Die kalte Nacht des Hasses (ePub)
Claire Morgan Serie, Band 3
Tod einer Schönheitskönigin
Hilde Swensen war sehr jung und sehr, sehr schön - doch als man ihre grauenhaft zugerichtete, grotesk grinsende Leiche in einer Dusche findet, ist von ihrer einstigen Schönheit nicht mehr viel zu sehen. Hilde hatte unzählige...
Hilde Swensen war sehr jung und sehr, sehr schön - doch als man ihre grauenhaft zugerichtete, grotesk grinsende Leiche in einer Dusche findet, ist von ihrer einstigen Schönheit nicht mehr viel zu sehen. Hilde hatte unzählige...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die kalte Nacht des Hasses (ePub)“
Tod einer Schönheitskönigin
Hilde Swensen war sehr jung und sehr, sehr schön - doch als man ihre grauenhaft zugerichtete, grotesk grinsende Leiche in einer Dusche findet, ist von ihrer einstigen Schönheit nicht mehr viel zu sehen. Hilde hatte unzählige Feinde, darunter einen unheimlichen Stalker, einen eifersüchtigen Ex-Freund und viele Neiderinnen.
Detective Claire Morgan ahnt von Anfang an, dass die Suche nach dem Täter sie in scheussliche Abgründe führen wird. Doch das teuflische Geheimnis, das sie in der Vergangenheit der Toten entdeckt, übertrifft ihre schlimmsten Erwartungen...
Einer der unheimlichsten und grausigsten Psychothriller aller Zeiten.
Hilde Swensen war sehr jung und sehr, sehr schön - doch als man ihre grauenhaft zugerichtete, grotesk grinsende Leiche in einer Dusche findet, ist von ihrer einstigen Schönheit nicht mehr viel zu sehen. Hilde hatte unzählige Feinde, darunter einen unheimlichen Stalker, einen eifersüchtigen Ex-Freund und viele Neiderinnen.
Detective Claire Morgan ahnt von Anfang an, dass die Suche nach dem Täter sie in scheussliche Abgründe führen wird. Doch das teuflische Geheimnis, das sie in der Vergangenheit der Toten entdeckt, übertrifft ihre schlimmsten Erwartungen...
Einer der unheimlichsten und grausigsten Psychothriller aller Zeiten.
Lese-Probe zu „Die kalte Nacht des Hasses (ePub)“
Die kalte Nacht des Hasses von Linda LaddAus dem Amerikanischen von Ulrich Hoffmann
Prolog
Schwesternliebe
... mehr
Eines eisigen Dezembermorgens fand die ältere Tochter endgültig heraus, dass ihre Mutter sie wirklich nicht liebte. Sie war noch nicht einmal elf, als sie an jenem Tag die Augen aufschlug. Das Licht stahl sich durch die Jalousien vor dem Fenster der Dachgaube neben ihr, grau und neblig wie ein Geist. Auf dem Dachboden war es so früh am Morgen eiskalt und sie zitterte und kroch tiefer unter ihre dicke Quiltdecke. In völliger Unkenntnis, dass endlich Weihnachten war, schlief ihre kleine Halbschwester friedlich neben ihr, sie schnarchte leise aufgrund einer verstopften Nase. Sissy war acht Jahre alt und alle waren sich einig, dass sie das süßeste kleine Ding war, so viel hübscher als ihr Bruder oder die ältere Halbschwester. Oh, ja, die süße kleine Sissy war wunderhübsch, das stimmte, und es machte die ältere Schwester krank, wie alle sich über Sissy begeisterten, als wäre sie etwas ganz Besonderes. Und sie taten es, egal wo Mama sie mit hinnahm, Wal-Mart oder McDonald's oder Pizza Hut. Egal wohin sie gingen, es war überall gleich. Alle wollten Sissys Haar streicheln. Die ältere Schwester hasste Sissys blödes seidiges, gelbes Haar. Sie hasste auch alles andere an Sissy, vor allem das kleine unschuldige Lächeln, das in Wahrheit überhaupt nicht unschuldig war. Es schien nie jemandem aufzufallen außer der älteren Schwester, aber der jedes Mal. Die ältere Schwester drehte ihrer oh-so-niedlichen kleinen Schwester den Rücken zu und stemmte sich auf den Ellenbogen hoch. Sie angelte nach der Zugleine und öffnete die Jalousie etwa dreißig Zentimeter, dann schaute sie begeistert nach draußen auf das Winterwunderland. Der Schnee fiel sanft und sie sah zu, wie er heruntersegelte, und plötzlich hierhin oder dahin huschte, wenn eine Windbö kam. Sie hatte es auch letzte Nacht gesehen, zur Schlafenszeit, im Schein der Nachtleuchte neben der alten Scheune. Manchmal mochte sie so viel Kälte nicht, an dem Ort, wo sie mit Mama und ihrem richtigen Daddy gelebt hatte, war es das ganze Jahr über warm gewesen. Jetzt lebte sie an diesem kälteren Ort, seit Mama wieder geheiratet und zwei weitere Kinder namens Sissy und Bubby bekommen hatte. Hier hatte auch niemand einen Akzent, so wie der, den sie von ihrem Daddy übernommen hatte, der aus einem anderen Land stammte, und manchmal machten andere Kinder sich über sie lustig, also versuchte sie, es sich abzugewöhnen. Es hatte fast jeden Tag geschneit, seit die Weihnachtsferien begonnen hatten, und hohe Schneewehen ließen ihren Garten aussehen wie einen riesigen Geburtstagskuchen, der mit einer geschmeidigen, schimmernden Vanillecreme überzogen war. Sie konnte kaum den Schneemann ausmachen, den sie gestern gebaut hatte. Sie sah eine Karottennase und zwei rote Äpfelchen als Augen, aber Mamas rosa-karierte Schürze um seine Hüfte war von Weiß bedeckt. Schnee türmte sich auch auf dem Fenstersims und die Glasscheiben waren mit Eiskristallen bedeckt, die aussahen wie die weiße Spitze, die Mama um das Unterteil von Sissys Miniatur- Weihnachtsbaum gelegt hatte. Die ältere Schwester wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den kleinen Baum, der auf Sissys Nachttisch stand. Winzige weiße Lichterchen blinkten in den dämmrigen Morgen und ließen die Strasskrönchen, die an den Zweigen hingen, wie richtige Diamanten glitzern. Sissy hatte bei Schönheitswettbewerben für Babys und Kleinkinder gewonnen, elf Kronen insgesamt. Jedes Mal, wenn Sissy teilnahm, hatte sie den ersten Platz belegt. Sie bekam auch Pokale, wenn sie gewann, und bunte Schärpen aus rotem und blauem und gelbem und grünem Satin, aber meistens rot. Sissys Daddy hatte im Wohnzimmer eigens Regale aufgestellt, um ihre Preise und Pokale auszustellen. Sissy war auch sein Liebling. Als die Ältere ihren Mut zusammengenommen hatte, um Mama zu fragen, ob sie auch so einen kleinen Baum haben könnte, hatte Mama gesagt, sie sollte sich an Sissys Baum erfreuen und aufhören zu quaken. Wenn sie als Baby auch ein paar Wettbewerbe gewonnen hätte, hätte sie jetzt auch ein paar Krönchen, die man in einen Baum hängen konnte. Danach war die ältere Schwester unter die hintere Veranda gekrabbelt und hatte lange - aber leise - geweint, damit niemand sie hörte. Jetzt wurde sie wütend, weil sie an diesen Tag zurückdachte. Sie runzelte die Stirn und beugte sich dicht an Sissys Ohr, dann flüsterte sie durch zusammengebissene Zähne: »Ich hasse dich mehr als Gift, du blödes kleines Ding, und ich hasse deinen dämlichen Baum, und ich hasse dein Haar, und ich wünschte, du wärst so hässlich wie ich.« Sissy erwachte nicht, sondern vergrub sich nur tiefer unter dem rot-grünen Patchwork-Quilt, den ihre Großmutter Violet ihr Weihnachten vor zwei Jahren mit der Hand genäht hatte, bevor sie einen Schlaganfall hatte und gestorben war. Strähnen von Sissys langem blonden Haar, das genau die Farbe der Sommersonne hatte, lagen ausgebreitet auf dem Kissen. Die ältere Schwester griff nach einer Locke und rieb das weiche Haar zwischen Daumen und Zeigefinger. Mama sagte, ihr eigenes Haar sei zu kraus und mausig, um hübsch auszusehen. Und es hatte auch noch nie jemand darum gebeten, es anfassen zu dürfen. Tief in ihrem Herzen, wo sie all ihre bösen Gedanken trug, schoss eine kontrolliert vor sich hin köchelnde altbekannte Wut hoch, schwarz und schnell und brutal. Sie packte eine Handvoll von Sissys blödem, sonnigen Haar und riss daran, so fest sie konnte. Sissy stieß einen Schrei aus und die ältere Schwester lächelte über den Schmerz ihrer Schwester, dann schlug sie ihre Decke beiseite und sprang aus dem Bett. Sie zog Sissys Quilt herunter. »Sissy, komm! Santa war da!« Sissy schoss im Bett hoch, sie zitterte und rieb sich den Kopf, wo die ältere Schwester an ihrem Haar gerissen hatte. Sie sah sich um, ihre großen porzellanblauen Augen waren noch verschlafen, ihr herzförmiges Gesichtchen verwirrt. Sie sah wunderschön aus, selbst direkt nach dem Aufwachen. Sie hatte letzte Nacht ihre neueste Glitzerkrone aufbehalten, die sie letzte Woche beim Wettbewerb um die Little Miss Snowflake gewonnen hatte, und jetzt suchte sie unter der Decke danach, bis sie sie fand, und setzte sie sich wieder auf den Kopf. »Sissy! Beeil dich, lass uns schauen, was er uns gebracht hat!« Sissy vergaß ihren neuesten Preis und sprang aus dem Bett. Der Hartholzboden war kalt unter ihren nackten Füßen, aber das fiel keiner von ihnen auf, sie schlüpften in ihre Vliesbademäntel und die kuscheligen Disney-World-Hausschuhe und rannten in den Flur. Sie sprangen die schmale Dachtreppe hinunter in den ersten Stock, wo ihr dreijähriger Bruder bereits erwacht war. Seine Höschenwindeln waren höchstwahrscheinlich klatschnass, weil er nachts immer noch hineinpinkelte, aber das war der älteren Schwester egal. Sie hämmerte an die Tür ihrer Mama, bis Mama und ihr Stiefvater öffneten, sie schauten ebenfalls noch verschlafen, ihre Haare waren zerzaust, und sie trugen zueinander passende rot-blau karierte Bademäntel. Ihr Stiefvater hieß Russel und er ging seinen Sohn holen, aber die beiden aufgeregten kleinen Mädchen liefen schon nach unten. Sie blieben an der Kurve der Treppe stehen und schauten nach unten ins Wohnzimmer. Der große Weihnachtsbaum strahlte, er reichte mit seinen blinkenden, leuchtenden bunten Lichtern und dem großen weißen Seidenengel an der Spitze fast bis zur Decke. In seinem warmen Schein konnte die ältere Schwester das Spielzeug sehen, das Santa ihnen dagelassen hatte - zwei Puppen - neue Barbies, noch in den Schachteln! - und ein Fahrrad mit Stützrädern, einen Baseballschläger und -handschuh für Bubby, alles in einer Reihe auf dem braunen Sofa! Und da war es! Das Barbie- Traumhaus, das sie sich gewünscht hatte, seit sie es letzten Sommer bei Wal-Mart gesehen hatte - es stand zusammengebaut vor dem Kamin. Sie rannte den Rest der Treppe hinunter, Sissy dicht auf den Fersen, beide quietschten voller Freude. Aber bevor sie das ersehnte Puppenhaus erreichte, packte Mama sie am Arm und zerrte sie weg von den Schätzen, die im Wohnzimmer auf sie warteten, in den Flur. Sie konnte Sissy über die Barbies jubeln hören, und ihr Stiefvater lachte, als er Bubby nach unten trug. Sie wollte sich losreißen, um zu sehen, was die anderen taten, aber Mama hielt ihren Arm fest umklammert. »Jetzt hör mir gut zu.« Als sie Mamas barsches Flüstern vernahm, schaute die ältere Schwester auf, augenblicklich überkam sie eine kalte, harte Furcht. Sie kannte diesen Tonfall der Stimme nur zu gut, wenn Mama ein wenig verrückt klang und ihre Augen ganz schwarz und beängstigend wurden. So sprach sie nur, wenn der Stiefvater es nicht hören konnte. »Ich konnte dir dieses Jahr nichts besorgen, und ich will ja keine Widerworte deswegen hören. Du weißt ganz genau, dass dein billiger Vater mir keinen verdammten Cent für dich schickt, seit er davongelaufen ist und uns allein gelassen hat, und Russel sagt, er wird dir nichts extra kaufen, nicht wenn du irgendwo einen echten Daddy mit tonnenweise Geld hast.« Die Ältere war so entsetzt, dass sie ihre Mutter bloß anstarren konnte. Mama runzelte die Stirn. »Du weißt, dass Russel mich meine Arbeit im Dollar Store hat aufgeben lassen. Mir fehlt jetzt das Geld, das ich früher für dich ausgeben konnte. Ich habe nur, was er mir für Essen und Kleidung gibt. Und du solltest einfach dankbar sein, dass er dich mit durchfüttert und dir dieselben schönen Kleidungsstücke kauft wie seinen eigenen Kindern.« Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer und senkte die Stimme noch ein wenig mehr. »Es wird sowieso nicht so schlimm sein, du musst einfach nur Sissy und Bubby fragen, ob du mit ihren Sachen spielen kannst. So ist es ab jetzt nun einmal. Du musst es so akzeptieren, wie es ist. Es lässt sich nicht ändern. Das Leben ist kein Zuckerschlecken, das musst du irgendwann sowieso lernen.« Mamas Finger krampften sich noch ein wenig fester um den Unterarm der Älteren. »Aber du fragst sie nett, verstanden, und lass es Russel nicht hören. Und fang jetzt ja nicht an, so albern zu weinen, ich warne dich. Das lasse ich mir nicht bieten, nicht an Weihnachten! Du wirst Weihnachten nicht für Russel und die anderen Kinder ruinieren.« »Aber ich war brav. Ich war viel braver als Sissy und Bubby! Sie sind diejenigen, die unartig waren!« »Dein Daddy liebt dich nicht, sonst hätte er mir etwas Geld für dich geschickt, denn ich habe ihm geschrieben und ihn darum gebeten. Du kannst mir ganz sicher keinen Vorwurf machen. Russel liebt seine Kinder, deswegen kriegen die Geschenke. Und dein richtiger Vater ist auch der Grund, warum du nie irgendeinen Schönheitswettbewerb gewonnen hast. Weil du aussiehst wie er. Es ist eine Schande, dass du all diese Sommersprossen hast, und nicht mein gutes Aussehen. Am besten bist du damit zufrieden, dass Russel dich überhaupt hier bei uns wohnen lässt. Dein Daddy will dich ganz sicher nicht haben. Er hat dich nicht besucht, seit er uns für diese Hure verlassen hat, mit der er es jetzt treibt. Wahrscheinlich werden sie noch ein paar Kinder in die Welt setzen, und nur die interessieren ihn. Die bekommen dann garantiert Geschenke zu Weihnachten - wahrscheinlich auch deine.« Die Ältere schluchzte, und ihre Mama drehte sie herum und verabreichte ihr einen kräftigen Schlag auf den Po. »Sieh nur, wie undankbar du bist. Du hast Glück, dass Russel dich nicht in das Kinderheim auf der anderen Seite der Stadt schickt, wie er es angedroht hat.« Mama stieß sie in Richtung der Treppe. »Wenn du weiter heulst, dann kannst du gleich nach oben gehen, verstanden? Hör auf, sonst kriegst du auch keinen Weihnachtsbraten und Pecan-Pie zum Abendessen.« Aber die Ältere konnte nicht aufhören zu weinen, sie rannte nach oben und warf sich auf ihr Bett. Sie zog sich die Decke über den Kopf, aber sie konnte immer noch Sissys glückliches Lachen die Treppe heraufhallen hören. Nach einer Weile schlich sie sich wieder nach unten und linste durch das Geländer. Sissy und Bubby packten noch immer Geschenke aus. Mama und Russel lachten und umarmten die Kinder, und die Ältere umklammerte das Geländer mit ihren kalten Fingern, bis ihre Knöchel weiß wurden. Und da wusste sie, dass sie sie alle hasste. Sie hasste Russel und sie hasste ihren wahren Vater, und sie hasste Mama. Aber vor allem hasste sie Sissy, weil Sissy ihr Barbie-Traumhaus bekommen hatte. Sie wünschte, sie könnte sie töten, sie könnte sie töten und in den großen Fluss werfen, der sich zwischen den Weiden hindurchwand, wo Mama und Russel sie niemals finden würden. Vielleicht würde sie das tun. Vielleicht würde ihr etwas einfallen, wie sie Sissy töten konnte, so wie die Leute in dem Film, den sich Russel letzte Nacht angesehen hatte. Er hieß Nightmare - Mörderische Träume. Sie würde sich heute wieder auf der Treppe verstecken, wenn er sich noch einen Film ansah, den er geliehen hatte, er hieß Freitag, der 13., und sie hatte gehört, wie er Mama sagte, dass er sogar noch blutiger und schrecklicher als der Alptraum in der Elm Street war. Und dann würde sie wissen, wie sie Sissy umbringen konnte. Sie war größer als Sissy, kräftiger und ihr überlegen. Sie konnte es schaffen. Sie konnte Sissy irgendwo hinbringen, wo niemand sie sehen würde, sie irgendwie töten, und niemand wüsste, was ihr zugestoßen wäre. Die Idee, dass sie sich tatsächlich für immer von Sissy befreien konnte, war ihr noch nie zuvor gekommen, und sie brachte sie zum Lächeln und fühle sich gut an, mächtig und vielversprechend. Sie ging wieder nach oben und legte sich auf ihr Bett, aber jetzt war sie ruhig und still und dachte weiter darüber nach, wie sie Sissy töten würde. Sie wandte den Kopf um, als Russel und Sissy ins Zimmer kamen. Er hielt seine süße kleine Sissy in einem Arm und trug im anderen das Barbie-Traumhaus. Er warf einen Blick zu ihr hinüber, aber lächelte bloß und sprach mit Sissy, während er das Puppenhaus in der Nähe des Heizungsschachtes aufstellte, damit seine geliebte Sissy beim Spielen nicht fror. Reiner Hass stieg in ihrem Hals auf. Nachdem Russel gegangen war, wartete sie, bis er ganz unten war, dann erhob sie sich vom Bett und schloss die Tür. »Sissy, ich will mit dem Barbie-Traumhaus spielen. Du lässt mich doch, oder?« Sie warf einen Blick zur Tür, denn sie wollte nicht, dass Russel oder Mama sie hörten. Sie musste vorsichtig sein. Sissy war deren Liebling, sogar noch mehr als Bubby, und Bubby war der süßeste kleine Junge der Welt mit all seinen blonden kleinen Löckchen. Sie mochte Bubby recht gern, sie würde Bubby nicht umbringen, weil er der Einzige war, den sie von der ganzen Familie überhaupt leiden konnte. Vielleicht könnte sie irgendwann, wenn sie älter und größer und klüger wäre, auch Mama und Russel umbringen. Aber wenn die herausfanden, dass sie Sissy töten wollte, dann würden sie sie in dieses schreckliche Kinderheim schicken. Ihre kleine Schwester schaute auf, die Augen so unschuldig und hübsch und blau. In ihrer Iris befand sich ein Muster, das aussah wie winzige Rosen, die ganz im Kreis herum gingen. »Daddy sagt, ich muss dich nicht mit meinen neuen Sachen spielen lassen, wenn ich nicht will. Sie haben gesagt, du machst alles kaputt und verlierst Sachen, so wie Bubbys Teddybär.« »Das stimmt gar nicht! Du hast ihn in den Müll geworfen, weil Bubby deinen orangenen Wachsstift zerbrochen hat! Ich habe dich gesehen!« Die Ältere warf wieder einen Blick zur Tür, sie wünschte, sie könnte ihre Hände um Sissys Hals legen und zudrücken und zudrücken und zudrücken. Aber sie tat es nicht. Sie biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie schon dachte, sie würden zerplatzen, und sie ballte zudem noch die Fäuste. »Bitte, Sissy, bitte, nur ein paar Minuten.« Die Jüngere starrte sie einen Augenblick an, und dann lächelte sie das wundervolle Lächeln, von dem der Wal-Mart- Fotograf sagte, dass sie damit aussah wie ein zauberhafter kleiner Engel. »Ich lasse dich damit spielen, aber dafür musst du dich von mir schlagen lassen.« »Schlagen lassen? Warum?« »Weil ich will, deswegen. Ich will dich ins Gesicht schlagen, so wie Mama es tut.« Die Ältere warf einen Blick auf das Barbie-Traumhaus mit den rosa-lavendelfarben gestreiften Vorhängen und den winzig kleinen Stühlchen und Tischen und Schlafzimmern. Sissy hatte auch beide Barbies bekommen. Eine war gekleidet wie eine Prinzessin mit einem rosa Paillettenkleid und einer winzigen Diamantenkrone, die andere sah aus wie ein Model in einem kurzen Jeansrock und einem Spaghettitop aus rotem Satin. Sie waren beide wunderschön, ihre Gesichter herzförmig wie Sissys. Die Ältere hatte noch nie eine eigene Barbie gehabt, aber ihre nette Lehrerin, Mrs Dale, ließ sie in der Schule mit einer spielen. »Wie fest willst du mich schlagen?« »Richtig fest. Und du darfst nicht weinen. Wenn du weinst, zählt es nicht.« »Es wird Mama nicht gefallen, wenn du mich schlägst.« Das engelshafte Lächeln breitete sich wieder auf Sissys Gesicht aus, aber ihre Augen lächelten nicht mit. Sie sahen ganz gemein aus. »Mama lässt mich tun, was immer ich will, und du weißt das ganz genau, denn ich bin hübsch und du bist hässlich. Sie hat es selbst gesagt, schon oft. Sie sagt, dass mich alle mein ganzes Leben lang lieben werden, weil ich so hübsch und blond bin. Du hast hässliche Haare und schiefe Zähne wie dein blöder, alter richtiger Papa, und niemand wird dich je so lieben wie Bubby und mich! « Die Ältere wusste, dass es stimmte, was Sissy gesagt hatte. Einmal, als Mama sehr wütend auf sie gewesen war, hatte sie den goldenen Handspiegel von der Kommode genommen und die Ältere hineinsehen lassen, und sie hatte zugeben müssen, wie hässlich sie war. Mama sagte, dass sie sich für sie schämte, und dafür, wie sie aussah. Es sei ihr peinlich, sie mit ihren beiden anderen hübschen Kindern herumschleppen zu müssen. »Okay, du kannst mich schlagen. Aber irgendwann zahle ich es dir heim. Du wirst schon sehen.« Und sie dachte: Oh ja, du wirst schon sehen. Eines Tages zahle ich es dir heim, dann kriegst du die Hauptrolle in Halloween - Die Nacht des Grauens. »Oh, lieber nicht, sonst schicken sie dich in dieses schreckliche Kinderheim, wo sie die Kinder schlagen und ihnen Friskies- Katzenfutter zu essen geben.« Sissy stellte die Barbie hin, der sie ein wunderhübsches weißes Hochzeitskleid aus Spitze angezogen hatte. Lächelnd erhob sie sich und lehnte sich ein wenig nach hinten. Sie hob den Arm und schlug mit der Handfläche so heftig auf die Wange der Älteren, dass diese für einen Moment aus dem Gleichgewicht kam. Sie kippte zur Seite und rieb sich die vor Schmerz brennende Wange. Mit Mühe unterdrückte sie ihre Tränen. »Du weinst nicht, oder? Du darfst nicht weinen, schon vergessen? « »Ich weine nicht, wirklich nicht!« »Okay. Du kannst mit meinem Barbie-Traumhaus spielen, bis ich Schluss sage. Aber mach es ja nicht kaputt.« Die Ältere rieb sich noch immer die gerötete Wange und krabbelte dann auf Händen und Knien zu dem großen Puppenhaus und nahm vorsichtig eine winzige Couch hoch. Sie war mit lila Seide bezogen und hatte kleine schwarze Troddeln auf der Rückseite. Es lagen sogar winzig kleine schwarze Kissen an beiden Enden. Ihr Gesicht brannte immer noch wie Feuer, aber das war es wert gewesen. Sie hasste Sissy. Sissy bekam niemals Ärger. Selbst Bubby wurde manchmal angeschrien und auf den Po geschlagen, bloß weil er nicht Sissy war. Eines Tages würde Sissy dafür zahlen, ihr ins Gesicht geschlagen zu haben, eines Tages würde Mama zahlen und Russel würde zahlen, und vor allem würde ihr hässlicher wahrer Vater dafür zahlen, Mama kein Geld geschickt zu haben, um ihr Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Wartet nur ab. Sie würde sie alle mit scharfen Messern töten, wie die an Freddys Handschuhen, wenn er die älteren Teenager in der Elm Street abschlachtete.
1
Ich drehte den Zündschlüssel, ließ meinen schwarzen Ford Explorer an und setzte rückwärts aus meiner Parklücke vor dem Canton County Sheriff 's Department. Es war ein langweiliger, ereignisloser, aber wundervoller Tag Anfang April am Ozarks-See mitten in Missouri, und mein Partner und ich hatten entschieden, dass wir es bei einem unserer berühmten Wettschießen mal so richtig krachen lassen würden. Jetzt waren wir unterwegs zum Schießstand des Departments draußen in der Wildnis nördlich des Sees - der Gewinner spendierte dem Verlierer auf der Rückfahrt in die Stadt dann das extravaganteste Menü bei McDonald's. Weil wir eben beide so großzügig sind. Nicht, dass ich mich beschweren müsste, wie selten es hier kracht. Vor fast vier Monaten hatten wir einen Fall direkt aus der Hölle, eine ziemlich haarige Angelegenheit mit ein paar mörderischen Irren, die auf alle möglichen ekligen Giftbiester standen. Bud ist dabei fast draufgegangen, und ich habe eine ziemlich bemerkenswerte Narbe am Bein vom Biss einer braunen Einsiedlerspinne, ein Vieh, das mir auch heute noch einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Aber zu mir nach Hause kommen regelmäßig die Kammerjäger, in meinem Explorer habe ich eine Sprühdose Ungeziefervernichtungsmittel, und seit Weihnachten habe ich keine dieser Vielbeiner mehr zu Gesicht bekommen. Ich denke auch nicht mehr allzu oft an letzten Sommer, als ein anderer Fall ziemlich unangenehm wurde, oder zumindest versuche ich, nicht daran zu denken. Unglücklicherweise machen meine Träume nicht immer mit. Alpträume habe ich durchaus, oft und scheußlich. Unglaublich, dass ich hoffte, dieser Dorfjob würde mir nach meiner Zeit beim LAPD etwas Ruhe und Zeit zum Durchatmen verschaffen. Ha ha, Grube selbst gegraben. »Sag mal, Morgan, wie ist die .38er von Harve, mit der du rumballerst? Ganz gut?« Das war mein eben erwähnter Partner, Detective Budweiser D. Davis, den unter Androhung der Todesstrafe alle, die ihn kennen, Bud zu nennen haben. Er hing auf dem Beifahrersitz herum, bekleidet mit einem schlichten schwarzen Polizei-TShirt und einer Bootcut-Levi's. Normalerweise brezelt er sich immer auf mit Designeranzügen und gestärkten Hemden, Armani und so ein Zeug. Aber immerhin: Die Ärmel seines T-Shirts hatten Bügelfalten, klar, der Typ ist echt krank in dieser Hinsicht. Ich warf ihm einen Blick zu, als ich nach rechts abbog, schaukelte den Geländewagen auf den Highway 54, und bretterte in Richtung der nächstgelegenen Brücke. Bud war aus Atlanta, sah aus wie Rhett Butler und verfügte über einen tollen Akzent aus Georgia und bemerkenswerte graue Augen - insgesamt eine wahre Freude für die Ladys. Und er wusste das auch. Ich sagte: »Schießt gut. Ich nehm sie nie ab. Das habe ich auf die harte Tour gelernt.« Ich konnte auch jetzt das Gewicht der .38er spüren, die unter meiner eigenen Bootcut-Levi's an meinem rechten Knöchel klebte, knapp oberhalb meiner schwarzorangenen Nike-Stiefel. Ja, mein bester Freund und ehemaliger Partner draußen in L. A., Harve Lester, hatte mir zu Weihnachten diese süße kleine .38er Smith & Wesson spendiert, mit einem erstklassigen braunen ledernen Knöchelholster, und die war mir sofort gut zupass gekommen. Genau genommen hatte sie mir das Leben gerettet, als ich an einem ziemlich gruseligen, dunklen Ort in der Tinte gesessen hatte, also nehme ich sie nicht mehr ab, außer um zu duschen und zu schlafen, und selbst dann bleibt sie in der Nähe. Auch meine gute alte Glock 9 mm Halbautomatik lege ich nur selten zur Seite. Die steckt schön in ihrem Schulterholster unter meinem linken Arm und wartet bloß auf Ärger. Heute musste sie nicht mehr lange warten. Buds Handy meldete sich mit einer nervtötenden Klimperversion von Beethovens Fünfter, da kann er manchmal affig sein, aber ich wette, er hatte seinen bisherigen Klingelton »Friends in Low Places«, der mir viel lieber gewesen war, nur ausgewechselt, um seine Freundin Brianna Swensen zu beeindrucken. Er fischte das Handy aus der Tasche seiner schwarzen Windjacke, schaute auf das Display, und an seinem klebrigen selbstzufriedenen Grinsen konnte ich sofort erkennen, wer anrief. »Oh, sieht so aus, als würde Brianna mich vermissen, die Arme.« Brianna war seine neueste Eroberung, und er eroberte sie gern und häufig. Ich hatte sie anfangs Finn genannt, weil sie aussah, als hätte sie Miss Finnland beim Miss-Universum- Wettbewerb sein können, überhaupt hätte sie den ganzen galaktischen Humbug mühelos gewinnen können, wenn es nach mir ging. Sie kennen den Typ - lange, glatte Beine, von Natur aus blondes, wallendes Haar, ein Gesicht wie eine Schaufensterpuppe vom Rodeo Drive, die nach einer größeren, schlankeren Jessica Simpson geformt ist. Ja, Bud lungerte im Moment meistens in den Hallen Walhallas herum, grinste und trommelte sich mit den Fäusten auf die Brust. Er meldete sich am Telefon wie ein echter Vollidiot. »Hi, Baby, du fehlst mir auch.« Kotz. Und noch mal kotz. Ich versuchte, mich auf das Fahren zu konzentrieren. Genau genommen wusste ich, wie er sich fühlte, samt blödem Grinsen und so. Ich selber grinste in letzter Zeit oft ähnlich, seit ich mich mit dem berühmten Nicholas Black eingelassen hatte, einem ziemlich toll aussehenden Psychiater der Stars, der wiederum mich gern mal eroberte. Wenn wir zusammen ins Bett hopsten, ließen wir es auch richtig krachen. Ich fuhr über die Brücke und bewunderte den spektakulären Ausblick auf den Ozarks-See zu meiner Linken. Das Wasser glitzerte und glimmerte wie eine mit Diamanten besetzte Decke unter dem wolkenlos blauen Himmel. Es war ein wundervoller, sonniger Morgen, einigermaßen warm, aber die Luft war trotzdem frisch. Überall begannen Blumen zu sprießen, Azaleen, Narzissen, Tulpen, Hartriegel. Da wollte sogar ich losziehen und mir eine Gartenschaufel kaufen. Aber seit Neujahr hatte in unserem Gebiet keiner mehr jemanden umgebracht, und wir, die beiden einzigen Detectives der hiesigen Mordkommission, fühlten uns ziemlich prima in diesem kleinen, sauberen Eckchen der Welt. Mit häuslicher Gewalt und Einbrüchen und Ladendiebstählen kamen wir klar, bis an die Zähne bewaffnet, wie wir waren. Null problemo. Bud sagte: »Was?« Aufgrund seines besorgten Tonfalls warf ich ihm einen fragenden Blick zu. Er runzelte die Stirn. Oh-oh. Ärger. Vielleicht war ich zu voreilig gewesen. Dann sagte er: »Du machst Witze.« Nicht, dass ich ihn belauschte oder so - dann lachte er, wurde aber ziemlich schnell wieder still. »Okay, verstanden. Ich bin mit Claire unterwegs. Wir kommen gleich. Beruhig die anderen.« »Was?«, fragte ich, schließlich wollte ich keine Zeit damit verschwenden, allzu lange selber nachzudenken, was los war, und hoffte durchaus auch auf ein bisschen Aufregung, um uns in Schwung zu halten. »Und was soll das heißen: ›Beruhig die anderen‹?« »In Mr Races Schönheitssalon gibt's ein Problem. Und Bri steckt mittendrin.« Ich warf ihm einen Blick zu, Sie wissen schon, was für einen ich meine. Ich sagte: »Was ist denn los? Hat jemand den falschen Nagellack drauf und deswegen angefangen rumzuballern? « »Hey, Morgan, reg dich ab, ja? Es ist ernst. Bri ist echt in Schwierigkeiten.« »Das ist der Laden, zu dem du mir vorletzte Weihnachten den Zwölf-Monats-Gutschein geschenkt hast, oder? Für Haare und Gesichtsmasken und Pediküre, so was?« Den ich nur einmal benutzt hatte. Ich konnte es einfach nicht aushalten, fünfzehn Mal während eines Haarschnitts Süße genannt zu werden. »Ja, und Mr Race schneidet mir die Haare. Er ist der beste Friseur weit und breit.« Aha. Ich konnte mich gut an ihn erinnern. Mr Race konnte man auch nicht leicht vergessen. Ein bisschen affig, wenn Sie verstehen, was ich meine, hochgegelte blonde Strähnchen, ein schwarzes Seidenhemd, das ganz toll halb aufgeknüpft war. Aber Bud hatte eben einen großartigen Geschmack und legte wert auf makellose Haarkultur. Ich hätte etwas von ihm lernen können, wenn es mich interessieren würde, wie ich aussehe. »Okay, Bud, schon gut. Also, was ist los?« »Du wirst lachen.« »Nein, werde ich nicht.« »Er wurde von einer gereizten Kundin als Geisel genommen, und Brianna weiß nicht, was sie machen soll.« Ein Lachen kitzelte in meinem Innersten, aber ich zwang mich, nicht nachzugeben. Versprochen ist versprochen. Immerhin genoss ich das Gefühl ein paar Sekunden. »Es geht also um Nagellack? Was, hat jemand Feuerwehrrot drauf, statt Tomatensuppenrot, und ist durchgeknallt?« Bud schüttelte den Kopf, während ich in die nächste asphaltierte Straße zum See bog, wendete, und dann zurück in die Richtung fuhr, aus der wir gekommen waren. Hey, Notfall war Notfall. Die ganze Gesetzestreue dieser Gegend wurde ohnehin langsam langweilig. »Offenbar ist das Mädel Teilnehmerin beim Spring-Dogwood- Schönheitswettbewerb, den Nick drüben in der Cedar Bend Lodge abhält, und Mr Race hat ihr Haar mit seinem neuen Glätteisen verbrannt. Sie ist voll ausgeflippt und macht ihm die Hölle heiß.« »O du meine Güte, Bud, das meinst du doch nicht ernst.« »Jetzt hör mir doch mal zu, Claire. Er soll Bris Schwester die Haare für die Generalprobe zum Wettbewerb färben, und wegen dieser Sache verspäten sich alle Termine seiner anderen Kunden.« »O nein, jetzt verstehe ich, warum es so dringend ist. Am besten rufen wir Verstärkung. Und das Sondereinsatzkommando Kansas City vielleicht auch noch? Wie gut, dass ich beide Waffen geladen und einsatzbereit habe.« »Sehr lustig.« Meine Güte, was manche Männer aber auch für hübsche, langweilige Freundinnen tun, die aussehen, als kämen sie aus Skandinavien. Also wirklich. Aber ich muss zugeben, die Sache klang durchaus interessant, jedenfalls spannender als alles andere, was wir in den letzten paar Monaten gehabt hatten. Und so lange keine Spinnennester oder abgetrennte Köpfe dabei waren, meinetwegen. Ich erschauerte bei diesen düsteren Gedanken und verscheuchte dann einige ziemlich ekelerregende Bilder aus meinem Geist. Ich fuhr zügig zu MR RACE'S WINNING LOCKS, THE SALON AND SPA FOR THE DISCERNING. Ja, so hieß der Laden wirklich. Ja, eigenartig. Aber es war wirklich der beste Schönheitssalon am See, untergebracht in einem luxuriösen Gebäude in der Innenstadt Camdentons, nur ein paar Häuser entfernt vom Sheriff 's Department. Als wir an unserem Büro vorbeifuhren, hoffte ich, dass die Kollegen nicht herausfanden, wohin wir unterwegs waren und warum. Ich konnte sie bereits lachen und zackig Kämme aus ihren Holstern ziehen hören. Ich fuhr auf einen Parkplatz, der knallvoll war mit kleinen Angebersportwagen und riesigen glänzenden Geländewagen, von denen die meisten mit paillettenbesetzten Abendkleidern vollgestopft waren, die schön ordentlich auf den Rücksitzen lagen, und glänzenden Krönchen, die an den Rückspiegeln baumelten. Mr Races Kundschaft waren offensichtlich vor allem Mädchen mit Krönchen. Kein Wunder, dass Bud sich hier die Haare schneiden ließ. Ich hingegen frequentierte Cecil's Barber Shop for Men in Osage Beach. Cecil betrachtete mich trotz meines weiblichen Geschlechts als Ehrenmitglied, was mich daran erinnerte, dass ich mein Haar, wenn es lang genug war, es zu einem Pferdeschwanz zusammenzufassen, unbedingt schneiden lassen musste. Das würde Black nicht gefallen, aber dem gefielen auch die T-Shirts und die Jeans mit den aufgerissenen Knien nicht, die ich trug. Es schien ihn nicht daran zu hindern, mich betatschen zu wollen. Winning Locks war ein ultramoderner Laden, und in zwei riesigen Schaufenstern hingen eine Menge Seidentücher in den unterschiedlichsten Schattierungen von Türkis, Grün und Kobaltblau. Mr Race hatte im Innern Ventilatoren aufgestellt, damit die Stoffe stetig in Bewegung blieben, sodass es wirkte wie eine Unterwasserwelt. Große Aquarien mit Tropenfischen vollendeten die Illusion. Die Eingangstür bestand aus Mahagoni und Prismenglas, sodass alles drinnen verschwamm. Als wir die Tür aufzogen, ließen laute - und ich meine Kopfschmerz erzeugende, einen in die Knie zwingend laute - Frauenschreie bei uns eine Gänsehaut entstehen. Vorsicht mit den Gläsern. Achtung Trommelfell! Selbst Celine Dion wäre nicht so hoch gekommen. Und dann stammte der Lärm auch noch von Mr Race höchstselbst. Ja, dort drinnen spielte sich eine Szene direkt aus Dantes Inferno ab, Friseur-Version. Bud meldete sich mit einem üblichen offiziellen Gedröhne zu Wort. »Hey, Schluss mit dem schrillen Gekreische, Race. Du klingst ja schlimmer als ein abgestochenes Schwein.« Das schrille Quieken stoppte abrupt und wurde abgelöst durch ein Schluchzen, das zwar ein wenig männlicher klang, aber auch noch nicht unbedingt machohaft. Ich befand, dass dieses Schlamassel Buds Angelegenheit war, also konnte er sich auch selbst darum kümmern. Ich würde herumstehen, Verstärkung spielen, und meine beiden Waffen ziehen, wenn irgendjemand anfinge, mit Bürsten und Pomade nach uns zu werfen. Mr Race atmete schwer, seine Brust hob und senkte sich unter seinem bekannten schwarzen Seidenhemd, und ja, es stand offen und zeigte seine männliche Brust. Dort war kein einziges Härchen zu sehen, aber die konnten auch unter dem großen Silberanhänger verborgen sein, den er trug, etwa im Format eines kleinen Pfannkuchens. Seine dünnen Lippen zitterten wie verrückt. Ich beobachtete und analysierte die Situation, wie man es mir beigebracht hatte. Seine durchgeknallte Kundin hatte ihn auf seinem eigenen, mit rotem Samt überzogenen thronartigen Styling-Stuhl festgebunden. Einer seiner personalisierten schwarzen Plastikumhänge mit Mr Races schwer zu entziffernder Unterschrift in Silber darauf fesselte ihn an die Lehne. Er schien erleichtert zu sein, dass bewaffnete Gesetzeshüter die Sache nun unter Kontrolle bekommen würden. »Bud, Bud, o Gott sei Dank, du bist da. Corkie sagt, sie schüttet mir Bleiche ins Gesicht. Und sie hat noch alles mögliche andere hineingeschüttet, richtig starkes Zeug! Du musst sie aufhalten, Bud. Das macht mir die Haut kaputt, und sieh nur, meine neun und neundreißig warten beide. Das ist alles ganz schrecklich für mich!« Ich schlich mich um Mr Races übergewichtige Nagelspezialistin herum, eine Dame, die man uns noch nicht vorgestellt hatte, deren Namensschild sie jedoch als Flash auswies. Sie trug ein lila-rosa Batikhemd und eine leuchtend gelbe Caprihose und polierte in aller Ruhe die Nägel einer Greisin mit hoch auftoupierten blau schimmernden Haaren, die einen rot-gold glänzenden Trainingsanzug trug. Die alte Dame hatte sich entschlossen, ihre langen Klauen in der Farbe einer sehr reifen Aubergine streichen zu lassen. Alle zehn Nägel waren zudem mit kleinen roten hutförmigen Aufklebern verziert, die sie als Mitglied der berühmten Red Hat Society auswiesen, eine am ganzen See für ihre allmonatlichen wilden Abendessen bei Applebee's bekannten Gruppe, wo alle Mitglieder rote oder lila Federboas trugen und einen Haufen Fotos voneinander anfertigten. Eine gute, freundliche Gruppe, die selten Probleme mit der Polizei bekam.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Eines eisigen Dezembermorgens fand die ältere Tochter endgültig heraus, dass ihre Mutter sie wirklich nicht liebte. Sie war noch nicht einmal elf, als sie an jenem Tag die Augen aufschlug. Das Licht stahl sich durch die Jalousien vor dem Fenster der Dachgaube neben ihr, grau und neblig wie ein Geist. Auf dem Dachboden war es so früh am Morgen eiskalt und sie zitterte und kroch tiefer unter ihre dicke Quiltdecke. In völliger Unkenntnis, dass endlich Weihnachten war, schlief ihre kleine Halbschwester friedlich neben ihr, sie schnarchte leise aufgrund einer verstopften Nase. Sissy war acht Jahre alt und alle waren sich einig, dass sie das süßeste kleine Ding war, so viel hübscher als ihr Bruder oder die ältere Halbschwester. Oh, ja, die süße kleine Sissy war wunderhübsch, das stimmte, und es machte die ältere Schwester krank, wie alle sich über Sissy begeisterten, als wäre sie etwas ganz Besonderes. Und sie taten es, egal wo Mama sie mit hinnahm, Wal-Mart oder McDonald's oder Pizza Hut. Egal wohin sie gingen, es war überall gleich. Alle wollten Sissys Haar streicheln. Die ältere Schwester hasste Sissys blödes seidiges, gelbes Haar. Sie hasste auch alles andere an Sissy, vor allem das kleine unschuldige Lächeln, das in Wahrheit überhaupt nicht unschuldig war. Es schien nie jemandem aufzufallen außer der älteren Schwester, aber der jedes Mal. Die ältere Schwester drehte ihrer oh-so-niedlichen kleinen Schwester den Rücken zu und stemmte sich auf den Ellenbogen hoch. Sie angelte nach der Zugleine und öffnete die Jalousie etwa dreißig Zentimeter, dann schaute sie begeistert nach draußen auf das Winterwunderland. Der Schnee fiel sanft und sie sah zu, wie er heruntersegelte, und plötzlich hierhin oder dahin huschte, wenn eine Windbö kam. Sie hatte es auch letzte Nacht gesehen, zur Schlafenszeit, im Schein der Nachtleuchte neben der alten Scheune. Manchmal mochte sie so viel Kälte nicht, an dem Ort, wo sie mit Mama und ihrem richtigen Daddy gelebt hatte, war es das ganze Jahr über warm gewesen. Jetzt lebte sie an diesem kälteren Ort, seit Mama wieder geheiratet und zwei weitere Kinder namens Sissy und Bubby bekommen hatte. Hier hatte auch niemand einen Akzent, so wie der, den sie von ihrem Daddy übernommen hatte, der aus einem anderen Land stammte, und manchmal machten andere Kinder sich über sie lustig, also versuchte sie, es sich abzugewöhnen. Es hatte fast jeden Tag geschneit, seit die Weihnachtsferien begonnen hatten, und hohe Schneewehen ließen ihren Garten aussehen wie einen riesigen Geburtstagskuchen, der mit einer geschmeidigen, schimmernden Vanillecreme überzogen war. Sie konnte kaum den Schneemann ausmachen, den sie gestern gebaut hatte. Sie sah eine Karottennase und zwei rote Äpfelchen als Augen, aber Mamas rosa-karierte Schürze um seine Hüfte war von Weiß bedeckt. Schnee türmte sich auch auf dem Fenstersims und die Glasscheiben waren mit Eiskristallen bedeckt, die aussahen wie die weiße Spitze, die Mama um das Unterteil von Sissys Miniatur- Weihnachtsbaum gelegt hatte. Die ältere Schwester wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den kleinen Baum, der auf Sissys Nachttisch stand. Winzige weiße Lichterchen blinkten in den dämmrigen Morgen und ließen die Strasskrönchen, die an den Zweigen hingen, wie richtige Diamanten glitzern. Sissy hatte bei Schönheitswettbewerben für Babys und Kleinkinder gewonnen, elf Kronen insgesamt. Jedes Mal, wenn Sissy teilnahm, hatte sie den ersten Platz belegt. Sie bekam auch Pokale, wenn sie gewann, und bunte Schärpen aus rotem und blauem und gelbem und grünem Satin, aber meistens rot. Sissys Daddy hatte im Wohnzimmer eigens Regale aufgestellt, um ihre Preise und Pokale auszustellen. Sissy war auch sein Liebling. Als die Ältere ihren Mut zusammengenommen hatte, um Mama zu fragen, ob sie auch so einen kleinen Baum haben könnte, hatte Mama gesagt, sie sollte sich an Sissys Baum erfreuen und aufhören zu quaken. Wenn sie als Baby auch ein paar Wettbewerbe gewonnen hätte, hätte sie jetzt auch ein paar Krönchen, die man in einen Baum hängen konnte. Danach war die ältere Schwester unter die hintere Veranda gekrabbelt und hatte lange - aber leise - geweint, damit niemand sie hörte. Jetzt wurde sie wütend, weil sie an diesen Tag zurückdachte. Sie runzelte die Stirn und beugte sich dicht an Sissys Ohr, dann flüsterte sie durch zusammengebissene Zähne: »Ich hasse dich mehr als Gift, du blödes kleines Ding, und ich hasse deinen dämlichen Baum, und ich hasse dein Haar, und ich wünschte, du wärst so hässlich wie ich.« Sissy erwachte nicht, sondern vergrub sich nur tiefer unter dem rot-grünen Patchwork-Quilt, den ihre Großmutter Violet ihr Weihnachten vor zwei Jahren mit der Hand genäht hatte, bevor sie einen Schlaganfall hatte und gestorben war. Strähnen von Sissys langem blonden Haar, das genau die Farbe der Sommersonne hatte, lagen ausgebreitet auf dem Kissen. Die ältere Schwester griff nach einer Locke und rieb das weiche Haar zwischen Daumen und Zeigefinger. Mama sagte, ihr eigenes Haar sei zu kraus und mausig, um hübsch auszusehen. Und es hatte auch noch nie jemand darum gebeten, es anfassen zu dürfen. Tief in ihrem Herzen, wo sie all ihre bösen Gedanken trug, schoss eine kontrolliert vor sich hin köchelnde altbekannte Wut hoch, schwarz und schnell und brutal. Sie packte eine Handvoll von Sissys blödem, sonnigen Haar und riss daran, so fest sie konnte. Sissy stieß einen Schrei aus und die ältere Schwester lächelte über den Schmerz ihrer Schwester, dann schlug sie ihre Decke beiseite und sprang aus dem Bett. Sie zog Sissys Quilt herunter. »Sissy, komm! Santa war da!« Sissy schoss im Bett hoch, sie zitterte und rieb sich den Kopf, wo die ältere Schwester an ihrem Haar gerissen hatte. Sie sah sich um, ihre großen porzellanblauen Augen waren noch verschlafen, ihr herzförmiges Gesichtchen verwirrt. Sie sah wunderschön aus, selbst direkt nach dem Aufwachen. Sie hatte letzte Nacht ihre neueste Glitzerkrone aufbehalten, die sie letzte Woche beim Wettbewerb um die Little Miss Snowflake gewonnen hatte, und jetzt suchte sie unter der Decke danach, bis sie sie fand, und setzte sie sich wieder auf den Kopf. »Sissy! Beeil dich, lass uns schauen, was er uns gebracht hat!« Sissy vergaß ihren neuesten Preis und sprang aus dem Bett. Der Hartholzboden war kalt unter ihren nackten Füßen, aber das fiel keiner von ihnen auf, sie schlüpften in ihre Vliesbademäntel und die kuscheligen Disney-World-Hausschuhe und rannten in den Flur. Sie sprangen die schmale Dachtreppe hinunter in den ersten Stock, wo ihr dreijähriger Bruder bereits erwacht war. Seine Höschenwindeln waren höchstwahrscheinlich klatschnass, weil er nachts immer noch hineinpinkelte, aber das war der älteren Schwester egal. Sie hämmerte an die Tür ihrer Mama, bis Mama und ihr Stiefvater öffneten, sie schauten ebenfalls noch verschlafen, ihre Haare waren zerzaust, und sie trugen zueinander passende rot-blau karierte Bademäntel. Ihr Stiefvater hieß Russel und er ging seinen Sohn holen, aber die beiden aufgeregten kleinen Mädchen liefen schon nach unten. Sie blieben an der Kurve der Treppe stehen und schauten nach unten ins Wohnzimmer. Der große Weihnachtsbaum strahlte, er reichte mit seinen blinkenden, leuchtenden bunten Lichtern und dem großen weißen Seidenengel an der Spitze fast bis zur Decke. In seinem warmen Schein konnte die ältere Schwester das Spielzeug sehen, das Santa ihnen dagelassen hatte - zwei Puppen - neue Barbies, noch in den Schachteln! - und ein Fahrrad mit Stützrädern, einen Baseballschläger und -handschuh für Bubby, alles in einer Reihe auf dem braunen Sofa! Und da war es! Das Barbie- Traumhaus, das sie sich gewünscht hatte, seit sie es letzten Sommer bei Wal-Mart gesehen hatte - es stand zusammengebaut vor dem Kamin. Sie rannte den Rest der Treppe hinunter, Sissy dicht auf den Fersen, beide quietschten voller Freude. Aber bevor sie das ersehnte Puppenhaus erreichte, packte Mama sie am Arm und zerrte sie weg von den Schätzen, die im Wohnzimmer auf sie warteten, in den Flur. Sie konnte Sissy über die Barbies jubeln hören, und ihr Stiefvater lachte, als er Bubby nach unten trug. Sie wollte sich losreißen, um zu sehen, was die anderen taten, aber Mama hielt ihren Arm fest umklammert. »Jetzt hör mir gut zu.« Als sie Mamas barsches Flüstern vernahm, schaute die ältere Schwester auf, augenblicklich überkam sie eine kalte, harte Furcht. Sie kannte diesen Tonfall der Stimme nur zu gut, wenn Mama ein wenig verrückt klang und ihre Augen ganz schwarz und beängstigend wurden. So sprach sie nur, wenn der Stiefvater es nicht hören konnte. »Ich konnte dir dieses Jahr nichts besorgen, und ich will ja keine Widerworte deswegen hören. Du weißt ganz genau, dass dein billiger Vater mir keinen verdammten Cent für dich schickt, seit er davongelaufen ist und uns allein gelassen hat, und Russel sagt, er wird dir nichts extra kaufen, nicht wenn du irgendwo einen echten Daddy mit tonnenweise Geld hast.« Die Ältere war so entsetzt, dass sie ihre Mutter bloß anstarren konnte. Mama runzelte die Stirn. »Du weißt, dass Russel mich meine Arbeit im Dollar Store hat aufgeben lassen. Mir fehlt jetzt das Geld, das ich früher für dich ausgeben konnte. Ich habe nur, was er mir für Essen und Kleidung gibt. Und du solltest einfach dankbar sein, dass er dich mit durchfüttert und dir dieselben schönen Kleidungsstücke kauft wie seinen eigenen Kindern.« Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer und senkte die Stimme noch ein wenig mehr. »Es wird sowieso nicht so schlimm sein, du musst einfach nur Sissy und Bubby fragen, ob du mit ihren Sachen spielen kannst. So ist es ab jetzt nun einmal. Du musst es so akzeptieren, wie es ist. Es lässt sich nicht ändern. Das Leben ist kein Zuckerschlecken, das musst du irgendwann sowieso lernen.« Mamas Finger krampften sich noch ein wenig fester um den Unterarm der Älteren. »Aber du fragst sie nett, verstanden, und lass es Russel nicht hören. Und fang jetzt ja nicht an, so albern zu weinen, ich warne dich. Das lasse ich mir nicht bieten, nicht an Weihnachten! Du wirst Weihnachten nicht für Russel und die anderen Kinder ruinieren.« »Aber ich war brav. Ich war viel braver als Sissy und Bubby! Sie sind diejenigen, die unartig waren!« »Dein Daddy liebt dich nicht, sonst hätte er mir etwas Geld für dich geschickt, denn ich habe ihm geschrieben und ihn darum gebeten. Du kannst mir ganz sicher keinen Vorwurf machen. Russel liebt seine Kinder, deswegen kriegen die Geschenke. Und dein richtiger Vater ist auch der Grund, warum du nie irgendeinen Schönheitswettbewerb gewonnen hast. Weil du aussiehst wie er. Es ist eine Schande, dass du all diese Sommersprossen hast, und nicht mein gutes Aussehen. Am besten bist du damit zufrieden, dass Russel dich überhaupt hier bei uns wohnen lässt. Dein Daddy will dich ganz sicher nicht haben. Er hat dich nicht besucht, seit er uns für diese Hure verlassen hat, mit der er es jetzt treibt. Wahrscheinlich werden sie noch ein paar Kinder in die Welt setzen, und nur die interessieren ihn. Die bekommen dann garantiert Geschenke zu Weihnachten - wahrscheinlich auch deine.« Die Ältere schluchzte, und ihre Mama drehte sie herum und verabreichte ihr einen kräftigen Schlag auf den Po. »Sieh nur, wie undankbar du bist. Du hast Glück, dass Russel dich nicht in das Kinderheim auf der anderen Seite der Stadt schickt, wie er es angedroht hat.« Mama stieß sie in Richtung der Treppe. »Wenn du weiter heulst, dann kannst du gleich nach oben gehen, verstanden? Hör auf, sonst kriegst du auch keinen Weihnachtsbraten und Pecan-Pie zum Abendessen.« Aber die Ältere konnte nicht aufhören zu weinen, sie rannte nach oben und warf sich auf ihr Bett. Sie zog sich die Decke über den Kopf, aber sie konnte immer noch Sissys glückliches Lachen die Treppe heraufhallen hören. Nach einer Weile schlich sie sich wieder nach unten und linste durch das Geländer. Sissy und Bubby packten noch immer Geschenke aus. Mama und Russel lachten und umarmten die Kinder, und die Ältere umklammerte das Geländer mit ihren kalten Fingern, bis ihre Knöchel weiß wurden. Und da wusste sie, dass sie sie alle hasste. Sie hasste Russel und sie hasste ihren wahren Vater, und sie hasste Mama. Aber vor allem hasste sie Sissy, weil Sissy ihr Barbie-Traumhaus bekommen hatte. Sie wünschte, sie könnte sie töten, sie könnte sie töten und in den großen Fluss werfen, der sich zwischen den Weiden hindurchwand, wo Mama und Russel sie niemals finden würden. Vielleicht würde sie das tun. Vielleicht würde ihr etwas einfallen, wie sie Sissy töten konnte, so wie die Leute in dem Film, den sich Russel letzte Nacht angesehen hatte. Er hieß Nightmare - Mörderische Träume. Sie würde sich heute wieder auf der Treppe verstecken, wenn er sich noch einen Film ansah, den er geliehen hatte, er hieß Freitag, der 13., und sie hatte gehört, wie er Mama sagte, dass er sogar noch blutiger und schrecklicher als der Alptraum in der Elm Street war. Und dann würde sie wissen, wie sie Sissy umbringen konnte. Sie war größer als Sissy, kräftiger und ihr überlegen. Sie konnte es schaffen. Sie konnte Sissy irgendwo hinbringen, wo niemand sie sehen würde, sie irgendwie töten, und niemand wüsste, was ihr zugestoßen wäre. Die Idee, dass sie sich tatsächlich für immer von Sissy befreien konnte, war ihr noch nie zuvor gekommen, und sie brachte sie zum Lächeln und fühle sich gut an, mächtig und vielversprechend. Sie ging wieder nach oben und legte sich auf ihr Bett, aber jetzt war sie ruhig und still und dachte weiter darüber nach, wie sie Sissy töten würde. Sie wandte den Kopf um, als Russel und Sissy ins Zimmer kamen. Er hielt seine süße kleine Sissy in einem Arm und trug im anderen das Barbie-Traumhaus. Er warf einen Blick zu ihr hinüber, aber lächelte bloß und sprach mit Sissy, während er das Puppenhaus in der Nähe des Heizungsschachtes aufstellte, damit seine geliebte Sissy beim Spielen nicht fror. Reiner Hass stieg in ihrem Hals auf. Nachdem Russel gegangen war, wartete sie, bis er ganz unten war, dann erhob sie sich vom Bett und schloss die Tür. »Sissy, ich will mit dem Barbie-Traumhaus spielen. Du lässt mich doch, oder?« Sie warf einen Blick zur Tür, denn sie wollte nicht, dass Russel oder Mama sie hörten. Sie musste vorsichtig sein. Sissy war deren Liebling, sogar noch mehr als Bubby, und Bubby war der süßeste kleine Junge der Welt mit all seinen blonden kleinen Löckchen. Sie mochte Bubby recht gern, sie würde Bubby nicht umbringen, weil er der Einzige war, den sie von der ganzen Familie überhaupt leiden konnte. Vielleicht könnte sie irgendwann, wenn sie älter und größer und klüger wäre, auch Mama und Russel umbringen. Aber wenn die herausfanden, dass sie Sissy töten wollte, dann würden sie sie in dieses schreckliche Kinderheim schicken. Ihre kleine Schwester schaute auf, die Augen so unschuldig und hübsch und blau. In ihrer Iris befand sich ein Muster, das aussah wie winzige Rosen, die ganz im Kreis herum gingen. »Daddy sagt, ich muss dich nicht mit meinen neuen Sachen spielen lassen, wenn ich nicht will. Sie haben gesagt, du machst alles kaputt und verlierst Sachen, so wie Bubbys Teddybär.« »Das stimmt gar nicht! Du hast ihn in den Müll geworfen, weil Bubby deinen orangenen Wachsstift zerbrochen hat! Ich habe dich gesehen!« Die Ältere warf wieder einen Blick zur Tür, sie wünschte, sie könnte ihre Hände um Sissys Hals legen und zudrücken und zudrücken und zudrücken. Aber sie tat es nicht. Sie biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie schon dachte, sie würden zerplatzen, und sie ballte zudem noch die Fäuste. »Bitte, Sissy, bitte, nur ein paar Minuten.« Die Jüngere starrte sie einen Augenblick an, und dann lächelte sie das wundervolle Lächeln, von dem der Wal-Mart- Fotograf sagte, dass sie damit aussah wie ein zauberhafter kleiner Engel. »Ich lasse dich damit spielen, aber dafür musst du dich von mir schlagen lassen.« »Schlagen lassen? Warum?« »Weil ich will, deswegen. Ich will dich ins Gesicht schlagen, so wie Mama es tut.« Die Ältere warf einen Blick auf das Barbie-Traumhaus mit den rosa-lavendelfarben gestreiften Vorhängen und den winzig kleinen Stühlchen und Tischen und Schlafzimmern. Sissy hatte auch beide Barbies bekommen. Eine war gekleidet wie eine Prinzessin mit einem rosa Paillettenkleid und einer winzigen Diamantenkrone, die andere sah aus wie ein Model in einem kurzen Jeansrock und einem Spaghettitop aus rotem Satin. Sie waren beide wunderschön, ihre Gesichter herzförmig wie Sissys. Die Ältere hatte noch nie eine eigene Barbie gehabt, aber ihre nette Lehrerin, Mrs Dale, ließ sie in der Schule mit einer spielen. »Wie fest willst du mich schlagen?« »Richtig fest. Und du darfst nicht weinen. Wenn du weinst, zählt es nicht.« »Es wird Mama nicht gefallen, wenn du mich schlägst.« Das engelshafte Lächeln breitete sich wieder auf Sissys Gesicht aus, aber ihre Augen lächelten nicht mit. Sie sahen ganz gemein aus. »Mama lässt mich tun, was immer ich will, und du weißt das ganz genau, denn ich bin hübsch und du bist hässlich. Sie hat es selbst gesagt, schon oft. Sie sagt, dass mich alle mein ganzes Leben lang lieben werden, weil ich so hübsch und blond bin. Du hast hässliche Haare und schiefe Zähne wie dein blöder, alter richtiger Papa, und niemand wird dich je so lieben wie Bubby und mich! « Die Ältere wusste, dass es stimmte, was Sissy gesagt hatte. Einmal, als Mama sehr wütend auf sie gewesen war, hatte sie den goldenen Handspiegel von der Kommode genommen und die Ältere hineinsehen lassen, und sie hatte zugeben müssen, wie hässlich sie war. Mama sagte, dass sie sich für sie schämte, und dafür, wie sie aussah. Es sei ihr peinlich, sie mit ihren beiden anderen hübschen Kindern herumschleppen zu müssen. »Okay, du kannst mich schlagen. Aber irgendwann zahle ich es dir heim. Du wirst schon sehen.« Und sie dachte: Oh ja, du wirst schon sehen. Eines Tages zahle ich es dir heim, dann kriegst du die Hauptrolle in Halloween - Die Nacht des Grauens. »Oh, lieber nicht, sonst schicken sie dich in dieses schreckliche Kinderheim, wo sie die Kinder schlagen und ihnen Friskies- Katzenfutter zu essen geben.« Sissy stellte die Barbie hin, der sie ein wunderhübsches weißes Hochzeitskleid aus Spitze angezogen hatte. Lächelnd erhob sie sich und lehnte sich ein wenig nach hinten. Sie hob den Arm und schlug mit der Handfläche so heftig auf die Wange der Älteren, dass diese für einen Moment aus dem Gleichgewicht kam. Sie kippte zur Seite und rieb sich die vor Schmerz brennende Wange. Mit Mühe unterdrückte sie ihre Tränen. »Du weinst nicht, oder? Du darfst nicht weinen, schon vergessen? « »Ich weine nicht, wirklich nicht!« »Okay. Du kannst mit meinem Barbie-Traumhaus spielen, bis ich Schluss sage. Aber mach es ja nicht kaputt.« Die Ältere rieb sich noch immer die gerötete Wange und krabbelte dann auf Händen und Knien zu dem großen Puppenhaus und nahm vorsichtig eine winzige Couch hoch. Sie war mit lila Seide bezogen und hatte kleine schwarze Troddeln auf der Rückseite. Es lagen sogar winzig kleine schwarze Kissen an beiden Enden. Ihr Gesicht brannte immer noch wie Feuer, aber das war es wert gewesen. Sie hasste Sissy. Sissy bekam niemals Ärger. Selbst Bubby wurde manchmal angeschrien und auf den Po geschlagen, bloß weil er nicht Sissy war. Eines Tages würde Sissy dafür zahlen, ihr ins Gesicht geschlagen zu haben, eines Tages würde Mama zahlen und Russel würde zahlen, und vor allem würde ihr hässlicher wahrer Vater dafür zahlen, Mama kein Geld geschickt zu haben, um ihr Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Wartet nur ab. Sie würde sie alle mit scharfen Messern töten, wie die an Freddys Handschuhen, wenn er die älteren Teenager in der Elm Street abschlachtete.
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Ich drehte den Zündschlüssel, ließ meinen schwarzen Ford Explorer an und setzte rückwärts aus meiner Parklücke vor dem Canton County Sheriff 's Department. Es war ein langweiliger, ereignisloser, aber wundervoller Tag Anfang April am Ozarks-See mitten in Missouri, und mein Partner und ich hatten entschieden, dass wir es bei einem unserer berühmten Wettschießen mal so richtig krachen lassen würden. Jetzt waren wir unterwegs zum Schießstand des Departments draußen in der Wildnis nördlich des Sees - der Gewinner spendierte dem Verlierer auf der Rückfahrt in die Stadt dann das extravaganteste Menü bei McDonald's. Weil wir eben beide so großzügig sind. Nicht, dass ich mich beschweren müsste, wie selten es hier kracht. Vor fast vier Monaten hatten wir einen Fall direkt aus der Hölle, eine ziemlich haarige Angelegenheit mit ein paar mörderischen Irren, die auf alle möglichen ekligen Giftbiester standen. Bud ist dabei fast draufgegangen, und ich habe eine ziemlich bemerkenswerte Narbe am Bein vom Biss einer braunen Einsiedlerspinne, ein Vieh, das mir auch heute noch einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Aber zu mir nach Hause kommen regelmäßig die Kammerjäger, in meinem Explorer habe ich eine Sprühdose Ungeziefervernichtungsmittel, und seit Weihnachten habe ich keine dieser Vielbeiner mehr zu Gesicht bekommen. Ich denke auch nicht mehr allzu oft an letzten Sommer, als ein anderer Fall ziemlich unangenehm wurde, oder zumindest versuche ich, nicht daran zu denken. Unglücklicherweise machen meine Träume nicht immer mit. Alpträume habe ich durchaus, oft und scheußlich. Unglaublich, dass ich hoffte, dieser Dorfjob würde mir nach meiner Zeit beim LAPD etwas Ruhe und Zeit zum Durchatmen verschaffen. Ha ha, Grube selbst gegraben. »Sag mal, Morgan, wie ist die .38er von Harve, mit der du rumballerst? Ganz gut?« Das war mein eben erwähnter Partner, Detective Budweiser D. Davis, den unter Androhung der Todesstrafe alle, die ihn kennen, Bud zu nennen haben. Er hing auf dem Beifahrersitz herum, bekleidet mit einem schlichten schwarzen Polizei-TShirt und einer Bootcut-Levi's. Normalerweise brezelt er sich immer auf mit Designeranzügen und gestärkten Hemden, Armani und so ein Zeug. Aber immerhin: Die Ärmel seines T-Shirts hatten Bügelfalten, klar, der Typ ist echt krank in dieser Hinsicht. Ich warf ihm einen Blick zu, als ich nach rechts abbog, schaukelte den Geländewagen auf den Highway 54, und bretterte in Richtung der nächstgelegenen Brücke. Bud war aus Atlanta, sah aus wie Rhett Butler und verfügte über einen tollen Akzent aus Georgia und bemerkenswerte graue Augen - insgesamt eine wahre Freude für die Ladys. Und er wusste das auch. Ich sagte: »Schießt gut. Ich nehm sie nie ab. Das habe ich auf die harte Tour gelernt.« Ich konnte auch jetzt das Gewicht der .38er spüren, die unter meiner eigenen Bootcut-Levi's an meinem rechten Knöchel klebte, knapp oberhalb meiner schwarzorangenen Nike-Stiefel. Ja, mein bester Freund und ehemaliger Partner draußen in L. A., Harve Lester, hatte mir zu Weihnachten diese süße kleine .38er Smith & Wesson spendiert, mit einem erstklassigen braunen ledernen Knöchelholster, und die war mir sofort gut zupass gekommen. Genau genommen hatte sie mir das Leben gerettet, als ich an einem ziemlich gruseligen, dunklen Ort in der Tinte gesessen hatte, also nehme ich sie nicht mehr ab, außer um zu duschen und zu schlafen, und selbst dann bleibt sie in der Nähe. Auch meine gute alte Glock 9 mm Halbautomatik lege ich nur selten zur Seite. Die steckt schön in ihrem Schulterholster unter meinem linken Arm und wartet bloß auf Ärger. Heute musste sie nicht mehr lange warten. Buds Handy meldete sich mit einer nervtötenden Klimperversion von Beethovens Fünfter, da kann er manchmal affig sein, aber ich wette, er hatte seinen bisherigen Klingelton »Friends in Low Places«, der mir viel lieber gewesen war, nur ausgewechselt, um seine Freundin Brianna Swensen zu beeindrucken. Er fischte das Handy aus der Tasche seiner schwarzen Windjacke, schaute auf das Display, und an seinem klebrigen selbstzufriedenen Grinsen konnte ich sofort erkennen, wer anrief. »Oh, sieht so aus, als würde Brianna mich vermissen, die Arme.« Brianna war seine neueste Eroberung, und er eroberte sie gern und häufig. Ich hatte sie anfangs Finn genannt, weil sie aussah, als hätte sie Miss Finnland beim Miss-Universum- Wettbewerb sein können, überhaupt hätte sie den ganzen galaktischen Humbug mühelos gewinnen können, wenn es nach mir ging. Sie kennen den Typ - lange, glatte Beine, von Natur aus blondes, wallendes Haar, ein Gesicht wie eine Schaufensterpuppe vom Rodeo Drive, die nach einer größeren, schlankeren Jessica Simpson geformt ist. Ja, Bud lungerte im Moment meistens in den Hallen Walhallas herum, grinste und trommelte sich mit den Fäusten auf die Brust. Er meldete sich am Telefon wie ein echter Vollidiot. »Hi, Baby, du fehlst mir auch.« Kotz. Und noch mal kotz. Ich versuchte, mich auf das Fahren zu konzentrieren. Genau genommen wusste ich, wie er sich fühlte, samt blödem Grinsen und so. Ich selber grinste in letzter Zeit oft ähnlich, seit ich mich mit dem berühmten Nicholas Black eingelassen hatte, einem ziemlich toll aussehenden Psychiater der Stars, der wiederum mich gern mal eroberte. Wenn wir zusammen ins Bett hopsten, ließen wir es auch richtig krachen. Ich fuhr über die Brücke und bewunderte den spektakulären Ausblick auf den Ozarks-See zu meiner Linken. Das Wasser glitzerte und glimmerte wie eine mit Diamanten besetzte Decke unter dem wolkenlos blauen Himmel. Es war ein wundervoller, sonniger Morgen, einigermaßen warm, aber die Luft war trotzdem frisch. Überall begannen Blumen zu sprießen, Azaleen, Narzissen, Tulpen, Hartriegel. Da wollte sogar ich losziehen und mir eine Gartenschaufel kaufen. Aber seit Neujahr hatte in unserem Gebiet keiner mehr jemanden umgebracht, und wir, die beiden einzigen Detectives der hiesigen Mordkommission, fühlten uns ziemlich prima in diesem kleinen, sauberen Eckchen der Welt. Mit häuslicher Gewalt und Einbrüchen und Ladendiebstählen kamen wir klar, bis an die Zähne bewaffnet, wie wir waren. Null problemo. Bud sagte: »Was?« Aufgrund seines besorgten Tonfalls warf ich ihm einen fragenden Blick zu. Er runzelte die Stirn. Oh-oh. Ärger. Vielleicht war ich zu voreilig gewesen. Dann sagte er: »Du machst Witze.« Nicht, dass ich ihn belauschte oder so - dann lachte er, wurde aber ziemlich schnell wieder still. »Okay, verstanden. Ich bin mit Claire unterwegs. Wir kommen gleich. Beruhig die anderen.« »Was?«, fragte ich, schließlich wollte ich keine Zeit damit verschwenden, allzu lange selber nachzudenken, was los war, und hoffte durchaus auch auf ein bisschen Aufregung, um uns in Schwung zu halten. »Und was soll das heißen: ›Beruhig die anderen‹?« »In Mr Races Schönheitssalon gibt's ein Problem. Und Bri steckt mittendrin.« Ich warf ihm einen Blick zu, Sie wissen schon, was für einen ich meine. Ich sagte: »Was ist denn los? Hat jemand den falschen Nagellack drauf und deswegen angefangen rumzuballern? « »Hey, Morgan, reg dich ab, ja? Es ist ernst. Bri ist echt in Schwierigkeiten.« »Das ist der Laden, zu dem du mir vorletzte Weihnachten den Zwölf-Monats-Gutschein geschenkt hast, oder? Für Haare und Gesichtsmasken und Pediküre, so was?« Den ich nur einmal benutzt hatte. Ich konnte es einfach nicht aushalten, fünfzehn Mal während eines Haarschnitts Süße genannt zu werden. »Ja, und Mr Race schneidet mir die Haare. Er ist der beste Friseur weit und breit.« Aha. Ich konnte mich gut an ihn erinnern. Mr Race konnte man auch nicht leicht vergessen. Ein bisschen affig, wenn Sie verstehen, was ich meine, hochgegelte blonde Strähnchen, ein schwarzes Seidenhemd, das ganz toll halb aufgeknüpft war. Aber Bud hatte eben einen großartigen Geschmack und legte wert auf makellose Haarkultur. Ich hätte etwas von ihm lernen können, wenn es mich interessieren würde, wie ich aussehe. »Okay, Bud, schon gut. Also, was ist los?« »Du wirst lachen.« »Nein, werde ich nicht.« »Er wurde von einer gereizten Kundin als Geisel genommen, und Brianna weiß nicht, was sie machen soll.« Ein Lachen kitzelte in meinem Innersten, aber ich zwang mich, nicht nachzugeben. Versprochen ist versprochen. Immerhin genoss ich das Gefühl ein paar Sekunden. »Es geht also um Nagellack? Was, hat jemand Feuerwehrrot drauf, statt Tomatensuppenrot, und ist durchgeknallt?« Bud schüttelte den Kopf, während ich in die nächste asphaltierte Straße zum See bog, wendete, und dann zurück in die Richtung fuhr, aus der wir gekommen waren. Hey, Notfall war Notfall. Die ganze Gesetzestreue dieser Gegend wurde ohnehin langsam langweilig. »Offenbar ist das Mädel Teilnehmerin beim Spring-Dogwood- Schönheitswettbewerb, den Nick drüben in der Cedar Bend Lodge abhält, und Mr Race hat ihr Haar mit seinem neuen Glätteisen verbrannt. Sie ist voll ausgeflippt und macht ihm die Hölle heiß.« »O du meine Güte, Bud, das meinst du doch nicht ernst.« »Jetzt hör mir doch mal zu, Claire. Er soll Bris Schwester die Haare für die Generalprobe zum Wettbewerb färben, und wegen dieser Sache verspäten sich alle Termine seiner anderen Kunden.« »O nein, jetzt verstehe ich, warum es so dringend ist. Am besten rufen wir Verstärkung. Und das Sondereinsatzkommando Kansas City vielleicht auch noch? Wie gut, dass ich beide Waffen geladen und einsatzbereit habe.« »Sehr lustig.« Meine Güte, was manche Männer aber auch für hübsche, langweilige Freundinnen tun, die aussehen, als kämen sie aus Skandinavien. Also wirklich. Aber ich muss zugeben, die Sache klang durchaus interessant, jedenfalls spannender als alles andere, was wir in den letzten paar Monaten gehabt hatten. Und so lange keine Spinnennester oder abgetrennte Köpfe dabei waren, meinetwegen. Ich erschauerte bei diesen düsteren Gedanken und verscheuchte dann einige ziemlich ekelerregende Bilder aus meinem Geist. Ich fuhr zügig zu MR RACE'S WINNING LOCKS, THE SALON AND SPA FOR THE DISCERNING. Ja, so hieß der Laden wirklich. Ja, eigenartig. Aber es war wirklich der beste Schönheitssalon am See, untergebracht in einem luxuriösen Gebäude in der Innenstadt Camdentons, nur ein paar Häuser entfernt vom Sheriff 's Department. Als wir an unserem Büro vorbeifuhren, hoffte ich, dass die Kollegen nicht herausfanden, wohin wir unterwegs waren und warum. Ich konnte sie bereits lachen und zackig Kämme aus ihren Holstern ziehen hören. Ich fuhr auf einen Parkplatz, der knallvoll war mit kleinen Angebersportwagen und riesigen glänzenden Geländewagen, von denen die meisten mit paillettenbesetzten Abendkleidern vollgestopft waren, die schön ordentlich auf den Rücksitzen lagen, und glänzenden Krönchen, die an den Rückspiegeln baumelten. Mr Races Kundschaft waren offensichtlich vor allem Mädchen mit Krönchen. Kein Wunder, dass Bud sich hier die Haare schneiden ließ. Ich hingegen frequentierte Cecil's Barber Shop for Men in Osage Beach. Cecil betrachtete mich trotz meines weiblichen Geschlechts als Ehrenmitglied, was mich daran erinnerte, dass ich mein Haar, wenn es lang genug war, es zu einem Pferdeschwanz zusammenzufassen, unbedingt schneiden lassen musste. Das würde Black nicht gefallen, aber dem gefielen auch die T-Shirts und die Jeans mit den aufgerissenen Knien nicht, die ich trug. Es schien ihn nicht daran zu hindern, mich betatschen zu wollen. Winning Locks war ein ultramoderner Laden, und in zwei riesigen Schaufenstern hingen eine Menge Seidentücher in den unterschiedlichsten Schattierungen von Türkis, Grün und Kobaltblau. Mr Race hatte im Innern Ventilatoren aufgestellt, damit die Stoffe stetig in Bewegung blieben, sodass es wirkte wie eine Unterwasserwelt. Große Aquarien mit Tropenfischen vollendeten die Illusion. Die Eingangstür bestand aus Mahagoni und Prismenglas, sodass alles drinnen verschwamm. Als wir die Tür aufzogen, ließen laute - und ich meine Kopfschmerz erzeugende, einen in die Knie zwingend laute - Frauenschreie bei uns eine Gänsehaut entstehen. Vorsicht mit den Gläsern. Achtung Trommelfell! Selbst Celine Dion wäre nicht so hoch gekommen. Und dann stammte der Lärm auch noch von Mr Race höchstselbst. Ja, dort drinnen spielte sich eine Szene direkt aus Dantes Inferno ab, Friseur-Version. Bud meldete sich mit einem üblichen offiziellen Gedröhne zu Wort. »Hey, Schluss mit dem schrillen Gekreische, Race. Du klingst ja schlimmer als ein abgestochenes Schwein.« Das schrille Quieken stoppte abrupt und wurde abgelöst durch ein Schluchzen, das zwar ein wenig männlicher klang, aber auch noch nicht unbedingt machohaft. Ich befand, dass dieses Schlamassel Buds Angelegenheit war, also konnte er sich auch selbst darum kümmern. Ich würde herumstehen, Verstärkung spielen, und meine beiden Waffen ziehen, wenn irgendjemand anfinge, mit Bürsten und Pomade nach uns zu werfen. Mr Race atmete schwer, seine Brust hob und senkte sich unter seinem bekannten schwarzen Seidenhemd, und ja, es stand offen und zeigte seine männliche Brust. Dort war kein einziges Härchen zu sehen, aber die konnten auch unter dem großen Silberanhänger verborgen sein, den er trug, etwa im Format eines kleinen Pfannkuchens. Seine dünnen Lippen zitterten wie verrückt. Ich beobachtete und analysierte die Situation, wie man es mir beigebracht hatte. Seine durchgeknallte Kundin hatte ihn auf seinem eigenen, mit rotem Samt überzogenen thronartigen Styling-Stuhl festgebunden. Einer seiner personalisierten schwarzen Plastikumhänge mit Mr Races schwer zu entziffernder Unterschrift in Silber darauf fesselte ihn an die Lehne. Er schien erleichtert zu sein, dass bewaffnete Gesetzeshüter die Sache nun unter Kontrolle bekommen würden. »Bud, Bud, o Gott sei Dank, du bist da. Corkie sagt, sie schüttet mir Bleiche ins Gesicht. Und sie hat noch alles mögliche andere hineingeschüttet, richtig starkes Zeug! Du musst sie aufhalten, Bud. Das macht mir die Haut kaputt, und sieh nur, meine neun und neundreißig warten beide. Das ist alles ganz schrecklich für mich!« Ich schlich mich um Mr Races übergewichtige Nagelspezialistin herum, eine Dame, die man uns noch nicht vorgestellt hatte, deren Namensschild sie jedoch als Flash auswies. Sie trug ein lila-rosa Batikhemd und eine leuchtend gelbe Caprihose und polierte in aller Ruhe die Nägel einer Greisin mit hoch auftoupierten blau schimmernden Haaren, die einen rot-gold glänzenden Trainingsanzug trug. Die alte Dame hatte sich entschlossen, ihre langen Klauen in der Farbe einer sehr reifen Aubergine streichen zu lassen. Alle zehn Nägel waren zudem mit kleinen roten hutförmigen Aufklebern verziert, die sie als Mitglied der berühmten Red Hat Society auswiesen, eine am ganzen See für ihre allmonatlichen wilden Abendessen bei Applebee's bekannten Gruppe, wo alle Mitglieder rote oder lila Federboas trugen und einen Haufen Fotos voneinander anfertigten. Eine gute, freundliche Gruppe, die selten Probleme mit der Polizei bekam.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Linda Ladd
Linda Ladd ist die erfolgreiche Autorin nervenaufreibender Psychothriller. Seit 1984 hat sie 21 Romane veröffentlicht, die Gesamtauflage ihrer Titel umfasst mehr als drei Millionen Exemplare. Linda Ladd hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Missouri.Bibliographische Angaben
- Autor: Linda Ladd
- 2013, 325 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3863657098
- ISBN-13: 9783863657093
- Erscheinungsdatum: 19.02.2013
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