem Michl?«, fragte der alte Wolzmüller.
»Das ist ein harter Brocken«, sagte Frank Möbius. »Er hat ein kleines bisschen Talent, einen Hauch davon, aber man müsste viel arbeiten mit ihm. Es fehlt an der Technik und überhaupt an allen Ecken und Enden. Er müsste schon noch sehr viel lernen.«
Wenn er es geschickt anstellte, hatte er in nächster Zeit eine todsichere Einkunftsquelle.
Und mit diesem ungleichen Trio begann damals, vor dreißig Jahren, der Aufstieg, aber auch der Niedergang der Wolzmüller-Alm.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Kommissar Jennerwein konzentrierte sich. Er versuchte sich ein Bild von seiner momentanen Lage zu machen. Eine Draht- schlinge riss an seinem Hals, eine weitere Schlinge schnitt in seine Handgelenke, die hinter dem Rücken gefesselt waren. Zwei weitere solche Befestigungen spürte er an den Fußgelenken. Seine Beine und sein Kopf wurden nach oben gezogen, vermutlich lag er unter einem Baum, und alle vier Drähte waren hoch über seinem Rücken an einem Ast zusammengebunden. Wenn er ein Körperteil bewegte, um sich etwas Linderung zu verschaffen, spürte er die Einschnitte an den anderen Stellen umso schmerzhafter. Vermutlich liefen die Drähte dort oben durch eine Rolle, die leise knarzend im Wind schaukelte. Es klang so, und es fühlte sich so an. Wie war er bloß in diese Situation geraten? Schon wieder hatte er eine unbedachte Bewegung gemacht. Die Schmerzen fraßen sich fest wie wütende Hunde. Er begriff langsam, dass ein Entkommen unmöglich war. Diese Konstruktion war unter dem Namen Die Schweinefessel bekannt. Mitglieder der Fremdenlegion verwendeten sie, um Gefangene ruhigzustellen oder zu foltern.
Jennerwein versuchte, wenigstens den Kopf etwas zur Seite zu drehen, um sich zu orientieren, doch auch bei dieser winzigen Drehung fuhr ihm ein solch scharfer Schmerz durch den Körper, dass er es aufgab. Regungslos hing er im Netz. Auf die berüchtigte Schweinefessel deutete auch der Klavierdraht hin, der ihn gefangen hielt. Ein Stückchen davon hing in sein Gesichtsfeld, vielleicht war das Absicht, wie um ihm zu zeigen, dass er es nicht mit Dilettanten zu tun hatte. Kupferumwickelte Klaviersaiten waren rutsch- und reißfest. Sie hatten an beiden Enden vorgefertigte kleine Schlaufen, mit denen man die Drähte gut und schnell verbinden konnte, ohne komplizierte Knoten knüpfen zu müssen. Eine solche Klaviersaite war zudem leicht zu beschaffen, auf jedem Schrottplatz stand ein alter Klimperkasten, den man ausweiden konnte. Am geeignetsten waren die mittleren Klaviersaiten aus Gussstahldraht, sie waren hauchdünn, trotzdem stabil. Wo oben auf den Elfenbeintasten die Läufe und Arpeggios von Mozart und Beethoven endeten, begannen unter dem Holz die besten Saitenstärken für eine Fesselung. Der Hustenreiz wurde langsam unerträglich. Jennerwein versuchte zu husten, ohne sich zu bewegen. Es war nicht möglich. Wer hatte ihn in diese Lage gebracht? Und wo waren die anderen Mitglieder seines Polizeiteams?
Seine Gedanken gingen ein paar Tage zurück. Wie hatte er sich gefreut, seine Kollegen nach einem halben Jahr Pause wiederzusehen! Er hatte in dieser Zeit nur unspektakuläre Schreibtischfälle zu bearbeiten gehabt. Dann aber hatte er einen überraschenden Anruf aus dem idyllisch gelegenen alpenländischen Kurort erhalten. Polizeiobermeister Ostler war dran.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Chef.«
»Guten Morgen. Was gibts?«
»Eine weibliche Leiche. Todesursache ungeklärt. Nicht natürlich. Ich hole Sie mit dem Jeep ab.«
»Kann ich nicht selbst -«
»Der Tatort ist unzugänglich gelegen, auf sechzehnhundert Meter Höhe.«
Jennerwein hatte gewusst, dass er sie alle bald wieder um sich haben würde, die beiden ortskundigen Polizeiobermeister Johann Ostler und Franz Hölleisen, den knorzigen Allgäuer Ludwig Stengele, die kriminalistisch hochbegabte Nicole Schwattke und vor allem - die Psychologin Maria Schmalfuß. Was für ein angenehm warmes Gefühl war in ihm aufgestiegen, als er gehört hatte, dass sie auch mit dabei war!
Jetzt lag er bewegungsunfähig auf dem Bauch. Sechzehnhundert Meter Höhe? Er überlegte. Natürlich! Er befand sich irgendwo in der Nähe dieser verdammten Wolzmüller-Alm, hoch am Berg, über dem Talkessel. Er drehte die Augen nach rechts, ohne den Kopf zu bewegen. Er blinzelte ungläubig. Einen halben Meter vor ihm bewegte sich etwas. Ein dunkler Schatten, der sich auf der Erde vorwärtsschob. Was war das? Eine Maus? Ein Ast im Wind? Ein Schuh? Schließlich sah er die klumpige Masse aus den Augenwinkeln. Es war eine Ansammlung von zwei, drei Dutzend Käfern. Sie bildeten eine breite Front, und von hinten drängten weitere heran. Beim näheren Hinsehen konnte Jennerwein die schwarze Panzerung und das dunkelrote Halsschild erkennen. Ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht hielt die seltsame Prozession an. Die Insekten bewegten sich nicht weiter. Ihre kolbenartigen Fühler drehten sich ruckartig in alle Richtungen, ihre sechs plumpen Beinchen zitterten, und die schwarzen klebrigen Deckflügel wölbten sich über der starren Brustpanzerung. Jennerwein konnte sogar die feinen goldenen Haare erkennen, die den roten Halsschild der Käfer bedeckten. Entsetzen packte ihn. Es waren Aaskäfer. Und sie schienen auf etwas zu warten.
2
Als Unterholz wird beim Klavierbau der Teil des hölzernen Stimmstocks bezeichnet, in den die Wirbel eingeschlagen werden, die die Klaviersaiten halten. Jazzpianisten bevorzugen weiches Unterholz aus Pappel und Linde, klassische Pianisten hartes aus Buche und Eiche. Elton John verwendet Kirsch- oder Walnussholz.
Um die Wolzmüller-Alm rankten sich viele Spekulationen und Gerüchte. Sie war nicht leicht zugänglich, lag vom Kurort drei bis vier Fußstunden entfernt, und besonders das letzte Stück des Weges war ein mühevoller Schlauch, der sich den Berg hinaufwand. Das alles verstärkte das Geheimnis um die Alm nur. Zum Mythos wird immer nur das nicht ganz Zugängliche. Nur das Verschattete und Halbseidene, das Verfluchte und Abschüssige ist auf Dauer von Interesse. Und gerade diese Wolzmüller- Alm hatte in der Tat eine wechselvolle Geschichte. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts lief sie noch einigermaßen gut. Regelmäßig rückten Tiroler Landarbeiter an, die das Gras in mühevoller Handarbeit mit der Sense mähten, die Butter stampften, die Bäume für die Holzwirtschaft fällten und die gereiften Käselaibe mit Kraxen ins Tal hinuntertrugen. Auch eine Leitung hatten sie gebaut, mit der die frisch gemolkene Ziegenmilch sprudelnd in den Kurort rauschte. Damals, vor dreißig Jahren, gab es noch einen leibhaftigen Almbauern, den Wolzmüller Andreas. Natürlich kamen auch Kurgäste. Die schwer zugängliche Alm war ein Geheimtipp.
»Ja, was treibst denn dann du den ganzen Tag?«, fragte der Wolzmüller Andreas einen dieser Kurgäste, nachdem der sich in seinem kleinen Gästezimmer häuslich eingerichtet hatte.
»Das siehst du doch. Ich bin Maler.«
»Gibts das heute auch noch? Es kommt doch alles im Fernsehen. «
»Es werden schon noch richtige Bilder gemalt.«
»Richtige Bilder? Das habe ich nicht gewusst.«
Der Wolzmüller-Bauer war ein grobschlächtiges Mannsbild, ein herumfliegender Dreschflegel hatte ihm ein Auge herausgehauen, fast zwei Meter groß war er, und einen Sohn hatte er, der nichts taugte. So viel wusste der Maler, der sich mit Frank Möbius vorgestellt hatte.
»Wie viel Bilder malt man dann so?«, fasste der alte Wolzmüller nach.
»Eines in der Woche schon.«
»Und da verdienst du so viel, dass du dir bei mir heroben auf der Alm eine Stube leisten kannst?«
Vorsicht!, dachte Möbius, nicht sagen, dass es sehr billig ist hier auf der Alm. Und dass er sein Zimmer in der Stadt gut vermietet hatte. An einen Malerkollegen, der ebenfalls eine Schulbibel illustrierte, eine evangelische allerdings. Er erhöht womöglich den Preis. Laut sagte Möbius:
»Ja, mal sehen, wie lange ich mir das leisten kann.«
»Weißt du was, Maler: Du kriegst das Zimmer umsonst, wenn du meinem Buben das Handwerk lernst.«
»Welches Handwerk?«
»Deines. Er will nix arbeiten. In der Landwirtschaft ist er unbrauchbar. Zwei linke Hände hat er. Mit lauter Daumen dran. Ich habe ihn hinunter ins Dorf geschickt, aber dort will er auch nichts lernen. Da ist doch die Malerei grade recht.«
Wie erklärt man das jetzt einem hinterwäldlerischen Almbauern, dachte Möbius, ohne ihn zu beleidigen?
»Das geht nicht so leicht«, begann er vorsichtig.
»Aha, so ist das! Fürchtest du die Konkurrenz?«
»Ist er überhaupt interessiert, dein Michl?«
»Interessiert? Am Nichtstun ist der schon interessiert. Der Handel ist der: Du lernst ihm jeden Tag was, dann hast du freie Kost und Logis.«
Der Wolzmüller hielt seine Riesenpratzen hin. Frank Möbius war eigentlich Buchillustrator. Er hatte einen Auftrag an Land gezogen, der war in drei Wochen abzuliefern. Er sollte eine katholische Schulbibel bebildern, möglichst plastisch, möglichst eingängig, mit einem kleinen Schuss Humor, wie der Verleger gesagt hatte. Bisher hatte er erst eine einzige Illustration fertiggestellt: Adam wartete draußen vor dem Garten Eden, Eva packte drinnen noch ihre Sachen zusammen. Der Abgabetermin drohte. In drei Wochen musste er die dreißig Zeichnungen fertig haben, das ganze Alte Testament rauf und runter.
Der Sohn des Almbauern, der Wolzmüller Michl, war ein maulfauler Geselle, der mit seinen zwanzig Jahren keinen Bock zu gar nichts hatte. Seine Augen glotzten blöde und trübe, als er Möbius vorgestellt wurde. Widerwillig gab er ihm die Hand.
»Wann hast du denn Zeit?«, fragte Möbius.
Keine Antwort. Schulterzucken.
»Hast du schon einmal etwas gemalt?«
Wieder keine Antwort. Ein schwieriges Stück Fleisch, dieser Wolzmüller Michl, dachte Möbius.
»Schaust du gern Bilder an?«
Dann, nach furchtbar langer Zeit:
»Wenn es gute sind, schon.«
»Willst du einmal ein Bild von mir sehen?«
Schulterzucken. Möbius zeigte ihm seinen Entwurf zum Buch Jona eins bis vier.
»Was soll das sein?«, murmelte der Michl.
»Jonas und der Wal.«
»Ich sehe nichts.«
Möbius deutete mit dem Bleistift auf die Figuren.
»Das ist Jonas, und das ist der Wal.«
Michl Wolzmüller schüttelte den Kopf.
»So schaut keiner aus, der gerade ins Meer geworfen worden ist und der Angst hat. So schaut auch kein Wal aus.«
»Ich habe es natürlich etwas überspitzt -«
Und dann nahm der Michl ein Stück Papier und einen stumpfen dicken Zimmermannsbleistift und malte auf dem unebenen Holztisch, der in der Almhüttenstube stand, seine Interpretation des Buches Jona eins bis vier. Er kritzelte ein paar Striche und Kurven. Und es war Jonas. Und es war der Wal. Und es waren auf einem fernen Schiff im Hintergrund die Männer, die Jonas ins Meer geworfen hatten. Und es war die Angst von Jonas vor dem Wal, und der skeptische Blick des Wals angesichts dieses unverdaulichen Brockens.
»Ninive könnte man auch noch hinzeichnen«, nuschelte der Wolzmüller Michl. »Im Hintergrund.«
Möbius wusste, dass er diesem Schüler nichts beibringen konnte. Der beherrschte es bereits. Ganz intuitiv. Der war nicht dumm, der war bloß faul. Und in Möbius' Kopf reifte ein Plan.
Schon nach zwei Wochen schickte er dreißig Zeichnungen in die Stadt. Eine besser als die andere: Erschaffung der Tiere, Sintflut, Heuschreckenplage, das übliche fundamentalistische AT- Programm. Der Bibelverlag war begeistert.
»Und, wie läuft es mit dem Michl?«, fragte der alte Wolzmüller.
»Das ist ein harter Brocken«, sagte Frank Möbius. »Er hat ein kleines bisschen Talent, einen Hauch davon, aber man müsste viel arbeiten mit ihm. Es fehlt an der Technik und überhaupt an allen Ecken und Enden. Er müsste schon noch sehr viel lernen.«
Wenn er es geschickt anstellte, hatte er in nächster Zeit eine todsichere Einkunftsquelle.
Und mit diesem ungleichen Trio begann damals, vor dreißig Jahren, der Aufstieg, aber auch der Niedergang der Wolzmüller-Alm.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Jörg Maurer
Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Er studierte Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und ist Krimiautor und Musikkabarettist. Eine feste Größe in der süddeutschen Kabarettszene, leitete er jahrelang ein Theater in München und wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München (2005) und dem Agatha-Christie-Krimi-Preis (2005 und 2006). Sein Krimi-Kabarettprogramm ist Kult.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Maurer
- 2013, 1. Auflage, 432 Seiten, Deutsch
- Verlag: FISCHER E-Books
- ISBN-10: 3104020744
- ISBN-13: 9783104020747
- Erscheinungsdatum: 07.02.2013
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- Dateiformat: ePub
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