Zoe Lenz Band 1: Totenmaske
Kriminalroman
Die 21-jährige Zoe versteht es meisterhaft, Verstorbene für das Begräbnis herzurichten. Nach dem Tod ihres Großvaters übernimmt sie das traditionelle Familienunternehmen. Respektvoll bereitet sie die Verstorbenen für ihre...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Zoe Lenz Band 1: Totenmaske “
Die 21-jährige Zoe versteht es meisterhaft, Verstorbene für das Begräbnis herzurichten. Nach dem Tod ihres Großvaters übernimmt sie das traditionelle Familienunternehmen. Respektvoll bereitet sie die Verstorbenen für ihre "letzte Reise" vor und macht sich schnell einen Namen als jüngste Bestatterin Deutschlands. Die Bewohner des kleinen Dorfs im Hunsrück stempeln die ungewöhnliche junge Frau jedoch schnell als Sonderling ab. Als eines Tages Boris und seine zwei Freunde auf ihrem Behandlungstisch landen, findet sich Zoe rasch im Kreis der Verdächtigen wieder - hatte doch einer der jungen Männer Zoe vor ein paar Jahren fast vergewaltigt. Das BKA ermittelt. Die Stimmung im Dorf gleicht einem Hexenkessel, als Zoe plötzlich spurlos verschwindet.
Klappentext zu „Zoe Lenz Band 1: Totenmaske “
Die 21-jährige Zoe versteht es meisterhaft, Verstorbene für das Begräbnis herzurichten. Nach dem Tod ihres Grossvaters übernimmt sie das traditionelle Familienunternehmen. Respektvoll bereitet sie die Verstorbenen für ihre »letzte Reise« vor und macht sich schnell einen Namen als jüngste Bestatterin Deutschlands. Die Bewohner des kleinen Dorfs im Hunsrück stempeln die ungewöhnliche junge Frau jedoch schnell als Sonderling ab. Als eines Tages Boris und seine zwei Freunde auf ihrem Behandlungstisch landen, findet sich Zoe rasch im Kreis der Verdächtigen wieder - hatte doch einer der jungen Männer Zoe vor ein paar Jahren fast vergewaltigt. Das BKA ermittelt. Die Stimmung im Dorf gleicht einem Hexenkessel, als Zoe plötzlich spurlos verschwindet.
Lese-Probe zu „Zoe Lenz Band 1: Totenmaske “
Totenmaske von Helene Henke Kapitel 1
In der Ferne duckte sich eine Gruppe Eichen wie bezwungene Riesen unter der tiefhängenden Wolkendecke. Unablässig zwangen Regentropfen die sattgrünen Blätter hinab wie Schaufeln eines Wasserrades. Das Tageslicht verblasste allmählich und würde bald sein hellgraues Kleid gegen den tiefschwarzen Umhang der Nacht eintauschen. Der Sommersturm hatte Birkheim fest im Griff und würde vermutlich noch eine Weile durch die Täler und Hügel des Hunsrücks toben. Für den nächsten Tag würde das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten sein, was bedeutete, dass es vorerst nicht möglich wäre, in den Nachbarorten einzukaufen.
Eine Bö wehte heran, ließ die Aluminiumjalousien an ihren Befestigungen flattern. Zoe Lenz stützte sich mit einer Hand am Rand des Waschbeckens ab, richtete sich auf den Zehenspitzen auf, bis ihre Wadenmuskeln protestierten, und zog das Schiebefenster zu. Genug Frischluftzufuhr für heute! Sie schnaubte missmutig. Unbestreitbar war es ein Nachteil, dass Fenster im Souterrain hoch lagen und der Architekt bei der Planung nicht an kleinere Menschen gedacht hatte. Dafür verfügte der Raum für gewöhnlich über genügend Tageslicht, bei dem es sich angenehmer arbeiten ließ als unter grellem Neonlicht. Zoes Trittleiter lehnte auf der entgegengesetzten Seite des Labors an einem der zahlreichen Hochschränke. Dort stand sie gut. Zoe stellte das Wasser an und wusch sich die Hände mit desinfizierender Seife. Dabei lauschte sie dem Geräusch, das die Zweige des Gebüsches verursachten, die gegen die Fensterscheibe schlugen. Sie musste dringend einen Gärtner bestellen, sonst würde das Grünzeug noch das ganze Haus überwuchern!
... mehr
Mit dem Ellbogen drückte sie den Wasserhebel herunter und griff nach einem Einweghandtuch. Auf den Mundschutz konnte sie verzichten, da Frau Sonders nicht an einer ansteckenden Krankheit gestorben war. Auf die Latexhandschuhe hingegen nicht. Sie stopfte ihre dunklen Locken unter die Einweghaube, was einiges an Geschick erforderte. So einfach ließ sich ihre schulterlange Mähne nicht bändigen. Nachdem die letzte Strähne unter knisterndem Plastik verschwunden war, ging sie um den Behandlungstisch herum. Ein süßlicher Geruch strömte herein, als Zoe die Tür des Lastenaufzugs öffnete, der den Körper der alten Dame von der Halle ins Labor hinuntertransportiert hatte. Erst wenn Zoe mit ihrer Arbeit fertig war, würde sie den Leichnam bis zur Trauerfeier im angrenzenden Kühlraum aufbewahren. An den Haltegriffen zog sie den Leichentransportsack wie eine überdimensionale Reisetasche auf die Rollliege, um den verschnürten Körper zum Behandlungstisch zu bringen. Es kostete sie nicht besonders viel Kraft.
Frau Sonders wog nicht viel mehr als ein Kind, und Zoe hatte im Laufe der Jahre schon bedeutend schwerere Körper auf ihren Tisch gewuchtet. Nur selten benötigte sie dazu die Hilfe eines Kollegen vom Bereitschaftsdienst. Manchmal legte ihr Freund Josh Hand an wie kürzlich bei Theo, dem Bauarbeiter, der unter einer herabgestürzten Kranschaufel begraben worden war. Josh hielt sich gern in Zoes Labor auf, nicht zuletzt, weil er außer ihr keine Freunde hatte. Zoe war eine der wenigen geprüften Thanatologinnen in Deutschland, was sie dazu verpflichtete, anderen Bestatterkollegen, die nicht über diese Ausbildung verfügten, ihre Dienste anzubieten. Bisher waren allerdings entsprechende Anfragen ausgeblieben. Aber das konnte sich ja noch ändern. Irgendwann. Allgemeinhin galten Bestatter als sonderbar. Menschen verdrängten den Tod und beschäftigten sich erst damit, wenn ihnen keine Wahl mehr blieb. Seinen Lebensunterhalt mit dem Geschäft rund um die Toten zu bestreiten, war den meisten nicht geheuer. In den Augen der Bestatter selbst galt Zoe als absonderlich. Nicht nur, dass sie in eine der letzten Männerdomänen eindrang - sie war auch noch zu jung für den Beruf des Bestatters.
Da eilten die Herren erst recht nicht herbei, um ihre Dienste als Thanatologin in Anspruch zu nehmen. Für gewöhnlich nahmen Bestatter nicht mal Schulabgänger in die Ausbildung, weil ihnen die nötige emotionale Reife fehlte. Der Umgang mit dem Tod zog Konflikte im sozialen Umfeld und der eigenen Integrität mit sich. Nicht nur bei jungen Menschen. Interessenten kamen über den zweiten Bildungsweg aus ähnlichen Berufsgruppen und verfügten über ausreichend Lebenserfahrung. Das konnte Zoe durchaus nachvollziehen, wenn auch der Gedanke ihr regelmäßig ein Schmunzeln entlockte. Ihr war der Beruf seit ihrer Kindheit vertraut. Zwar handelte es sich dabei nicht auch um ein Spezialgebiet von Josh, doch die Vorgänge während des postmortalen Zersetzungsprozesses weckten sein naturwissenschaftliches Interesse, und sein Wissen darüber hatte ihm nicht selten Zusatzpunkte in Klausuren seiner Leistungskurse eingebracht. Dennoch waren Besuche im Labor rar, weil Zoe es vorzog, dort allein zu sein. Aus Respekt vor den Toten. Es war für die Menschen in Birkheim ohnehin nicht einfach, sich mit einer neunzehnjährigen Bestatterin abzufinden. Die Vorstellung, sie arbeitete auch noch gemeinsam mit einem siebzehnjährigen Gymnasiasten an den Verstorbenen, erzeugte bei den Hinterbliebenen Unbehagen und überforderte die allgemeine Akzeptanz.
Zoe schaltete die Operationslampe über sich an und drückte sie am Schwenkarm ein wenig zur Seite, damit das gleißende Licht auf der noch leeren Metallfläche sie nicht blendete. Sie positionierte den Beistellwagen für Geräte neben sich und schaltete das dort angebrachte Radio ein. Sie musste keinen Sender wählen, da der Klassikkanal meistens die passende Musikauswahl bot. Sanfte Geigenklänge schienen dem gekachelten Raum harmonische Wärme zu verleihen, lösten den Bann der beklemmenden Situation. Zoe mochte klassische Musik, weil sie irgendwie leise war, auch wenn man sie laut aufdrehte. Bestimmt hätte sie auch der zurückhaltend freundlichen Frau Sonders gefallen. Nur wenn es Zoe mit einem besonders brisanten Fall zu tun bekam, wählte sie harte Techno-Klänge, um sich abzulenken. Dann konnte sie, sogar obwohl sie schon ein paar Jahre in diesem Beruf arbeitete, kaum verhindern, zu glauben, dass sie sich inmitten eines Horrorszenariums befand. Die Versorgung eines im Krankenhaus nur notdürftig zusammengeflickten Unfallopfers erforderte nicht nur ihre gesamte Aufmerksamkeit, sondern zerrte auch an ihren Nerven. Es gab Dinge, an die man sich nur schwer gewöhnen konnte.
Mit einem Surren zog Zoe den Reißverschluss des Leichensacks auf und drückte die Seiten um den Körper nach unten, damit sie möglichst bequem hineingreifen konnte. Es war äußerst lästig, wenn sich das Plastik beim Anheben der Leiche verfing und dadurch auch noch mitgezogen wurde. Sie wollte vermeiden, mit der Verstorbenen auf dem Arm zu stolpern oder sie in einer ziemlich unwürdigen Haltung abzustützen, um mit der freien Hand die Reste des Sacks abzuzupfen. Frau Sonders lag in ihrem weißen Hemd da wie ein Mädchen im Sonntagskleid. Bereits jetzt sah sie aus, als schliefe sie, was auf einen friedlichen Tod schließen ließ. Doch Zoe sah ihre Aufgabe darin, die Frau ausschauen zu lassen, als hätte sie während eines Spaziergangs innegehalten, um mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht zu genießen. Mit routinierten Griffen hob sie den steifen Körper auf den Behandlungstisch. Da lag sie nun mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund. Beim Aufschnüren des Hemdes bemerkte sie an den Unterseiten des puppenhaften Oberkörpers blaurote Flecken. Es war nicht notwendig, diese zu überschminken, da sie später niemand sehen würde. Zufrieden strich Zoe über die Wange der Toten, deren Kälte ihr schon lange nichts mehr ausmachte.
Keine bläulichen Verfärbungen dank der Schräglage im Aufzug, wodurch verhindert wurde, dass einer Leiche das Blut ins Gesicht laufen konnte. Nachdem sie den Körper sowie sämtliche Körperöffnungen sorgfältig mit Desinfektionsspray eingesprüht hatte, legte sie den Kopf der Frau in eine Nackenstütze. Draußen prasselte der Regen gegen die Fensterscheibe, als wollte er sich den Klängen des Klaviersonetts anpassen, das inzwischen im Radio gespielt wurde. Mit einer Pinzette griff Zoe einen in Desinfektionsmittel getauchten Wattebausch und säuberte die Ohren sowie die Nasenlöcher. Mehrmals wechselte sie die Watte aus, strich unter den Wimpern und den bereits schwarz verfärbten Fingernägeln entlang. »Die werde ich später in einem hübschen Perlmuttrosa lackieren«, versprach Zoe der Toten. Sie redete gern mit ihren Schlafenden. Schließlich hatte sie es mit Menschen zu tun, auch wenn diese nicht mehr antworteten. Es brachte eine Atmosphäre der Unvergänglichkeit in den Raum, zeigte, dass das Leben einem sich ständig wiederholenden Ablauf folgte. Und zum Leben gehörte auch der Tod. Anfangs war es für Zoe nicht einfach gewesen, ihre Pläne zu ändern und der Familientradition gemäß dem Beruf der Bestatterin nachzugehen. Ihr pathologisches Interesse hätte sie lieber mit einem entsprechenden Studium befriedigt und wäre Forensikerin im gerichtsmedizinischen Institut geworden wie einst ihr Vater. Doch letztlich stellte die Arbeit mit den Toten ohnehin ihre Berufung dar, da machte es keinen großen Unterschied, auf welchem Gebiet sie tätig war. So war es für Zoe selbstverständlich gewesen, ihrem Großvater dabei zu helfen, den Leichnam ihres Vaters zu versorgen. Dabei merkte sie schnell, wie tröstend es war, einem nahen Angehörigen den letzten Dienst zu erweisen. Der Schmerz über den Verlust wich schnell einer intensiven Konzentration. Sie stellte sich überraschend geschickt bei der Arbeit an und ging in einem Gefühl tiefster Zufriedenheit auf.
Das war auch ihrem Großvater nicht entgangen und hatte ihn schließlich dazu bewogen, sie in den darauffolgenden Jahren immer mehr in das Handwerk einzuweisen. Besser hätte Zoe es vermutlich nicht treffen können, denn die Ausbildung war ebenso anstrengend wie lehrreich. Ihr Großvater stellte höchste Anforderungen an sie, verlangte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Feierabend oder Wochenenden existierten in seiner Vorstellung nicht. Gestorben wird immer, Tote kennen keinen Urlaub. So lautete seine Devise. Das Geschäft war nach Großvaters Tod direkt an Zoe gefallen, weil ihre Mutter sich seit dem Tod von Zoes Vater weigerte, auch nur einen Fuß in das Labor zu setzen.
Stattdessen zog Isobel es vor, sich den Kundengesprächen im Laden und der geistlichen Betreuung von Hinterbliebenen zu widmen. Darin ging sie vollkommen auf, hatte sich sogar zu einer wahren Predigerin entwickelt und ihr missionarisches Tun auf die kleine Kapelle in der Nähe des Hauses ausgeweitet. Vermutlich ersetzte sie damit die Psychotherapie, die ihr möglicherweise dabei hätte helfen können, über den Tod ihres Mannes hinwegzukommen. Letztlich konnte Zoes Mutter es kaum erwarten, ihre treuhänderische Verpflichtung am Tag von Zoes Volljährigkeit abzutreten. Das war vor einem Jahr gewesen, die Arbeit hingegen war von vornherein an Zoe hängen geblieben, und sie konnte nicht gerade behaupten, dass sie es bedauerte. Sie griff nach der Dusche am Ende des Tisches und besprenkelte die Leiche mit kaltem Wasser. Warmes Wasser würde Bakterien fördern. Frau Sonders machte die Temperatur nichts mehr aus. Mit einem Naturschwamm tupfte sie, vom Gesicht ausgehend, den ganzen Körper ab.
Obwohl sie dabei äußerst behutsam vorging, schälte sich die pergamentartige Haut an einigen Stellen ab, so dass Zoe diese mit fetthaltiger Creme wieder an ihren Platz drücken musste. Danach schäumte sie die feinen silbrigen Haare mit etwas Shampoo ein und spülte sie gründlich aus. Kurz darauf tönte der Föhn summend durch das Labor, während Zoe mit einer Bürste versuchte, Frau Sonders' Frisur so hinzubekommen, wie diese sich vielleicht selbst frisiert hatte. Mit gespitzten Lippen legte sie Welle für Welle, bis ein silbriges Meer den Kopf der Toten zierte. Fast lebendig wirkte das glänzende Haar. Zoe lächelte. An diesem Punkt ihrer Arbeit war sie damals von der bewährten Behandlung abgewichen. Sie erinnerte sich an Großvaters amüsierten Blick, als sie sich eingehend mit der Frisur einer Toten beschäftigt hatte. Mit gerunzelter Stirn hatte er ihre anfänglich etwas seltsam anmutenden Ideen zur Kenntnis genommen, die immer weiter über den gewöhnlichen Ablauf der Totenversorgung hinausgingen.
Denn es war nicht beim Frisieren geblieben. Zoe hatte irgendwann beschlossen, ihre Leichen zu schminken, um sie möglichst so aussehen zu lassen, wie ihre Familien sie in Erinnerung hatten. Auch Frau Sonders sollte ein entsprechendes Make-up erhalten, doch vorher galt es, die Grundbehandlung abzuschließen. Mit schwungvollen Bewegungen trocknete sie den Körper und den Sektionstisch samt der gelochten Metallkassetten, die dafür sorgten, dass Wasser und Körperflüssigkeiten abliefen. Eine anspruchslose, aber notwendige Tätigkeit, bei der Zoe sich ablenkte, indem sie leise vor sich hin summte. Dennoch war sie jedes Mal erleichtert, wenn sie damit fertig war. »So, nun wenden wir uns wieder Ihnen zu«, sagte Zoe und drückte eine walnussgroße Kugel einer speziellen Massagecreme auf ihre Handfläche. Mit der feuchtigkeitsregulierenden Mousse massierte sie eingehend den Körper, um die Leichenstarre zu lösen. Sie spürte, wie die Haut unter ihren Händen nachgiebiger wurde - wie trockenes Leder bei einer Behandlung mit Öl. Zoe sog den angenehmen Duft der Creme ein. Es hatte beinahe etwas Meditatives, fast, als wäre eine Massage nicht für den Patienten, sondern für den Masseur entspannend. Ihre eigene Körperwärme ging durch die behutsame Reibung auf die Haut der Toten über. Das würde nicht lange anhalten, doch für den Moment unterschied es sich kaum von dem Gefühl, als würde sie ihrer Mutter den steifen Nacken massieren. Ein lautes Knacken riss sie aus ihren Gedanken.
»Zoe, wir müssen noch die Trauerrede durchgehen.« Die Stimme ihrer Mutter drang abgehackt durch den Lautsprecher neben der Tür. Das letzte Wort konnte Zoe nur sinngemäß ergänzen, weil sie es nicht mehr gehört hatte. Isobel pflegte, das in ihren Augen unliebsame technische Gerät gerade einmal mit ihren Fingerspitzen zu berühren, als ob es zu explodieren drohte. Das hatte zur Folge, dass jede ihrer Mitteilungen in einem knackenden Geräusch unterging. Zoe verdrehte die Augen, wandte sich um und betätigte mit dem Ellbogen den Knopf. »Ich habe noch zu tun und komme, sobald ich fertig bin.« Schweigen bedeutete Zustimmung, um nicht zu sagen, Kapitulation. Sobald Zoe wieder in ihre Arbeit vertieft war, würde sie ohnehin vergessen, dass sie gerufen worden war. Wie üblich ersparte ihre Mutter es sich, die Gegensprechanlage erneut zu bedienen. Dabei hatte Zoe sie extra einbauen lassen, damit Isobel sie jederzeit erreichen konnte, wenn etwas Wichtiges anstand. Leider lagen die Prioritäten ihrer Mutter etwas anders, was für Zoe in der Vergangenheit mit ständigen Unterbrechungen wegen irgendwelcher Nichtigkeiten einhergegangen war. Jedes Mal hinaufzulaufen, um einen Rat für die Farbe der neuen Vorhänge im Aufbahrungssalon zu erteilen oder sonstige Entscheidungen zu treffen, für die ihre Meinung irrelevant war, nervte Zoe mit der Zeit zunehmend, so dass sie sich gezwungen sah, eine sinnvolle Lösung zu finden.
Dem pikierten Gesichtsausdruck ihrer Mutter zum Trotz hielt Zoe die Gegensprechanlage für äußerst effektiv. Seither hatte sie weitgehend ihre Ruhe. Außerdem brauchte ihre Mutter ihre Hilfe nicht, um Trauerreden zu besprechen. In biblischen Angelegenheiten war sie die Fachfrau. Sie betrachtete den Tod von einer religiösen Ebene mit durchaus etwas verklärten Zügen. Vor den unangenehmen, aber notwendigen Aufgaben, die der Tod nun einmal mit sich brachte, verschloss sie gern die Augen. Sie erinnerte Zoe an jemanden, der Fleischgerichte liebte, aber keinen Blick in den Schlachthof werfen wollte. Sie fragte sich manchmal, wie es möglich war, dass ihre Eltern zueinandergefunden hatten. Denn von ihrem Vater hatte Zoe anscheinend eine eher pragmatische Betrachtungsweise im Umgang mit dem Tod übernommen. Möglicherweise hatte sich seine Sichtweise mit der Religiosität ihrer Mutter ergänzt, sonst wären sie nicht all die Jahre verheiratet gewesen. Für ein gutes Mutter-Tochter-Verhältnis schien diese Religiosität jedoch nicht immer förderlich zu sein. Im Geschäft war beides von Bedeutung, da zählte Einfühlungsvermögen ebenso wie Professionalität. Es war in Ordnung, wenn jeder seinen Job tat, so gut er konnte, ohne sich in die Arbeit des anderen einzumischen. Doch Zoes Mutter sah sich anscheinend verpflichtet, ihrer Tochter einen angemessenen geistlichen Beistand zuteilwerden zu lassen. Seit dem Vorfall vor drei Jahren hatte sich diese mütterliche Fürsorge noch verstärkt. Offenbar bestand die dringende Notwendigkeit, Zoe zu missionieren, um sie vor der Sünde zu bewahren. Völliger Quatsch. Was war schon sündig? Beinahe hatte ihr die Polizeipsychologin leidgetan, als diese sich damals unweigerlich gezwungen sah, ihre Aufmerksamkeit dem erschütterten Gemütszustand von Zoes Mutter zu widmen. Von traumatischer Persönlichkeitsstörung war die Rede gewesen, mehr beiläufig wie ein ausgesprochener Gedanke. Zoe wusste nicht, wen die Psychologin damit gemeint hatte: ihre Mutter oder sie.
Wahrscheinlich beide. Zoe hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin längst ihren inneren Scherbenhaufen zusammen- und im tiefsten Winkel ihres Unterbewusstseins unter den Teppich gekehrt. Für die in Trümmer geschlagenen Mädchenträume gab es ebenso wenig Vergeltung wie für den Mord an einer Seele. Zoe stieß einen missmutigen Ton aus und wandte sich kopfschüttelnd dem Sektionstisch zu. Behutsam streute sie ein feuchtigkeitsbindendes Pulver in den Rachen und die Nasengänge von Frau Sonders, wo es sich zu einer silikonartigen Masse verfestigte, sobald es mit Körperflüssigkeit in Berührung kam. Danach stopfte sie große Wattestücke hinterher, um zu verhindern, dass später noch Flüssigkeit auslief. Als sie das Bein der Leiche anhob, um die unteren Körperöffnungen zu behandeln, drang geräuschvoll Luft aus dem Unterleib der Frau. »Hoppla, Frau Sonders! Das war wohl ein letzter Gruß an die Nachwelt. Besser, es passiert hier statt während der Trauerfeier vor dem offenen Sarg. Wir wollen ja niemandem einen Schrecken einjagen!« Zoe tätschelte die kalte Schulter und zog sich vorsorglich einen Mundschutz an. Der übel riechende Gasaustrieb war erfahrungsgemäß erst der Anfang. Unter Umständen konnte sich der Darm wesentlich stärker aufblähen, so dass sich unter dem Gewebedruck die Arme und Beine abspreizten. Für eine Trauergemeinde wäre der Anblick einer sich bewegenden Leiche nicht minder schockierend wie das plötzliche Öffnen der Augen. Ein solches Bild bekämen sie nicht wieder aus ihren Köpfen. Zoe untersuchte die Bauchdecke der Leiche erneut. An der rechten unteren Seite zeigte eine graugrünliche Verfärbung der Haut deutliche Anzeichen für die beginnende Fäulnis. Die Schräglage im Aufzug hatte diesen Prozess verlangsamt. Nun waren die Därme an ihren Platz zurückgerutscht, wodurch sich eine Fäulnisblase gebildet hatte. Das kam in diesem frühen Stadium bei entsprechender Kühlung nicht häufig vor. Nachdenklich tippte Zoe mit dem Finger auf den metallenen Rand des Sektionstisches. Bei fortgeschrittener Zersetzung würde der Fäulnisprozess in den Blutgefäßen die oberflächliche Venenstruktur wie ein feines schmutzig grünes Netz sichtbar machen, das der Leichenhaut ihren typischen Teint bescherte.
Dieses Durchschlagen des Venennetzes dürfte reichlich Inspiration für die Macher von Zombiefilmen geliefert haben. Zoe musste gestehen, dass die Maskenbildner in manchen Werken vorbildliche Arbeit geleistet hatten. Ihren Freund Josh hingegen hätte der Anblick sicherlich zu einem Vortrag über roten Blutfarbstoff, der sich in Verbindung mit Schwefelwasserstoff zu Sulfhämoglobin wandelt, hingerissen. Einen Moment bedauerte Zoe, dass Josh diese interessanten Anzeichen nicht mitbekam. Vorsichtig tastete sie über den gewölbten Unterbauch, wohl wissend, dass dieses tückische Ding beim geringsten Druck platzen konnte. Auf die Sauerei, die dadurch im Labor entstehen würde, konnte sie wirklich verzichten. Fäulnisblasen konnten monströse Größen erreichen, wobei sie keinem bestimmbaren zeitlichen Ablauf unterlagen. Fäulnis und Verwesung glichen sich nur auf den ersten Blick, doch es handelte sich um zwei parallel ablaufende Prozesse. Am deutlichsten ließ sich der Unterschied am Geruch ausmachen: Fäulnis stank, Verwesung nicht.
Zoe hatte erst wenige Leichen auf dem Tisch gehabt, die aufgrund der Fäulnisgasbildung bis zur Unkenntlichkeit aufgetrieben waren, weil sie erst Tage nach Todeseintritt gefunden worden waren. Später auftretende Phänomene wie der Austritt von rötlich brauner Flüssigkeit aus Mund und Augen boten keinen appetitlichen Anblick und verzögerten die kosmetische Wiederherstellung der Toten erheblich. So weit sollte es bei Frau Sonders nicht kommen. Die grüne Verfärbung der Haut war nicht weit ausgebreitet, sondern belief sich auf einen kleinen Bereich am Unterbauch. Dennoch musste Zoe Flüssigkeit aus der Fäulnis- blase und Urin abnehmen, um ausschließen zu können, dass es sich nicht um Anzeichen einer Barbituratvergiftung handelte. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, dass die alte Dame Selbstmord begangen hatte, doch es gehörte nun einmal zu ihrer Pflicht, sobald sie verdächtige Anzeichen am Körper einer Leiche entdeckte.
Nachdem sie die beiden Spritzen vollgezogen hatte, packte sie sie in einen hygienischen Plastikbeutel, um sie am nächsten Tag in die Pathologie nach Mainz zu schicken. Mit möglichst großem Abstand stellte Zoe sich seitlich neben die Leiche und drückte mit übereinandergelegten Händen auf die Wölbung am Bauch, wie man es weiter oben bei einer Herzmassage machen würde. Das Gas trieb augenblicklich mit einem lauten Geräusch aus. Die Leiche erzitterte. Dunkelviolette Fäulnisflüssigkeit ergoss sich zwischen den Beinen und lief in den Ablauf des Beckens. Ein stechend muffiger Geruch erfüllte den Raum. Nicht einmal der Mundschutz konnte ihn abhalten. Zwar war Zoe gegen üble Gerüche weitgehend gefeit, doch mit Mentholsalbe unter der Nase war es dennoch leichter zu ertragen. Wirklich ärgerlich, so etwas zu vergessen! Sie warf einen wütenden Blick zur anderen Seite des Labors, auf dessen Sideboard die Tube Mentholin lag.
© 2013 der Originalausgabe bei Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Mit dem Ellbogen drückte sie den Wasserhebel herunter und griff nach einem Einweghandtuch. Auf den Mundschutz konnte sie verzichten, da Frau Sonders nicht an einer ansteckenden Krankheit gestorben war. Auf die Latexhandschuhe hingegen nicht. Sie stopfte ihre dunklen Locken unter die Einweghaube, was einiges an Geschick erforderte. So einfach ließ sich ihre schulterlange Mähne nicht bändigen. Nachdem die letzte Strähne unter knisterndem Plastik verschwunden war, ging sie um den Behandlungstisch herum. Ein süßlicher Geruch strömte herein, als Zoe die Tür des Lastenaufzugs öffnete, der den Körper der alten Dame von der Halle ins Labor hinuntertransportiert hatte. Erst wenn Zoe mit ihrer Arbeit fertig war, würde sie den Leichnam bis zur Trauerfeier im angrenzenden Kühlraum aufbewahren. An den Haltegriffen zog sie den Leichentransportsack wie eine überdimensionale Reisetasche auf die Rollliege, um den verschnürten Körper zum Behandlungstisch zu bringen. Es kostete sie nicht besonders viel Kraft.
Frau Sonders wog nicht viel mehr als ein Kind, und Zoe hatte im Laufe der Jahre schon bedeutend schwerere Körper auf ihren Tisch gewuchtet. Nur selten benötigte sie dazu die Hilfe eines Kollegen vom Bereitschaftsdienst. Manchmal legte ihr Freund Josh Hand an wie kürzlich bei Theo, dem Bauarbeiter, der unter einer herabgestürzten Kranschaufel begraben worden war. Josh hielt sich gern in Zoes Labor auf, nicht zuletzt, weil er außer ihr keine Freunde hatte. Zoe war eine der wenigen geprüften Thanatologinnen in Deutschland, was sie dazu verpflichtete, anderen Bestatterkollegen, die nicht über diese Ausbildung verfügten, ihre Dienste anzubieten. Bisher waren allerdings entsprechende Anfragen ausgeblieben. Aber das konnte sich ja noch ändern. Irgendwann. Allgemeinhin galten Bestatter als sonderbar. Menschen verdrängten den Tod und beschäftigten sich erst damit, wenn ihnen keine Wahl mehr blieb. Seinen Lebensunterhalt mit dem Geschäft rund um die Toten zu bestreiten, war den meisten nicht geheuer. In den Augen der Bestatter selbst galt Zoe als absonderlich. Nicht nur, dass sie in eine der letzten Männerdomänen eindrang - sie war auch noch zu jung für den Beruf des Bestatters.
Da eilten die Herren erst recht nicht herbei, um ihre Dienste als Thanatologin in Anspruch zu nehmen. Für gewöhnlich nahmen Bestatter nicht mal Schulabgänger in die Ausbildung, weil ihnen die nötige emotionale Reife fehlte. Der Umgang mit dem Tod zog Konflikte im sozialen Umfeld und der eigenen Integrität mit sich. Nicht nur bei jungen Menschen. Interessenten kamen über den zweiten Bildungsweg aus ähnlichen Berufsgruppen und verfügten über ausreichend Lebenserfahrung. Das konnte Zoe durchaus nachvollziehen, wenn auch der Gedanke ihr regelmäßig ein Schmunzeln entlockte. Ihr war der Beruf seit ihrer Kindheit vertraut. Zwar handelte es sich dabei nicht auch um ein Spezialgebiet von Josh, doch die Vorgänge während des postmortalen Zersetzungsprozesses weckten sein naturwissenschaftliches Interesse, und sein Wissen darüber hatte ihm nicht selten Zusatzpunkte in Klausuren seiner Leistungskurse eingebracht. Dennoch waren Besuche im Labor rar, weil Zoe es vorzog, dort allein zu sein. Aus Respekt vor den Toten. Es war für die Menschen in Birkheim ohnehin nicht einfach, sich mit einer neunzehnjährigen Bestatterin abzufinden. Die Vorstellung, sie arbeitete auch noch gemeinsam mit einem siebzehnjährigen Gymnasiasten an den Verstorbenen, erzeugte bei den Hinterbliebenen Unbehagen und überforderte die allgemeine Akzeptanz.
Zoe schaltete die Operationslampe über sich an und drückte sie am Schwenkarm ein wenig zur Seite, damit das gleißende Licht auf der noch leeren Metallfläche sie nicht blendete. Sie positionierte den Beistellwagen für Geräte neben sich und schaltete das dort angebrachte Radio ein. Sie musste keinen Sender wählen, da der Klassikkanal meistens die passende Musikauswahl bot. Sanfte Geigenklänge schienen dem gekachelten Raum harmonische Wärme zu verleihen, lösten den Bann der beklemmenden Situation. Zoe mochte klassische Musik, weil sie irgendwie leise war, auch wenn man sie laut aufdrehte. Bestimmt hätte sie auch der zurückhaltend freundlichen Frau Sonders gefallen. Nur wenn es Zoe mit einem besonders brisanten Fall zu tun bekam, wählte sie harte Techno-Klänge, um sich abzulenken. Dann konnte sie, sogar obwohl sie schon ein paar Jahre in diesem Beruf arbeitete, kaum verhindern, zu glauben, dass sie sich inmitten eines Horrorszenariums befand. Die Versorgung eines im Krankenhaus nur notdürftig zusammengeflickten Unfallopfers erforderte nicht nur ihre gesamte Aufmerksamkeit, sondern zerrte auch an ihren Nerven. Es gab Dinge, an die man sich nur schwer gewöhnen konnte.
Mit einem Surren zog Zoe den Reißverschluss des Leichensacks auf und drückte die Seiten um den Körper nach unten, damit sie möglichst bequem hineingreifen konnte. Es war äußerst lästig, wenn sich das Plastik beim Anheben der Leiche verfing und dadurch auch noch mitgezogen wurde. Sie wollte vermeiden, mit der Verstorbenen auf dem Arm zu stolpern oder sie in einer ziemlich unwürdigen Haltung abzustützen, um mit der freien Hand die Reste des Sacks abzuzupfen. Frau Sonders lag in ihrem weißen Hemd da wie ein Mädchen im Sonntagskleid. Bereits jetzt sah sie aus, als schliefe sie, was auf einen friedlichen Tod schließen ließ. Doch Zoe sah ihre Aufgabe darin, die Frau ausschauen zu lassen, als hätte sie während eines Spaziergangs innegehalten, um mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht zu genießen. Mit routinierten Griffen hob sie den steifen Körper auf den Behandlungstisch. Da lag sie nun mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund. Beim Aufschnüren des Hemdes bemerkte sie an den Unterseiten des puppenhaften Oberkörpers blaurote Flecken. Es war nicht notwendig, diese zu überschminken, da sie später niemand sehen würde. Zufrieden strich Zoe über die Wange der Toten, deren Kälte ihr schon lange nichts mehr ausmachte.
Keine bläulichen Verfärbungen dank der Schräglage im Aufzug, wodurch verhindert wurde, dass einer Leiche das Blut ins Gesicht laufen konnte. Nachdem sie den Körper sowie sämtliche Körperöffnungen sorgfältig mit Desinfektionsspray eingesprüht hatte, legte sie den Kopf der Frau in eine Nackenstütze. Draußen prasselte der Regen gegen die Fensterscheibe, als wollte er sich den Klängen des Klaviersonetts anpassen, das inzwischen im Radio gespielt wurde. Mit einer Pinzette griff Zoe einen in Desinfektionsmittel getauchten Wattebausch und säuberte die Ohren sowie die Nasenlöcher. Mehrmals wechselte sie die Watte aus, strich unter den Wimpern und den bereits schwarz verfärbten Fingernägeln entlang. »Die werde ich später in einem hübschen Perlmuttrosa lackieren«, versprach Zoe der Toten. Sie redete gern mit ihren Schlafenden. Schließlich hatte sie es mit Menschen zu tun, auch wenn diese nicht mehr antworteten. Es brachte eine Atmosphäre der Unvergänglichkeit in den Raum, zeigte, dass das Leben einem sich ständig wiederholenden Ablauf folgte. Und zum Leben gehörte auch der Tod. Anfangs war es für Zoe nicht einfach gewesen, ihre Pläne zu ändern und der Familientradition gemäß dem Beruf der Bestatterin nachzugehen. Ihr pathologisches Interesse hätte sie lieber mit einem entsprechenden Studium befriedigt und wäre Forensikerin im gerichtsmedizinischen Institut geworden wie einst ihr Vater. Doch letztlich stellte die Arbeit mit den Toten ohnehin ihre Berufung dar, da machte es keinen großen Unterschied, auf welchem Gebiet sie tätig war. So war es für Zoe selbstverständlich gewesen, ihrem Großvater dabei zu helfen, den Leichnam ihres Vaters zu versorgen. Dabei merkte sie schnell, wie tröstend es war, einem nahen Angehörigen den letzten Dienst zu erweisen. Der Schmerz über den Verlust wich schnell einer intensiven Konzentration. Sie stellte sich überraschend geschickt bei der Arbeit an und ging in einem Gefühl tiefster Zufriedenheit auf.
Das war auch ihrem Großvater nicht entgangen und hatte ihn schließlich dazu bewogen, sie in den darauffolgenden Jahren immer mehr in das Handwerk einzuweisen. Besser hätte Zoe es vermutlich nicht treffen können, denn die Ausbildung war ebenso anstrengend wie lehrreich. Ihr Großvater stellte höchste Anforderungen an sie, verlangte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Feierabend oder Wochenenden existierten in seiner Vorstellung nicht. Gestorben wird immer, Tote kennen keinen Urlaub. So lautete seine Devise. Das Geschäft war nach Großvaters Tod direkt an Zoe gefallen, weil ihre Mutter sich seit dem Tod von Zoes Vater weigerte, auch nur einen Fuß in das Labor zu setzen.
Stattdessen zog Isobel es vor, sich den Kundengesprächen im Laden und der geistlichen Betreuung von Hinterbliebenen zu widmen. Darin ging sie vollkommen auf, hatte sich sogar zu einer wahren Predigerin entwickelt und ihr missionarisches Tun auf die kleine Kapelle in der Nähe des Hauses ausgeweitet. Vermutlich ersetzte sie damit die Psychotherapie, die ihr möglicherweise dabei hätte helfen können, über den Tod ihres Mannes hinwegzukommen. Letztlich konnte Zoes Mutter es kaum erwarten, ihre treuhänderische Verpflichtung am Tag von Zoes Volljährigkeit abzutreten. Das war vor einem Jahr gewesen, die Arbeit hingegen war von vornherein an Zoe hängen geblieben, und sie konnte nicht gerade behaupten, dass sie es bedauerte. Sie griff nach der Dusche am Ende des Tisches und besprenkelte die Leiche mit kaltem Wasser. Warmes Wasser würde Bakterien fördern. Frau Sonders machte die Temperatur nichts mehr aus. Mit einem Naturschwamm tupfte sie, vom Gesicht ausgehend, den ganzen Körper ab.
Obwohl sie dabei äußerst behutsam vorging, schälte sich die pergamentartige Haut an einigen Stellen ab, so dass Zoe diese mit fetthaltiger Creme wieder an ihren Platz drücken musste. Danach schäumte sie die feinen silbrigen Haare mit etwas Shampoo ein und spülte sie gründlich aus. Kurz darauf tönte der Föhn summend durch das Labor, während Zoe mit einer Bürste versuchte, Frau Sonders' Frisur so hinzubekommen, wie diese sich vielleicht selbst frisiert hatte. Mit gespitzten Lippen legte sie Welle für Welle, bis ein silbriges Meer den Kopf der Toten zierte. Fast lebendig wirkte das glänzende Haar. Zoe lächelte. An diesem Punkt ihrer Arbeit war sie damals von der bewährten Behandlung abgewichen. Sie erinnerte sich an Großvaters amüsierten Blick, als sie sich eingehend mit der Frisur einer Toten beschäftigt hatte. Mit gerunzelter Stirn hatte er ihre anfänglich etwas seltsam anmutenden Ideen zur Kenntnis genommen, die immer weiter über den gewöhnlichen Ablauf der Totenversorgung hinausgingen.
Denn es war nicht beim Frisieren geblieben. Zoe hatte irgendwann beschlossen, ihre Leichen zu schminken, um sie möglichst so aussehen zu lassen, wie ihre Familien sie in Erinnerung hatten. Auch Frau Sonders sollte ein entsprechendes Make-up erhalten, doch vorher galt es, die Grundbehandlung abzuschließen. Mit schwungvollen Bewegungen trocknete sie den Körper und den Sektionstisch samt der gelochten Metallkassetten, die dafür sorgten, dass Wasser und Körperflüssigkeiten abliefen. Eine anspruchslose, aber notwendige Tätigkeit, bei der Zoe sich ablenkte, indem sie leise vor sich hin summte. Dennoch war sie jedes Mal erleichtert, wenn sie damit fertig war. »So, nun wenden wir uns wieder Ihnen zu«, sagte Zoe und drückte eine walnussgroße Kugel einer speziellen Massagecreme auf ihre Handfläche. Mit der feuchtigkeitsregulierenden Mousse massierte sie eingehend den Körper, um die Leichenstarre zu lösen. Sie spürte, wie die Haut unter ihren Händen nachgiebiger wurde - wie trockenes Leder bei einer Behandlung mit Öl. Zoe sog den angenehmen Duft der Creme ein. Es hatte beinahe etwas Meditatives, fast, als wäre eine Massage nicht für den Patienten, sondern für den Masseur entspannend. Ihre eigene Körperwärme ging durch die behutsame Reibung auf die Haut der Toten über. Das würde nicht lange anhalten, doch für den Moment unterschied es sich kaum von dem Gefühl, als würde sie ihrer Mutter den steifen Nacken massieren. Ein lautes Knacken riss sie aus ihren Gedanken.
»Zoe, wir müssen noch die Trauerrede durchgehen.« Die Stimme ihrer Mutter drang abgehackt durch den Lautsprecher neben der Tür. Das letzte Wort konnte Zoe nur sinngemäß ergänzen, weil sie es nicht mehr gehört hatte. Isobel pflegte, das in ihren Augen unliebsame technische Gerät gerade einmal mit ihren Fingerspitzen zu berühren, als ob es zu explodieren drohte. Das hatte zur Folge, dass jede ihrer Mitteilungen in einem knackenden Geräusch unterging. Zoe verdrehte die Augen, wandte sich um und betätigte mit dem Ellbogen den Knopf. »Ich habe noch zu tun und komme, sobald ich fertig bin.« Schweigen bedeutete Zustimmung, um nicht zu sagen, Kapitulation. Sobald Zoe wieder in ihre Arbeit vertieft war, würde sie ohnehin vergessen, dass sie gerufen worden war. Wie üblich ersparte ihre Mutter es sich, die Gegensprechanlage erneut zu bedienen. Dabei hatte Zoe sie extra einbauen lassen, damit Isobel sie jederzeit erreichen konnte, wenn etwas Wichtiges anstand. Leider lagen die Prioritäten ihrer Mutter etwas anders, was für Zoe in der Vergangenheit mit ständigen Unterbrechungen wegen irgendwelcher Nichtigkeiten einhergegangen war. Jedes Mal hinaufzulaufen, um einen Rat für die Farbe der neuen Vorhänge im Aufbahrungssalon zu erteilen oder sonstige Entscheidungen zu treffen, für die ihre Meinung irrelevant war, nervte Zoe mit der Zeit zunehmend, so dass sie sich gezwungen sah, eine sinnvolle Lösung zu finden.
Dem pikierten Gesichtsausdruck ihrer Mutter zum Trotz hielt Zoe die Gegensprechanlage für äußerst effektiv. Seither hatte sie weitgehend ihre Ruhe. Außerdem brauchte ihre Mutter ihre Hilfe nicht, um Trauerreden zu besprechen. In biblischen Angelegenheiten war sie die Fachfrau. Sie betrachtete den Tod von einer religiösen Ebene mit durchaus etwas verklärten Zügen. Vor den unangenehmen, aber notwendigen Aufgaben, die der Tod nun einmal mit sich brachte, verschloss sie gern die Augen. Sie erinnerte Zoe an jemanden, der Fleischgerichte liebte, aber keinen Blick in den Schlachthof werfen wollte. Sie fragte sich manchmal, wie es möglich war, dass ihre Eltern zueinandergefunden hatten. Denn von ihrem Vater hatte Zoe anscheinend eine eher pragmatische Betrachtungsweise im Umgang mit dem Tod übernommen. Möglicherweise hatte sich seine Sichtweise mit der Religiosität ihrer Mutter ergänzt, sonst wären sie nicht all die Jahre verheiratet gewesen. Für ein gutes Mutter-Tochter-Verhältnis schien diese Religiosität jedoch nicht immer förderlich zu sein. Im Geschäft war beides von Bedeutung, da zählte Einfühlungsvermögen ebenso wie Professionalität. Es war in Ordnung, wenn jeder seinen Job tat, so gut er konnte, ohne sich in die Arbeit des anderen einzumischen. Doch Zoes Mutter sah sich anscheinend verpflichtet, ihrer Tochter einen angemessenen geistlichen Beistand zuteilwerden zu lassen. Seit dem Vorfall vor drei Jahren hatte sich diese mütterliche Fürsorge noch verstärkt. Offenbar bestand die dringende Notwendigkeit, Zoe zu missionieren, um sie vor der Sünde zu bewahren. Völliger Quatsch. Was war schon sündig? Beinahe hatte ihr die Polizeipsychologin leidgetan, als diese sich damals unweigerlich gezwungen sah, ihre Aufmerksamkeit dem erschütterten Gemütszustand von Zoes Mutter zu widmen. Von traumatischer Persönlichkeitsstörung war die Rede gewesen, mehr beiläufig wie ein ausgesprochener Gedanke. Zoe wusste nicht, wen die Psychologin damit gemeint hatte: ihre Mutter oder sie.
Wahrscheinlich beide. Zoe hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin längst ihren inneren Scherbenhaufen zusammen- und im tiefsten Winkel ihres Unterbewusstseins unter den Teppich gekehrt. Für die in Trümmer geschlagenen Mädchenträume gab es ebenso wenig Vergeltung wie für den Mord an einer Seele. Zoe stieß einen missmutigen Ton aus und wandte sich kopfschüttelnd dem Sektionstisch zu. Behutsam streute sie ein feuchtigkeitsbindendes Pulver in den Rachen und die Nasengänge von Frau Sonders, wo es sich zu einer silikonartigen Masse verfestigte, sobald es mit Körperflüssigkeit in Berührung kam. Danach stopfte sie große Wattestücke hinterher, um zu verhindern, dass später noch Flüssigkeit auslief. Als sie das Bein der Leiche anhob, um die unteren Körperöffnungen zu behandeln, drang geräuschvoll Luft aus dem Unterleib der Frau. »Hoppla, Frau Sonders! Das war wohl ein letzter Gruß an die Nachwelt. Besser, es passiert hier statt während der Trauerfeier vor dem offenen Sarg. Wir wollen ja niemandem einen Schrecken einjagen!« Zoe tätschelte die kalte Schulter und zog sich vorsorglich einen Mundschutz an. Der übel riechende Gasaustrieb war erfahrungsgemäß erst der Anfang. Unter Umständen konnte sich der Darm wesentlich stärker aufblähen, so dass sich unter dem Gewebedruck die Arme und Beine abspreizten. Für eine Trauergemeinde wäre der Anblick einer sich bewegenden Leiche nicht minder schockierend wie das plötzliche Öffnen der Augen. Ein solches Bild bekämen sie nicht wieder aus ihren Köpfen. Zoe untersuchte die Bauchdecke der Leiche erneut. An der rechten unteren Seite zeigte eine graugrünliche Verfärbung der Haut deutliche Anzeichen für die beginnende Fäulnis. Die Schräglage im Aufzug hatte diesen Prozess verlangsamt. Nun waren die Därme an ihren Platz zurückgerutscht, wodurch sich eine Fäulnisblase gebildet hatte. Das kam in diesem frühen Stadium bei entsprechender Kühlung nicht häufig vor. Nachdenklich tippte Zoe mit dem Finger auf den metallenen Rand des Sektionstisches. Bei fortgeschrittener Zersetzung würde der Fäulnisprozess in den Blutgefäßen die oberflächliche Venenstruktur wie ein feines schmutzig grünes Netz sichtbar machen, das der Leichenhaut ihren typischen Teint bescherte.
Dieses Durchschlagen des Venennetzes dürfte reichlich Inspiration für die Macher von Zombiefilmen geliefert haben. Zoe musste gestehen, dass die Maskenbildner in manchen Werken vorbildliche Arbeit geleistet hatten. Ihren Freund Josh hingegen hätte der Anblick sicherlich zu einem Vortrag über roten Blutfarbstoff, der sich in Verbindung mit Schwefelwasserstoff zu Sulfhämoglobin wandelt, hingerissen. Einen Moment bedauerte Zoe, dass Josh diese interessanten Anzeichen nicht mitbekam. Vorsichtig tastete sie über den gewölbten Unterbauch, wohl wissend, dass dieses tückische Ding beim geringsten Druck platzen konnte. Auf die Sauerei, die dadurch im Labor entstehen würde, konnte sie wirklich verzichten. Fäulnisblasen konnten monströse Größen erreichen, wobei sie keinem bestimmbaren zeitlichen Ablauf unterlagen. Fäulnis und Verwesung glichen sich nur auf den ersten Blick, doch es handelte sich um zwei parallel ablaufende Prozesse. Am deutlichsten ließ sich der Unterschied am Geruch ausmachen: Fäulnis stank, Verwesung nicht.
Zoe hatte erst wenige Leichen auf dem Tisch gehabt, die aufgrund der Fäulnisgasbildung bis zur Unkenntlichkeit aufgetrieben waren, weil sie erst Tage nach Todeseintritt gefunden worden waren. Später auftretende Phänomene wie der Austritt von rötlich brauner Flüssigkeit aus Mund und Augen boten keinen appetitlichen Anblick und verzögerten die kosmetische Wiederherstellung der Toten erheblich. So weit sollte es bei Frau Sonders nicht kommen. Die grüne Verfärbung der Haut war nicht weit ausgebreitet, sondern belief sich auf einen kleinen Bereich am Unterbauch. Dennoch musste Zoe Flüssigkeit aus der Fäulnis- blase und Urin abnehmen, um ausschließen zu können, dass es sich nicht um Anzeichen einer Barbituratvergiftung handelte. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, dass die alte Dame Selbstmord begangen hatte, doch es gehörte nun einmal zu ihrer Pflicht, sobald sie verdächtige Anzeichen am Körper einer Leiche entdeckte.
Nachdem sie die beiden Spritzen vollgezogen hatte, packte sie sie in einen hygienischen Plastikbeutel, um sie am nächsten Tag in die Pathologie nach Mainz zu schicken. Mit möglichst großem Abstand stellte Zoe sich seitlich neben die Leiche und drückte mit übereinandergelegten Händen auf die Wölbung am Bauch, wie man es weiter oben bei einer Herzmassage machen würde. Das Gas trieb augenblicklich mit einem lauten Geräusch aus. Die Leiche erzitterte. Dunkelviolette Fäulnisflüssigkeit ergoss sich zwischen den Beinen und lief in den Ablauf des Beckens. Ein stechend muffiger Geruch erfüllte den Raum. Nicht einmal der Mundschutz konnte ihn abhalten. Zwar war Zoe gegen üble Gerüche weitgehend gefeit, doch mit Mentholsalbe unter der Nase war es dennoch leichter zu ertragen. Wirklich ärgerlich, so etwas zu vergessen! Sie warf einen wütenden Blick zur anderen Seite des Labors, auf dessen Sideboard die Tube Mentholin lag.
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Autoren-Porträt von Helene Henke
Henke, HeleneHelene Henke, geboren 1964, hat erst nach zwei verschiedenen Berufsausbildungen ihrewahre Leidenschaft entdeckt: das Schreiben. Nach vier erfolgreichen Romanveröffentlichungen imSieben Verlag ist "Totenmaske" ihr erster Thriller bei Droemer. Die Autorin ist verheiratet und lebtmit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Krefeld.
Bibliographische Angaben
- Autor: Helene Henke
- 2013, 432 Seiten, Masse: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426226324
- ISBN-13: 9783426226322
- Erscheinungsdatum: 01.11.2013
Rezension zu „Zoe Lenz Band 1: Totenmaske “
"Helene Henkes Kriminalroman wirkt nachhaltig und lenkt den Fokus auf den würdevollen Tod als ein Thema, das Beachtung verdient" Oberhessische Presse 20140826
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