Zusammen kann man schöner träumen
Roman
Liebe, Familie und alles, was dazwischenliegt.
Bei den Atwaters geht es liebevoll und chaotisch zu. Emma bereitet ihre Hochzeit vor, Sophie bastelt an ihrer Schauspielkarriere. Nur Lulu, die Schlauste der drei Schwestern, fühlt sich irgendwie verloren....
Bei den Atwaters geht es liebevoll und chaotisch zu. Emma bereitet ihre Hochzeit vor, Sophie bastelt an ihrer Schauspielkarriere. Nur Lulu, die Schlauste der drei Schwestern, fühlt sich irgendwie verloren....
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Produktinformationen zu „Zusammen kann man schöner träumen “
Klappentext zu „Zusammen kann man schöner träumen “
Liebe, Familie und alles, was dazwischenliegt.Bei den Atwaters geht es liebevoll und chaotisch zu. Emma bereitet ihre Hochzeit vor, Sophie bastelt an ihrer Schauspielkarriere. Nur Lulu, die Schlauste der drei Schwestern, fühlt sich irgendwie verloren. Auf dem Dachboden entdeckt sie eine Kiste mit Briefen ihrer Ur-Urgrossmutter Jo. Als die Atwater-Familie in eine schwere Krise gerät, sucht Lulu in den Briefen Trost und Rat. Kann sie darin den Weg finden, der zu ihrem Glück führt?
Lese-Probe zu „Zusammen kann man schöner träumen “
Zusammen kann man schöner träumen von Gabrielle Donnelly
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Fee und David Atwater waren ein glückliches Paar. David Atwater besaß einen kleinen Verlag, der auf Reiseliteratur spezialisiert war, und seine Arbeit führte ihn oft aus London hinaus, mitunter auch für mehrere Wochen.
Fee stammte aus einer Familie robuster Yankee-Frauen aus Massachusetts, war also von Natur aus unabhängig. Beide fanden, dass die Entfernung, die seine Reiserei mit sich brachte, ihrer Ehe guttat. Jedenfalls war ihre Beziehung widerstandsfähig. Sie respektierten sich gegenseitig, brachten sich zum Lachen, stritten mitunter, vertrugen sich aber immer wieder, und selbst nach dreißig Ehejahren tastete der eine fast unwillkürlich nach des anderen Hand, während sie die Straße hinunterspazierten. »Ich frage mich, wie es bei mir und Matthew sein wird, wenn wir mal so lange verheiratet sind wie du und Dad«, sagte Fees älteste Tochter Emma gerade verträumt zu ihrer Mutter. Zur allseitigen Freude, wenn auch nicht überraschend, hatte sie vor kurzem ihre Verlobung mit Matthew bekanntgegeben, mit dem sie seit drei Jahren zusammen war. »Irgendwie ist es komisch, vor drei Jahren haben wir uns noch nicht einmal gekannt. Ich frage mich, wie es in fünfundzwanzig Jahren sein wird.«
»Wahrscheinlich ist er dann mit den Nerven fertig«, bemerkte Lulu, ihre jüngere Schwester, die es im Alter von vierundzwanzig Jahren immer noch nicht lassen konnte, ihre Schwestern zu ärgern. »Er hat ganz schön viel Mut, das habe ich ihm erst letzte Woche gesagt.« »Na, dann muss das der Grund dafür sein, dass er die Hochzeit abgesagt hat«, erwiderte Emma. »Danke, dass du's mir erklärt hast, ich hab mich schon gefragt. Mom, weißt du, wie viel Kalorien in diesem Auberginensalat sind? Der sieht gar zu verführerisch aus.« »Da gibt's nur eins, um das herauszufinden«, sagte Lulu. Sie langte über ihre Schwester hinweg nach der Schüssel, häufte eine Portion auf ihren Teller und blies sofort die Wangen auf. »Oje, ich habe ein Kilo zugenommen! Ich bin dick!«
Während Fee Kaffee in ihren Becher goss, betrachtete sie über den Tisch hinweg ihre Töchter und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es ihr gelungen war, zwei so völlig unterschiedliche Geschöpfe in die Welt zu setzen. Emma war ihre Vorzeigetochter. Ihr Benehmen war stets so tadellos gewesen, dass Fee und David sich mitunter gefragt hatten, wann all die unterdrückte Unerzogenheit aus ihr hervorbrechen würde. Im Babyalter schlief sie durch, durch die Teenagerjahre schaffte sie es ohne Pickel und Türenknallen, schloss das Studium in Sozialpolitik an der London University ab und arbeitete derzeit in der Verwaltung einer privaten Organisation, welche den Zufriedenheitsgrad von Krankenhauspatienten erforschte. Über Freunde hatte sie vor drei Jahren den nett aussehenden, jungen Computerberater Matthew Weston kennengelernt, war ein Jahr später in seine makellos aufgeräumte Wohnung gezogen, die nicht weit von Islington lag, und nun wollten sie im folgenden Jahr heiraten. Emma hatte Fee anvertraut, dass sie drei Jahre später, wenn er zweiunddreißig und sie dreißig wären, Kinder bekommen wollten. Emma hatte glänzendes braunes Haar, das niemals ungekämmt aussah, große blaugraue Augen und eine altmodisch rosige Gesichtsfarbe. An ihrem Arbeitsplatz trug sie gutgeschnittene Hosen, in der Freizeit im Winter Jeans und im Sommer Röcke mit Blumenmustern, die sie mit Blusen von Zara oder Whistles ergänzte. Ihre Fingernägel waren kurz, aber immer makellos manikürt, und sie passte auf, dass sie kein Gramm zunahm.
Sie würde, dachte ihre Mutter fast mit Wehmut, die schönste Braut abgeben, die man sich nur vorstellen konnte. Wenn einem bei Emma das Bild von Pfirsich mit Sahne einfiel, so dachte ihre Mutter oft, dann kam einem bei Lulu unwillkürlich der Gedanke an ein scharf gewürztes Currygericht voller Überraschungen und Gaumenfreuden. Sie war ein stämmiges, unordentliches Mädchen mit wachen, braunen Augen und einer kastanienbraunen Mähne, die ihr Gesicht überschattete und die sie nie schneiden ließ. Während ihre Schwester sanft durch die Welt glitt, eckte sie an, wo jene lächelte, schmollte sie, und von Anfang an, so schien es, war sie darauf aus gewesen, Konventionen in Frage zu stellen und Erwartungen über den Haufen zu werfen. Während der Schulzeit gab es ihretwegen mehrfach besorgte Gespräche zwischen ihren Eltern und Lehrern, und als sie dann eines Tages ihrer eigenen Ungezogenheit überdrüssig wurde, überraschte sie alle mit einem hervorragenden Abschluss in Biochemie an der renommierten University of St. Andrews. Hinterher hatte sie sofort erklärt, keine Lust auf eine Karriere als Wissenschaftlerin zu haben, und jetzt, achtzehn Monate später, wusste sie immer noch nicht recht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. In der Zwischenzeit hangelte sie sich durch eine Reihe von Gelegenheitsjobs, einer so wenig vielversprechend wie der andere, und wohnte bei ihrer besten Freundin Charlie, der sie Miete in Form von Kochen und anfallenden Ausbesserungsarbeiten in der Wohnung bezahlte. Lulu und Alfreda Alessandra Maria Fitzcharles, Charlie für ihre Freunde, hatten schon während der Uni eine Wohnung geteilt.
Charlie war eine dunkelhaarige Schönheit, ziemlich reich und in den Augen der Atwaters ein wenig exotisch, denn sie war die Tochter eines Hoteliers aus Irland, der viel reiste, und eines italienischen Models, das bei einem Flugzeugabsturz starb, als Charlie noch klein war. Die Familie besaß eine Wohnung am Belsize Park, und Charlie hatte Lulu eingeladen, dort bei ihr zu wohnen, bis sie genug Geld für eine eigene Wohnung verdiente. Eigentlich gefiel Fee nicht, dass eine ihrer Töchter etwas ohne Gegenleistung annahm, aber sie tröstete sich damit, dass Lulu geschickt und eine ausgezeichnete Köchin war und sofort half, sobald es etwas in der Wohnung zu tun gab. Außerdem sah sie, dass Charlie Lulus Gesellschaft genoss. Fee sorgte sich ein bisschen um Charlie, die kaum eigene Familie hatte und die ihr manchmal ein wenig verloren vorkam.
Charlie war heute auch zum Brunch gekommen und lächelte über Lulus Neckereien, während sie ihren Bagel erst großzügig mit Cream Cheese und dann mit Erdbeermarmelade bestrich. Charlie musste sich in ihrem Leben keine Gedanken um Kalorien machen. »Das ist so unfair, wenn ich nur ein Viertel von dem essen würde, dann wäre ich ungefähr so groß wie ein Elefantenbaby «, sagte Emma neidvoll und beobachtete, wie Charlies Bagel nach und nach in ihrem Mund verschwand. »Tut mir leid«, antwortete Charlie. »Ich habe anscheinend den Stoffwechsel meiner Mutter geerbt. Das ist für andere sehr ärgerlich, ich weiß.« »Bei ihr musst du dich wirklich nicht entschuldigen«, bemerkte Lulu. Sie langte nach unten und kraulte eine Katze mit orangem Fell, die ausgestreckt auf dem Stuhl neben ihr lag und zu allem freundlich blinzelte. »Wann kommt Dad nach Hause, wo wir gerade von Elefanten sprechen?«
»Am Donnerstag, irgendwann um die Mittagszeit«, antwortete Fee. »Das hängt von Air Peru ab. Ich hoffe nur, dass er diesmal keinen Lärm macht. Weißt du, Charlie, im letzten Herbst haben wir mein Büro in Sophies altes Schlafzimmer verlegt, und er vergisst das manchmal, wenn er untertags nach Hause kommt. Vor zwei Wochen war gerade eine Frau bei mir und erzählte mir die unglaublich traurige Geschichte ihrer Scheidung, und sie weinte, und ich reichte ihr Kleenex, und gerade als es am traurigsten war, krachte die Eingangstür zu, und wir hörten, wie unten jemand brüllte - ›Fee-fee, mein kleiner, ungezogener Knödel! Dein herzallerliebster Zuckerbär ist da!‹ Er findet das immer sehr lustig. Ich hätte ihn umbringen können.« »Du solltest einen Zettel an die Eingangstür hängen, damit er Bescheid weiß, wenn er kommt«, sagte Emma. »Das ist eine gute Idee, das sollte ich tun.« Fee lächelte ihrer ältesten Tochter zu.
»Lulu, Liebling, hast du meine Nachricht zu Professor Hamilton erhalten?« Lulu seufzte. »Ja, Mom, ich habe deine Nachricht zu Professor Hamilton erhalten«, antwortete sie. »Aber wirst du jemals meine Nachricht erhalten, dass ich nicht den Rest meines Lebens wie eine völlig gestörte, halbblinde, in ein Reagenzglas eingesperrte Laborratte verbringen möchte?« »Nun, meine Liebe, ich glaube auch nicht, dass du dein Leben damit verbringen möchtest, die Ablage in einem Secondhandladen zu verwalten, oder?« »Das ist kein Secondhandladen«, erwiderte Lulu. »Das ist ein Laden, der Kunst und Antiquitäten importiert, und ob du's glaubst oder nicht, ich fühle mich ganz wohl dort. Er liegt nahe zur Wohnung, und Mr.Goncharoff ist ein netter Arbeitgeber, dem es auch nichts ausmacht ...« »... wenn du es irgendwie nicht schaffst, zur Arbeit zu kommen, oder wenn du keine Lust hast«, beschloss ihre Mutter den Satz. »O Lulu, was machen wir nur mit dir?« »Ihr müsst gar nichts mit mir machen«, antwortete Lulu. »Ich bin eine erwachsene Frau. Ich will kein Geld von dir, und was ich mit meinem Leben anfange, entscheide ich, wenn ich finde, dass es an der Zeit ist, und niemand anderes.« »Ich begreife dich nicht«, meinte Emma. »Wie kannst du deine Zeit nur mit diesen Jobs vergeuden. Andere Frauen würden einen Mord dafür begehen, deinen Verstand zu besitzen. « »Der würde ihnen in der Todeszelle nicht mehr viel nützen, meinst du nicht?« Und jetzt reichte es mit der Diskussion um ihre berufliche Zukunft, entschied Lulu. »Und überhaupt, ich glaube nicht, dass du die richtige Person bist, um mir irgendwelche guten Ratschläge zu verabreichen, Mom. Als du in meinem Alter warst, hast du in einem Frauenkollektiv in der Nähe von Boston gelebt, die Werke von Gloria Steinem gelesen und in einem Samstagabendritual deinen Büstenhalter verbrannt.« Lulu war taktlos, aber nicht dumm: Der Sache mit dem Büstenhalter- Verbrennen konnte Fee selten widerstehen. »Die haben wir nie verbrannt«, erwiderte sie sofort mit fester Stimme. »Das war eine blanke Lüge vonseiten des männlichen Establishments, denen die Pimmel vor lauter Angst vor uns auf Miniaturgröße zusammengeschrumpft sind. Wir haben uns nur die Freiheit genommen, uns nicht weiter zu quälen und uns wie unsere armen Mütter in diese furchtbaren Korsetts und Keuschheitsgürtel zu zwängen, und wir waren froh darüber. Was diese schwanzlosen Schwächlinge natürlich verrückt gemacht hat.« »Du hast in einem Kollektiv gelebt?«, fragte Charlie. »Wie war das?«
»Es war der reine Wahnsinn«, gab Lulu zur Antwort. »Sie züchteten Hühner und lebten von Eiern und wurmstichigen Äpfeln, und an jedem Wochenende zogen sie in Latzhosen und mit Stirnbändern, auf denen stand ›Mein Körper gehört mir‹, in Gangs durch die Gegend und ließen keine chauvinistische Schweinerei durchgehen. Und haben sich dann gewundert, dass die Männer sie nicht mochten.« »Es war wundervoll«, sagte Fee. »Wir waren jung und idealistisch, und du hast recht, Lulu, wir nahmen uns viel zu ernst. Aber wir waren nicht in der glücklichen Lage, uns über Gleichberechtigung lustig machen zu können. Wir hatten eine Aufgabe, und Gott allein weiß, dass wir daran gearbeitet haben, und Gott allein weiß auch, dass wir der nächsten Frauengeneration den Weg bereitet haben. Wenn es uns nicht gegeben hätte, würdet ihr Mädchen jetzt nicht im Entferntesten so leben, wir ihr das tut. Hast du schon etwas von dem Couscous probiert, Charlie? Er ist echt gut.« »Sollten wir nicht etwas für Sophie aufheben?«, fragte Charlie und sah auf die Überreste des Festmahls auf den Tisch. »Sophie?« Lulu hob bei der Erwähnung ihrer jüngeren Schwester in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. »Wer ist Sophie?« »Das ist die, die immer als Letzte kommt«, erinnerte Emma sie. »So 'ne Laute, Blonde, Übergriffige.« »Ach so, die Sophie«, sagte Lulu. Sie breitete ihre Arme aus, so weit sie konnte, und strahlte die anderen an.
»Hi, Mom, tut mir entsetzlich leid, dass ich spät dran bin, aber du kannst dir gar nicht vorstellen, was mir auf dem Weg hierher passiert ist. Ich bin Schauspielerin, ich bin absolut hinreißend, und ich liebe euch alle. Meinst du die Sophie?« »Du bräuchtest eine blonde Perücke«, meinte Emma. »Und die Arme müssten irgendwie weiter oben sein und nicht vorne. Aber sonst war das ganz gut.« »Ich kriege die Rolle, meinst du?« Lulu legte überschwänglich die Hände an ihre Brust. »Ich liebe dich!« »Es ist sehr nett von dir, dass du an sie denkst, Charlie«, sagte Fee. »Aber sie weiß genau, dass wir um zwölf Uhr mittags anfangen, und jetzt ist es fast zwei Uhr. Wenn sie nicht pünktlich ist, um mit uns allen zu essen, dann muss sie mit dem vorliebnehmen, was übrig ist.« Aber sie erhob sich trotzdem und setzte frischen Kaffee auf. Gerade in diesem Augenblick ging draußen die schwere Haustür auf und schlug wieder zu, und ein Schwall feuchten Windes drang in den Raum. Sophie trat ein. Sie war größer als ihre Schwestern und gertenschlank, trug ihre strohblonden Haare wuschelig kurzgeschnitten, hatte feine Gesichtszüge und große, ausdrucksvolle blaue Augen, die in diesem Augenblick empört und wütend funkelten. Sie kam in die Küche marschiert und ließ sich ohne ein Wort der Begrüßung auf einen Stuhl fallen. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, was passiert ist«, verkündete sie. Emma und Lulu wechselten Blicke und konnten schließlich ihr Lachen nicht mehr unterdrücken.
»Was soll das?«, fragte Sophie und starrte sie an. »Hallo, Charlie, mir gefällt dein Pullover. Was haben diese zwei blöden Schwestern da zu lachen?« »Die sind gerade ziemlich albern«, meinte Fee und trat heran, um ihrer Jüngsten einen Kuss zu geben. Den beiden anderen warf sie über Sophies Kopf einen warnenden Blick zu. »Was ist los, mein Kleines. Ist irgendetwas Schlimmes passiert?« »Schlimm!«, rief Sophie aus. »Es ist furchtbar, tragisch, ein absolutes Desaster. Das glaubst du nicht! Ruby heiratet, kannst du dir das vorstellen?« Niemand sagte ein Wort. »Wenn wir jetzt noch wüssten, wer Ruby ist, dann würde uns diese Neuigkeit vielleicht am Ende noch interessieren«, meinte Lulu schließlich. »Ruby ist die Schwester von Esme«, sagte Sophie, »die ältere Schwester. Und die ist einfach furchtbar. Sie hat immer ein Gesicht, als ob sie schlechte Laune hätte, und sie kann keinen leiden und findet an jedem etwas auszusetzen. Sie ist Vegetarierin und zuckt zusammen, wenn wir Fleisch essen, und ist ganz fanatisch, wenn's um Recyceln geht, und zuckt zusammen, weil wir nicht genügend recyceln, obwohl ich da eigentlich relativ gewissenhaft bin, und wenn man einen Scherz macht, dann schaut sie entgeistert, und wenn man mit ihr essen geht, was ich möglichst zu vermeiden versuche, dann rechnet sie auf den Pfennig genau aus, was ihr Essen gekostet hat, und bezahlt dann auch nur das, obwohl alle anderen sich die Rechnung teilen, und sie ist einfach insgesamt so furchtbar, dass nicht einmal ich sie leiden kann, und ich kann die meisten Leute leiden, glaub ich wenigstens? Mom? Ist der Kaffee frisch?
Vielen Dank, Mom, was gibt's zu essen, ich sterbe vor Hunger.« »Also, wenn ich richtig verstanden habe, dann ist die Schwester von der Freundin aus deiner Wohngemeinschaft nicht besonders nett, aber sie heiratet trotzdem ...«, fragte Lulu nach, und sah dabei zu wie ihre Schwester bei den Überresten des Brunchs tüchtig zulangte. »Kannst du dir das vorstellen?« Sophie biss kräftig in einen Bagel und fuchtelte mit dem Rest in der Luft herum. »Sie hat ihn bei einer Friedensdemo irgendwo am Ende der Welt kennengelernt, was eigentlich der Gipfel der Ironie ist, denn sie ist die streitsüchtigste Person, die ich kenne. Und sie entbrannten in Liebe füreinander, und eine wilde Romanze begann, und nächste Woche gibt es auf dem Standesamt in Waltham Cross kein Halten mehr, und hinterher wird bei einem halben Glas Sekt und einem Stück Baguette groß gefeiert. Und der Typ ist nett! Wenigstens macht er den Eindruck, aber er muss meiner Meinung nach durchgeknallt sein, denn sie ist wirklich, und wenn ich euch das sage, dann meine ich das, sie ist wirklich ...« »Man kann nicht mit allen Menschen leicht auskommen, Liebes«, bemerkte Fee. »Aber auch schwierige Menschen finden Partner.« »Ich habe immer noch nicht verstanden«, meinte Emma nachsichtig, »was du damit zu tun hast.« »Was ich damit zu tun habe?«, sagte Sophie. Sie nahm noch ein Stück Bagel und schüttelte den Kopf ob der Begriffsstutzigkeit ihrer Schwester. »Versteht das etwa keiner von euch?
Wenn sie bei ihm einzieht, bedeutet das, dass sie aus ihrer Wohnung auszieht. Und es war immer vereinbart, dass, falls sie und wann immer sie aus ihrer Wohnung auszieht, Esme dort einzieht. Was bedeutet, dass Esme aus unserer Wohnung auszieht, was wiederum bedeutet, dass ich auf der Straße sitze.« »Aber kannst du nicht jemand anderes finden, der bei dir einzieht?«, fragte Fee. »Die Wohnung ist klein, aber ich bin sicher, dass sich bei der niedrigen Miete jemand findet.« »Nun, Mom, da gibt es ein Problem«, gestand Sophie. »Die Wohnung war ein privater Deal zwischen Esme und mir.« »Privater Deal?« Emma rückte ihren Stuhl an den Tisch heran und stützte interessiert ihr Kinn auf eine Hand. »Was genau heißt das?« Sophie seufzte und sah ihre Schwestern missbilligend an.
»Müsst ihr da jetzt unbedingt zuhören?«, fragte sie. »Habt ihr nicht in irgendeinem Topf zu rühren oder so was?« »O nein, keine Sorge, dafür haben wir noch den ganzen Tag Zeit, nicht wahr, Lulu?«, antwortete Emma. »Ich bin ganz Ohr«, pflichtete Lulu bei. »Na schön«, seufzte Sophie auf. »Wir haben nichts richtig Falsches gemacht. Aber die Vermieterin ist eine Freundin von Esmes Eltern, und als Esme einzog, hat sie gesagt, dass Esme gerne Freunde zum Übernachten einladen kann. Ich bin eine sehr gute Freundin von Esme, und ... so bin ich ziemlich lange zum Übernachten geblieben.« »Obwohl das offiziell eigentlich nur eine Wohnung für eine Person ist«, fragte Fee nach. »O Sophie, du wusstest genau, dass das falsch war.« »Wir haben nichts Illegales gemacht, Mom«, erwiderte Sophie. »Und ich war eine mustergültige Mieterin, ich habe mich um die Wohnung viel besser gekümmert als Esme. Und Miss Powell mochte mich auch richtig gerne.
Wir haben uns ein paarmal gesehen, wenn sie auf Besuch kam. Sie dachte, ich wäre eine Freundin von Esme, die aus dem Norden nach London gekommen ist.« »Dem Norden«, tat Lulu nachdenklich. »Das wird ja immer besser, was, Emma?« »Islington ist nördlich von Battersea«, informierte sie Sophie mit Würde in der Stimme. »Und einen Yorkshireakzent kann ich richtig gut nachmachen. Das hat mir Onkel Tim beigebracht.« »Sophie, das war nicht richtig«, sagte Fee. »Wenn Miss Powell nur eine Mieterin wollte, dann hatte sie ein Recht, das auch zu sagen, und du hättest das respektieren müssen.« »Ich weiß«, gestand Sophie und blickte kläglich drein. »Ich bin ein ungezogenes Mädchen und eine Schande für meine Eltern, die versucht haben, mir trotz allem gute Manieren beizubringen.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Aber wenn ich jetzt wieder bei euch einziehe, dann habt ihr noch einmal Gelegenheit, an mir zu arbeiten.« »Bei uns einziehen?«, fragte Fee. »Süße, hier ist kein Zimmer für dich, wo du einziehen könntest.« »Klar ist da ein Zimmer«, meinte Sophie. »Ich weiß, dass meins vergeben ist, aber was ist mit dem ganz oben?« »Kannst du dich nicht mehr erinnern? Seit dem Sturm ist Lulus Zimmer beschädigt. Jeden Moment kann da die Decke runterkommen, und wir hoffen, dass Kevin Zeit hat, sie zu reparieren, bevor sie endgültig einfällt. Er ist derzeit sehr beschäftigt, aber er ist in seinem Job so gut, dass wir niemand anderes fragen wollen.« »Gut, dann nehme ich Emmas altes Zimmer. Das wollte ich immer schon.« »Süße«, antwortete Fee. »Wir haben einen Untermieter.« Es entstand eine Pause. »Wirklich?«, fragte Sophie. »So ein Typ namens Tom«, meinte Lulu. »Ein Dozent aus Amerika, groß und ziemlich ruhig und immer für sich.« »Ach der«, meinte Sophie. »Gibt's den immer noch? Ich dachte, der wäre wieder nach Amerika zurückgegangen.« »Nein, er ist hier«, sagte Fee. »Und er wirklich sehr ruhig, das muss ich sagen.« »Ah«, meinte Sophie.
Am Tisch herrschte Schweigen. »Vielleicht könnten wir die Couch im Wohnzimmer ausziehen «, schlug Fee vor. »Das würde dir auf die Nerven gehen«, meinte Sophie. »Mir wird schon was einfallen.« »Na, sie ist da, falls du sie brauchst«, sagte Fee. »Kein Problem«, meinte Sophie. »Mir wird schon etwas einfallen. « Wieder herrschte Schweigen. »Du könntest für eine Weile bei uns wohnen«, schlug Charlie vor. »Charlie!«, rief Lulu aus. »Ich bring dich um. Das geht auf gar keinen Fall.« »Na, wenn sie sonst nirgendwohin kann? Und wir haben ein leeres Zimmer.« »Du kennst sie nicht. Sie ist eine Katastrophe. Sie lässt überall ihr Zeug herumliegen und leiht sich deine Klamotten aus, ohne zu fragen.« »Na, deine bestimmt nicht«, fuhr Sophie dazwischen. »Da kommen einem die Tränen. Aber ich muss sagen, Charlie hat einige hübsche Sachen.« »Da hast du's! Und sie ist noch nicht einmal eingezogen!« »Aber sie würde ich natürlich zuerst fragen, denn sie ist ein netter Mensch und keine blöde Schwester.« »Charlie, das kannst du nicht machen.« Lulu sah Charlie an und schüttelte den Kopf. »Du bist meine Freundin und nicht ein Einmann-Auffanglager für verarmte Frauen aus der Atwater- Familie. Weißt du überhaupt, dass sie sich keine Miete leisten kann?« »Du zahlst auch keine Miete«, meinte Sophie. »Erstens ist Charlie meine Freundin, nicht deine. Zweitens bezahle ich so viel, wie ich kann. Und drittens koche ich und trage damit zum Haushalt bei.« »Ich kann auch kochen«, meinte Sophie, was von ihren Schwestern mit Belustigung aufgenommen wurde. »Ich kann's wirklich«, betonte Sophie. »Ich hab's im letzten Jahr gelernt. Mom, mach was, dass die nicht weiter so gemein zu mir sind.«
»Mir scheint, dass Lulu das Kochen bereits erledigt, Süße«, beschwichtigte Fee. »Aber wenn Charlie es ernst meint, dann könntest du vielleicht etwas anderes finden, womit du dich nützlich machen kannst. Das ist wirklich sehr nett von dir, Charlie. Bist du sicher, dass das für dich in Ordnung ist?« »Tu es nicht, Charlie«, sagte Lulu. »Das wird dir leidtun. Das wird uns beiden leidtun.« »Das leere Zimmer ist da«, erwiderte Charlie. »Lass sie einziehen, Lulu. Wir können den Haverstock-Hill-Ableger von Fees Frauenkollektiv aufmachen.« »Charlie, ich liebe dich«, rief Sophie aus. Sie eilte auf sie zu, schlang die Arme um Charlies Nacken und überhäufte sie mit Küssen. »Igitt.« Charlie schätzte derartige Nähe nicht gerade und hielt Sophie entschlossen auf Armlänge. »Lass mich in Ruhe damit, oder du darfst nicht bei uns wohnen.« »Ausgezeichnet, weiter so, Sophie!«, meinte Lulu. Sophie zog sich enttäuscht zurück. »Und du willst Italienerin sein«, grummelte sie. »Du musst dich ein bisschen südlichherzlich benehmen.« »Ich will überhaupt nichts sein«, erwiderte Charlie. »Ich habe keine Schwestern, das ist alles. Frauen, die Schwestern haben, küssen sich zu Hause unentwegt, und wenn sie ihre eigenen vier Wände verlassen, haben sie sich nicht unter Kontrolle und werden zu einer Gefahr fürs Gemeinwesen.« »Ich küsse meine Schwestern nicht«, betonte Lulu. »Ich bin nicht einmal sicher, dass ich sie irgendwie sympathisch finde, geschweige denn, dass ich sie abküssen wollte.« »Doch, das machst du schon«, antwortete Charlie. »Du machst das oft, und es ist dir nicht einmal bewusst.« »Meinst du das vielleicht?« Lulu legte mit dramatischer Geste ihren Kopf an Emmas Brust, ergriff ihre Hand und küsste sie laut ab. »Da! Jetzt machst du es schon wieder!«, rief Charlie. »Nein, das stimmt nicht. Ich wollte nur demonstrieren, was ich eben gerade nicht tue. Gib mir einen Bagel, Mom, da kommt mir wieder der Appetit.« »Die können froh sein, dass sie Geschwister haben, was meinst du, Charlie?«, meinte Fee. Sie schenkte sich Kaffee nach und reichte dem Gast freundlich die Kanne weiter. »Ich wollte immer welche, aber ich war ein Einzelkind.« »Ich wollte immer einen Bruder«, sagte Sophie und warf Emma und Lulu einen vorwurfsvollen Blick zu. »Der hätte immer alle seine Freunde mit nach Hause gebracht und sie mir vorgestellt.« »Stattdessen musst du mit den langweiligen Freundinnen deiner Schwester vorliebnehmen, die dir kostenlose Zimmer in Belsize Park anbieten«, meinte Lulu. »Schönen Dank auch.« »Die Freunde meines Bruders würdest du sicher nicht gerne kennenlernen«, sagte Charlie. »Die sind alle ziemlich komisch. « »Du hast einen Bruder?«, fragte Sophie voller Hoffnung. »Er lebt in San Francisco«, sagte Lulu. »Vielleicht solltest du dich zu ihm auf die Reise machen, Charlie hat doch gerade gesagt, dass er Leute mag, die komisch sind.« »Mom! Sie ist schon wieder gemein zu mir!« »Seid nett zueinander, ihr Lieben«, ermahnte Fee. »Denkt daran, was Grandma Jo immer zu sagen pflegte: Eine glückliche Familie ist die Garantie für ein glückliches Leben.« Die Erwähnung des Namens hatte bei ihren beiden jüngeren Töchtern unmittelbare Folgen. Lulu stöhnte und sank über den Tisch, während sie die Zunge in gespielter Todesangst aus dem Mund hängen ließ. Sophie kauerte sich in ihren Stuhl, kniff die Augen zusammen, zog die Lippen nach innen und paffte an einer vermeintlichen Pfeife aus Maiskolben: »Verdammt, kann's nich glauben, Ma, hab mir ein fettes Opossum zum Abendessen geschossen, aber dann haben diese Stinktiere es aufgefressen, also hab ich die gegessen, waren aber ganz schön bitter.« »Ihr seid wirklich schrecklich, was Grandma Jo angeht«, meinte Emma. »Ich finde die ziemlich cool.« »Wer ist Grandma Jo?«, fragte Charlie. »Ich habe dir schon von ihr erzählt«, antwortete Lulu. »Offensichtlich nicht«, meinte Charlie. »Sonst würde ich nicht fragen.« »Ich kann mir nicht vorstellen,dass ich dir nicht von Grandma Jo erzählt habe«, erwiderte Lulu. »Wir hören von nichts anderem. Tag und Nacht, Sommer wie Winter, jahrein, jahraus. Wir liegen auf den Knien, wir flehen und knirschen mit den Zähnen, Mutter, rufen wir, genug von Grandma Jo.
Aber glaubst du, sie hört auf uns? Kein Gedanke.« »Grandma Jo war meine Urgroßmutter«, erklärte Fee. »Sie wurde hundert Jahre alt, aber leider habe ich sie niemals kennengelernt. Man sagt, sie war eine Persönlichkeit.« »Sie hatte drei Schwestern«, sagte Lulu. »Da war Margaret, die personifizierte Korrektheit. Dann gab es Bethie, auch Betsey genannt, eine Engelsgestalt, die jung verstarb. Und schließlich gab es noch Amy, die mit einer Wäscheklammer auf ihrer Nase schlief, um deren Form zu verändern.« »Und hat's geklappt?«, fragte Charlie. »Nein«, antwortete Sophie entschieden. »Es hat nur weh getan. Sehr.« »Ich habe das an ihr ausprobiert«, meinte Lulu. »Mom fand es nicht sehr lustig.«
»Ich auch nicht, es hat echt weh getan«, sagte Sophie. »Amy heiratete einen reichen Mann und Margaret einen armen ...«, begann Lulu. »Aber sie waren die reichsten Frauen Amerikas, was den Reichtum angeht, der im Leben wirklich zählt«, fuhr Sophie fort. »... ein erfülltes und nützliches Leben und ein Heim voller Liebe«, schlossen die beiden im Chor. »Daran ist nichts falsch«, fiel Emma ein. »Obwohl ihr beide natürlich weder am einen noch am anderen interessiert seid.« »Wen hat Grandma Jo geheiratet?«, fragte Charlie. »Einen Professor aus Deutschland!«, lachte Lulu. Die Vorstellung hatte sie immer erheitert. »Kommen Zie hier, mein lieber, kleiner Dumpling«, versuchte Sophie sich in Nachahmung. »Ich vill show Sie ho ve do sings back in old Bavaria.« »Sie hatten eine Schule für Jungen, die aber während der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren pleiteging«, erklärte Lulu. »Hab' den kleinen Bengeln beigebracht, wie man ein Eichhörnchen häutet, das ganz so hübsch war wie Grandma Jo«, ergänzte Sophie. »Sie hatte eine Tochter mit dem Namen Cissie«, erzählte Lulu weiter. »Die wurde dreimal als Suffragette verhaftet. Cissie hatte eine Tochter namens Jojo, die während des Zweiten Weltkrieges als Pilotin arbeitete. Deren Tochter war dann Mom, die auch Josephine heißt, und die bekam Emma, die eigentlich ebenfalls Josephine heißt. Aber als ich klein war, konnte ich ihren Namen nicht aussprechen, also benutzten wir ihren mittleren Namen. Sie alle sind furchtbare alte Schachteln. Das liegt in der Familie.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Fee und David Atwater waren ein glückliches Paar. David Atwater besaß einen kleinen Verlag, der auf Reiseliteratur spezialisiert war, und seine Arbeit führte ihn oft aus London hinaus, mitunter auch für mehrere Wochen.
Fee stammte aus einer Familie robuster Yankee-Frauen aus Massachusetts, war also von Natur aus unabhängig. Beide fanden, dass die Entfernung, die seine Reiserei mit sich brachte, ihrer Ehe guttat. Jedenfalls war ihre Beziehung widerstandsfähig. Sie respektierten sich gegenseitig, brachten sich zum Lachen, stritten mitunter, vertrugen sich aber immer wieder, und selbst nach dreißig Ehejahren tastete der eine fast unwillkürlich nach des anderen Hand, während sie die Straße hinunterspazierten. »Ich frage mich, wie es bei mir und Matthew sein wird, wenn wir mal so lange verheiratet sind wie du und Dad«, sagte Fees älteste Tochter Emma gerade verträumt zu ihrer Mutter. Zur allseitigen Freude, wenn auch nicht überraschend, hatte sie vor kurzem ihre Verlobung mit Matthew bekanntgegeben, mit dem sie seit drei Jahren zusammen war. »Irgendwie ist es komisch, vor drei Jahren haben wir uns noch nicht einmal gekannt. Ich frage mich, wie es in fünfundzwanzig Jahren sein wird.«
»Wahrscheinlich ist er dann mit den Nerven fertig«, bemerkte Lulu, ihre jüngere Schwester, die es im Alter von vierundzwanzig Jahren immer noch nicht lassen konnte, ihre Schwestern zu ärgern. »Er hat ganz schön viel Mut, das habe ich ihm erst letzte Woche gesagt.« »Na, dann muss das der Grund dafür sein, dass er die Hochzeit abgesagt hat«, erwiderte Emma. »Danke, dass du's mir erklärt hast, ich hab mich schon gefragt. Mom, weißt du, wie viel Kalorien in diesem Auberginensalat sind? Der sieht gar zu verführerisch aus.« »Da gibt's nur eins, um das herauszufinden«, sagte Lulu. Sie langte über ihre Schwester hinweg nach der Schüssel, häufte eine Portion auf ihren Teller und blies sofort die Wangen auf. »Oje, ich habe ein Kilo zugenommen! Ich bin dick!«
Während Fee Kaffee in ihren Becher goss, betrachtete sie über den Tisch hinweg ihre Töchter und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es ihr gelungen war, zwei so völlig unterschiedliche Geschöpfe in die Welt zu setzen. Emma war ihre Vorzeigetochter. Ihr Benehmen war stets so tadellos gewesen, dass Fee und David sich mitunter gefragt hatten, wann all die unterdrückte Unerzogenheit aus ihr hervorbrechen würde. Im Babyalter schlief sie durch, durch die Teenagerjahre schaffte sie es ohne Pickel und Türenknallen, schloss das Studium in Sozialpolitik an der London University ab und arbeitete derzeit in der Verwaltung einer privaten Organisation, welche den Zufriedenheitsgrad von Krankenhauspatienten erforschte. Über Freunde hatte sie vor drei Jahren den nett aussehenden, jungen Computerberater Matthew Weston kennengelernt, war ein Jahr später in seine makellos aufgeräumte Wohnung gezogen, die nicht weit von Islington lag, und nun wollten sie im folgenden Jahr heiraten. Emma hatte Fee anvertraut, dass sie drei Jahre später, wenn er zweiunddreißig und sie dreißig wären, Kinder bekommen wollten. Emma hatte glänzendes braunes Haar, das niemals ungekämmt aussah, große blaugraue Augen und eine altmodisch rosige Gesichtsfarbe. An ihrem Arbeitsplatz trug sie gutgeschnittene Hosen, in der Freizeit im Winter Jeans und im Sommer Röcke mit Blumenmustern, die sie mit Blusen von Zara oder Whistles ergänzte. Ihre Fingernägel waren kurz, aber immer makellos manikürt, und sie passte auf, dass sie kein Gramm zunahm.
Sie würde, dachte ihre Mutter fast mit Wehmut, die schönste Braut abgeben, die man sich nur vorstellen konnte. Wenn einem bei Emma das Bild von Pfirsich mit Sahne einfiel, so dachte ihre Mutter oft, dann kam einem bei Lulu unwillkürlich der Gedanke an ein scharf gewürztes Currygericht voller Überraschungen und Gaumenfreuden. Sie war ein stämmiges, unordentliches Mädchen mit wachen, braunen Augen und einer kastanienbraunen Mähne, die ihr Gesicht überschattete und die sie nie schneiden ließ. Während ihre Schwester sanft durch die Welt glitt, eckte sie an, wo jene lächelte, schmollte sie, und von Anfang an, so schien es, war sie darauf aus gewesen, Konventionen in Frage zu stellen und Erwartungen über den Haufen zu werfen. Während der Schulzeit gab es ihretwegen mehrfach besorgte Gespräche zwischen ihren Eltern und Lehrern, und als sie dann eines Tages ihrer eigenen Ungezogenheit überdrüssig wurde, überraschte sie alle mit einem hervorragenden Abschluss in Biochemie an der renommierten University of St. Andrews. Hinterher hatte sie sofort erklärt, keine Lust auf eine Karriere als Wissenschaftlerin zu haben, und jetzt, achtzehn Monate später, wusste sie immer noch nicht recht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. In der Zwischenzeit hangelte sie sich durch eine Reihe von Gelegenheitsjobs, einer so wenig vielversprechend wie der andere, und wohnte bei ihrer besten Freundin Charlie, der sie Miete in Form von Kochen und anfallenden Ausbesserungsarbeiten in der Wohnung bezahlte. Lulu und Alfreda Alessandra Maria Fitzcharles, Charlie für ihre Freunde, hatten schon während der Uni eine Wohnung geteilt.
Charlie war eine dunkelhaarige Schönheit, ziemlich reich und in den Augen der Atwaters ein wenig exotisch, denn sie war die Tochter eines Hoteliers aus Irland, der viel reiste, und eines italienischen Models, das bei einem Flugzeugabsturz starb, als Charlie noch klein war. Die Familie besaß eine Wohnung am Belsize Park, und Charlie hatte Lulu eingeladen, dort bei ihr zu wohnen, bis sie genug Geld für eine eigene Wohnung verdiente. Eigentlich gefiel Fee nicht, dass eine ihrer Töchter etwas ohne Gegenleistung annahm, aber sie tröstete sich damit, dass Lulu geschickt und eine ausgezeichnete Köchin war und sofort half, sobald es etwas in der Wohnung zu tun gab. Außerdem sah sie, dass Charlie Lulus Gesellschaft genoss. Fee sorgte sich ein bisschen um Charlie, die kaum eigene Familie hatte und die ihr manchmal ein wenig verloren vorkam.
Charlie war heute auch zum Brunch gekommen und lächelte über Lulus Neckereien, während sie ihren Bagel erst großzügig mit Cream Cheese und dann mit Erdbeermarmelade bestrich. Charlie musste sich in ihrem Leben keine Gedanken um Kalorien machen. »Das ist so unfair, wenn ich nur ein Viertel von dem essen würde, dann wäre ich ungefähr so groß wie ein Elefantenbaby «, sagte Emma neidvoll und beobachtete, wie Charlies Bagel nach und nach in ihrem Mund verschwand. »Tut mir leid«, antwortete Charlie. »Ich habe anscheinend den Stoffwechsel meiner Mutter geerbt. Das ist für andere sehr ärgerlich, ich weiß.« »Bei ihr musst du dich wirklich nicht entschuldigen«, bemerkte Lulu. Sie langte nach unten und kraulte eine Katze mit orangem Fell, die ausgestreckt auf dem Stuhl neben ihr lag und zu allem freundlich blinzelte. »Wann kommt Dad nach Hause, wo wir gerade von Elefanten sprechen?«
»Am Donnerstag, irgendwann um die Mittagszeit«, antwortete Fee. »Das hängt von Air Peru ab. Ich hoffe nur, dass er diesmal keinen Lärm macht. Weißt du, Charlie, im letzten Herbst haben wir mein Büro in Sophies altes Schlafzimmer verlegt, und er vergisst das manchmal, wenn er untertags nach Hause kommt. Vor zwei Wochen war gerade eine Frau bei mir und erzählte mir die unglaublich traurige Geschichte ihrer Scheidung, und sie weinte, und ich reichte ihr Kleenex, und gerade als es am traurigsten war, krachte die Eingangstür zu, und wir hörten, wie unten jemand brüllte - ›Fee-fee, mein kleiner, ungezogener Knödel! Dein herzallerliebster Zuckerbär ist da!‹ Er findet das immer sehr lustig. Ich hätte ihn umbringen können.« »Du solltest einen Zettel an die Eingangstür hängen, damit er Bescheid weiß, wenn er kommt«, sagte Emma. »Das ist eine gute Idee, das sollte ich tun.« Fee lächelte ihrer ältesten Tochter zu.
»Lulu, Liebling, hast du meine Nachricht zu Professor Hamilton erhalten?« Lulu seufzte. »Ja, Mom, ich habe deine Nachricht zu Professor Hamilton erhalten«, antwortete sie. »Aber wirst du jemals meine Nachricht erhalten, dass ich nicht den Rest meines Lebens wie eine völlig gestörte, halbblinde, in ein Reagenzglas eingesperrte Laborratte verbringen möchte?« »Nun, meine Liebe, ich glaube auch nicht, dass du dein Leben damit verbringen möchtest, die Ablage in einem Secondhandladen zu verwalten, oder?« »Das ist kein Secondhandladen«, erwiderte Lulu. »Das ist ein Laden, der Kunst und Antiquitäten importiert, und ob du's glaubst oder nicht, ich fühle mich ganz wohl dort. Er liegt nahe zur Wohnung, und Mr.Goncharoff ist ein netter Arbeitgeber, dem es auch nichts ausmacht ...« »... wenn du es irgendwie nicht schaffst, zur Arbeit zu kommen, oder wenn du keine Lust hast«, beschloss ihre Mutter den Satz. »O Lulu, was machen wir nur mit dir?« »Ihr müsst gar nichts mit mir machen«, antwortete Lulu. »Ich bin eine erwachsene Frau. Ich will kein Geld von dir, und was ich mit meinem Leben anfange, entscheide ich, wenn ich finde, dass es an der Zeit ist, und niemand anderes.« »Ich begreife dich nicht«, meinte Emma. »Wie kannst du deine Zeit nur mit diesen Jobs vergeuden. Andere Frauen würden einen Mord dafür begehen, deinen Verstand zu besitzen. « »Der würde ihnen in der Todeszelle nicht mehr viel nützen, meinst du nicht?« Und jetzt reichte es mit der Diskussion um ihre berufliche Zukunft, entschied Lulu. »Und überhaupt, ich glaube nicht, dass du die richtige Person bist, um mir irgendwelche guten Ratschläge zu verabreichen, Mom. Als du in meinem Alter warst, hast du in einem Frauenkollektiv in der Nähe von Boston gelebt, die Werke von Gloria Steinem gelesen und in einem Samstagabendritual deinen Büstenhalter verbrannt.« Lulu war taktlos, aber nicht dumm: Der Sache mit dem Büstenhalter- Verbrennen konnte Fee selten widerstehen. »Die haben wir nie verbrannt«, erwiderte sie sofort mit fester Stimme. »Das war eine blanke Lüge vonseiten des männlichen Establishments, denen die Pimmel vor lauter Angst vor uns auf Miniaturgröße zusammengeschrumpft sind. Wir haben uns nur die Freiheit genommen, uns nicht weiter zu quälen und uns wie unsere armen Mütter in diese furchtbaren Korsetts und Keuschheitsgürtel zu zwängen, und wir waren froh darüber. Was diese schwanzlosen Schwächlinge natürlich verrückt gemacht hat.« »Du hast in einem Kollektiv gelebt?«, fragte Charlie. »Wie war das?«
»Es war der reine Wahnsinn«, gab Lulu zur Antwort. »Sie züchteten Hühner und lebten von Eiern und wurmstichigen Äpfeln, und an jedem Wochenende zogen sie in Latzhosen und mit Stirnbändern, auf denen stand ›Mein Körper gehört mir‹, in Gangs durch die Gegend und ließen keine chauvinistische Schweinerei durchgehen. Und haben sich dann gewundert, dass die Männer sie nicht mochten.« »Es war wundervoll«, sagte Fee. »Wir waren jung und idealistisch, und du hast recht, Lulu, wir nahmen uns viel zu ernst. Aber wir waren nicht in der glücklichen Lage, uns über Gleichberechtigung lustig machen zu können. Wir hatten eine Aufgabe, und Gott allein weiß, dass wir daran gearbeitet haben, und Gott allein weiß auch, dass wir der nächsten Frauengeneration den Weg bereitet haben. Wenn es uns nicht gegeben hätte, würdet ihr Mädchen jetzt nicht im Entferntesten so leben, wir ihr das tut. Hast du schon etwas von dem Couscous probiert, Charlie? Er ist echt gut.« »Sollten wir nicht etwas für Sophie aufheben?«, fragte Charlie und sah auf die Überreste des Festmahls auf den Tisch. »Sophie?« Lulu hob bei der Erwähnung ihrer jüngeren Schwester in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. »Wer ist Sophie?« »Das ist die, die immer als Letzte kommt«, erinnerte Emma sie. »So 'ne Laute, Blonde, Übergriffige.« »Ach so, die Sophie«, sagte Lulu. Sie breitete ihre Arme aus, so weit sie konnte, und strahlte die anderen an.
»Hi, Mom, tut mir entsetzlich leid, dass ich spät dran bin, aber du kannst dir gar nicht vorstellen, was mir auf dem Weg hierher passiert ist. Ich bin Schauspielerin, ich bin absolut hinreißend, und ich liebe euch alle. Meinst du die Sophie?« »Du bräuchtest eine blonde Perücke«, meinte Emma. »Und die Arme müssten irgendwie weiter oben sein und nicht vorne. Aber sonst war das ganz gut.« »Ich kriege die Rolle, meinst du?« Lulu legte überschwänglich die Hände an ihre Brust. »Ich liebe dich!« »Es ist sehr nett von dir, dass du an sie denkst, Charlie«, sagte Fee. »Aber sie weiß genau, dass wir um zwölf Uhr mittags anfangen, und jetzt ist es fast zwei Uhr. Wenn sie nicht pünktlich ist, um mit uns allen zu essen, dann muss sie mit dem vorliebnehmen, was übrig ist.« Aber sie erhob sich trotzdem und setzte frischen Kaffee auf. Gerade in diesem Augenblick ging draußen die schwere Haustür auf und schlug wieder zu, und ein Schwall feuchten Windes drang in den Raum. Sophie trat ein. Sie war größer als ihre Schwestern und gertenschlank, trug ihre strohblonden Haare wuschelig kurzgeschnitten, hatte feine Gesichtszüge und große, ausdrucksvolle blaue Augen, die in diesem Augenblick empört und wütend funkelten. Sie kam in die Küche marschiert und ließ sich ohne ein Wort der Begrüßung auf einen Stuhl fallen. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, was passiert ist«, verkündete sie. Emma und Lulu wechselten Blicke und konnten schließlich ihr Lachen nicht mehr unterdrücken.
»Was soll das?«, fragte Sophie und starrte sie an. »Hallo, Charlie, mir gefällt dein Pullover. Was haben diese zwei blöden Schwestern da zu lachen?« »Die sind gerade ziemlich albern«, meinte Fee und trat heran, um ihrer Jüngsten einen Kuss zu geben. Den beiden anderen warf sie über Sophies Kopf einen warnenden Blick zu. »Was ist los, mein Kleines. Ist irgendetwas Schlimmes passiert?« »Schlimm!«, rief Sophie aus. »Es ist furchtbar, tragisch, ein absolutes Desaster. Das glaubst du nicht! Ruby heiratet, kannst du dir das vorstellen?« Niemand sagte ein Wort. »Wenn wir jetzt noch wüssten, wer Ruby ist, dann würde uns diese Neuigkeit vielleicht am Ende noch interessieren«, meinte Lulu schließlich. »Ruby ist die Schwester von Esme«, sagte Sophie, »die ältere Schwester. Und die ist einfach furchtbar. Sie hat immer ein Gesicht, als ob sie schlechte Laune hätte, und sie kann keinen leiden und findet an jedem etwas auszusetzen. Sie ist Vegetarierin und zuckt zusammen, wenn wir Fleisch essen, und ist ganz fanatisch, wenn's um Recyceln geht, und zuckt zusammen, weil wir nicht genügend recyceln, obwohl ich da eigentlich relativ gewissenhaft bin, und wenn man einen Scherz macht, dann schaut sie entgeistert, und wenn man mit ihr essen geht, was ich möglichst zu vermeiden versuche, dann rechnet sie auf den Pfennig genau aus, was ihr Essen gekostet hat, und bezahlt dann auch nur das, obwohl alle anderen sich die Rechnung teilen, und sie ist einfach insgesamt so furchtbar, dass nicht einmal ich sie leiden kann, und ich kann die meisten Leute leiden, glaub ich wenigstens? Mom? Ist der Kaffee frisch?
Vielen Dank, Mom, was gibt's zu essen, ich sterbe vor Hunger.« »Also, wenn ich richtig verstanden habe, dann ist die Schwester von der Freundin aus deiner Wohngemeinschaft nicht besonders nett, aber sie heiratet trotzdem ...«, fragte Lulu nach, und sah dabei zu wie ihre Schwester bei den Überresten des Brunchs tüchtig zulangte. »Kannst du dir das vorstellen?« Sophie biss kräftig in einen Bagel und fuchtelte mit dem Rest in der Luft herum. »Sie hat ihn bei einer Friedensdemo irgendwo am Ende der Welt kennengelernt, was eigentlich der Gipfel der Ironie ist, denn sie ist die streitsüchtigste Person, die ich kenne. Und sie entbrannten in Liebe füreinander, und eine wilde Romanze begann, und nächste Woche gibt es auf dem Standesamt in Waltham Cross kein Halten mehr, und hinterher wird bei einem halben Glas Sekt und einem Stück Baguette groß gefeiert. Und der Typ ist nett! Wenigstens macht er den Eindruck, aber er muss meiner Meinung nach durchgeknallt sein, denn sie ist wirklich, und wenn ich euch das sage, dann meine ich das, sie ist wirklich ...« »Man kann nicht mit allen Menschen leicht auskommen, Liebes«, bemerkte Fee. »Aber auch schwierige Menschen finden Partner.« »Ich habe immer noch nicht verstanden«, meinte Emma nachsichtig, »was du damit zu tun hast.« »Was ich damit zu tun habe?«, sagte Sophie. Sie nahm noch ein Stück Bagel und schüttelte den Kopf ob der Begriffsstutzigkeit ihrer Schwester. »Versteht das etwa keiner von euch?
Wenn sie bei ihm einzieht, bedeutet das, dass sie aus ihrer Wohnung auszieht. Und es war immer vereinbart, dass, falls sie und wann immer sie aus ihrer Wohnung auszieht, Esme dort einzieht. Was bedeutet, dass Esme aus unserer Wohnung auszieht, was wiederum bedeutet, dass ich auf der Straße sitze.« »Aber kannst du nicht jemand anderes finden, der bei dir einzieht?«, fragte Fee. »Die Wohnung ist klein, aber ich bin sicher, dass sich bei der niedrigen Miete jemand findet.« »Nun, Mom, da gibt es ein Problem«, gestand Sophie. »Die Wohnung war ein privater Deal zwischen Esme und mir.« »Privater Deal?« Emma rückte ihren Stuhl an den Tisch heran und stützte interessiert ihr Kinn auf eine Hand. »Was genau heißt das?« Sophie seufzte und sah ihre Schwestern missbilligend an.
»Müsst ihr da jetzt unbedingt zuhören?«, fragte sie. »Habt ihr nicht in irgendeinem Topf zu rühren oder so was?« »O nein, keine Sorge, dafür haben wir noch den ganzen Tag Zeit, nicht wahr, Lulu?«, antwortete Emma. »Ich bin ganz Ohr«, pflichtete Lulu bei. »Na schön«, seufzte Sophie auf. »Wir haben nichts richtig Falsches gemacht. Aber die Vermieterin ist eine Freundin von Esmes Eltern, und als Esme einzog, hat sie gesagt, dass Esme gerne Freunde zum Übernachten einladen kann. Ich bin eine sehr gute Freundin von Esme, und ... so bin ich ziemlich lange zum Übernachten geblieben.« »Obwohl das offiziell eigentlich nur eine Wohnung für eine Person ist«, fragte Fee nach. »O Sophie, du wusstest genau, dass das falsch war.« »Wir haben nichts Illegales gemacht, Mom«, erwiderte Sophie. »Und ich war eine mustergültige Mieterin, ich habe mich um die Wohnung viel besser gekümmert als Esme. Und Miss Powell mochte mich auch richtig gerne.
Wir haben uns ein paarmal gesehen, wenn sie auf Besuch kam. Sie dachte, ich wäre eine Freundin von Esme, die aus dem Norden nach London gekommen ist.« »Dem Norden«, tat Lulu nachdenklich. »Das wird ja immer besser, was, Emma?« »Islington ist nördlich von Battersea«, informierte sie Sophie mit Würde in der Stimme. »Und einen Yorkshireakzent kann ich richtig gut nachmachen. Das hat mir Onkel Tim beigebracht.« »Sophie, das war nicht richtig«, sagte Fee. »Wenn Miss Powell nur eine Mieterin wollte, dann hatte sie ein Recht, das auch zu sagen, und du hättest das respektieren müssen.« »Ich weiß«, gestand Sophie und blickte kläglich drein. »Ich bin ein ungezogenes Mädchen und eine Schande für meine Eltern, die versucht haben, mir trotz allem gute Manieren beizubringen.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Aber wenn ich jetzt wieder bei euch einziehe, dann habt ihr noch einmal Gelegenheit, an mir zu arbeiten.« »Bei uns einziehen?«, fragte Fee. »Süße, hier ist kein Zimmer für dich, wo du einziehen könntest.« »Klar ist da ein Zimmer«, meinte Sophie. »Ich weiß, dass meins vergeben ist, aber was ist mit dem ganz oben?« »Kannst du dich nicht mehr erinnern? Seit dem Sturm ist Lulus Zimmer beschädigt. Jeden Moment kann da die Decke runterkommen, und wir hoffen, dass Kevin Zeit hat, sie zu reparieren, bevor sie endgültig einfällt. Er ist derzeit sehr beschäftigt, aber er ist in seinem Job so gut, dass wir niemand anderes fragen wollen.« »Gut, dann nehme ich Emmas altes Zimmer. Das wollte ich immer schon.« »Süße«, antwortete Fee. »Wir haben einen Untermieter.« Es entstand eine Pause. »Wirklich?«, fragte Sophie. »So ein Typ namens Tom«, meinte Lulu. »Ein Dozent aus Amerika, groß und ziemlich ruhig und immer für sich.« »Ach der«, meinte Sophie. »Gibt's den immer noch? Ich dachte, der wäre wieder nach Amerika zurückgegangen.« »Nein, er ist hier«, sagte Fee. »Und er wirklich sehr ruhig, das muss ich sagen.« »Ah«, meinte Sophie.
Am Tisch herrschte Schweigen. »Vielleicht könnten wir die Couch im Wohnzimmer ausziehen «, schlug Fee vor. »Das würde dir auf die Nerven gehen«, meinte Sophie. »Mir wird schon was einfallen.« »Na, sie ist da, falls du sie brauchst«, sagte Fee. »Kein Problem«, meinte Sophie. »Mir wird schon etwas einfallen. « Wieder herrschte Schweigen. »Du könntest für eine Weile bei uns wohnen«, schlug Charlie vor. »Charlie!«, rief Lulu aus. »Ich bring dich um. Das geht auf gar keinen Fall.« »Na, wenn sie sonst nirgendwohin kann? Und wir haben ein leeres Zimmer.« »Du kennst sie nicht. Sie ist eine Katastrophe. Sie lässt überall ihr Zeug herumliegen und leiht sich deine Klamotten aus, ohne zu fragen.« »Na, deine bestimmt nicht«, fuhr Sophie dazwischen. »Da kommen einem die Tränen. Aber ich muss sagen, Charlie hat einige hübsche Sachen.« »Da hast du's! Und sie ist noch nicht einmal eingezogen!« »Aber sie würde ich natürlich zuerst fragen, denn sie ist ein netter Mensch und keine blöde Schwester.« »Charlie, das kannst du nicht machen.« Lulu sah Charlie an und schüttelte den Kopf. »Du bist meine Freundin und nicht ein Einmann-Auffanglager für verarmte Frauen aus der Atwater- Familie. Weißt du überhaupt, dass sie sich keine Miete leisten kann?« »Du zahlst auch keine Miete«, meinte Sophie. »Erstens ist Charlie meine Freundin, nicht deine. Zweitens bezahle ich so viel, wie ich kann. Und drittens koche ich und trage damit zum Haushalt bei.« »Ich kann auch kochen«, meinte Sophie, was von ihren Schwestern mit Belustigung aufgenommen wurde. »Ich kann's wirklich«, betonte Sophie. »Ich hab's im letzten Jahr gelernt. Mom, mach was, dass die nicht weiter so gemein zu mir sind.«
»Mir scheint, dass Lulu das Kochen bereits erledigt, Süße«, beschwichtigte Fee. »Aber wenn Charlie es ernst meint, dann könntest du vielleicht etwas anderes finden, womit du dich nützlich machen kannst. Das ist wirklich sehr nett von dir, Charlie. Bist du sicher, dass das für dich in Ordnung ist?« »Tu es nicht, Charlie«, sagte Lulu. »Das wird dir leidtun. Das wird uns beiden leidtun.« »Das leere Zimmer ist da«, erwiderte Charlie. »Lass sie einziehen, Lulu. Wir können den Haverstock-Hill-Ableger von Fees Frauenkollektiv aufmachen.« »Charlie, ich liebe dich«, rief Sophie aus. Sie eilte auf sie zu, schlang die Arme um Charlies Nacken und überhäufte sie mit Küssen. »Igitt.« Charlie schätzte derartige Nähe nicht gerade und hielt Sophie entschlossen auf Armlänge. »Lass mich in Ruhe damit, oder du darfst nicht bei uns wohnen.« »Ausgezeichnet, weiter so, Sophie!«, meinte Lulu. Sophie zog sich enttäuscht zurück. »Und du willst Italienerin sein«, grummelte sie. »Du musst dich ein bisschen südlichherzlich benehmen.« »Ich will überhaupt nichts sein«, erwiderte Charlie. »Ich habe keine Schwestern, das ist alles. Frauen, die Schwestern haben, küssen sich zu Hause unentwegt, und wenn sie ihre eigenen vier Wände verlassen, haben sie sich nicht unter Kontrolle und werden zu einer Gefahr fürs Gemeinwesen.« »Ich küsse meine Schwestern nicht«, betonte Lulu. »Ich bin nicht einmal sicher, dass ich sie irgendwie sympathisch finde, geschweige denn, dass ich sie abküssen wollte.« »Doch, das machst du schon«, antwortete Charlie. »Du machst das oft, und es ist dir nicht einmal bewusst.« »Meinst du das vielleicht?« Lulu legte mit dramatischer Geste ihren Kopf an Emmas Brust, ergriff ihre Hand und küsste sie laut ab. »Da! Jetzt machst du es schon wieder!«, rief Charlie. »Nein, das stimmt nicht. Ich wollte nur demonstrieren, was ich eben gerade nicht tue. Gib mir einen Bagel, Mom, da kommt mir wieder der Appetit.« »Die können froh sein, dass sie Geschwister haben, was meinst du, Charlie?«, meinte Fee. Sie schenkte sich Kaffee nach und reichte dem Gast freundlich die Kanne weiter. »Ich wollte immer welche, aber ich war ein Einzelkind.« »Ich wollte immer einen Bruder«, sagte Sophie und warf Emma und Lulu einen vorwurfsvollen Blick zu. »Der hätte immer alle seine Freunde mit nach Hause gebracht und sie mir vorgestellt.« »Stattdessen musst du mit den langweiligen Freundinnen deiner Schwester vorliebnehmen, die dir kostenlose Zimmer in Belsize Park anbieten«, meinte Lulu. »Schönen Dank auch.« »Die Freunde meines Bruders würdest du sicher nicht gerne kennenlernen«, sagte Charlie. »Die sind alle ziemlich komisch. « »Du hast einen Bruder?«, fragte Sophie voller Hoffnung. »Er lebt in San Francisco«, sagte Lulu. »Vielleicht solltest du dich zu ihm auf die Reise machen, Charlie hat doch gerade gesagt, dass er Leute mag, die komisch sind.« »Mom! Sie ist schon wieder gemein zu mir!« »Seid nett zueinander, ihr Lieben«, ermahnte Fee. »Denkt daran, was Grandma Jo immer zu sagen pflegte: Eine glückliche Familie ist die Garantie für ein glückliches Leben.« Die Erwähnung des Namens hatte bei ihren beiden jüngeren Töchtern unmittelbare Folgen. Lulu stöhnte und sank über den Tisch, während sie die Zunge in gespielter Todesangst aus dem Mund hängen ließ. Sophie kauerte sich in ihren Stuhl, kniff die Augen zusammen, zog die Lippen nach innen und paffte an einer vermeintlichen Pfeife aus Maiskolben: »Verdammt, kann's nich glauben, Ma, hab mir ein fettes Opossum zum Abendessen geschossen, aber dann haben diese Stinktiere es aufgefressen, also hab ich die gegessen, waren aber ganz schön bitter.« »Ihr seid wirklich schrecklich, was Grandma Jo angeht«, meinte Emma. »Ich finde die ziemlich cool.« »Wer ist Grandma Jo?«, fragte Charlie. »Ich habe dir schon von ihr erzählt«, antwortete Lulu. »Offensichtlich nicht«, meinte Charlie. »Sonst würde ich nicht fragen.« »Ich kann mir nicht vorstellen,dass ich dir nicht von Grandma Jo erzählt habe«, erwiderte Lulu. »Wir hören von nichts anderem. Tag und Nacht, Sommer wie Winter, jahrein, jahraus. Wir liegen auf den Knien, wir flehen und knirschen mit den Zähnen, Mutter, rufen wir, genug von Grandma Jo.
Aber glaubst du, sie hört auf uns? Kein Gedanke.« »Grandma Jo war meine Urgroßmutter«, erklärte Fee. »Sie wurde hundert Jahre alt, aber leider habe ich sie niemals kennengelernt. Man sagt, sie war eine Persönlichkeit.« »Sie hatte drei Schwestern«, sagte Lulu. »Da war Margaret, die personifizierte Korrektheit. Dann gab es Bethie, auch Betsey genannt, eine Engelsgestalt, die jung verstarb. Und schließlich gab es noch Amy, die mit einer Wäscheklammer auf ihrer Nase schlief, um deren Form zu verändern.« »Und hat's geklappt?«, fragte Charlie. »Nein«, antwortete Sophie entschieden. »Es hat nur weh getan. Sehr.« »Ich habe das an ihr ausprobiert«, meinte Lulu. »Mom fand es nicht sehr lustig.«
»Ich auch nicht, es hat echt weh getan«, sagte Sophie. »Amy heiratete einen reichen Mann und Margaret einen armen ...«, begann Lulu. »Aber sie waren die reichsten Frauen Amerikas, was den Reichtum angeht, der im Leben wirklich zählt«, fuhr Sophie fort. »... ein erfülltes und nützliches Leben und ein Heim voller Liebe«, schlossen die beiden im Chor. »Daran ist nichts falsch«, fiel Emma ein. »Obwohl ihr beide natürlich weder am einen noch am anderen interessiert seid.« »Wen hat Grandma Jo geheiratet?«, fragte Charlie. »Einen Professor aus Deutschland!«, lachte Lulu. Die Vorstellung hatte sie immer erheitert. »Kommen Zie hier, mein lieber, kleiner Dumpling«, versuchte Sophie sich in Nachahmung. »Ich vill show Sie ho ve do sings back in old Bavaria.« »Sie hatten eine Schule für Jungen, die aber während der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren pleiteging«, erklärte Lulu. »Hab' den kleinen Bengeln beigebracht, wie man ein Eichhörnchen häutet, das ganz so hübsch war wie Grandma Jo«, ergänzte Sophie. »Sie hatte eine Tochter mit dem Namen Cissie«, erzählte Lulu weiter. »Die wurde dreimal als Suffragette verhaftet. Cissie hatte eine Tochter namens Jojo, die während des Zweiten Weltkrieges als Pilotin arbeitete. Deren Tochter war dann Mom, die auch Josephine heißt, und die bekam Emma, die eigentlich ebenfalls Josephine heißt. Aber als ich klein war, konnte ich ihren Namen nicht aussprechen, also benutzten wir ihren mittleren Namen. Sie alle sind furchtbare alte Schachteln. Das liegt in der Familie.«
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Autoren-Porträt von Gabrielle Donnelly
Donnelly, GabrielleGabrielle Donnelly stammt aus London, wo sie als Journalistin für mehrere Zeitungen und Frauenmagazine arbeitete, bis sie in die USA nach Los Angeles ging. Dort arbeitet sie journalistisch im Bereich Showbusiness und ist Jurymitglied für die 'Golden Globe Awards'. Sie lebt mit ihrem Mann in Los Angeles.
Bibliographische Angaben
- Autor: Gabrielle Donnelly
- 2013, 480 Seiten, Masse: 12,6 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Spatz, Sylvia
- Übersetzer: Sylvia Spatz
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596191599
- ISBN-13: 9783596191598
- Erscheinungsdatum: 20.06.2013
Rezension zu „Zusammen kann man schöner träumen “
Gabrielle Donnelly spielt in 'Zusammen kann man schöner träumen' virtuos mit Epochen und Charakteren Tina Gallach Tina 20120613
Kommentar zu "Zusammen kann man schöner träumen"
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