Blutfetisch (ePub)
Tally-Whyte-Reihe Band 4
Ein sensationeller Fund begeistert Archäologen: ein menschlicher Schädel in einem über 800 Jahre alten Tontopf der Anasazi-Indianer. Doch als Polizei-Psychologin Tally Whyte das rekonstruierte Gesicht der Toten sieht, erschrickt sie: Denn sie kennt diese...
- Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenloser tolino webreader
Produktdetails
Produktinformationen zu „Blutfetisch (ePub)“
Ein sensationeller Fund begeistert Archäologen: ein menschlicher Schädel in einem über 800 Jahre alten Tontopf der Anasazi-Indianer. Doch als Polizei-Psychologin Tally Whyte das rekonstruierte Gesicht der Toten sieht, erschrickt sie: Denn sie kennt diese Frau, eine Kunsthändlerin, die seit einiger Zeit verschwunden ist.
Tallys Nachforschungen führen sie tief in die Geheimnisse einer alten Kultur - mörderische Geheimnisse
Tallys Nachforschungen führen sie tief in die Geheimnisse einer alten Kultur - mörderische Geheimnisse
Lese-Probe zu „Blutfetisch (ePub)“
Blutfetisch von Vicki Stiefel1
... mehr
Seit Vedas Tod waren mehr als 365 Tage vergangen. Über ein Jahr war verfl ossen, seit meine Pflegemutter, die einzige Mutter, die ich jemals gekannt hatte, von diesem Erdball verschwunden war. Noch immer war mir ihr Tod unbegreiflich. Völlig unbegreiflich.
Wohin war sie entschwunden? Wie konnte eine so überaus vitale Frau plötzlich nicht mehr da sein ?
Ein Freund sagte, Energie löse sich nie auf, sie nehme nur eine andere Form an. Der Gedanke gefiel mir. Zumindest an guten Tagen glaubte ich daran.
Im letzten Jahr hatte ich meinen Job beim Massachusetts Grief Assistance Program aufgegeben, das ich selbst gegründet hatte. Ich ignorierte das Angebot, in New Mexico ein Projekt zu starten, bei dem es ebenfalls um die Betreuung der Angehörigen von Mordopfern gehen sollte. Eine ähnliche Position im Bundesstaat Maine lehnte ich auch ab.
Stattdessen nahm ich eine Auszeit.
Verstehe, werden Sie jetzt sagen, die Trauer war so groß, dass die Depression Sie gelähmt hat.
Irrtum.
Veda hatte mir Grundstücke und eine beträchtliche Summe Geld vermacht. Ich reiste nach Griechenland und Neuseeland, wo ich mir ein Auto mietete und herumfuhr. Bei mir war Penny, mein treuer ehemaliger Polizeihund.
Tauchen. Fallschirmspringen. Parasailing. Segeln. Tanzen. Angeln. Skeetschießen.
Mit diesen Vergnügungen war es jetzt vorbei. Ich suchte nach einem anständigen Haus in Boston, mein Erbe machte es möglich. Fürs Erste lebte ich noch in meiner Mietwohnung im Erdgeschoss eines Reihenhauses im South End. Die Wohnung war hübsch, sogar sehr hübsch. Aber zum Teufel, warum nicht? Gönn dir das Vergnügen, hau den schnöden Mammon auf den Kopf. Genieße das Leben.
Keine Morde mehr. Keine weinenden Angehörigen. Keine rachsüchtigen Ehemänner. Keine Journalisten auf der Jagd nach blutrünstigen Storys. Niemand, der die Leiche eines Verwandten identifi zieren musste. Keine Cops, keine Killer, keine Anwälte, keine Vergewaltiger, keine außer Rand und Band geratenen Verrückten. Ein Leben ohne diesen stets nervenden Fogarty, den kommissarischen Chef der Rechtsmedizin. Nichts mehr von alldem.
Wie hätte ich mein neues Leben nicht lieben können? Leider liebte ich es nicht. Nachdem ich zwölf Jahre lang Angehörige von Mordopfern betreut hatte, empfand ich nun eine große Leere und langweilte mich. Es ist schwer, damit klarzukommen. Gewöhnliche Menschen kennen diese Probleme nicht. Und ich? Es kam mir absurd vor, ein Leben führen zu sollen, das andere als »normal« bezeichnet hätten.
Ich hätte mein neues Leben lieben sollen. Das Problem war nur, dass mir mein altes Leben fehlte. In jeder Hinsicht.
Auch wenn es chaotisch gewesen war.
Ich musste mich der Realität stellen, einer zutiefst verstörenden Realität. Ich war kein sorgloser Mensch.
Ich konnte mich nicht zwischen Maine und New Mexico entscheiden. Penny konnte mir nicht helfen, und ich hatte keine besondere Lust, andere zu fragen.
Im Moment war ich in Harrisville in New Hampshire, in der Nähe des Tatorts meines letzten Falles, in der Gesellschaft von Charley Paradise und seiner Frau Laura. Ein Geiger fiedelte, die Gäste tanzten.
Wie ich. Ich tanzte, bis mir der Schweiß den Körper hinunter lief. Wenn ich schwitzte, musste ich nicht viel nachdenken. Ende September konnte der Altweibersommer selbst in New Hampshire noch mal richtig heiß werden.
Mir gegenüber tanzte Charley. Er hatte einen dichten schwarzen Bart und trug ein Flanellhemd und rote Hosenträger. Er grinste mich an, als die Schritte des hier üblichen Tanzes sich immer mehr beschleunigten. Er wollte, dass ich mithielt, und ich tat es. Die Musik wurde lauter, das Tempo immer schneller, und ich geriet aus der Puste. Charley fuchtelte mit den Armen. Ich blickte zu Laura hinüber. Sie trug eine Baumwollbluse und einen Faltenrock und zwinkerte mir zu.
Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte. Teufel, ich hatte meinen Spaß.
Und dann, als Charley meine Hände packte und mich immer wieder herumwirbelte, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass etwas geschehen würde, etwas Bedeutsames. Ich war mir sicher, dass mein stressfreies Leben bald zu Ende gehen würde.
Der Grund war mir unklar, aber es jagte mir eine Riesenangst ein.
Es war eine Wohltätigkeitsveranstaltung, und wir tranken Punschbowle zu fünfzig Cent pro Becher. Außerdem gab es frisch gepressten Zitronensaft. Göttlich.
»Penny braucht einen Freund«, sagte Charley.
»Nein«, antwortete ich. »Braucht sie nicht. Ich bin ihr Freund.«
»Du solltest dir diese Welpen ansehen«, sagte Laura. »Du musst sie sehen«, fügte Charley hinzu.
Ich war nicht dumm. Sie wollten mir einen dieser Welpen aufschwatzen, aber ich würde mich nicht darauf einlassen. »Ich werde sie mir nicht ansehen und will nichts mehr davon hören. Für mich existieren diese Welpen nicht.«
»Was für ein Früchtchen.« Charley füllte unsere Becher nach und bot dann an, einen Schuss Wodka aus seinem Flachmann hinzuzugeben.
»Für mich nicht«, sagte ich. »Trotzdem danke.« Ich leerte meinen Becher. »Basset-Welpen sind die süßesten Geschöpfe überhaupt. Wenn ich einen sehe, ist es um mich geschehen.«
Das Lachen der beiden folgte mir, als ich den Weg zur Toilette einschlug.
Ich warf einen Blick in den Spiegel und war überrascht, wie lang meine blonden Locken waren. Die reinste Medusenmähne. Ich wusch mir das Gesicht, und als ich mir die Hände abtrocknete, piepte mein Handy.
Ich klappte es auf. »Gert?«
»Hi, Tal! Wie geht's?«
Gerts Brooklyn-Akzent war so stark, dass sie manchmal kaum zu verstehen war.
»Du solltest mal etwas deutlicher sprechen. Also, was gibt's?« »Du hörst dich nicht besonders glücklich an. Alles in Ordnung?«
»Ich fühle mich großartig. Ich habe gerade getanzt.« Die Geige war selbst hier auf der Toilette noch zu hören, und ich schlug mit einem Fuß den Takt. »Ich hab nicht viel Zeit.«
»Hast du einen Kerl dabei?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Nein, Gert. Komm zur Sache. Hier braucht man beim Tanzen nicht mal einen Partner.«
Sie schnaubte. »Und das gefällt dir.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Vergiss es. Hier gibt's sensationelle Neuigkeiten. Sie haben gerade bekannt gegeben, wer der neue Boss ist.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich wusste, was folgen würde, und wollte es nicht hören. »Besten Dank für deinen Anruf, Honey. Mir war klar, dass Fogarty das Rennen machen würde. Was soll ich sagen? Es stinkt mir. Ich muss Schluss machen.«
»Moment. Es ist nicht dieser Dreckskerl von Fogarty.«
Zwischen mir und Tom Fogarty hatte es jahrelang nur Streit und heftige Wortgefechte gegeben. Ich war mir sicher gewesen, dass er vom kommissarischen Leiter zum Chef der Gerichtsmedizin aufsteigen würde. Zugegeben, gegen seine fachliche Kompetenz war nichts einzuwenden. »Jetzt habe ich fast schon Schuldgefühle, dass Fogarty es nicht geschafft hat.«
»Nicht nötig«, sagte Gert. »Er bleibt uns erhalten und kann dich weiter nerven. Unsere neue Chefin sagt, sie kennt dich.« Ich lehnte mich an die Wand. »Eine Frau ?«
»Sie heißt Adeline Morgridge. Sie kannte Veda, stimmt's?«
Addy Morgridge. Eine alte Freundin von Veda und eine außerordentlich kompetente Rechtsmedizinerin. Veda. Ich war immer noch nicht darüber hinweg. Sie fehlte mir jeden Tag.
»Addy Morgridge ist eine großartige Frau. Einfach großartig.« Warum machte mich die Nachricht trotzdem nicht richtig froh?
»Ja, Addy war eine alte Freundin von Veda«, fügte ich zögernd hinzu.
»Sie will dich unverzüglich sehen«, sagte Gert. »Morgen früh. Sie hat ein Problem und braucht dich. Dich, Tal.«
Na großartig. Meine Vorahnung hatte mich nicht getrogen. Ich war nicht scharf darauf zu erfahren, was sich dahinter verbarg.
Am nächsten Morgen saß ich auf der kleinen Terrasse hinter meiner Wohnung, von der man auf einen kleinen Hof und einen noch kleineren Garten blickte. Der Garten mochte winzig sein, doch ich liebte dieses Grün mitten in einer Großstadt wie Boston. Neben mir hockte auf den Hinterbeinen meine große Deutsche Schäferhündin, und Penny hatte die Ohren aufgestellt, als wüsste sie, dass etwas passieren würde.
Ich trank Kaffee und genoss den warmen Wind, mit dem sich der Sommer verabschiedete. Nur zu bald würde ein feuchter und kühler Herbst beginnen.
Ich war unentschlossen, wusste nicht, ob ich in mein früheres Leben zurückkehren sollte. Addy wollte mich sehen. Gut möglich, dass sie nun die Chefin der Rechtsmedizin für ganz Massachusetts war, doch das hieß nicht, dass ich ihr verpflichtet war. Ich war nichts und niemandem verpflichtet.
Mein Gott, das klang sinnlos.
Seit so langer Zeit, scheinbar seit einer Ewigkeit, war ich die Leiterin des Massachusetts Grief Assistance Program gewesen, das ich auch selbst gegründet hatte. Zwar hatte das MGAP Räume beim OCME gemietet, dem Offi ce of the Chief Medical Examiner, aber wir waren eine unabhängige Nonprofi torganisation. Unsere Aufgabe war es, den Angehörigen von Mordopfern beizustehen. Wir versuchten, ihnen über den schrecklichen Verlust hinwegzuhelfen, und betreuten sie, oft während vieler, vieler Jahre, und wir berieten sie auch, wenn sie Probleme mit juristischen Fragen, den Gerichten, der Polizei oder der Presse hatten.
Wir leisteten gute Arbeit, und das war eine Entschädigung für die Trauer, mit der wir Tag für Tag konfrontiert waren.
In den gesamten Vereinigten Staaten gab es keine sechzig professionellen Berater für die Angehörigen von Mordopfern. Mich hatte es immer mit Stolz erfüllt, zu ihnen zu gehören. Zumindest in meinem früheren Leben.
Nachdem mein Vater durch einen Mord ums Leben gekommen war, hatte mich meine Pflegemutter Dr. Veda Barrow angeregt, diesen Beruf zu ergreifen. Sie war schon seit Langem die Chefin des Instituts für Rechtsmedizin im Bundesstaat Massachusetts. Ihr Tod hatte mein Leben aus den Fugen geraten lassen.
Wenn ich heute zurückkehrte in den »Kummerladen« - so wurde das MGAP unter Kollegen genannt -, würde ich Kranak, Fogarty, Didi und all den anderen begegnen, mit denen ich so viele Jahre zusammengearbeitet hatte. Ich würde mit alten Gefühlen konfrontiert sein, positiven wie negativen, doch darum ging es nicht, überhaupt nicht. Ich würde mich mit Vedas Abwesenheit auseinandersetzen müssen, mit der Leere. Dass sie nicht mehr da war, das war am schlimmsten.
Veda hatte Adeline Morgridge »Addy M.« genannt. Sie hatte sie sehr gemocht. Wenn ich darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass Addy und Veda sich sehr ähnlich waren. Auch wenn Addy noch tougher war, noch pragmatischer.
Ich würde es nicht ertragen können.
Ich klappte mein Handy auf, um Gert zu sagen, dass ich nicht kommen würde, doch in diesem Moment klingelte es immer wieder an der Haustür. Selbst auf drei Beinen wäre Penny schneller da gewesen als ich.
Als ich durch den Spion blickte, sah ich ... Verdammt. »Ich bin nicht da«, schrie ich.
»Doch, bist du«, antwortete Gert. »Komm schon, der Taxameter läuft weiter. Beeil dich.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ eine Kaugummiblase platzen. Sie lächelte nicht.
Ich öffnete die Tür. »Verdammt, Gert!«
Sie winkte mit einem Finger, dessen künstlicher Nagel in Erinnerung an den 11. September mit den Stars and Stripes geschmückt war. »Du kommst mit, ich weiß es.«
»Dies ist keine Kapitulation, sondern nur eine kleine Konzession«, rief ich, während ich nach meiner Handtasche suchte. Ich zog meine Sandalen an und legte Penny an die Leine. »Auf geht's.«
Gert ließ eine weitere Kaugummiblase platzen. Jetzt lächelte sie.
Ich saß vor Addy Morgridges Schreibtisch, in jenem Büro, in dem ich einst unzählige Male Veda getroffen hatte. Außer den Bildern an den Wänden hatte Addy fast nichts verändert. Der Teppich, der Schreibtisch, die Vorhänge, alles wie früher. Ich hatte gegen die kleinen Veränderungen nichts einzuwenden. Veda war tot, sie war hier so wenig anwesend wie in ihrem Haus in Lincoln.
Und doch war sie bei mir, jeden Tag, jede Minute.
Addy reichte mir eine Tasse Kaffee.
»Duftet göttlich«, sagte ich.
Sie lächelte, und ihre sanften braunen Augen schauten mich freundlich an. Sie hatte Ähnlichkeit mit der wundervollen Schauspielerin Alfre Woodard, wirkte weise und lebensklug.
»Der Kaffee ist göttlich«, sagte sie. »Schließlich habe ich ihn selbst aufgebrüht. Ich würde dir nichts von Starbucks anbieten.«
Ich lächelte. »So kennt man dich, Addy. Wie fühlt man sich nach der Beförderung?«
Sie beugte sich vor. »Gut. Verdammt gut. Es war ein langer Weg, Tally.«
»Ich weiß, Addy.«
»Dass ich jetzt die Chefin bin, bedeutet mir eine Menge.« Ich nickte. »Auch das weiß ich. Fogarty ist deine rechte Hand?«
»Ja, wie bei Veda.« Sie ordnete ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch und tippte auf einen Aktenordner. »Und deshalb brauche ich dich hier.«
»Was ?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann und will nicht.«
Sie kniff die Lippen zusammen. »Wir brauchen hier eine ausgewogene Atmosphäre, Tally. Wir benötigen deine sichere Hand, deine Intuition.«
Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Meine liebe ... «
Das Klingeln des Telefons unterbrach uns. Addy hob den Hörer ab. »Ich habe doch gesagt, dass ich im Moment nicht erreichbar bin.« Sie lauschte, nickte und hob dann einen Finger. »Okay, stellen Sie den Anruf durch.« Mir flüsterte sie zu: »Sekunde.«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Es tut mir sehr leid, Governor Bowannie, aber es ist nicht unsere Schuld, wenn der Boston Globe den Schädel als den eines Anasazi bezeichnet. Mir ist bewusst, dass Ihnen das nicht gefällt. Ich verstehe es, und es tut mir leid, aber wir haben keinen Einfl uss darauf, was sie drucken. Wirklich nicht. Dr. Cravitz wird noch ein paar Tage brauchen.«
Addy nickte. Dann: »Okay, wir hören voneinander.«
Sie legte den Hörer behutsam auf die Gabel, aber ich wusste, dass sie wütend war.
»Dieser verdammte Schädel«, sagte sie.
Das weckte mein Interesse. Ich konnte es nicht abwarten zu sehen, was noch übrig war von dem uralten Topf aus den Chaco Canyon. »Ich habe davon gelesen. Du meinst den Schädel in dem zerbrochenen Topf der Anasazi, stimmt's? Die Geschichte des Südwestens ist eine meiner Leidenschaften, aber ich habe nie etwas von einem Schädel in einem alten Gefäß gehört. Das ist hochgradig ungewöhnlich.«
»Verdammt, ich hab's gewusst.« Sie zog eine Schublade auf und nahm Zigaretten, ein Feuerzeug und einen Kunststoffaschenbecher heraus. »Auch eine?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich würde gern, aber ich hab's drangegeben.«
Sie zündete sich die Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch durch die Nase aus. »Wegen dieser Geschichte haben wir Probleme, die wir absolut nicht gebrauchen können. Zuerst verstößt es gegen die Political Correctness, sie Anasazi zu nennen, weil ihnen dieser Name seinerzeit von ihren Feinden gegeben wurde, den Navajo. Zumindest sagt man das. Wer weiß? Der Gouverneur ist ein Zuni, und ich habe ihm nicht erzählt, dass ich zur Hälfte eine Navajo bin. Das würde ihm gar nicht gefallen.«
»Wenn der Gouverneur ein Zuni ist, kommt er schon damit klar, Addy«, sagte ich. »Habe ich das richtig verstanden, dass Didi an der Rekonstruktion arbeitet? Ist sie schon fertig? Ich würde den Schädel und den Topf wirklich gern sehen.«
»Ich werde Didi fragen.« Sie schüttelte den Kopf und schnippt die Asche ab. »Alle drehen durch wegen dieses Schädels. Wem gehört er? Den Typen von der Smithsonian Institution läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Wie den Direktoren anderer Museen, ganz zu schweigen von den Zuni. Auch die Hopi haben sich zu Wort gemeldet. Und die Jungs von National Geographic. Wegen des ganzen Theaters kommt Didi mit der Arbeit nicht zügig voran.«
Ich lächelte. »Schon klar, dass du genervt bist. Hör zu, ich muss verduften.«
Sie zog an ihrer Zigarette. »Ich will eine Zusage von dir, und zwar noch heute.«
Sie wirkte wie eine ungehaltene afroindianische Prinzessin. »Tut mir leid, Addy, es geht nicht.«
»Ohne dich ist das Grief Assistance Program tot.«
»Das sehe ich anders. Gert ist die perfekte Besetzung.«
»Ja, aber sie ist nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. Bei den anderen ist es genauso. Du fehlst ihnen so sehr.«
Das klang mir ein bisschen zu sentimental, und ich versuchte, es zu verdrängen. »Ich hatte Angebote aus Maine und New Mexico. Jede Menge Geld. Absolute Unabhängigkeit, der ganze Schnickschnack. Auch da habe ich Nein gesagt.« Ich stand auf und umrundete den Schreibtisch, um sie zu umarmen.
»Ich rufe an und frage, ob Didi Zeit für dich hat.«
»Großartig.«
Sie drückte ihre Zigarette aus. »Es gibt Neuigkeiten über deinen Freund. Er ist doch dein Lover, oder ?
Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Du redest von Hank?« Sie zwinkerte. »Schreib den Kummerladen noch nicht ab. Mehr verlange ich nicht.«
»Was ist mit Hank? Komm schon, Addy.«
»Wie lautet deine Antwort?«
»Okay, ich schlage die Tür nicht endgültig zu.«
Sie stand auf und umarmte mich. »Das ist gut.«
»Du stinkst nach Zigarettenrauch.«
»Parfüm wirkt Wunder.«
»Du bist eine schreckliche Erpresserin«, sagte ich. »Was ist mit Hank?«
Sie lächelte, und wieder erinnerte sie mich an Alfre Woodard. Auch ich musste lächeln.
»Vielleicht ist es nur ein Gerücht, aber man hört, dass er einen Job als Mordermittler bei der Bundespolizei angenommen hat.«
»Verdammter Mist.«
Ich wollte verschwinden, und zwar sofort. Die Gegensprechanlage piepte. Perfektes Timing. Ich winkte und drehte mich zur Tür.
»Halt!«, rief Addy. »Moment noch, Tally.«
Ich seufzte. »Wie du meinst.«
Während Addy sprach, versuchte ich zu ergründen, was zum Teufel Hank Cunningham vorhatte. Er war Sheriff des Hancock County in Maine. Für mich ergab es keinen Sinn, dass er jetzt angeblich einen Job als Mordermittler bei der Bundespolizei annehmen wollte.
Hank und ich telefonierten fast jeden Tag. Was Addy sagte, klang einfach nur verrückt.
»Ich hab's wirklich eilig«, sagte ich, als sie ihr Gespräch beendet hatte. So gern ich den alten Topf und den Schädel gesehen hätte, zuerst wollte ich herausfinden, was hinter der Sache mit Hank steckte.
»Ich weiß, aber das gerade war Didi. Sie würde sich freuen, wenn du vorbeikommen und dir ihre Rekonstruktion ansehen würdest.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich würde ja gern, sollte aber besser nach Hause fahren.«
Sie begleitete mich zur Tür. »Didi hat verdammt hart geschuftet. Sie ist sehr stolz auf ihre Arbeit und kann es gar nicht abwarten, dir das Ergebnis zu zeigen. Komm schon, Tally. Was immer dein Süßer vorhat, ein paar Minuten mehr oder weniger spielen jetzt keine Rolle.«
Damit hatte sie natürlich recht.
...
Übersetzung: Bernhard Liesen
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Seit Vedas Tod waren mehr als 365 Tage vergangen. Über ein Jahr war verfl ossen, seit meine Pflegemutter, die einzige Mutter, die ich jemals gekannt hatte, von diesem Erdball verschwunden war. Noch immer war mir ihr Tod unbegreiflich. Völlig unbegreiflich.
Wohin war sie entschwunden? Wie konnte eine so überaus vitale Frau plötzlich nicht mehr da sein ?
Ein Freund sagte, Energie löse sich nie auf, sie nehme nur eine andere Form an. Der Gedanke gefiel mir. Zumindest an guten Tagen glaubte ich daran.
Im letzten Jahr hatte ich meinen Job beim Massachusetts Grief Assistance Program aufgegeben, das ich selbst gegründet hatte. Ich ignorierte das Angebot, in New Mexico ein Projekt zu starten, bei dem es ebenfalls um die Betreuung der Angehörigen von Mordopfern gehen sollte. Eine ähnliche Position im Bundesstaat Maine lehnte ich auch ab.
Stattdessen nahm ich eine Auszeit.
Verstehe, werden Sie jetzt sagen, die Trauer war so groß, dass die Depression Sie gelähmt hat.
Irrtum.
Veda hatte mir Grundstücke und eine beträchtliche Summe Geld vermacht. Ich reiste nach Griechenland und Neuseeland, wo ich mir ein Auto mietete und herumfuhr. Bei mir war Penny, mein treuer ehemaliger Polizeihund.
Tauchen. Fallschirmspringen. Parasailing. Segeln. Tanzen. Angeln. Skeetschießen.
Mit diesen Vergnügungen war es jetzt vorbei. Ich suchte nach einem anständigen Haus in Boston, mein Erbe machte es möglich. Fürs Erste lebte ich noch in meiner Mietwohnung im Erdgeschoss eines Reihenhauses im South End. Die Wohnung war hübsch, sogar sehr hübsch. Aber zum Teufel, warum nicht? Gönn dir das Vergnügen, hau den schnöden Mammon auf den Kopf. Genieße das Leben.
Keine Morde mehr. Keine weinenden Angehörigen. Keine rachsüchtigen Ehemänner. Keine Journalisten auf der Jagd nach blutrünstigen Storys. Niemand, der die Leiche eines Verwandten identifi zieren musste. Keine Cops, keine Killer, keine Anwälte, keine Vergewaltiger, keine außer Rand und Band geratenen Verrückten. Ein Leben ohne diesen stets nervenden Fogarty, den kommissarischen Chef der Rechtsmedizin. Nichts mehr von alldem.
Wie hätte ich mein neues Leben nicht lieben können? Leider liebte ich es nicht. Nachdem ich zwölf Jahre lang Angehörige von Mordopfern betreut hatte, empfand ich nun eine große Leere und langweilte mich. Es ist schwer, damit klarzukommen. Gewöhnliche Menschen kennen diese Probleme nicht. Und ich? Es kam mir absurd vor, ein Leben führen zu sollen, das andere als »normal« bezeichnet hätten.
Ich hätte mein neues Leben lieben sollen. Das Problem war nur, dass mir mein altes Leben fehlte. In jeder Hinsicht.
Auch wenn es chaotisch gewesen war.
Ich musste mich der Realität stellen, einer zutiefst verstörenden Realität. Ich war kein sorgloser Mensch.
Ich konnte mich nicht zwischen Maine und New Mexico entscheiden. Penny konnte mir nicht helfen, und ich hatte keine besondere Lust, andere zu fragen.
Im Moment war ich in Harrisville in New Hampshire, in der Nähe des Tatorts meines letzten Falles, in der Gesellschaft von Charley Paradise und seiner Frau Laura. Ein Geiger fiedelte, die Gäste tanzten.
Wie ich. Ich tanzte, bis mir der Schweiß den Körper hinunter lief. Wenn ich schwitzte, musste ich nicht viel nachdenken. Ende September konnte der Altweibersommer selbst in New Hampshire noch mal richtig heiß werden.
Mir gegenüber tanzte Charley. Er hatte einen dichten schwarzen Bart und trug ein Flanellhemd und rote Hosenträger. Er grinste mich an, als die Schritte des hier üblichen Tanzes sich immer mehr beschleunigten. Er wollte, dass ich mithielt, und ich tat es. Die Musik wurde lauter, das Tempo immer schneller, und ich geriet aus der Puste. Charley fuchtelte mit den Armen. Ich blickte zu Laura hinüber. Sie trug eine Baumwollbluse und einen Faltenrock und zwinkerte mir zu.
Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte. Teufel, ich hatte meinen Spaß.
Und dann, als Charley meine Hände packte und mich immer wieder herumwirbelte, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass etwas geschehen würde, etwas Bedeutsames. Ich war mir sicher, dass mein stressfreies Leben bald zu Ende gehen würde.
Der Grund war mir unklar, aber es jagte mir eine Riesenangst ein.
Es war eine Wohltätigkeitsveranstaltung, und wir tranken Punschbowle zu fünfzig Cent pro Becher. Außerdem gab es frisch gepressten Zitronensaft. Göttlich.
»Penny braucht einen Freund«, sagte Charley.
»Nein«, antwortete ich. »Braucht sie nicht. Ich bin ihr Freund.«
»Du solltest dir diese Welpen ansehen«, sagte Laura. »Du musst sie sehen«, fügte Charley hinzu.
Ich war nicht dumm. Sie wollten mir einen dieser Welpen aufschwatzen, aber ich würde mich nicht darauf einlassen. »Ich werde sie mir nicht ansehen und will nichts mehr davon hören. Für mich existieren diese Welpen nicht.«
»Was für ein Früchtchen.« Charley füllte unsere Becher nach und bot dann an, einen Schuss Wodka aus seinem Flachmann hinzuzugeben.
»Für mich nicht«, sagte ich. »Trotzdem danke.« Ich leerte meinen Becher. »Basset-Welpen sind die süßesten Geschöpfe überhaupt. Wenn ich einen sehe, ist es um mich geschehen.«
Das Lachen der beiden folgte mir, als ich den Weg zur Toilette einschlug.
Ich warf einen Blick in den Spiegel und war überrascht, wie lang meine blonden Locken waren. Die reinste Medusenmähne. Ich wusch mir das Gesicht, und als ich mir die Hände abtrocknete, piepte mein Handy.
Ich klappte es auf. »Gert?«
»Hi, Tal! Wie geht's?«
Gerts Brooklyn-Akzent war so stark, dass sie manchmal kaum zu verstehen war.
»Du solltest mal etwas deutlicher sprechen. Also, was gibt's?« »Du hörst dich nicht besonders glücklich an. Alles in Ordnung?«
»Ich fühle mich großartig. Ich habe gerade getanzt.« Die Geige war selbst hier auf der Toilette noch zu hören, und ich schlug mit einem Fuß den Takt. »Ich hab nicht viel Zeit.«
»Hast du einen Kerl dabei?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Nein, Gert. Komm zur Sache. Hier braucht man beim Tanzen nicht mal einen Partner.«
Sie schnaubte. »Und das gefällt dir.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Vergiss es. Hier gibt's sensationelle Neuigkeiten. Sie haben gerade bekannt gegeben, wer der neue Boss ist.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich wusste, was folgen würde, und wollte es nicht hören. »Besten Dank für deinen Anruf, Honey. Mir war klar, dass Fogarty das Rennen machen würde. Was soll ich sagen? Es stinkt mir. Ich muss Schluss machen.«
»Moment. Es ist nicht dieser Dreckskerl von Fogarty.«
Zwischen mir und Tom Fogarty hatte es jahrelang nur Streit und heftige Wortgefechte gegeben. Ich war mir sicher gewesen, dass er vom kommissarischen Leiter zum Chef der Gerichtsmedizin aufsteigen würde. Zugegeben, gegen seine fachliche Kompetenz war nichts einzuwenden. »Jetzt habe ich fast schon Schuldgefühle, dass Fogarty es nicht geschafft hat.«
»Nicht nötig«, sagte Gert. »Er bleibt uns erhalten und kann dich weiter nerven. Unsere neue Chefin sagt, sie kennt dich.« Ich lehnte mich an die Wand. »Eine Frau ?«
»Sie heißt Adeline Morgridge. Sie kannte Veda, stimmt's?«
Addy Morgridge. Eine alte Freundin von Veda und eine außerordentlich kompetente Rechtsmedizinerin. Veda. Ich war immer noch nicht darüber hinweg. Sie fehlte mir jeden Tag.
»Addy Morgridge ist eine großartige Frau. Einfach großartig.« Warum machte mich die Nachricht trotzdem nicht richtig froh?
»Ja, Addy war eine alte Freundin von Veda«, fügte ich zögernd hinzu.
»Sie will dich unverzüglich sehen«, sagte Gert. »Morgen früh. Sie hat ein Problem und braucht dich. Dich, Tal.«
Na großartig. Meine Vorahnung hatte mich nicht getrogen. Ich war nicht scharf darauf zu erfahren, was sich dahinter verbarg.
Am nächsten Morgen saß ich auf der kleinen Terrasse hinter meiner Wohnung, von der man auf einen kleinen Hof und einen noch kleineren Garten blickte. Der Garten mochte winzig sein, doch ich liebte dieses Grün mitten in einer Großstadt wie Boston. Neben mir hockte auf den Hinterbeinen meine große Deutsche Schäferhündin, und Penny hatte die Ohren aufgestellt, als wüsste sie, dass etwas passieren würde.
Ich trank Kaffee und genoss den warmen Wind, mit dem sich der Sommer verabschiedete. Nur zu bald würde ein feuchter und kühler Herbst beginnen.
Ich war unentschlossen, wusste nicht, ob ich in mein früheres Leben zurückkehren sollte. Addy wollte mich sehen. Gut möglich, dass sie nun die Chefin der Rechtsmedizin für ganz Massachusetts war, doch das hieß nicht, dass ich ihr verpflichtet war. Ich war nichts und niemandem verpflichtet.
Mein Gott, das klang sinnlos.
Seit so langer Zeit, scheinbar seit einer Ewigkeit, war ich die Leiterin des Massachusetts Grief Assistance Program gewesen, das ich auch selbst gegründet hatte. Zwar hatte das MGAP Räume beim OCME gemietet, dem Offi ce of the Chief Medical Examiner, aber wir waren eine unabhängige Nonprofi torganisation. Unsere Aufgabe war es, den Angehörigen von Mordopfern beizustehen. Wir versuchten, ihnen über den schrecklichen Verlust hinwegzuhelfen, und betreuten sie, oft während vieler, vieler Jahre, und wir berieten sie auch, wenn sie Probleme mit juristischen Fragen, den Gerichten, der Polizei oder der Presse hatten.
Wir leisteten gute Arbeit, und das war eine Entschädigung für die Trauer, mit der wir Tag für Tag konfrontiert waren.
In den gesamten Vereinigten Staaten gab es keine sechzig professionellen Berater für die Angehörigen von Mordopfern. Mich hatte es immer mit Stolz erfüllt, zu ihnen zu gehören. Zumindest in meinem früheren Leben.
Nachdem mein Vater durch einen Mord ums Leben gekommen war, hatte mich meine Pflegemutter Dr. Veda Barrow angeregt, diesen Beruf zu ergreifen. Sie war schon seit Langem die Chefin des Instituts für Rechtsmedizin im Bundesstaat Massachusetts. Ihr Tod hatte mein Leben aus den Fugen geraten lassen.
Wenn ich heute zurückkehrte in den »Kummerladen« - so wurde das MGAP unter Kollegen genannt -, würde ich Kranak, Fogarty, Didi und all den anderen begegnen, mit denen ich so viele Jahre zusammengearbeitet hatte. Ich würde mit alten Gefühlen konfrontiert sein, positiven wie negativen, doch darum ging es nicht, überhaupt nicht. Ich würde mich mit Vedas Abwesenheit auseinandersetzen müssen, mit der Leere. Dass sie nicht mehr da war, das war am schlimmsten.
Veda hatte Adeline Morgridge »Addy M.« genannt. Sie hatte sie sehr gemocht. Wenn ich darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass Addy und Veda sich sehr ähnlich waren. Auch wenn Addy noch tougher war, noch pragmatischer.
Ich würde es nicht ertragen können.
Ich klappte mein Handy auf, um Gert zu sagen, dass ich nicht kommen würde, doch in diesem Moment klingelte es immer wieder an der Haustür. Selbst auf drei Beinen wäre Penny schneller da gewesen als ich.
Als ich durch den Spion blickte, sah ich ... Verdammt. »Ich bin nicht da«, schrie ich.
»Doch, bist du«, antwortete Gert. »Komm schon, der Taxameter läuft weiter. Beeil dich.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ eine Kaugummiblase platzen. Sie lächelte nicht.
Ich öffnete die Tür. »Verdammt, Gert!«
Sie winkte mit einem Finger, dessen künstlicher Nagel in Erinnerung an den 11. September mit den Stars and Stripes geschmückt war. »Du kommst mit, ich weiß es.«
»Dies ist keine Kapitulation, sondern nur eine kleine Konzession«, rief ich, während ich nach meiner Handtasche suchte. Ich zog meine Sandalen an und legte Penny an die Leine. »Auf geht's.«
Gert ließ eine weitere Kaugummiblase platzen. Jetzt lächelte sie.
Ich saß vor Addy Morgridges Schreibtisch, in jenem Büro, in dem ich einst unzählige Male Veda getroffen hatte. Außer den Bildern an den Wänden hatte Addy fast nichts verändert. Der Teppich, der Schreibtisch, die Vorhänge, alles wie früher. Ich hatte gegen die kleinen Veränderungen nichts einzuwenden. Veda war tot, sie war hier so wenig anwesend wie in ihrem Haus in Lincoln.
Und doch war sie bei mir, jeden Tag, jede Minute.
Addy reichte mir eine Tasse Kaffee.
»Duftet göttlich«, sagte ich.
Sie lächelte, und ihre sanften braunen Augen schauten mich freundlich an. Sie hatte Ähnlichkeit mit der wundervollen Schauspielerin Alfre Woodard, wirkte weise und lebensklug.
»Der Kaffee ist göttlich«, sagte sie. »Schließlich habe ich ihn selbst aufgebrüht. Ich würde dir nichts von Starbucks anbieten.«
Ich lächelte. »So kennt man dich, Addy. Wie fühlt man sich nach der Beförderung?«
Sie beugte sich vor. »Gut. Verdammt gut. Es war ein langer Weg, Tally.«
»Ich weiß, Addy.«
»Dass ich jetzt die Chefin bin, bedeutet mir eine Menge.« Ich nickte. »Auch das weiß ich. Fogarty ist deine rechte Hand?«
»Ja, wie bei Veda.« Sie ordnete ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch und tippte auf einen Aktenordner. »Und deshalb brauche ich dich hier.«
»Was ?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann und will nicht.«
Sie kniff die Lippen zusammen. »Wir brauchen hier eine ausgewogene Atmosphäre, Tally. Wir benötigen deine sichere Hand, deine Intuition.«
Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Meine liebe ... «
Das Klingeln des Telefons unterbrach uns. Addy hob den Hörer ab. »Ich habe doch gesagt, dass ich im Moment nicht erreichbar bin.« Sie lauschte, nickte und hob dann einen Finger. »Okay, stellen Sie den Anruf durch.« Mir flüsterte sie zu: »Sekunde.«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Es tut mir sehr leid, Governor Bowannie, aber es ist nicht unsere Schuld, wenn der Boston Globe den Schädel als den eines Anasazi bezeichnet. Mir ist bewusst, dass Ihnen das nicht gefällt. Ich verstehe es, und es tut mir leid, aber wir haben keinen Einfl uss darauf, was sie drucken. Wirklich nicht. Dr. Cravitz wird noch ein paar Tage brauchen.«
Addy nickte. Dann: »Okay, wir hören voneinander.«
Sie legte den Hörer behutsam auf die Gabel, aber ich wusste, dass sie wütend war.
»Dieser verdammte Schädel«, sagte sie.
Das weckte mein Interesse. Ich konnte es nicht abwarten zu sehen, was noch übrig war von dem uralten Topf aus den Chaco Canyon. »Ich habe davon gelesen. Du meinst den Schädel in dem zerbrochenen Topf der Anasazi, stimmt's? Die Geschichte des Südwestens ist eine meiner Leidenschaften, aber ich habe nie etwas von einem Schädel in einem alten Gefäß gehört. Das ist hochgradig ungewöhnlich.«
»Verdammt, ich hab's gewusst.« Sie zog eine Schublade auf und nahm Zigaretten, ein Feuerzeug und einen Kunststoffaschenbecher heraus. »Auch eine?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich würde gern, aber ich hab's drangegeben.«
Sie zündete sich die Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch durch die Nase aus. »Wegen dieser Geschichte haben wir Probleme, die wir absolut nicht gebrauchen können. Zuerst verstößt es gegen die Political Correctness, sie Anasazi zu nennen, weil ihnen dieser Name seinerzeit von ihren Feinden gegeben wurde, den Navajo. Zumindest sagt man das. Wer weiß? Der Gouverneur ist ein Zuni, und ich habe ihm nicht erzählt, dass ich zur Hälfte eine Navajo bin. Das würde ihm gar nicht gefallen.«
»Wenn der Gouverneur ein Zuni ist, kommt er schon damit klar, Addy«, sagte ich. »Habe ich das richtig verstanden, dass Didi an der Rekonstruktion arbeitet? Ist sie schon fertig? Ich würde den Schädel und den Topf wirklich gern sehen.«
»Ich werde Didi fragen.« Sie schüttelte den Kopf und schnippt die Asche ab. »Alle drehen durch wegen dieses Schädels. Wem gehört er? Den Typen von der Smithsonian Institution läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Wie den Direktoren anderer Museen, ganz zu schweigen von den Zuni. Auch die Hopi haben sich zu Wort gemeldet. Und die Jungs von National Geographic. Wegen des ganzen Theaters kommt Didi mit der Arbeit nicht zügig voran.«
Ich lächelte. »Schon klar, dass du genervt bist. Hör zu, ich muss verduften.«
Sie zog an ihrer Zigarette. »Ich will eine Zusage von dir, und zwar noch heute.«
Sie wirkte wie eine ungehaltene afroindianische Prinzessin. »Tut mir leid, Addy, es geht nicht.«
»Ohne dich ist das Grief Assistance Program tot.«
»Das sehe ich anders. Gert ist die perfekte Besetzung.«
»Ja, aber sie ist nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. Bei den anderen ist es genauso. Du fehlst ihnen so sehr.«
Das klang mir ein bisschen zu sentimental, und ich versuchte, es zu verdrängen. »Ich hatte Angebote aus Maine und New Mexico. Jede Menge Geld. Absolute Unabhängigkeit, der ganze Schnickschnack. Auch da habe ich Nein gesagt.« Ich stand auf und umrundete den Schreibtisch, um sie zu umarmen.
»Ich rufe an und frage, ob Didi Zeit für dich hat.«
»Großartig.«
Sie drückte ihre Zigarette aus. »Es gibt Neuigkeiten über deinen Freund. Er ist doch dein Lover, oder ?
Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Du redest von Hank?« Sie zwinkerte. »Schreib den Kummerladen noch nicht ab. Mehr verlange ich nicht.«
»Was ist mit Hank? Komm schon, Addy.«
»Wie lautet deine Antwort?«
»Okay, ich schlage die Tür nicht endgültig zu.«
Sie stand auf und umarmte mich. »Das ist gut.«
»Du stinkst nach Zigarettenrauch.«
»Parfüm wirkt Wunder.«
»Du bist eine schreckliche Erpresserin«, sagte ich. »Was ist mit Hank?«
Sie lächelte, und wieder erinnerte sie mich an Alfre Woodard. Auch ich musste lächeln.
»Vielleicht ist es nur ein Gerücht, aber man hört, dass er einen Job als Mordermittler bei der Bundespolizei angenommen hat.«
»Verdammter Mist.«
Ich wollte verschwinden, und zwar sofort. Die Gegensprechanlage piepte. Perfektes Timing. Ich winkte und drehte mich zur Tür.
»Halt!«, rief Addy. »Moment noch, Tally.«
Ich seufzte. »Wie du meinst.«
Während Addy sprach, versuchte ich zu ergründen, was zum Teufel Hank Cunningham vorhatte. Er war Sheriff des Hancock County in Maine. Für mich ergab es keinen Sinn, dass er jetzt angeblich einen Job als Mordermittler bei der Bundespolizei annehmen wollte.
Hank und ich telefonierten fast jeden Tag. Was Addy sagte, klang einfach nur verrückt.
»Ich hab's wirklich eilig«, sagte ich, als sie ihr Gespräch beendet hatte. So gern ich den alten Topf und den Schädel gesehen hätte, zuerst wollte ich herausfinden, was hinter der Sache mit Hank steckte.
»Ich weiß, aber das gerade war Didi. Sie würde sich freuen, wenn du vorbeikommen und dir ihre Rekonstruktion ansehen würdest.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich würde ja gern, sollte aber besser nach Hause fahren.«
Sie begleitete mich zur Tür. »Didi hat verdammt hart geschuftet. Sie ist sehr stolz auf ihre Arbeit und kann es gar nicht abwarten, dir das Ergebnis zu zeigen. Komm schon, Tally. Was immer dein Süßer vorhat, ein paar Minuten mehr oder weniger spielen jetzt keine Rolle.«
Damit hatte sie natürlich recht.
...
Übersetzung: Bernhard Liesen
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Vicki Stiefel
Vicki Stiefel wuchs in Connecticut auf, wo ihr Vater ein Theater betrieb. Sie arbeitete als Fotografin, Englischlehrerin, Hamburgerköchin und Betreiberin eines Tauchgeschäfts. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in New Hampshire. Blutfetisch ist der vierte Roman um die Polizei-Psychologin Tally Whyte und wurde für den Daphne du Maurier Award nominiert. Mehr über die Autorin erfahren Sie unter www.vickistiefel.com.
Bibliographische Angaben
- Autor: Vicki Stiefel
- 2012, 368 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3863656091
- ISBN-13: 9783863656096
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
Abhängig von Bildschirmgrösse und eingestellter Schriftgrösse kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Grösse: 0.56 MB
- Mit Kopierschutz
- Vorlesefunktion
Kopierschutz
Dieses eBook können Sie uneingeschränkt auf allen Geräten der tolino Familie lesen. Zum Lesen auf sonstigen eReadern und am PC benötigen Sie eine Adobe ID.
Kommentare zu "Blutfetisch"
0 Gebrauchte Artikel zu „Blutfetisch“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 5Schreiben Sie einen Kommentar zu "Blutfetisch".
Kommentar verfassen